Die Leistungsgesellschaft und das Kind – Vorlesungen Wintersemester 1985

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Die Leistungsgesellschaft und das Kind – Vorlesungen Wintersemester 1985

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1. Abend – Die Leistungsgesellschaft und das Kind – Einführung

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Ich freue mich, Sie so zahlreich begrüssen zu dürfen, Sie, die Sie mir als Hörer  und  als Gesprächspartner bekannt und gar vertraut sind oder es noch werden. Wie in den vorausgegangenen Kursen wollen wir auch in den vor uns liegenden sechs Dienstagabenden versuchen, von der Philosophie her dem Kind und unserer Beziehung zum Kind näher zu kommen, sie zu entschlüsseln, indem wir sie durchdenken und damit gleichzeitig durchleuchten  und  begreifen. Begreifen aber heisst beides: erfassen und umfassen, d.h. dem konstruk­tiven Zugriff von Verstand und Gefühl, von Kopf und Herz den Rahmen der persönlichen Betroffenheit und Verantwortung schaffen, der mit zunehmendem Wissen und wachsender Erfahrung weiter wird, aber immer definiert bleibt durch die  verstehende Liebe.  Auf diese Weise gehen wir das Thema dieses Semesters an: Da geht es um die Wechsel­beziehung zwischen dem Kind und seiner sozialen Umwelt, in die hinein es geboren wird, in der es aufwächst, der es sich anzu­passen hat, die ihm mit einer Vielzahl von Vehaltenserwartungen und Regeln täglich begegnet, die Bedingung und Begleitung seines Werdens ist, der Ort des Widerstandes und der Entfaltung, wo sein Selbst verkümmert oder in Freiheit zur Gemeinschaftsbejahung und zur Autonomie aufblüht, je nachdem ob ein Wechselspiel von Forderung und Förderung von der Gesellschaft wie vom Kind her sich verwirklicht, ein doppeltes Wechselspiel also, oder ob einseitige Forderungen nach Anpassung und Unterwerfung von der Gesellschaft her ans Kind gestellt werden. Voraussetzung dieser kind­negativen oder kind­positiven gesellschaftlichen Rahmenbedingung ist die gelebte und nicht nur theoretische Anerkennung des Kindes als eines ganzen Menschen, eines Menschen im Werden, eines Menschen, der noch sehr hilfsbedürftig und abhängig ist, der jedoch den gleichen Anspruch auf Respekt seiner Rechte und Bedürfnisse hat wie ein Erwachsener.

In unserer Vorlesung geht es im Besonderen um die  Beziehung zwischen der Leistungsgesellschaft und dem Kind. Unsere Gesellschaft ist gekennzeichnet, etikettiert nach dem Leistungsprinzip. “Leistung” selbst ist wertneutral, bedeutet im positiven Sinn nichts anderes als Handlung und Vollbringung einer Handlung nach bestimmten Normen (“Das ist eine Leistung” sagen wir bewundernd von einem Kunstwerk, und meinen damit die Vollendung aesthetischer Normen; oder ,”Das ist eine Leistung” angesichts eines Resultats, das besondere Tüchtigkeit, Tapferkeit oder besondere Ausdauer vorausgesetzt hat, wodurch also Normen praktischer Ethik in auffallender oder vorbildlicher Weise umgesetzt wurden. Im negativen Sinn aber wird “Leistung” da gebraucht, wo sie selbst zur Norm erklärt wird, wo sie zum Kriterium und zur Bedingung menschlicher Anerkennung wird, wo sie aus dem Zusammenhang des Wirkens und Genügens, des Gebens und Nehmens losgelöst und hypostasiert wird. Dies ist der Fall in unserer Gesellschaft, die zu einem System ausmarchenden Leistungswettbewerbs geworden  ist, in dem längst nicht mehr nach dem Prinzip zwischenmenschlicher Gleichheit und mitmenschlicher, direkter Verantwortlichkeit gehandelt und entschieden wird, sondern nach dem Prinzip des Leistungsausweises, der zum Anspruch auf Macht und Herrschaft missbraucht wird. Auf welche Weise sich das Konkurrenzsystem gesellschaftlich auswirkt, welche Folgen es hat, werden wir anschliessend untersuchen; welcher Platz aber dem Kind in einer solchen Gesellschaft zukommt, dem Kind, das im Sinn der Begriffshypostasierung von “Leistung” noch nichts “leistet”, sondern das in seiner Abhängigkeit und Bedürftigkeit vor allem Ansprüche erhebt, dessen Wirken und Leisten im Wachsen und Werden, im Lernen und Spielen besteht, lässt sich jetzt schon ahnen.

Um uns deutlich zu machen, wie wir uns als Glieder unserer Gesellschaft gegen den allei auf Leistung ausgerichteten Trend in der Gesellschaft zu Verbündeten unserer Kinder machen können, wie wir damit ihrer Welt- und Lebenserwartung in einem konstruktiven Sinn entgegenkommen können, gilt es, uns noch einmal mit den negativen Auswirkungen unserer Gesellschaft zu befassen, wie sie sich in der jüngsten Geschichte zeigten und uns betroffen machten.

1967 publizierte Arno Plack aus der doppelten Position der Mitbefangenheit wie der hellsichtigen Distanz des beobachtenden Denkers eine Zeitkritik, die er als “Kritik der herrschenden Moral” bezeichnete und der er den Titel “Die Gesellschaft und das Böse” gab. 1). Das Buch war ein kritisches Fanal; es diagnostizierte die Krankheit der Zeit, den Hunger der Gesellschaft nach rein quantitativer Erfolgs- und Wohlstandsteigerung, der alle qualitativen menschlichen Bedürfnisse verdrängte und erstickte oder der sie zu Faktoren des Erfolgsstrebens machte. Ein knappes Jahr später, 1968, brachen unter der studierenden Jugend wie in der Arbeiterschaft  jene grossen Unruhen aus, welche Placks Diagnose als Prognose bestätigten.Die 68-er-Unruhen waren jedoch mehr als  allein Aufruhr und Auflehnung gegen die “herrschende Moral”, sie verstanden sich als trotzige Forderung nach einer menschlicheren Zukunft.

Wo stehen wir nun heute, knappe zwanzig Jahre später? Wie ist unsere  Gegenwart, die aus der damaligen Perspektive eben Zukunft war?

Noch ungebrochen  ist in unserer aller Eftinnerung die aufgewühlte Zeit, die am 31.Mai 1980 vor dem Zürcher Opernhaus unmissverständlich ihren Anfang nahm, die während mehr als einem Jahr die Gesellschaft zugleich “bewegte”  und  polarisierte,  in der sich bei aller Sprachverstummung und aller Gewalttätigkeit Fragen herausbildeten, die auch heute, knappe fünf Jahre später, nachdem eben mit grossem Prunk das renovierte Opernhaus wieder eröffnet wurde, noch ungelöst sind. Wie kam es zu jenem zerstörerischen Abbruch des Dialogs, dessen Spuren in einem latenten Misstrauen, in einer nervösen Reizbarkeit immer noch präsent sind? Hat ein Dialog vorher überhaupt bestanden? Oder war nicht gerade die “Bewegung” die vehemente Forderung nach einem Dialog, die nicht anders als negativ formuliert werden konnte, weil eine positive Einübung im geduldigen Erhorchen der Bedürfnisse und in der selbstlosen Antwort darauf nicht bestand?

War in der Radikalität des “subito”, d.h. im Erheischen unmittelbarer, Erfüllung von Sachwünschen (Autonomes Jugendhaus, autonomes Kulturzentrum etc.) nicht der Kompensationscharakter überdeutlich für nicht erfolgtes Verstehen, für nicht gewährte Geborgenheit? Hatte die erschreckende Zukunftsabsage der Slogans – “no future” und “Eiszeit” – nicht die dialektische Code-Funktion einer verzweifelten Bitte um Zukunft, einer nicht anders formulierbaren Bitte um Wärme?

Wie kam es zu jenem lähmenden Zustimmungsdefizit sowohl von der Generation der Kinder der Erwachsenengesellschaft gegenüber wie von der Gesellschaft der Erwachsenen der Generation der Kinder gegenüber? Wie kam es, dass allen Institutionen der Gesellschaft, angefangen bei der Schule, nur noch misstraut wurde, dass ihnen als Formen unterdrückender Herrschaft der Kampf angesagt  wurde, dass daraus ein hilfloser Abtausch von Gewalt und Gegengewalt sich entwickelte? Ein “Machtspiel” zwischen Jugend und politischen Institutionen hiess es in der Presse; doch hatte dieser Abtausch von Gewalt nur insofern mit Macht zu tun, als er einen Mangel an Macht offenbar macht: Ohnmacht auf Seiten der rebellierenden Jugend, Machtverlust und damit Glaubwürdigkeitsverlust auf Seiten der politischen Organe. Bei intakten gesellschafltlichen Verhältnissen, die im Mass geteilter Verantwortung immer in einem gewissen Mass hierarchisch geordnet ist, erfolgen Einordnung und Zusammenarbeit auf der Basis des Vertrauens und der Anerkennung der jeweiligen Rechte und Befugnisse; Unterordnung, Unterdrückung, Zerstörung und Gewalt erübrigen sich. Da wo Kinder zerstörerisch und gewalttätig werden, bricht ungesättigter seelischer Hunger in einem lauten Schrei durch; da wo Erwachsene oppressiv und gewalttätig sind, beweisen sie ihre seelische Armut und ihre menschliche  und machtmässige Hilflosigkeit.

Unsere scheinbar so mustergültige Gesellschaft befand sich und befindet sich in einem Denk- und Handlungspatt. Wieso es so weit kam, wurde wohl gefragt, jedoch gingen die gegebenen Antworten an den Gründen vorbei. Weder der an die Jugend gerichtete Nihilismus-Vorwurf Jeanne Hersch’s  noch die so bequeme Erklärung, es seien “linke Agitatoren” am Werk, die im bürgerlichen Lager allenthalben laut wurde, konnten den Zusammenbruch der gesellschaftlichen “apparence” erklären. Wohl war die Art und Weise, in der die Jugend sich plötzlich zur Wehr setzte, Zeichen ihrer Hilflosigkeit und politischen Unerfahrenheit;  dass sie sich aber zur Wehr setzte, bewies Zukunftsbejahung, allen zerstörerischen Aktionen zum Trotz, bewies, dass nach langanhaltender Resignation einer überbedrohten, “leeren” Zukunft gegenüber der Hunger nach jugendgerechten, lebensgerechten Inhalten übermächtig wurde. “Um vernünftig reagieren zu können, muss man zuerst einmal ansprechbar sein, muss “bewegt” werden können”, schrieb Hannah Arendt, die vor genau zehn Jahren verstorbene  grosse Philosophin  im Anschluss an die 68-er Unruhen 2). Vernünftigkeit aber hat immer mit Freiheit und mit Gemeinschaftssinn zu tun und gleichzeitig mit der ungeheuren Spannung zwischen den beiden Polen der Entfaltung, die scheinbar widersprüchlich und unvereinbar, deren Verwirklichung im Wechselspiel und im Austausch aber den Menschen zum verantwortlichen Mitmenschen werden lässt. Dies, die Verwirklichung beider grundsätzlicher Anlagen: Autonomie  und  Gemeinschaftssinn, die Befähigung zur Selbständigkeit  im Denken, im Handeln und in der Lebensfreude sowie die Liebes- und Mitleidensfähigkeit als Verantwortlichkeit, dies soll Ziel dessen sein, was immer noch Erziehung heisst, aber eigentlich als Begleitung zu verstehen ist. Weil vergessen wurde, seit Generationen, oder weil vielleicht kaum je bewusst wurde, was Sinn und Ziel der Erziehung  ist, weil vor allem die Begründung dieses Erziehungsständnisses in der Praxis missachtet wurde, dass nämlich auch das Kind im Sinn der ursprünglich menschlichen Vernünftigkeit, d.h. mit der Anlage und mit dem Recht auf Entfaltung von Freiheit und Gemeinschaftssinn, ein ganzer Mensch ist, deswegen erkrankte die Gesellschaft zunehmend heftiger von der Wurzel her, bis sie sich, wie dies bei jeder Krankheit der Fall ist, in der Krise der Krankheit zu erwehren suchte. Krisen sind immer Entscheidungsmomente zwischen Leben und Tod. Die Erziehungs-  und  Lebenskrise, die mit den 80-er Unruhen virulent wurde, ist noch nicht abgeschlossen, auch wenn die eruptiven, gewalttätigen Formen ihrer Selbstdarstellung sich gelegt haben, auch wenn sie sich nur im Verborgenen, im Stillen weiterentwickelt.

An uns ist es, die wir uns für Kinder und für junge Menschen verantwortlich fühlen, vom Denken und vom Handeln her dieser Krise Einhalt zu gebieten, d.h. die “Krankheit”von ihrem Ursprung her zu heilen.

Wie sollen wir dies tun?

Wir müssen uns auf das besinnen, was für den Menschen selbst, d.h. für das Kind als Menschen, als –  zwar noch äusserst  schutz- und hilfsbedürftigen –  Menschen gut ist, nicht auf das, was wir selbst erfahren haben oder was die Zeit als gut erklärt. Wir müssen den Mut haben, uns sowohl gegen die Zeit zu stellen, soweit sie das Machtgebot der Masse ist, wie auch für die Zeit, soweit sie unsere Existenz und die unserer Kinder im Werden ist, soweit sie sich als eine zu schaffende Zeit, als Zukunft versteht. Kant, der sich gerade dadurch auch als der grosse Aufklärer erweist, schrieb, dass “Kinder (… )  nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglichen besseren Zustande des menschlichen  Geschlechts” erzogen  werden sollen,”das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen… Dieses Prinzip ist von grosser Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, dass sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand hervorgebracht werde”  3). Die”Idee der Menschheit” besteht aber gerade in der weitestmöglichen Anerkennung und Entfaltung der Individualität  und  der Gemeinschaftlichkeit, der Menschlichkeit und der Mitmenschlichkeit, der Freiheit in der Anerkennung und  in der Begrenzung durch die Gemeinschaft.

Die Hinderungsgründe  für diese Art der Erziehung, die Kant 1803 bei der Niederschrift seines Werkes anführt, sind heute immer noch relevant. 180 Jahre später sind  die Kernaspekte der gesellschaftlichen Misere, wie sie aus gedankenloser Erziehung entstehen, immer noch die gleichen. Als die zwei “Hindernisse” führt Kant an, dass nämlich 1. “die Eltern gemeiniglich nur dafür sorgen, dass ihre Kinder gut in der Welt fortkommen, und dass 2.  “die Fürsten ihre Untertanen nur wie Instrumente zu ihrem Zweck betrachten”. (wenn wir anstelle von ”Fürsten” die Herrschaft der Gesellschaft setzen, gilt auch der zweite Grund heute noch). Nach Kant also  liegen die Mängel der Erziehung darin, dass die Kinder vor allem für den Erfolg in der Welt gedrillt werden, wie die “Welt” sich gerade gibt, und dass sie im Sinn dieser “Welt”als Mittel zur Trendstützung und Herrschaftserhaltung missbraucht werden.

Wir wollen uns mit den beiden Behauptungen kurz befassen:  Es ist, zum ersten, gewiss nicht unredlich, dafür zu sorgen, dass die Kinder gut in der Welt fortkommen”. Da aber, wo diese “Sorge” der alleinige Bewegggrund in der Erziehung ist, kommen die Kinder auf schwerwiegende Weise zu kurz; da “müssen” sie sich immer schon, von den ersten Lebensjahren an, so verhalten, wie die “Welt” es scheinbar erwartet: da müssen sie still sein, dürfen weder weinen noch laut lachen oder toben, damit die Nachbarn sich nicht beschweren; da dürfen sie sich nicht schmutzig machen, mithin auch draussen nicht herumtollen nach Lust und Belieben, damit sie den Reklamebildern  entsprechen, wie sie täglich über den Fernseher und die Zeitschriften als Normbilder, d.h. als Bilder scheinbarer Normatität, den Eltern nahegebracht werden; da müssen sie von allem Anfang an braver, geschickter, weiter fortgeschritten, schläuer und “herziger” sein, weil ja das Wettbewerbsdenken vor den Herzen der Eltern und vor den Türen der Kinderzimmer nicht Halt macht. Und die kleinen Kinder, noch kaum geboren, dürfen nicht ihren Hunger anmelden, wann er eben da ist, sondern sie werden nach einem bestimmten Stundenplan geweckt und gefüttert, damit sie von allem Anfang merken “was Ordnung ist” und “wer das Sagen hat”. So gross ist die Angst der Eltern  vor der Freiheit, die sich in den ursprünglichen Bedürfnissen der Kinder zeigt, im Bedürfnis nach Schlaf und nach Nahrung, nach Gewiegt- und Getragensein, nach Entleerung und Aufnahme, nach Lernen und Lachen, nach Verstehen und Mitteilen, so gross ist die Angst davor, dass sie diese Freiheit gar nicht aufkommen lassen wollen, dass sie sie mit allen Zwangsmitteln, denen sie selbst unterworfen wurden und denen sie in ihrer Arbeit, in der “Welt” immer noch unterworfen werden, mit der Uhr in der Hand und mit dem erhobenen Drohfinger, dass bei  Nichtbefolgung der Regeln Liebesentzug und Strafe folgen, sie diese Freiheit unterdrücken. Und damit eben machen sie die Kinder zu “Instrumenten ihrer Absichten” ,    wie Kant sagt, zu Mitteln in ihrem eigenen Lebensplan. Dass dies ein Verbrechen ist, ein Verbrechen gegen die Menschenwürde, muss hier unumwunden gesagt werden, so schwer das Wort wiegt, und das jedes Kind sich irgend einmal dafür rächt und dagegen aufsteht, ob im privaten Rahmen oder im öffentlichen, wie 1980 die Jugend von Zürich es tat, darüber braucht man sich nun nicht mehr zu wundern. Nun, sagen viele, das sei eben nicht zu verhindern, Rebellion gehöre mit zur Pubertät und zur Selbstfindung des einzelnen. Dem kann nicht widersprochen werden. Unnötig aber, vermeidbar ist der schmerzliche Prozess der Beziehungszerstörung und der Vereinsamung, der für alle Beteiligten damit einhergeht. Dieser kann verhindert werden, wenn die Eltern zu eigentlicher, zu  nicht-konditionaler Liebe fähig sind, wenn sie, ohne Bedingung von Anpassung und Unterwerfung, die Kinder zur Entfaltung ihres eigenen Wesens in der Gemeinschaft begleiten.

Sie alle werden mir zustimmen, ich kann dies annehmen, denn dies ist zugleich das Einfachste und das Schwierigste; aber in diesem Einfachsten liegt der Schlüssel zur Verbesserung der gesellschaftlichen Misere: dass Menschen gegenüber, die von einem abhängig sind, auf jede Konditionalität, auf jeden Machtanspruch verzichtet wird; dass Anerkennung, Hilfe, Liebe bedingungsfrei gewährt werden. Die Angst, dass Kinder dadurch zu “Tyrannen” werden, ist falsch; Kinder werden nur dann tyrannisch, wenn sie seelisch zu kurz kommen. Die andere Angst, dass sie auf diese Weise zu wenig fürs “Leben” gewappnet seien, ist auch falsch; denn sie bewähren sich im Leben im Mass der Selbstgewissheit, die sie sich im Mass der Anerkennung, die sie in den ersten Lebensjahren erhalten haben und im Mass der Erfahrung von Geben und Nehmen, von gemeinschaftlichem Austausch, in dem sie schon als Kinder voll akzeptiert und gefordert werden, den sie in Freiheit üben konnten.

Damit wollen wir den heutigen Vortrag abschliessen. In der nächsten Stunde werden Sie Gelegenheit haben, Ihre eigenen Erfahrungen und Ihre eigenen Ueberlegungen zum heutigen Thema mitzuteilen. Bevor ich schliesse, möchte ich Ihnen noch die Themen der nächsten noch zur Verfügung stehenden fünf Abende mitteilen:

am 15.Januar  sprechen wir über Spiel, Phantasie und Arbeit; am 22. Januar über die Bedeutung anderer Kinder für die Kinder, über Geschwister- Kindergarten- und Schulerfahrung unter diesem Aspekt, über das Wesen kindlicher Freundschaft, über Besitzdenken und Eifersucht; am 4.Abend sodann, am 29.Januar, über Formen der Anerkennung, über Belohnung und Strafe, über die Bewertung von Lernprozessen (Noten etc.); am 5.Februar über Sinnlichkeit, Sexualität und Aesthetik des Kindes, und am 12. Februar schliesslich, unserm letzten gemeinsamen Abend in diesem Semester, über die Ich-Entwicklung in der Gesellschaft, über Möglichkeiten und Masstäbe der Identitätsfindung.

Das Rahmenthema über allen Einzelthemen betrifft immer die Förderung des Kindes zu einem freiheitlichen  und  gesellschaftsfähigen Menschen im Widerstand gegen unreflektierte soziale Reglementierung.

lies auch hier: 

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1) Arno Plack, Die Gesellschaft und das Böse, Ullstein-Sachbuch  Nr.34015, Frankfurt a.Main, erstmals 1967

2) Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1970

3) Immanuel Kant, Ueber Pädagogik, Weischedel-Ausgabe B d.XII, S.704

2. Abend – Betrachtungen zum Rahmenthema (zur Gesellschaft, zur erzieherischen Aufgabe)

3. Abend – Spiel, Phantasie und Arbeit

4. Abend –  Die Bedeutung anderer Kinder für die Kinder; Geschwister-, Kindergarten- und Schulerfahrung; kindliche Freundschaften, Besitzdenken und Eifersucht

5. Abend –  Formen der Anerkennung, Lohn und Strafe, Bewertung der Lernprozesse (Noten etc.)

lies hier:

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5. Abend – Sinnlichkeit, Sexualität und Aesthetik und Agressivität des Kindes (im Zusammenhang der kindlichen Entwicklung, als Möglichkeiten der Selbstmitteilung auf der Suche nach Identität)

Ein langer Titel für die dichtgedrängte Reflexion des heutigen Abends! Auch hier können wir die einzelnen Phaenomene nicht anders als vom Standpunkt der Philosophie her betrachten, d.h. indem wir nach ihrer vielschichtigen Bedeutung fragen: Bedeutung in der Zeit (als Aufgabe und als Chance der Selbstenfaltung in der Gesellschaft), Bedeutung für das Kind, Bedeutung für uns; Bedeutung als Ergebnis von Wechselwirkung.

Friedrich von Hardenberg, unter dem Namen Novalis bekannter christlich-romantischer Dichterphilosoph (1772-1801), hielt in seinen “Fragmenten” scharfsinnig fest, was bis in die jüngste Zeit diese Reflexion erschwert hat: “Menschen zu beschreiben, ist deswegen bis jetzt unmöglich gewesen, weil man nicht gewusst hat, was ein Mensch ist. Wenn man erst wissen wird, was ein Mensch ist, so wird man auch Individuen wahrhaft genetisch beschreiben können”.  (Aufschlussreich ist es, dass diese Novalis-Aussage von Ludwig Marcuse in seiner Freud-Monographie zitiert wird, eingangs zum II.Kapitel, das mit “Die Biographie von Jedermann” überschrieben ist)**).

Wir wollen mit unserer Reflexion bei dieser Novalis-Aussage einhaken. Der einzelne Mensch in seinem individuellen Werden liess sich so lange nicht erfassen, als der Mensch als Gattungswesen in der Gesetzlichkeit seines Werdens nicht erkannt war, als eine “allgemeine” biopsychol0gische” und damit auch psychologische Geschichte  “des” Menschen nicht aufgezeichnet werden konnte. Dass wir uns heute das Eingeständnis dieses generellen Nicht-Könnens ersparen dürfen und dass wir uns, ohne anmassend zu sein, mit der Eigen-Geschichtlichkeit  des einzelnen Kindes befassen dürfen, weil ja der allgemeine Entwicklungsweg des Kindes in der Korrelation von Körper und Seele aufgezeichnet ist, so ist dies, auch heute noch, Freud zu verdanken, dem Wiener Arzt Sigmund Freud, 1856 geboren, 1939 im Londoner Exil gestorben, dem viel bewunderten, viel belächelten, scheinbar längst überwundenen Tabubrecher verängstigter Moralität, dem Wegbereiter aufgeklärter Selbstbejahung. Gewiss wurden in seiner Nachfolge weitere und weniger einseitige psychoanalytische Theorien entwickelt, aber damit diese entwickelt werden konnten, bedurfte es Freuds bahnbrechender Leistung. Erich Fromm, selbst Psychoanalytiker eigenen Gewichts, welcher der “Grösse und den Grenzen” von Freuds Psychoanalyse  eine bedeutende Untersuchung ge­widmet hat*), formuliert den doppelten Aspekt der Abhängigkeit und der Weiterentwicklung von Freuds Theorie trefflich so, dass die Men­schen auf Freuds Schultern ständen und, weil sie so viel weiter sehen könnten als er, ihn selbst deshalb als einen Zwerg betrachteten. Tatsächlich aber war er ein “Riese”, und alle Bestrebungen seiner Nachfahren, seine Grösse zu bestreiten, haben etwas vom wilden Kampf der Söhne gegen übermächtige Väter, den Freud selbst als “Oedipus­komplex” diagnostiziert  hat, an sich.

Was es damit auf sich hat, was es überhaupt mit Freuds Theorie auf sich hat, soll zuerst kurz dargestellt werden, zumal auch mein ­ existenzphilosophischer ­Ansatz der Selbstentfaltung als unaufhebbare Wechselwirkung menschlicher Abhängigkeit und menschlicher Würde, in der Bedürftig­keit wie in der Fähigkeit, des andern Menschen Bedürftigkeit zu ver­mindern oder gar aufzuheben (woraus sich einerseits Autonomie und Altruität entwickelt, andererseits, wiederum in der Zuordnung zu den beiden Koordinaten des Erkennens und Handelns, daraus abgeleitet, das Netz von Grundpflichten dem andern Menschen gegenüber, dessen Bedürftigkeit auch schon, weil es mich in meiner Autonomie gibt, die Begründung der Grundrechte bedeutet), nun, weil dieser Ansatz sich ja auch den psychoanalytischen Theorie Eriksons (auf die ich im 6.Vortrag eingehen werde) verwandt fühlt, die wiederum auf Freuds Theorie aufbaut – eine lange Präambel für etwas Selbstverständliches!

Freud unterscheidet beim Menschen drei Grundkräfte: das Es (wobei die Bezeichnung auf Georg Groddeck zurückgeht, einen genialen, unsyste­matischen und unwissenschaftlichen Zeitgenossen Freuds***)), d.h. die naturgegebenen  Urtriebe des Menschen, Eros und Thanatos, Lustprinzip und Todeswunsch, aus denen sich alle menschlichen Antriebe ableiten lassen, diejenigen, welche den Menschen liebes-­ und gemeinschaftsfähig machen wie die selbst-­ und gemeinschaftszerstörerischen; als zweite Kraft bezeichnet Freud das Ich, d .h. die vernunftgesteuerte Fähigkeit, der Realität, auch der Relität der Verweigerungen  den Forderungen des Es gegenüber, zu begegnen; sodann das Ueber-ich, ­jene Kraft, die wir in herkömmlicher Weise als das Gewissen bezeichnen, die Fähigkeit, nach Kriterien von Recht und Unrecht das Verhalten des Ichs zu beurteilen, auch im Rahmen sozialer Zugehörigkeit und Mitverantwortlichkeit. Das Herauswachsen des Ichs aus einem Teil des Es und des Ueber-Ichs aus dem Ich macht einen bedeutenden Teil der kognitiven Entwicklung aus.

Damit einher geht die psycho­sexuelle Entwicklung des Kindes,  d.h. die Verschiebung der Libido auf die verschiedenen Körperzonen, durch welche das Kind seine Bedürfnisse zu befriedigen sucht. (Unter Libido versteht Freud jene ­ – prägenitale -­ sexuelle Energie, durch welche andere Zonen als die Geschlechtsorgane die vitalen Funktionen wie Essen, Verdauen, bestimmte Bewegungen usw. mit Lustempfindungen verbinden. Freud  zählt  hierzu  zuerst  die orale Phase,  in der der Mund und der obere Verdauungstrakt Ort der Befriedigung darstellen und welcher durch das Saugen bewirkt wird, die Brust der Mutter, die Mutter selbst, eine Milchflasche mit einem Schnuller als Ersatz, häufig auch der Daumen. Bei fortschreitender Entwicklung wird das Saugen durch das Beissen abgelöst, wodurch, noch innerhalb der oralen Phase, eine erste passive Stufe durch eine zweite aggressivere und zerstörerische Stufe abgelöst wird. Freud bezeichnet diese Phase als oral-agressiv. Allmäglich, etwa ums 3. Altersjahr herum, hört der Mund auf, hauptsächlicher Ort der Befriedigung zu sein. In stärkerer Weise ist es nun der untere Verdauungstrakt, insbesondere der Anus. Es ist die Zeit erster Autonomieentwicklung, erster selbständiger Entscheide herzugeben oder zurückzuhalten, ein­zuteilen, zu sammeln oder zu vergeuden, den Darminhalt zuerst und andere Gegenstände sodann, welche Ersatzbedeutung annehmen können. Es ist die Phase, die wir auch Trotzalter nennen, und die für Freud eine Zeit unausweichlicher Konflikte zwischen Eltern und Kind ist, vor allem um die Frage, wer Zeit und Ort der Stuhlentleerung bestim­men soll. Verläuft diese anale Phase jedoch ohne grosse Störungen, so werden nun für kurze Zeit die Genitalien selbst wichtig. Freud nennt diese Phase ­ aus einem ausschlisslich männlichen Blickwinkel die phallische Phase: der Bub möchte die Mutter heiraten, den Vater verdrängen, hat deswegen jedoch Schuldgefühle und schwere Aengste, gestraft, ja gar kastriert zu werden (was früher Buben, die beim Masturbieren überrascht wurden, vielleicht tatsächlich angedroht wur­de). Die komplizierte Gefühlslage dieser Phase bezeichnet Freud als Oedipus-Komplex  – nach Oedipus, der  seinen  Vater Laios ermordet und seine Mutter Iokaste heiratet, mit der er vier Kinder zeugt, Eteokles, Polyneikes, Antigone und Ismene, bei Mädchen in analoger Weise als Elektra-Komplex bezeichnet:­ das Bedürfnis nach Initiative und nach Durchsetzung der nun ­ – auch geschlechtlich verstandenen –  ­ eigenen Rolle wechseln ab mit Kleinmütigkeit und Scheu vor der verfrühten, ja erst spielerisch verstandenen Selbstdefinition, die, vom Unbewussten gesteuert, viele Formen des Ausdrucks findet: Da bauen Buben hohe Türme, schiessen mit Pfeilen, spielen Räuber und Indianer, und mit den gleichen Bauklötzen bauen die Mädchen meist Innenräume, die sie mit Wänden umgeben, Stuben, Puppenstuben, die sie ausstatten,  spielen überhaupt Mutter und Kinder, machen Kreisspiele, in welche die Buben manchmal störend eindringen. So wie das Saugen in der oralen Phase, das Hergeben und Zurückhalten in der analen Phase, werden in der infantil­-genitalen (phallischen) Phase das Eindringen und Umschlies­sen typische kindliche Formen der Tätigkeit. Diese Phase ist jedoch gewöhnlich nur kurz, und, etwa vom 6.Altersjahr an, kapituliert das Kind in diesem Wettkampf mit Vater oder Mutter um den andersgeschlechtlichen Elternteil, es verinnerlicht seine Bestrebungen oder lagert sie auf andere Tätigkeiten um, ersetzt sie durch Werksinn und Lerneifer, durch das Bedürfnis, in ­ eher ­ gleichgeschlechtlichen  Gruppen aufgenommen zu sein: Buben spielen mit Buben, Mädchen mit Mädchen, und scheinbar interessieren sie sich kaum für einander, die ­ eben noch ­ so wichtige Sexualität scheint vergessen, verdrängt zu sein. Freud nennt diese Zeit die Latenzzeit, eine Zeit, welche die eigentlichen Schuljahre umfasst, eine Zeit der Persönlichkeitsreifung, in welcher in gesteigertem Mass das kindliche Lern­ und Urteilsvermögen sich ausbildet und sich gewisser­massen gegen die “Stürme” wappnet, welche, bedingt durch die physiologische Entwicklung zu Beginn der Pubertätszeit,  die Herausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale und die damit verbun­denen Verunsicherungen, Aengste und Wünsche, diese Zeit des Wachsens und der Realitätsverarbeitung  unterbrechen. Wenn die psychosexuelle Entwicklung des Kindes bis zu diesem Moment harmonisch verlief, wenn sie nicht grossen Verneinungen und Zwängen und nicht übertriebe­ner Beachtung ausgesetzt war, wird es dem jungen Mädchen und dem jungen Mann gelingen, im Lauf der Adoleszenz Sexualität als Teil der Gesamtpersönlichkeit bei sich und beim andern zu verstehen, mithin auch in sexueller Hinsicht nicht monologisch, sondern dialogisch, im Sinn der Rücksichtsnahme und der Ergänzung sich zugleich im andern zu verlieren und sich in ihm zu finden.

Was ist als Ergebnis aus der Zusammenfassung der psychosexuellen Entwicklung des Kindes festzuhalten? Dass jede Phase ihre typischen Ausdrucksformen, Lust­ und Angsterfahrungen  kennt, dass nur durch Bejahung die einzelne Phase selbst überwunden werden kann, am besten indem sie “ausgespielt”,  ev. ausgekämpft werden kann, dass im gesamtpersönlichen Wachstums­ und Reifeprozess keine Phase “übersprungen” werden kann, ohne dass der ganze Mensch Schaden leidet, dass Sexua­lität auf keinen Fall etwas ist, was mit Beginn der Pubertät plötz­lich “da” ist, sich unvermittelt als Ergebnis aufdrängt, sondern sie entwickelt sich schrittweise, ähnlich wie die Organe beim Embryo. (Erikson braucht diesen Vergleich, der sehr zutreffend ist). Wenn nicht jedes Organ sich im dafür vorgesehenen Zeitpunkt entwickeln kann, entwickelt es sich später nicht mehr, ist es dafür zu spät. Wir müs­sen für die psychosexuelle Entwicklung hier den Begriff der Kathexis einführen, der “Besetzung” bestimmter Körperzonen und bestimmter Objekte mit jener Energie, die Freud Libido nennt.  Kommt das Kind bezüglich seiner phasenspezifischen Bedürfnisse nicht zu kurz, so kann es die “Besetzung” aufheben und sich weiterentwickeln, wenn nicht, bleibt  es in einer bestimmten Phase fixiert und verlangt weiter­hin nach deren Befriedigungsformen, obwohl es altersmässig längst darüber hinausgewachsen ist. (Doch kann interessanterweise nicht nur ungenügende Befriedigung, sondern auch Uebersättigung eine Phasenfixierung bewirken. Es ist daher wichtig, mit viel Finger­spitzengefühl das Kind selbst den Rhytmus seiner Entwicklung bestimmen zu lassen, seine Bedürfnisse in jeder Phase ernst zu nehmen und damit auch die Rollenerwartung, die es an uns stellt. Indem wir auf es eingehen, und nur so, leben wir ihm echtes Dialogverhalten vor und ersparen ihm weitgehend jene Vereinsamungserfahrungen, welche psychische Störungen noch im Erwachsenenalter bewirken. In der Weiterentwick­lung der Freud’schen Theorie können manche Eigenschaften Erwachsener als Fixierungen auf frühkindliche Phasen erklärt werden.  (Beispiele: Unselbständiges, gebieterisches Verhalten, überwiegend orale Formen der Befriedigung  wie Essen, Nägelkauen, Trinken, Rauchen, Kaugummi­ kauen, Schwatzhaftigkeit usw. auf die orale Phase; zynisches, ”beissen­des” Verhalten auf die oral­-sadistische, die Beissphase; Geiz, Sammel­wut, Pedanterie, Misstrauen auf der Ebene der Selbstmitteilung, des Informationsaustauschs, übertriebener Formalismus als Fixierung auf die anale Phase, ebenso, als gegenteiliges Extrem, übertriebenes Verschwendertum oder auch dauernde Auflehnung gegen Autorität, generelle Unpünktlichkeit, Verachtung von Terminplänen, beständiges “schmutziges” Reden usw. als Fixierung auf die phallische Phase sodann egozentrisches sexuelles Draufgängertum, bei Männern und bei Frauen, auch unversönliches und ausschliessliches Rivalitäts­denken.

Wichtig ist, festzuhalten, dass Freud’s Phasen-Schema nur eine Erklärungsgrundlage neben vielen weiteren bildet, da ja die kindliche Existenz und deren Entwicklung den Einwirkungen vielschichtiger Realitätsumwelt ausgesetzt ist.

Das zweite wichtige Ergebnis betrifft den Einbezug der kindlichen Aggressivität  in den Prozess der kindlichen Entwicklung. “Aggredi” heisst ja in einer ersten Bedeutung nichts anderes als “sich hinbegeben”; “angreifen” erst in einer zweiten Bedeutung. Aggressivität  ist zweifel­los eine Ausdrucksweise des zweiten mächtigen Grundtriebs menschlichen Lebens neben dem Lustprinzip, dem Trieb nach Verneinung, nach Zerstö­rung, dem Todeswunsch. Es gilt gewiss nicht, diesen Antrieb beim Kind zu fördern, es gilt jedoch, ihn nicht zu leugnen; nur so kann er in konstruktive Energie umgewandelt werden. Vor allem Bruno Bettelheim, der grosse amerikanische Kinderpsychologe, weist auf diese Notwendigkeit hin****). Nicht indem das Böse geleugnet wird, wird es aus der Welt geschafft, sondern indem es als Böses erkannt und nicht getan wird. Auch dazu ist der Mensch, ist schon das Kind fähig. “Bewältigung durch Verstehen”, schreibt Bettelheim, der als junger Mann die Realität der totalen Verlogenheit  des Bösen und damit der schranken­losen Herrschaft des Bösen in den Nazi­-Vernichtungslagern erlebt hat (“Arbeit macht frei”), “Bewältigung durch Verstehen ist immer noch die beste Art, unsere Kinder für den Umgang mit ihren eigenen schwie­rigen und schädlichen Gefühlen zu wappnen, unter denen ihre aggres­siven Neigungen die gravierendsten  Probleme für sie selbst und für die Gesellschaft verursachen”.

“Verstehen” aber ist ein vielschichtiger Vorgang, der vor allem das Erfassen der Zusammenhänge bedeutet, den Einbezug des verstehenden Subjekts in das Netz von eigenem und fremdem Handeln und Wirken, von Frage und Antwort, von Ursache und Wirkung, von Verantwortlich­keit. Verstehen, nicht leugnen, vermag, aus der Neigung zu gewalt­samem, zerstörerischem Handeln etwas Aufbauendes zu schaffen, ist doch Verstehen in besonderer Weise eine dialogische Funktion. Auch hier bedarf es in der Erziehung grosser Klugheit: Nicht indem jedes Nein des Kindes verboten oder unterbunden wird, sondern indem vom Verstehen her zwischen dem sinnvollen Nein der nötigen Selbst­abgrenzung und dem sinnlosen der Zerstörung unterschieden wird; nicht indem jedes trotzige Aufbegehren gleich als “böse” abgelehnt oder gar bestraft wird, sondern indem es auf sein Entstehen hin, auf seinen Grund hin befragt wird; nicht indem alle Kampfspiele der Jungen untersagt werden, sondern indem auch hier Fairness gelehrt und vorgelebt wird, indem auch der überschäumenden Energie, die sich in diesem Bedürfnis zeigt, sinnvolle Möglichkeiten der Anwen­dung geboten werden. Auch sollte man den Kindern erlauben, offen über ihre aggressiven Wünsche sprechen zu können, denn diese Wünsche selbst haben etwas Bedrängendes und Beängstigendes an sich, welches weder durch Unterdrückung noch durch Gewaltausbrüche, sondern nur durch Klärung, durch das Verstehen der Zusammenhänge gelöst und ent­wirrt werden kann (z.B.Wut im Zusammenhang der Geschwisterrivalität der Minderwertigkeitserfahrung usw.).  (Vgl. auch Erfahrungen Bettel­heims mit emotional gestörten Kindern, die in der kognitiven Entwick­lung als zurückgeblieben erschienen und die den Rückstand im Lernprozess des Lesens nur über Ausdrücke ihrer negativen Realitätserfahrung, ihrer Wut-­Erfahrung, aufholen konnten).

Der “dunk­le” Aggressionstrieb hat eine gegensätzliche lichte Entspre­chung, die beim Kind, oft ebenso wenig anerkannt, von grosser gesamt­-existentieller Bedeutung ist: das Bedürfnis nach Schönheit, Was vom Kind als schön empfunden wird, hat mit dem Mass seiner Selbst-­ und Welterfahrung zu tun und entspricht ebenso sehr seiner innern Welt, seiner Traum­ und Vorstellungswelt, wie seinem Ausgesetztsein  in seiner Umwelt, mit allen Fülle­ und Mangelerlebnissen, die es von seinen ersten Tagen an kennt. Selten stimmt dies mit dem überein, was der gesellschaftliche  Trend, der Markttrend, als “schön” für das Kind erklärt. Dieses Schönheitsempfinden ist auch bei jedem Kind verschieden und verändert sich im Mass seiner innern und äussern Entwicklung. Das Kind, sobald es das Bedürfnis dafür zeigt, mitbestimmmen zu lassen, was es tragen möchte, wie es sein Bettchen, seine Zimmerecke oder gar sein eigenes Zimmer eingerichtet haben möchte, ist für die Eltern weder teurer noch aufwendiger, ist aber eine Respektbezeugung dem Kind gegenüber. Und das Ausdrucks-­ und Gestaltungsbedürfnis  des Kindes mit Freude anzuerkennen und zu fördern, in seiner Freiheit und Eigenart, es nicht unsern formalen Vorstellungen unterzuordnen, es im Licht-­ und Farb­- und Raumgefühl sich Form geben zu lassen, es malen, Musik machen, tanzen, basteln zu lassen, wie es selbst dies für richtig empfindet, ist von grösster Bedeutung für das Kind selbst wie für uns, die es verstehen möch­ten, die ihm nicht anders denn im Verstehen Liebe richtig zeigen können. Schönheit hat mit dem eigenen Mass des Kindes zu tun, aber auch mit dem Echten, Elementaren, das als Freude erlebt wird: Erde und Sand, Wasser und Schnee, das Trockene und das Feuchte, frisches, duftendes Brot, Farben, Sonne, Karussell, Kerzenlicht,knisterndes Feuer ­ wie viel Schönheit lässt sich durch das Kind und mit dem Kind realisieren: als Seinsgewissheit und als Seins­übereinstimmung, als Harmonie,  in der das eigene Selbst und die umgebende Welt zusammenschwingen, in der das Dissonnante und Verletzende erfahrener Unverstandenheit sich glättet und heilt. Die Fähigkeit dazu, das “Zauberwort”, trägt jedes Kind in sich, wie Eichendorffs Taugenichts:

Schläft ein Lied in allen Dingen,

Die da träumen fort und fort,

Und die Welt hebt an zu singen,

Triffst du nur das Zauberwort.”

Am leichtesten geschieht dies dort, wo das Spielele­ment selbst die Kinder in der gleichen Lust verbindet, im Sandkasten oder im Bad.

Dieses Spielverhalten wird als die soziale Leitlinie  in der Spiel­entwicklung bezeichnet, und deren Bedeutung darf nicht unterschätzt werdeno Sie ist, vor allem im Vorschul­ und Schulalter, zugleich Abbild der Erwachsenengesellschaft und Grundmuster jener Gesellschaft, welche die Kinder als Heranwachsende bilden werden. Es darf nicht unterschätzt werden, in welchem Mass Eltern und Erzieher gerade in dieser Hinsicht durch die Art ihres Zusammenlebens Verantwortung auf sich nehmen, wie weit sie Rivalität, Wettbewerbsdenken oder Verträglichkeit unter den Kindern bewirken oder verhindern, allein durch das Beispiel ihres Handelns und Sprechens; auch wie weit sie Verträglichkeit  durch die Art ihrer Einmischung, ihrer Stellungnahme, durch die oft unüberlegte  Bestrafung  einzelner Kinder innerhalb der Kindergruppe verunmöglichen.

Als “Jubel des Möglichen” haben wir eingangs  mit Martin Buber das Spiel eingeführt, als heiteres, zweckfreies Erproben der Bedingungen der Wirklichkeit. Wir haben im Lauf des Abends erfahren, dass das Spiel für den Aufbau der kindlichen Selbst­- und Gemeinschaftserfahrung wie für die Entdeckung der Welt unersetzbar  ist, dass es also in aller Heiterkeit von gleichem Ernst und gleicher Notwendigkeit ist wie die Arbeit des Erwachsenen und somit auch die gleiche Beachtung und den gleichen Respekt erheischt. Spiel und Arbeit gemeinsam ist das Werk, von dem Adrien Turel, der 1957 in Zürich verstorbene Schriftsteller, sagt, es sei “die Heimat des Menschen”. Mit dem Werk, das zweckfrei im Spiel entsteht, bestätigt das Kind stolz sein Können, und im Werk, das Frucht der Arbeit ist, sieht der Erwachsene den Einsatz von Zeit und Kraft gelohnt. Vielleicht lässt sich mit der Missachtung dieser Gemeinsamkeit die Tatsache erklären, dass in den meisten historischen Werken über die Ent­wicklung der Kindheit die kindliche Spielentwicklung kaum beachtet oder erschlossen wurde*****). Uns fällt die Freude zu, sie ernstzunehmen!

*)Ludwig Marcuse, Sigmund Freud, Spin Bild vom Menschen, Rowohlts deutsche Enzyklopädie, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 1956

**) Erich Fromm, Sigmund FrPuds Psychoanalyse  ­ Grösse und Grenzen, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1979; Ex Libris Lizen�ausgabe 1981

***) Georg Groddeck, Das Buch vom Es, zuerst Internat.Psychoanalyt.Verlag Wien 1923j heute Fischer Taschenbuch Verlag 1979; sodann G roddeck/ S.Freud, Briefe über das Es, Kindler Taschenbuch, München 1974

****)Bruno Bettelheim, Erziehung zum Ueberleben, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1980, Ex Libris Lizenz 1982; auch:Kinder brauchen Märchen,. dtv­Taschenbuch 1980 Nr.1481

*****) z.B. Philippe Aries, Geschichte der Kindheit, Hanser Verlag München 1975 (1960 bei Plon, Paris: L’enfant et la vie familiale sous l’ ancien régime); Lloyd de Mause, Hört ihr die Kinder weinen, Suhrkamp TB Wis­senschaft Nr.339.

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6 .Abend    Der Weg zur Identität – Ich-Entwicklung in der Gesellschaft; Möglichkeiten und Masstäbe der Identitätsfindung

So abgegriffen  ist der Begriff  “Identität” heute, so missbraucht für die vielen Zusammenhänge, in denen Anpassung und Unterordnung verlangt werden, dass er schwer von der Feder geht, sobald man ihn in seiner eigentlichen Bedeutung brauchen will. Wie oft wird von “Gruppenidentität” oder von “Klassenidentität” gesprochen, wenn nur Aehnlichkeit oder Vergleichbarkeit  des sozialen Empfindens, der sozialen Aufgabe oder des-Ausdrucks davon verstanden werden, Uebereinstimmung im Gefühl der Zusammengehörigkeit höchstens. “Identität” aber, abgeleitet vom lateinischen “idem” (eadem, idem), einem Adjektiv, das unmissverständlich  die Einheit des Subjekts mit sich selbst unterstreicht, kann streng genommen nur dann gebraucht werden, wenn diese völlige Uebereinstimmung gemeint ist, wenn – im Zusammenhang der Logik – ein Gleichheitszeichen gesetzt werden könnte. Wie lässt sich dann unser Titel vertreten? Wie ist “Identität” mit dem Begriff der Entwicklung, des “Wegs” vereinbar? Was ist hier miteingeschlossen, was ist ausgeschlossen?

Identität ist ein Resultat. Identität ist nicht gegeben, sondern wird geschaffen, wird erreicht. Sie hängt mit dem zusammen, was Ich-Bewusst- sein, Ich-Gewissheit bedeutet , sowohl im Sinn der Zustimmung zum eigenen Selbst, das sich im Lauf einer vielschichtigen innern Entwicklung entfaltet und wandelt, reicher und dichter wird, dabei sich nicht verliert, sich nicht verflüchtigt, sondern sich festigt, welches den spannungsreichen innern Kampf zwischen den widersprüchlichen aufbauenden und zerstörerischen Kräften im positiven Sinn meistern kann, welches die vielfältigen  Einflüsse von Aussen zunehmend besser zu ordnen und zu werten vermag, diese in die innere Entwicklung einzubauen vermag und so eine Einheit herstellt, die Identität bedeutet. Identität hängt sodann mit dem zusammen, was als Ich-Bewusstsein im Lauf der Abgrenzung gegen jedes andere Ich zustandekommt, über das Nein zum Ja führt, Beziehungsfähigkeit  als Gemeinschaftsfähigkeit ohne Angst vor Entpersönlichung, vor Ich-Verlust und -Verschmelzung bestätigen kann.

Freud hat den Identitäts-Begriff im Zusammenhang der Entwicklung des Kindes zum Erwachsenen noch nicht gebraucht. Erikson, der ihn dann einführt und ausbaut*) hat sich die Mühe genommen, Freuds Schriften auf diesen Begriff hin zu untersuchen. Und er hat eine einzige Stelle gefunden, wo er ihn benutzt: Da, wo er seiner Bindung an das Judentum Ausdruck zu geben versucht, wo er von der “klaren Bewusstheit innerer Identität” spricht, die sich nicht auf Rasse oder Religion stütze, sondern auf die gemeinsame Bereitschaft,  in der Opposition zu leben und auf die gemeinsame Freiheit von Voruteilen**) .    Freud verweist damit auf eine Teil-Identitätserfahrung, welche im Gesamtverständnis von Identität eingeschlossen ist: Zugehörigkeitserklärung zu jener vor-persönlichen und über-persönlichen Einheit von Herkunft und Familie, der gegenüber beide Weisen der Identitätsbildung – Zustimmung und Abgrenzung  – am frühesten und am längsten, am heftigsten und am schmerzlichsten  erprobt und bewährt werden müssen.

Eriksons Aufarbeitung  der Identitätsentwicklung scheint mir so vielseitig erfasst und begründet zu sein, dazu so brillant, dass ich sie Ihnen gerne in einer Zusammenfassung vorstellen möchte.

Erikson unterteilt den Prozess der Identitätsgewinnung in acht Phasen, von denen jede fünf hauptsächliche Elemente aufweist. Vorausgehen für jede Phase a) die Merkmale  der psycho-sozialen Krisen b) der Umkreis der Beziehungspersonen c) Elemente der Sozialordnung d) psychosoziale Aeusserungsweisen und e) eben die psychosexuellen Phasen.

Grundlage und Voraussetzung späterer Selbstfindung ist zweifelsohne das Säuglingsalter, in dem die ersten Lebenserfahrungen sich als glücklich oder als unglücklich erweisen, je nachdem, ob das Kind mit seinen Bedürfnissen von der Mutter als ein kleines ernstzunehmendes Individuum akzeptiert und geliebt wird, sodass sich bei ihm jenes starke  noch lange unausgesprochene Vertrauen in seinen eigenen Wert als Mensch  und  als Beziehungspartner  entwickeln wird. Kommt keine gute Mutter-Beziehung zustande, so wird das noch völlig unerfahrene Ich des Kindes in seiner Abhängigkeit und Verletzlichkeit von Mangel- und Verzichterfahrung geprägt sein, und das daraus erwachsende Misstrauen sich selbst gegenüber als Teil einer Beziehung und die damit verbundenen Selbstzweifel werden kaum je ganz überwunden werden können. Denn diese erste Beziehung zur Mutter, welche die ganze Welt bedeutet, Erde und Himmel, Nahrung und Liebe, Gespräch und Trost, in der das wichtigste Verhaltensmuster mitgeteilt wird, Gegeben-bekommen und Geben, in der alle Sinne, vor allem aber der Mund, ihre erste Betätigung und Bestätigung erfahren, diese erste Beziehung ist die wichtigste überhaupt: Sie macht das Kind dialogfähig, sie setzt es in seine Würde als Mensch ein,  erklärt es als liebenswert und als liebesfähig. Diese erste Beziehung ist durch keine andere, spätere ersetzbar.

Gewiss, diese erste Selbst- und B eziehungserfahrung wird in der Folge bestätigt werden oder neuen Zweifeln ausgesetzt sein, je nachdem wie das Kleinkind die Beziehung seiner Eltern untereinander und wiederum deren Rückwirkung auf es selbst erlebt. Es macht nun eigene Schritte, entfernt sich von ihnen und kehrt wieder zu ihnen zurück, es lernt sprechen und widersprechen, Verbote werden aufgestellt, die es schon annehmen oder ablehnen kann, es lernt, selbst seine Verdauung zu kontrollieren: Es entwickelt Autonomie, und mit der Autonomie Freude an der Welt als an etwas, das zu entdecken und zu erobern ist, und Freude an sich selbst als dessen fähig. Sind aber die Verbote zu zahlreich und zu einschüchternd, so kann keinerlei Freude entstehen, und Niedergeschlagenheit, “Scham und Zweifel” hemmen die Entwicklung des Kindes.

In der dritten Phase, im Spielalter, bestätigen sich diese Erfahrungen in einem weitern Rahmen. Auf der Ebene des Gefühls und des Handelns lernt das Kind Initiativen ergreifen und im Mass, in dem es darin anerkannt oder zurückgebunden wird, in dem es bestätigt oder beständig getadelt und kritisiert wird, entwickelt es ruhige Selbstgewissheit oder das Gefühl der Unterlegenheit Geschwistern und Spielkameraden gegenüber. Das Spiel als Erprobung und Wiedergabe der Wirklichkeit ist ebenso wichtig wie die Wirklichkeit selbst. Leit- und Vorbilder werden gesucht und nachgeahmt, das Kind entwickelt eine starke Phantasietätigkeit als Erklärungshilfe für alles Unerklärbare,  das ihm begegnet; es entdeckt seine Geschlechtlichkeit, möchte Vater oder Mutter gleich sein oder nicht, wobei mit der – häufig ganz geheimen, kaum wahrnehmbaren – Ablehnung Schuldgefühle erwachen, die  sehr quälend sein können und die das Kind zu kompensieren sucht.

Mit dem Eintritt in die Schule beginnt ein neuer Abschnitt und mit ihm eine Verschiebung der Probleme. Mit dem Schulweg, den es zu gehen hat, mit dem Lernprogramm, das ihm gestellt ist und mit dem es sich in einem Wettbewerb mit vielen gleichaltrigen Kindern befindet, hat es plötzlich “richtige” Aufgaben zu lösen und “berufsähnlichen” Anforderungen gewachsen zu sein. Aehnlich wie die Sprache, die ja schon zur Verfügung steht, durch das Schreiben- und Lesenlernen in ihre Elemente aufgelöst und wieder zusammengesetzt wird,  so wird die verfügbare Welt auf ihr Funktionieren hin befragt und untersucht. So wird manche Maschine und mancher Apparat auseinandergenommen und wieder geflickt, ohne dass Zerstörungswut das Motiv wäre. Viel Unrecht wird dabei den Kindern angetan, die plötzlich, wie dies ja leider in der Erwachsenengesellschaft fast ausschlisslich der Fall ist, nach dem Erfolg beurteilt und gewertet werden statt nach dem Motiv des Handelns, sowohl durch die Notengebung in der Schule wie durch Kritik und Tadel zu Hause. Für Kinder, die in ihrem Selbstwertgefühl nicht sehr gefestigt sind, kann dies eine Zeit schwerer Minderwertigkeitskrisen werden, die in positiver Weise zu bestehen sehr schwierig ist. Und doch ist es möglich, auch in dieser Phase, neues Selbstvertrauen zu gewinnen; es genügt häufig, dass  ein  Mensch ganz zum Kind steht, es anerkennt und annimmt, so wie es ist, damit es alles  aufbauenden Kräfte, die schon verschüttet zu sein scheinen, wieder wecken und mobilisieren kann.

Diese Minderwertigkeitskrisen können schon Uebergang jener fünften Phase bedeuten, die entwicklungspsychologisch als Adoleszenz, psychosexuell als Pubertät bezeichnet wird. Hier nun wird die Frage nach der Identität zum erstenmal voll thematisiert. “Wer bin ich? Wie bin ich der geworden, der ich bin? Warum bin ich nicht ein anderer (geworden)? Was könnte ich tun, was könnte ich “werden”, um ganz mich selbst zu werden? Wer bin ich in der Einschätzung der andern, der Mädchen, der Jungen?  Wer von den “andern” ist mir selbst mehr wert als die übrigen? Warum bedeutet sie (er) mir mehr als die übrigen?” Lange Selbstgespräche und Gespräche in der Gruppe begleiten diese schwierige Zeit der Selbstdefinition, in der das Mass der Ich-Stärke, d.h. des Selbstvertrauens auf verschiedene Weise deutlich wird. Ich-Schwäche mag sich in einem Bedürfnis nach Anlehnung an eine ich-verstärkende Gruppe oder eine ich-verstärkende Führergestalt zeigen, oder sich durch ich-absorbierende Tätigkeit in  einem besondern Gebiet kompensieren, in Sport, im Lesen, in der Musik. In allen exzessiven Tätigkeiten dieser Phase, welche auf verschiedene Weise das gleiche Identitätsbedürfnis beweisen, bewährt sich und zeigt sich das Mass an Identitätsleistung der zurückgelegten Kinder- und Jugendzeit: das tragende oder fehlende Selbstvertrauen, als Beziehungspartner angenommen zu sein oder nicht angenommen zu sein; sodann positive  und  negative Erfahrungen, auch Enttäuschungen und Versagungen, auferlegte Verzichte und Misserfolge als Teil einer vielschichtigen Realität, die auch diese Normalität als die Kehrseite des Glückhaften und der Freude einschliesslich so oder so annehmen und in den ganzen Lebenszusammenhang einbauen zu können oder eben nicht; sodann selbst Beziehungen eingehen zu können, in denen das einmal erfahrene Grundmuster des Gebens und Gegeben-bekommens, des Gefühlsaustauschs im Sinn einer akzeptierten Gleichberechtigung im Erwarten und im “Leisten” gelebt werden kann, oder aus einer Einseitigkeit des Forderns oder Gebens letztlich beziehungsunfähig zu sein. Das Mass der Ich-Stärke, d.h. des vielfältig und vielschichtig zustandegekommenen Selbstvertrauens ist letzlich ausschlaggebend, ob die grossen Gefahren des Ich-Verlustes in dieser Zeit wirklich Gefahren sind, oder angebote, die wahrgenommen und auch abgelehnt werden können. Drogenkonsum, wozu auch der Alkoholkonsum zu rechnen ist, und damit Eintauchen in eine Welt fatalistischer Passivität und zunehmender Vereinsamung; oder Eintritt in eine jener Gegenwelten, welche die verschiedenen Jugendsekten darstellen mit ihrem starken Zwang zur Ich-Aufgabe, zur  Verschmelzung mit dem alles-entscheidenden, allein verantwortlichen Gruppen- oder Führer-Ich.  – Prophylaxe  und  Therapie dieses extremen Ich-Verlustes können nur durch anhaltende Stärkung des Selbstvertrauens des Jugendlichen  erreicht werden, Vertrauen in seine Beziehungsfähigkeit und Vertrauen in seine Leistungsfähigkeit (im Sinn bejahter Selbstentfaltung, auch des damit verbundenen Wegs und der damit verbundenen Anstrengung), durch begleitendes Verstehen, durch verstehende Liebe. Auf die Adoleszenz folgen bei Erikson die drei Phasen des Erwachsenenalters: Das frühe Erwachsenenalter, in welchem die vorausgegangene Identitätskrise überwunden ist und die Fähigkeit zu aktiver Weltbejahung und Welgestaltung sich in der Anerkennung  der eigenen geschlechtlichen und sozialen Rolle sich zeigt, in Partnerwahl und Berufswahl. Kam aber auch während der Adoleszenz kein genügendes Selbstvertrauen zustande, so werden wohl vielgestaltige Aktivitäten und Interessen den jungen Menschen beschäftigen, aber er wird sich weiter fragen, wozu er da ist. Isolation statt Solidarität, eine weitere Form des Misstrauens und Selbstzweifels belasten auch eine – erfolgreiche – berufliche Ausbildung und Karriere, ein Weg, der zunehmend zu verbissener, einseitiger, ja verzweifelter Selbstabsorbtion führen kann, wenn nicht der Einsatz  für  andere, Zustimmung zu einer Gemeinsamkeit im Einsatz der Kräfte und in der Verantwortung, den Weg der Vereinsamung unterbrechen  und  öffnen. (Beispiel)

Dieser Einsatz für andere kennzeichnet  das Erwachsenenalter,  ”Generativität, Zusammenleben, Schaffen und Sorgen” schreibt Erikson, das Bewusstsein, sinnvoll mitgestaltendes Glied in einer Kette von Generationen  zu sein, die Fähigkeit auch, eigenen Kindern aus der übernommenen Tradition das zu vermitteln, was sich als gut erwiesen hat, in Freiheit das zu schaffen, was man selbst als nützlich und als gut erkennt.

Das “reife Erwachsenenalter”, mit dem Erikson seine Phasen der Identitätssuche abschliesst, ist geprägt von umfassendem Verstehen, das Resultat lang durchlebter  Zeit, das sich als Weisheit zeigt, als ein Wissen über die eigene Existenz hinaus, als ein Wissen um Leben und Tod, ohne Bitterkeit aber, ohne Verzweiflung, da ja Leben und Tod beides Aspekte, Erscheinungen der  e i n e n Gesetzmässigkeit sind, in der alles aufgehoben ist: das Erkennen und Handeln, Lieben und Verweigern, schuldig werden und Sühnen, Gelingen und Scheitern, das Gegeben-bekommen und das Geben, die Versöhnung  –  damit die Liebe als Prinzip des Werdens und Seins.

Nun stehen wir da, wo wir als Eltern und als Erzieher die Kinder begleiten, haben im Nachdenken über den Weg der Kinder in der Gesellschaft, zu der wir uns selbst zählen, unsere eigene Kindheit nochmals zurückgelegt, in Gedanken nachmals aufgearbeitet, was uns weinen machte und was uns glücklich machte. Wir haben erfahren, dass im Prozess des Werdens und Wachsens, der das sein der Kindheit ausmacht, jede Erfahrung prägt, im Glückhaften wie im Traurigen, dass aber das Traurige wiedergutmachbar ist durch verstehende Liebe. Keine Kindheit entbehrt der Narben; an uns jedoch liegt es, vom Verstehen her zu heilen, was unvermeidlich weh getan hat; von unserm Wissen und unserm Vorbild dem Kind zu vermitteln, dass auch Verzichtserfahrungen angenommen werden können, weil ja das Leben als ganzes Geschenk  und Aufgabe ist, in langen Nachtperioden oft schwer durchschaubar, oft schwer durchstehbar, weil es kaum wieder hell zu werden scheint, aber in der Gesetzmässigkeit des Werdens doch auf das Licht hin angelegt, auf die Freude. Diese Freude zu vermitteln ist die Kernaufgabe der Erziehung.

*) Erik H. Erikson, Kindheit und Gesellschaft, Klett-Cotta, 8.Aufl. 1982 (1.1950, New York); sodann: Identität und Lebenszyklus, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Nr.16, 6.Aufl.1980 (l.Aufl.1959)

**) zitiert bei Erikson, Identität, S.124

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