Über Hannah Arendt (1906 – 1975) und Hannah Arendts Zionismus-Kritik

lies auch den Artikel in der Zürichsee-Zeitung vom 3. November 1983 :

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Über Hannah Arendt (1906 – 1975) und Hannah Arendts Zionismus-Kritik

 

Geboren 1906 in Hannover, zog 1911 mit Eltern nach Königsberg (Kant), 1912 starb der Vater, wuchs allein mit Mutter auf, diese sozialistisch- spartakistisch interessiert, fromme Grosseltern in der Nähe, Zeugen traditionellen Judentums inmitten assimilierten jüdischen Bürgertums, zugleich kritische Distanz und emotionale Nähe, jedoch ausserhalb der vertrauten Kultur- und Bildungswelt: Sehr beschützte Kindheit, häufig krank, frühbegabt und lernhungrig, wuchs auf im noch “Goldenen Zeitalter der Sicherheit” (Stefan Zweig), absolvierte das klassische Gymnasium, vertieft sich in die griechische Antike, mit grosser Vorliebe für Aristoteles, jedoch immer nach dem Motto/das sie später “Elementen und Usprüngen totaler Herrschaft” voranstellt: “Weder dem Vergangnenen anheimfallen noch dem Zukünftigen; es kommt darauf an, ganz gegenwärtig zu sein”, mit dem Bedürfnis nach ganzheitlicher Welterfassung, nach intellektueller  und emotionaler Auslotung der menschlichen, kulturellen und politischen Realität und ihrer Widersprüche.

Geht nach dem Abitur zuerst nach Marburg, 1924, studiert dort bei Rudolf Bultmann und Martin Heidegger, mit dem sie, ohne dass jemand aus ihrer näheren Umgebung etwas davon ahnte, in eine private Liaison stand, die für sie von grosser Bedeutung war; sie versuchte sie in einem kleinen Werk “Die Schatten” zu verarbeiten, auch in ihrem Buch über Rahel Varnhagen, das sie jedoch erst 20 Jahre später herausgab. Zum Marburger Kreis gehörten Hans Jonas, Karl Löwith; Günther Stern, der sich später Günther Anders nannte und H.A’s erster Ehemann wurde. Nach ihrem Marburger Studienjahr zog sie 1926 nach Heidelberg, wo sie bei Karl Jaspers über den “Liebesbegriff bei Augustinus” promovierte. Mit Jaspers blieb sie in einem tiefen, freundschaftlichen Austausch bis zu dessen Lebensende; nicht nur die Widmungen und Vorreden, die sie einander wechselseitig schrieben, sondern vor allem der Briefwechsel, den Hans Saner 1985 herausgabe, legen davon Zeugnis ab. Bedeutungsvoll ist insbesondere die in den Briefen vorausgenommene Erarbeitung der Thesen, die sie in ihren Prozessberichten über den Eichmann-Prozess vorlegen wird…

H.A. war der Mittelpunkt eines grossen, sehr warmen und zugleich sehr militanten Freundeskreises, auch als sie 1933 nach dem Reichstagsbrand Berlin verlassen musste und über Prag und Genf, wo sie sich eine Weile aufhielt, nach Paris emigrierte. Der Freundeskreis in Paris bestand aus bedeutenden Menschen –  Walter Benjamin, Alexander Koyre, Raymond Aron, die Cohn-Bendits und Heinrich Blücher, ein Berliner Spartakist, der ihr zweiter Mann wurde, nachdem die Ehe mit Günther Anders schon 1936 in Brüche gegangen war .. Noch im Jahr 1940 wurden Hannah Arendt (und Blücher) im Lager Gurs interniert, konnten aber Ende 1940 freikommen und nach 1941 New York auswandern.

Als Hannah Arendt noch in Heidelberg studierte, 1926, lernte sie einen der führenden deutschen Zionisten, Kurt Blumenfeld, kennen. An diese Bekanntschaft, die zur Freundschaft wurde, knüpften einerseits ihre Antisemitismus-Studien vor allem in Berlin und ihre Vortragstätigkeit in Deutschland an, bevor sie  emigrieren musste, andererseits ihre Arbeit in Paris als Generalsekretärin der Jugend-Aliya, nach der Emigration nach den USA dann ihre vertiefte Auseinandersetzung mit dem Zionismus und ihre kritische Beurteilung der Staatsgründung Israels. Diese Auseinandersetzung brach nicht mehr ab, auch nicht während ihrer ganzen Tätigkeit als Professorin für Philosophie und politische Theorie an der Universität von Chicago und an der New York School for Social Research. Sie konkretisierte sich in einer Reihe von Büchern und Aufsätzen (Elemente und Usprünge totaler Herrschaft: schon 1945 fertiggestellt, 1951 in Amerika erschienen, in Fragwürdige Traditionsbestände im politischenDenken der Gegenwart” von 1957, schon 1948 in Sechs Essays, die in “Die Verborgene Tradition” wieder aufgenommen wurden und vor allem 1964 “Eichmann in Jerusalem”, das politisch aufregendste und kontroverseste Buch. (Andere bedeutende Bücher, die weniger den jüdischen Zusammenhang zum Thema haben, sind “Vita activa”, oder  “The Human condition” von 1960, 1965 “Ueber die Revolution”, 1972 “Uber Wahrhheit und Lüge in der Politik”, Essays über bedeutuende Menschen: “Men in dark Times”, dann zwei Bände der geplanten “Vita contemplativa”, d.h. “The Life of the Mind”, “Das Denken und das Wollen”; der letzte Band, “Ueber das Urteilen”, erschien posthum 1982 in Amerika, 1985 im Piper Verlag. Sie starb am 4. Dezember 1975, 69 Jahre alt an einem Herzversagen.

Hannah Arendts Zionismus-Kritik

1926,   als Hannah Arendt die Bekanntschaft von Kurt Bluemenfeld machte (der von Hans Jonas in den Heidelberger Zionistischen Studentenclub eingeladen worden war), begegnete ihr der Zionismus vor allem als eine Bewegung der kulturellen Erneuerung und Sammlung. Auf schöne Weise gibt ihr Kafka-Essay davon Zeugnis: H.A. deutet darin den Landvermesser K. aus dem Schloss-Roman als den jüdischen Menschen, der sich auf stille Weise dagegen auflehnt, ein “Nichts” zu sein, ein “niemand”, dessen ganzes Bestreben es ist, nicht ein Nichts, sondern ein Mensch zu sein und als Mensch zu leben, ein Vorhaben, das “über die Kräfte des Menschen geht”, wie H.A. gegen Schluss des Essays sagt, weil “dieses kleinste Vorhaben, die Menschenrechte zu verwirklichen, gerade wegen seiner einfachen Grundsätzlichkeit das allergrösste und allerschwerste ist, das Menschen sich vornehmen. Nur innerhalb eines Volkes kann ein Mensch als Mensch unter Menschen leben –  wenn er nicht vor “Entkräftung” sterben will”, und sie schliesst, dass “nur ein Volk, in Gemeinschaft mit anderen Völkern, dazu beitragen kann, auf der von uns allen bewohnten Erde eine von uns allen gemeinsam geschaffene und kontrollierte Menschenwelt zu konstituieren”.

Unklar ist, ob sie damit allein die Geborgenheit der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk meinte oder der zionistischen Idee zustimmte; sicher ist, dass ihre ursprüngliche Einstellung zum Zionismus später immer wieder revidiert wurde. Während ihrer frühen Pariser Zeit, als sie zuerst die Spendenvergabung der Baronin Rothschild verwaltete und bald darauf zur Generalsekretärin der 1933 durch Henritta Szold gegründeten Jugend-Aliya ernannt wurde, sich besonders für die landwirtschaftlichen Kibbuzim interessierte. In Paris engagierte sie sich offen gegen den auch in Frankreich wachsenden Antisemitismus und gegen die zwielichtige Rolle des “Consistoire”, d.h. des jüdisch-französischen Establishments in dessen Abwehr der deutsch-jüdischen Flüchtlinge. Nach ihrer Flucht aus Europa (in Marseille vertraute ihr Walter Benjamin seine Geschichtsphilosophischen Thesen  an, die H.A. sehr viel später in Amerika herausgab) wandte sie sich sofort wieder den jüdischen Problemen zu, insbesondere dank der Begegnung mit dem Historiker Salo Baron, durch dessen Vermittlung sie für die Jewish Social Studies den Antisemitismus in Frankreich seit der Dreyfus-Affaire bis zu Petain aufarbeitete; ab November 1941 schrieb sie auch regelmässig für den 1939 gegründeten “Aufbau”, die bedeutenste jüdische Zeitung deutscher Sprache in Amerika, die heute noch immer besteht.

Ihr Hauptinteresse galt damals der Schaffung einer jüdischen Armee in Europa, welche, sie sie meinte, zugleich für die Schaffung jüdischer Identität hilfreich gewesen wäre, andererseits einen Beitrag zur Schaffung einer künftigen europäischen Föderation nach dem Krieg geleistet hätte, und so, wie sie meinte, den “Juden eine eigenen Heimat innerhalb Europas hätte garantieren können”. Das setzte voraus, dass sie das damalige Palästina  nur  als  Ort der kulturellen jüdischen Sammlung verstand; die europäischen Juden waren für sie in erster Linie Europäer; den Anspruch auf “Auserwähltheit” des Volkes lehnte sie ab, da sie ihn mit einem Determinismus verband, der sowohl zu Passivität wie zur fatalistischen Illusion führen könne, wie sie meinte, die Juden könnten alle Katastrophen überdauern.

Die Idee einer jüdischen Armee in Europa wurde nicht nur von ihr vertreten, es wurde sogar im Amerikanischen Repräsentantenhaus eine ensprechende Resolution eingegeben, doch die Opposition des amerikanisch-jüdischen Establishments war gross, und so musste nach kurzter Zeit die Idee fallengelassen werden.

Mit ihrer These, dass die Juden sich in der Gola unter kämpferischer Auflehnung gegen Unterdrückung und Antisemitismus weiterentwickeln sollte, stellte sie sich schon in scharfen Gegensatz zu Herzls Theorie,  dass der Antisemitismus eine historische Notwendigkeit sei, die propagandistisch für eigene, d.h. für zionistische Zwecke nutzbar zu machen sei. Dies war für H.A. gänzlich unannehmbar; mit dem Feind  war jegliche Art von Arrangement oder gar von “Geschäft” unbedingt abzulehnen. Das war, wie sie sagte, eine “Parvenu-Idee”, die nur den wenigsten –  eben einzelnen Parvenus –  Vorteil bringen konnte, sehr zum Schaden der Armen und Einflusslosen.

1942 wurde im New Yorker Hotel Biltmore die grosse internationale zionistische Konferenz abgehalten, bei der Ben Gurion die Mehrheit der Teilnehmer für die Idee eines jüdischen Palästinas gewann. Es standen damals zwei Pläne zur Diskussion:

l) die Errichtung eines jüdischen Commonwealth, was bedeutete, dass die arabische Mehrheit durch Umsiedlungen zu einer Minderheit hätte reduziert werden müssen, und

2) einen bi-nationalen Staat, mit einem Minderheitsstatus für die Juden.

H.A. lehnte beide Versionen ab, die erste, weil sie die Rechte der Araber zutiefst verletzte, die zweite, weil sie in der Geschichte bestätigt fand, dass Foederationen nur dann funktionierten, wenn sie ohne Minderheiten- und Mehrheitenstatus auskamen, etwa wie der amerikanische Staatenbund.

Sie schrieb 1942 drei Aufsätze  im “Aufbau”, in denen sie sich für die Eingliederung von Palästina in den britischen Common-Wealth einsetzte, für eine Garantie, dass jüdischen Einwanderern Palästina offen stehen sollte und für eine Aechtung des Antisemitismus als Vergehen gegen die menschliche Gesellschaft, “gegen die Menschheit” wie sie später sagen wird. Darauf erhielt sie ein Schreibverbot im “Aufbau”. Ab 1944 zog sich H.A. endgültig vom Zionismus zurück. In zwei grossen Aufsätzen, von denen der eine “Zionism reconsidered” auch in Deutsch vorliegt (“Zionismus aus heutiger Sicht”, in: “Die Verborgene Tradition”, nachdem er zuerst im “Menorah Journal”, im Herbst 1945, veröffentlicht worden war);  der zweite ist “Fifty Years after. Where have Herzl’s Politics led?”;  er erschien in der Zeitschrift “Commentary. A Jewish Review”, New York 1946. Wir werden uns anschliessend mit Hannah Arendts eigenen Thesen auseinandersetzen; ich werde wichtige Stellen vorlesen und wir werden uns in der Diskussion damit auseinandersetzen. Vorher nur noch ein Hinweis auf ihr weiteres jüdische Engagement, unabhängig von der zionistischen Politik. Sie wurde bald nach Kriegsende Mitglied und bald Forschungsleiterin der “Conference on Jewish Relations”, die sich später “Conference on Jewish Social Studies” nannte und eine “Commission on European Jewish Cultural Reconstruction” ernannte. Im Rahmen dieser Kommission begab sich Hannah Arendt im Winter 1949/50 erstmals wieder nach Europa, um eine Liste der noch vorhandenen jüdischen Kulturgüter zu erstellen. Die besonders schmerzliche Auseinandersetzung mit Deutschland bei diesem ersten Besuch findet sich in einem erschütternden Aufsatz, der erst vor kurzem wieder aufglelegt wurde, in einem Essay-Band “Zur Zeit”, im vergangenen Jahr im Rotbuch-Verlag erschienen.

Zu dieser Zeit übernahm sie auch die die Stelle der Chefredaktorin beim jüdischen Verlag SchockenBooks und gab die Schriften von Bernard Lazare heraus, Gershom Sholem’s “Major Trends in Jewish Mystici sm”,  Kafka’s  Tagebücher und mehr.

Als 1961 Adolf Eichmann in Argentinien durch den israelischen Geheimdienst gekidnappt und nach Israel vor  Gericht gebracht wurde, entschloss sich H.A., damals schon berühmte Philsophie-Professorin, dem Prozess als Berichterstatterin  für die Zeitschrift “The New Yorker” beizuwohnen. Durch diese Berichterstattung und vor allem durch die damit verbundene Reflexion über die Natur des Bösen, die Banalität des Bösen, wie sie sagte, aber auch über  die Mitverantwortung, die Mitschuld der Judenräte an der Vernichtung, begab sie sich in noch grössere   Isolation als damals, als sie sich warnend gegen die Gründung eines israelischen Nationalstaates aussprach. 1963 erschienen ihre Berichte in Buchform. Die Kampgane gegen Hannah Arendt begann jedoch schon vorher und zog sich während vielen Jahren hin, führte  zu einer eigentlichen Polarisierung im jüdischen Lager und schliesslich zur Tabuisierung der innerjüdischen Auseinandersetzung mit der Frage der Mitschuld, bis auf wenige Ausnamen.

Nicht diese Frage ist jedoch das Thema des heutigen Abends, sondern Hannahs Arendts kritische Auseinaersetzung mit dem Zionismus zu Beginn der Vierzigerjahre. Aus dem  Aufsatz “Zionismus aus heutiger Sicht” vom Herbst 1945 ein paar Gedanken und Thesen: “Verborgene Tradition”, ab S. 127.

Hannah Arendts widersprüchliche politische Theorie zwischen der Theorie des Handelns und der Theorie des Urteilens

Der Karl Jaspers entliehene Satz “Weder dem Vergangenen anheimfallen noch dem Zukünftigen; es kommt darauf an, ganz gegenwärtig zu sein” war von Hannah Arendt als Motto nicht nur ihrer grossen Untersuchung “Elemente und Usprünge totaler Herrschaft” vorangestellt (1951 in New York erschienen), sondern ihrem philosophischen Werk überhaupt, das immer zugleich Zeugnis gelebter Auseinandersetzung  mit ihrer Gegenwärtigkeit  und  politische Theorie ist. Erste “Gegenwärtigkeit” leistete sie im noch “goldenen Zeitalter der Sicherheit”, wie Stefan Zweig (in “Welt von gestern”) die Zeit vor dem 1 .Weltkrieg bezeichnete, in Hannover, wo sie 1906 zur Welt kam, vor allem in Könisberg, wohin sie1911, mit ihren Eltern zog, Kants Heimat, wo wenig später, 1912, ihr Vater starb ; und wo sie in einem Milieu assimilierten, aufgeklärten jüdischen Bürgertum lebte; in nächster Nähe liebevoller Grosseltern, die noch Zeugen traditionellen Judentums waren, und einer Mutter, die sich für  soziale Gerechtigkeit engagierte, die sich den Spartakisten nahe fühlte. (Heinrich Blücher, den Hannah Arendt während der Emigrationszeit in Paris kennenlernen wird und der ihr Lebenspartner und zweiter Ehemann sein wird, stammt aus dem Milieu der Spartakisten).

Die Zeit von H.A. beschützter Kindheit war eine Zeit trügerischer Sicherheit: In Deutschland war schon in den 80er Jahren der Antisemitismus erstarkt, durfch Heinrich Treitschke salonfähig gemacht (und nicht anders in Frankreich; die Dreyfus-Affaire war, wie Hannah Arendt sagen wird, die “Generalprobe” der später einsetzenden systematischen anti-jüdischen Verleudumskampagne). Und ebenso breiteten sich Imperialismus und Nationalismus in dieser Zeit der sogenannten “Sicherheit” aus, drei wichtige politische Pfeiler für die erstarkende totale Herrschaft.

Hannah Arendt wird in ihren politischen Analysen darauf zurückgreifen. Ein anderes Fundament, das sie in dieser Zeit für ihr Werk legte, war das Studium der Griechischen Antike, das Studium Aristoteles vor allem, das von allem Anfang an die Ausrichtung auf Pluralität (statt auf Einheit), auf Welt (statt auf Transzendenz),  auf Sinnlichkeit und Emotionalität (statt auf Vergeistigung) ermöglichte, im Gegensatz etwa zum platoni­schen Rekurs, wie er zum Beispiel, für die gleichzeitig arbeitende und unter vergleichbaren Zeitbedingungen lebende Simone Weil folgeträchtig wurde.

Nach ihrem Abitur, 1924, ging Hannah Arendt nach Marburg, studierte bei Rudolf Bultmann und Martin Heidegger, von dem sie damals buchstäb­lich hingerissen war, ohne dass jemand aus ihrem privaten Kreis etwas von der privaten Liaison wusste. H.A. versuchte, sie ein wenig später in einem kleinen Werk zu verarbeiten, das den Tite1 “Die Schatten” trug, in Gedichten,  sodann, zwar indirekt, in ihrer grossen Studie über Rahel Varnhagen, die allerdings erst zwanzig Jahre später erschien. Zum Marburger Kreis gehörten unter anderen Hans Jonas, Karl Löwith und Günther Stern, der sich später Günther Anders nannte und der H.A.’s erster Ehemann wurde. Nach dem Marbuger Jahr studierte sie bei Husserl in Freiburg, dann ab 1926, in Heidelberg, wo Karl Jaspers einen Lehrstuhl für Philosophie innehatte, wo sie mit einer Doktorarbeit über den “Liebesbegriff bei Augustin” promovierte, bei Jaspers, der nicht nur Mentor, sondern Freund blieb fürs Leben,  und von wo sie dann, “ganz gegenwärtig”, begann,  gegen den zunehmend sich ausbreitenden Antisemitismus überall in Deutschland Vorträge zu halten, d.h. aktiv mit dem Wort als Philosophin zu kämpfen, in Heidelberg, noch 1926, war sie dem führenden deutschen Zionisten Kurt Blumenfeld begegnet, eine Begegnung, die sie zu einer aktiven Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Judentum und darüber hinaus mit dem europäischen Juden­tum und dessen Paria-­Dasein führte. Aus dieser Auseinandersetzung resultierte einerseits, nach der Emigration aus Deutschland (über Prag und Genf nach Paris), ihre Arbeit für die Jugend­-Aliya, anderer­seits ihre grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Zionismus und mit der Idee der Staatsgründung Israels. Hier, in der erlebten und erlittenen “Gegenwärtigkeit” von Macht und Gewalt einerseits, von Ohnmacht und Schwäche, aber auch von individueller Stärke anderer­seits, liegt das Material, aus dem sie die politische Theorie der ersten Phase aufbaut, die in zahlreichen Artikeln, Aufsätzen und Büchern ihren Ausdruck findet. Zum Beispiel in den “Sechs Essays” von 1948, die zum Teil wieder im Bändchen “Die verborgene Tradition” aufgenommen sind, im grossen Werk “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” von 1955, in “Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart” von 1957, in “The human condition” von 1958, dem philosophisch wohl kohärentesten Werk, das zwei Jahre später als  “Vita activa” deutsch erschien, sodann im politisch kontroversesten Buch, “Eichmann in Jerusalem”, das 1964 erschien und durch das sie für den Grossteil ihrer jüdischen Freunde zur persona non grata wurde, zur Verräterin an der jüdischen Sache.

Auch die etwas später veröffentlichten kleineren Werke “Ueber die Revolution”  ( 1965),  “Macht und Gewalt”  ( 1970),   “Ueber Wahrheit und Lüge in der Politik” (1972)   gehören grundsätzlich noch zu einer ersten Position politischer Theorie, die zum vornherein die aktive Partizipation an den Geschäften von allgemeinem Interesse als konsti­tutiv für die Freiheit erachtet. Dieser Partizipation geht jedoch “notwendig die Befähigung voraus, überhaupt einen “Anfang zu setzen”, das heisst redefähig, damit gemeinschaftsfähig und verantwortlich zu  sein und im zusammenschluss mit anderen Macht zu konstituieren. Wir  werden   auf   den   widersprüchlichen   Freiheitsbegriff noch eingehen. Vorderhand, nur zusammenfassend, sei noch die zweite Position skizziert, die sich im nicht mehr vollendeten Alterswerk der “Vita contemplativa” findet, insbesondere in den posthum erschie­nen Vorlesungen zu “Kants politischer Philosophie”, die wenig Präzises mit Kant zu tun haben, jedoch in starkem Mass H.A.’s Wandel von einer Theorie des Handelns zu einer Theorie des Urteilens und damit des Verzichts auf Teilnahme an den politische Geschäften aus­drückt.

Nun aber zu den zentralen  Aussagen innerhalb der ersten Position: In einem Gespräch mit Hans Jonas hält H.A. fest, dass alle speziellen Themen der Philosophie aus ganz alltäglichen Erfahrungen herauswachsen, aus Fragen, die im Anschluss an diese Erfahrung dem Bedürfnis der Vernunft, nämlich der Sinnsuche  entsprechen. Solch alltägliche Er­fahrungen sind: Dass wir in der Welt sind, dass eine Pluralität von Menschen da ist, die durch Sprache miteinander verbunden sind und die sich daher politisch organisieren, von denen jeder einmal auf die Welt kommt und damit einen Anfang setzt in der Welterfahrung, im Tätigsein, dann in der Teilhabe am Kreislauf der Welt, d.h. im Arbeiten, das nur Subsistenzerhaltung bedeutet, und im Schaffen einer künstlichen Welt, einer Welt von Gegenständen, d.h. im Herstellen. Handeln, Arbeiten und Herstellen sind die drei Grund­tätigkeiten, aus denen sich die Vita Activa zusammensetzt, von denen allerdings Hannah Arendt nur das Handeln (und Sprechen) als Konstituens politischen Lebens bezeichnet, als Konstituens des Beziehungsgeflechts des inter esse indem durch den Zusammenschluss vieler Macht entsteht und gemeinschaftsrelevantes Handeln, eben Politik, möglich wird.

Hanna Arendts Unterscheidung von “Politischen” und “Gesellschaftlichem” ist höchst bedeutungsvoll. Das “Politische”  ist das, was­ im Rekurs auf die aristotelische “Polis”­ mit deren Organisation zu tun hat, mit den Geschäften von allgemei­nem Interesse, die, durch “Worte, die überzeugen, nicht durch Zwang und Gewalt” im öffentlichen Raum (auf der “agora”)   als dem Raum der Freiheit abgehandelt wurden, durch ein Quorum gleichgestellter, be­sitzender, freier Männer. Hier war der Ort der Macht, in dem es kein Herrschen noch Beherrschtwerden gab, weil ja die Ungleichen, etwa die Frauen,  zu diesem Ort gar keinen Zutritt hatten. Hannah Arendt präzisiert (immer in “Vita activa”}, dass “die Gleichheit innerhalb der polis wenig mit unserer Vorstellung von Egalität zu tun hatte; sie bedeutete, dass man es nur mit seinesgleichen zu tun hatte, und setzte so die Existenz von “Ungleichen” als  selbstverständlich voraus, wie denn auch diese “Ungleichen” stets die Mehrheit der Bevölkerung in den (griechischen) Stadtstaaten gebildet haben. Gleichheit, die in der Neuzeit immer eine Forderung der Gerechtigkeit war, bildete in der Antike umgekehrt das eigentliche Wesen der Freiheit: Freiheit hiess, frei sein von der allen Herrschaftsverhält­nissen innewohnenden Ungleichheit”.  An einem anderen Ort schreibt H.A. ergänzend: “Der Sitz der Freiheit war ausschliesslich im poli­tischen Bereich lokalisiert. Und diese Freiheit in der Welt war den Griechen Bedingung für das, was sie Glück nannten, die “eudaimonia”, die unerlässlich mit Gesundheit, mit Wohlhabenheit verbunden war”. Das heisst  mit der Befähigung zur Oeffentlichkeit, zum öffentlichen Sprechen, überhaupt zur Sprache.

Der Sitz der Ungleichheit dagegen, der Unfreiheit und der Notwendtgkeit war mit dem Haushaltbereich verbunden, mit dem “oikos”. Der Bereich des “oikos” ist der Bereich des Sozialen, des Gesellschaftlichen. Hannah Arendt hält fest: “Die Beherrschung der Lebensnotwendigkeiten innerhalb des “oikos” stellte die Bedingungen für die Freiheit in der “polis” bereit”. Mit anderen Worten: Die Aufrechterhaltung der Ungleichheit und Stummheit der Frauen, der Handwerker und Arbeiter, deren Ausschluss aus dem öffentlichen Raum der “polis” war Bedingung für die Freiheit und Gleichheit der herrschenden Schicht der freien und gleichen Männer.

Nun hat sich Hannah Arendt von dieser Dialektik von Gleichheit und Ungleichheit als Voraussetzung von Freiheit nicht nur nicht distanziert, sondern sie misst der Aufhebung der freiheitskonstituierenden Ungleichheit in der Vermischung von “polis” und “oikos” eine verhäng­nisvolle Bedeutung für die Konstitution von Herrschaftsverhältnissen zu. Diese Vermischung nahm in der Theorie bei Platon ihren Anfang, stellt H.A. fest. Platon, der einerseits  die private Familie und den privaten Haushalt abschaffen wollte, der andererseits die Fami­lien und Haushaltstrukturen auf die ganze “polis” übertrug, deren “Bürger sich wie eine Familie fühlen und verhalten sollten” mit dem Hausvater an der Spitze, dem sich die Hausgenossen in einem Herr-­Hausgenossen-­(Sklaven)­-Verhältnis unterzuordnen hatten. Damit war, nach H.A., das Handeln als die Tätigkeit der Freiheit und der unter Verschiedenen gleichen Berechtigung, einen Anfang zu setzen, ausgeschaltet. Die Vermischung des genuin Politischen mit dem Gesellschaftlichen, d.h. mit der Zweck­-Mittel­-Organisation des “oikos”, bewirkte, nach Hannah Arendt, dass Politik als ein Handeln und Sprechen aus Freiheit (und, in der ethischen Konsequenz,  aus dem Vermögen des Versprechens und Verzeihens, d.h. dem Vermögen, Zukunft zu setzen und Vergangen­heit zu annulieren), dass also anstelle der Politik die technisch herstellbare Organisation der Gesellschaft tritt als Produkt des Wissens und Herrschens, auf der Basis der fürs Herstellen typischen Zweck­-Mittel­-Rationalität .

Damit sind, nach H.A., totalitärer Herrschaft  und  Technokratie alle Türen geöffnet.Gemäss der Zweck-Mittel-­Rationalität wird nun die Arbeit, insbesondere die “produktive” Arbeit, zum  politischen Motor und bekommt die Relevanz der “arché”, auf sehr irreführende Weise, nach Hannah Arendt. Hier, am überdehnten Arbeitsbegriff, hakt ihre Marxismus-­Kritik ein. Hannah Arendt moniert die im Marx’schen Begriff der “Arbeitskraft” nicht mehr klar vollzogene Unterscheidung von Arbeiten und Herstellen: “Alle Herstellung verwandelt sich in dem Moment in Arbeit, wenn man ihre Produkte nicht mehr als Dinge versteht, die einen weltlich gegenständlichen Bestand haben, sondern als Resultat der lebendigen Arbeitskraft und als Funktion des Lebens­prozesses”. In der Konsequenz richtet sich ihre Kritik auf den histo­rischen Determinismus, dessen Entstehen auch mit der Ausschaltung des Handelns und Sprechens als “arché”, als Tätigkeiten der Freiheit zusammenhängt. Das Marx’sche Anliegen einer Emanzipaztion des Arbei­ters aus den entfremdenden Produktionsverhältnissen durch Sozialisa­tion des Eigentums an den Produktionsmitteln, bedeutet keinen Schritt in die Sphäre der Freiheit, solange es dabei bleibt und die Emanzi­pation nicht weiter geht. Die Würde des Menschen hängt, nach H.A., nicht von der nicht-­entfremdeten Arbeit ab, sondern von der nicht­-entfremdeten politischen Tätigkeit, im Sinn der politischen Praxis aus Freiheit, in der sich die höchste Bestimmung des Menschen kri­stallisiert.

Dass hier eine Reihe von Widersprüchen entsteht, spürt Hannah Arendt zum Teil selbst. Sie hängen zum Beispiel mit den Aporien des Handelns zusammen, das schon bei Aristoteles, im Beispiel des Gesetzgebers, zu einem Herstellen wird und so zunehemnd aus der Offenheit in Orga­nisationsräume zurückgenommen wird, wodurch einerseits eine zunehmende Privatisierung stattfindet, andererseitsi, analog zum privaten Haus­halt, eine hierarchische  und potentiell totalitäre Struktur der Gesellschaft initiiert. Sie hängen andererseits mit Hannah Arendts völligem Unverständnis für das zusammen, was zusammenfassend die “soziale Frage” heisst. Arbeit bedeutet für sie ausschliesslich die Erfüllung des Gebots der unausweichlich geforderten Lebenserhal­tung; da gehorcht der Mensch allein der Notwendigkeit der Subsistenz, eingespannt zwischen den Polen dieser Notwendigkeit, zwischen den Polen menschlicher Bedingtheit, Geburt und Tod, unabhängig davon, ob er der einzige Mensch sei, der da ist, oder ob er in einer Pluralität von Menschen ein einzelnes Glied sei. Die Arbeit nimmt mit dem Tod ein Ende, sie ist erschöpfend und hinterlässt keine Spuren, solange sie nur der Lebenserhaltung dient.

Nun aber ist der eine Pol der existentiellen Bedingtheit, die Geburt, gerade für Hannah Arendt viel mehr. Sie hat dafür den Begriff der “Gebürtlichkeit”geprägt, dem die ganze Bedeutung der “arché” zukommt, der Befähigung zur Freiheit und damit zur politischen Praxis in nicht unterschiedener Gleichheit.

Gebürtlichkeit ist ein Existential und bestimmt, im Sinn der Arendt’schen Deutung, jede Existenz ohne Unterschied als “politische”, auch wieder in  der vollen Bedeutung ihres Politikverständnisses. Wie  erklärt sich dann die gleichzeitige Differenz in der Frauenfrage? in der Arbeiterfrage?

Der Widerspruch zwischen den verschieden Positionen ist offensichtlich. Er mag sich zum Teil durch das, was ich die “Aesthetisierung” des Poli­tischen nennen möchte, erklären, durch den Umstand, dass bei H.A. das Politische zur zweckfreien, herrschaftsfreien Sprechsituation sich reduziert. (Die Nähe zur  Habermas’schen  Kommunikationstheorie drängt sich auf und wurde  auch verschiedentlich  untersucht).   Durch die Erklärung der Zweckfreiheit des politischen Handelns will Hannah Arendt den Unterschied zum Herstellen deutlich machen, welches die spuren­lose, geschichtslose Funktionalität des Arbeitens überhöht und ein Reich der Mittel und Zwecke schafft, eine künstliche Welt, die eben die Spuren des Tätigseins als Geschichte sichtbar  machen soll, nicht ins Unabsehbare hinein, sondern nur solange diese Spuren nicht wieder zerstört werden.

Das politische Handeln und Sprechen dagegen geschieht ins zeitlich Unbestimmte hinein, als Prozess und genügt sich als Prozess, da er ja nicht ein bestimmtes Produkt anvisiert (wie das Herstellen), dessen Zustandekommen den Prozess abschliessen würde. Dessen Gefährdung und Zerbrechlichkeit hat allein mit der Vermischung des Politischen mit dem Sozialen zu tun. Selbst in ihrer Revolutionstheorie abstrahiert Hanna Arendt vom strate­gischen “Wozu” von Revolutionen. Sie ist daher sehr optimistisch. Durch das Schaffen von Räten, durch die permanente Konstitution von Freiheit im revolutionären  Sprechen und Handeln lässt sich politische Emanzipation herbeiführen. Die Aufhebung von Armut und Elend, meint sie, “geschähen” im Lauf und im Gefolge des politischen Prozesses “von selbst”.

Auch dieser sehr optimistische theoretische Ansatz, der im Widerspruch zu ellen geschichtlichen Erfahrungen steht, hat mit H.A.’s nur aus der Theorie des Handelns zu erklärenden Definition on “Macht” zu tun, eben einer kommunikationstheoretischen Defimition. Macht, sagt sie, kommt zustande durch Verständigung, durch Uebereinkunft und Bildung eines gemeinsamen Willens. Macht, das ist aus dieser De­finition klar, hat immer mit Freiheit zu tun und kommt nie einem einzelnen zu ­ in völligem Gegensatz etwa zu Max Webers  Definition, der Macht als “Mögl i chkeit, den eigenen Willen dem Verhalten anderer aufzuzwingen” versteht. Zwang und Gewalt sind das Eingeständnis des Machtversagens,  der Bankrotterklärung in der Politik. Ist politische Praxis als Konsensfindung jedoch erfolgreich, so konkretisiert sie sich in Institutionen und Gesetzen. “Was den Insitutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes, die wiederum nur die Fortsetzung des ursprünglichens Konsenses ist, wel­cher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat” (Scheinbar steht ganz deutlich Rousseaus “volonté générale” dem  Arendt’schen Machtbegriff Pate; doch dem ist nicht so.  Denn  bei Rousseau erfolgt die Einstimmung der “volonté particulière”  in die “volonte générale” nicht aus der Verständigung der in Freiheit geführten Rede, sondern aus Zweckrationalität; es geht dabei nicht um die politisch-­existentielle Partizipation des einzelnen Menschen am In-der­-Welt­-Sein, sondern um die zweckrationale Verwandlung des Einzelnen im Dienst der “r­eligion civile”, die, wie im 4. Buch des “Contrat social ”  deutlich wird, nationalistisch reduziert und dami totalitär präjudiziert ist. Bei Rousseau bleibt letztlich wenig  von der  politischen Freiheit übrig, da bei Abweichung von der “volonté générale” Exil und bei “geheuchelter Uebereinstimmung” Tod droht).

H.A.’s Unterscheidung von Macht und Gewalt, von Stärke und Ohnmacht findet sich in ihrem ganzen Werk. Die Unterscheidung ist von bestechender theoretischer Brillianz. Wie werden im Lauf des Sommers ­­darauf eingehen. ­Heute will ich nur zusammenfassen, dass Hannah Arendt Macht als der demokratisch entstandene und ständig demokratisch revidierbare politische Konsens versteht, der  sich auf Grund seiner eigenen Praxis starke Institutionen schafft, die wiederum die politische Praxis selbst schützen. Politisches Desinteresse und Privatisierung führen zur Schwächung der Macht und öffnen damit der Gewalt, die mit poli­tischen Herrschaftsstrategien einhergeht, Tür und Tor. Intakte Macht­verhältnisse dämmen Gewalt ein, sie sind daher immer legitim, nach HannahArendt. “Macht”  ist für sie ein eindeutig positiver Begriff, da sie ihn eindeutig  aufs “reine politische Handeln”  eingrenzt (wobei ich allerdings kaum weiss, was das ist). Dass in der Praxis alle Macht­strukturen von wirtschaftlichen Interessen mitbeeinflusst sind, lässt sie unberücksichtigt. Wenn sie sagt: “Die Grenze der Macht liegt nicht in ihr selbst (d.h. in der Macht), sondern in der gleich­zeitigen Existenz anderer Machtgruppierungen, also in dem Vorhanden­sein von anderen, die ausserhalb des eigenen Machtbereichs stehen und selber Macht entwickeln”, so lässt sie ausser Acht, dass der Zusammenschluss einzelner zu einer Gruppe,  aus der überhaupt Macht entsteht, nicht aus idealistisichen Konzepten erfolgt, sondern aus Interessen, d.h. dass damit Zwecke zu erreichen versucht wird. Was also als Grundbedingung demokratischen Machtausgleichs und demokra­tischer Machtkontrolle gedacht ist, eine  pluralistische Politik, ist im vornherein zum Scheitern verurteilt nach den Arendt’schen Unterscheidungen, da Gründe und Zwecke des Zusammenschlusses immer mit dem “oikos” zu tun haben, d.h. nicht rein politische, sondern gesellschaftliche-wirtschaftliche sind.

Bei Hannah Arendt, der grossen Liber­aen, ist daher die Demokratie zum Scheitern verurteilt. In ihrem Buch über die Revolution, in dem sie auch zum Schluss ­kommt, dass der Geist der Revolution, welcher der Geist des Neubeginns, der “arché”, also der Freiheit ist, sich nicht reali­sieren konnte, weil er die ihm angemessene Institution nicht fand  (das eigentlich  optimale  System, das Rätesystem, versagte ja auch und was in Amerika einigermassen als Konstitution der Freiheit gelang, konnte nur so gelingne, ihr zufolge, weil Amerika damals “nicht unter dem Fluch der armut stand”), in ihrem Buch über die Revolution von 1963 (1974 neu aufgelegt) entwickelt sie die merkwürdige Idee einer “im wahrsten Sinn des Wortes ‘aristokratischen’ Staatsform, welche “nicht mehr zum Mittel allgemeiner Wahlen greifen würde”, sondern einer Elite, “der es um mehr als um ihr privates Wohlbefinden und um ihre legitimen Privat­interessen gehen würde”, die Geschäfte des Gemeinwesens anver­trauen würde. “Nur wer an der Welt wirklich interessiert ist, sollte eine Stimme haben im Gang der Welt” (S.360). Ihrem Konzept zufolge würde der Ausschluss von der politischen Teilhabe keine Diskriminierung bedeuten; “wenn diejenigen, die teilhaben, sich selbst sektiert haben, dann haben diejenigen, die ausgeschlossen sind, auch sich selbst ausgeschlossen”, folgert sie, und sie kommt gar zum Schluss, dass “Ein solch geregeltes Fernbleiben von öffentlichen Geschäften in Wahr­heit einer der wesentlichen negativen Freiheiten Substanz und Reali­tät verleihen würde, nämlich der Freiheit  von Politik” (und sie bezeichnet diese “wesentliche negative Freiheit” als den “vielleicht politisch bedeutsamsten Teil unserer christlichen Erbschaft”, diese Freiheit von Politik, “die wir seit dem Ende der antiken Welt kennen, die in Rom und Athen unbekannt war”).

Mit dieser  – zumindest ­ leichtfertigen – Verherrlichung oligarchischer Herrschaftsverhältnisse (die es natürlich in der Antike auch gab), fällt sie einerseits zurück in ihr idealistisch sublimiertes Bild der “polis” mit ihrer Freiheit der  Gleichen, die auf Grund der institu­tionalisierten Ungleichheit der Ungleichen sich selbst zelebrierte “als den freien Raum der freien Tat und des lebendigen Wortes, als Polis, die das Leben aufglänzen machte”, wie sie ihr Revolutionsbuch abschliesst.

Dies einerseits, sagte ich: nicht als Feststellung der Trauer und der Besorgnis über zunehmendes politisches Desinteresse (wie es sich heute bei allen Wahlen und Abstimmungen zeigt), sondern als Entwurf eines besseren, “reineren” Gemeinwesen, das sich jedoch noch aus dem Handeln konstituiert. Andererseits leitet die darin sich findende Rechtfertigung politischer Absenz über zu ihrer letzten Theorie, zur Theorie der Ueberlegenheit des Beobachtenden über den Handelnden.

Axiomatisch für diese Theorie ist das Pythagoras­-Zitat, das sie immer wieder zitiert und abwandelt: “Das Leben ist wie ein Festspiel, die Besten kommen als Zuschauer”. Das heisst: Die “vita contemplativa” ist der “vita activa” überlegen. Auf Seite 75 im posthum herausgegeben Band “Das Urteilen”, heisst es: “Die ganze Idee von der Ueberlegen­heit der kontemplativen Lebensweise stammt aus dieser frühen Einsicht, dass der Sinn (oder die Wahrheit) nur denen enthüllt wird, die sich vom Handeln fernhalten … dass nur der Zuschauer eine Position hat, die es ihm erlaubt, das Ganze zu sehen; der Handelnde, als Teilnehmer an dem Spiel, muss seine Rolle spielen; er ist per definitionem parteilich. Der Zuschauer ist per definitionem unparteilich; keine Teilnahme, keine Rolle wird ihm zugewiesen … (DAS), womit der Handelnde sich befasst, ist “doxa”, d.h. die Meinung der anderen (das Wort “doxa” meine beides: Ruhm und Meinung)”, erklärt Hannah Arendt, und fährt fort: “Der Ruhm entsteht durch die Meinung der anderen. Für den Handelnden ist somit die entscheidende Frage, wie er auf andere wirkt; der Handelnde ist von der Meinung des Zuschauers abhängig; er istnicht autonom (in Kants Sprache)” folgert sie. “Er beträgt sich nicht gemäss einer angeborenen Stimme der Vernunft, sondern im Ein­klang mit dem, was Zuschauer von ihm verlangen mögen. Der Masstab ist der Zuschauer, und dieser Masstab ist autonom”.

All dies ist ziemlich verwirrlich ­  und folgenschwer. Gewiss, es lässt sich einiges zu Hanna Arendts Entlastung sagen, vor allem, dass sie diese Formulierungen im Lauf von Vorlesungen gemacht hat, dass sie den nun publizierten Text selbst nicht durchgesehen hat, dass es im Kontext dieser Stelle um eine missglückte Ausdeutung von Kants Urteil über die Franzötsische Revolution geht, dass Hannah Arendt eigentlich ja nur eine Theorie des Urteilens entwerfen wollte. Aber es ist eben mehr: Die Theorie von der Ueberlegenheit des Zu­schauers über den Handelnden  und von der Heteronomie des Handelnden impliziert die moralische Entlastung des Handelnden, der, dieser Theorie zufolge,  zum moralisch unbezichtbaren Befehlsempfänger und Befehlsausführenden wird.

Nun aber widerspricht diese Theorie, die Hannah Arendt in ihren letzten Vorlesungen 1970/71 (sie starb 1975) an der New School for Social Research in New York entwickelt hat, diametral ihrer eindeutigen Aussage zur moralischen Bedeutung der Urteilskraft, die sie im Zusammenhang ihrer Berichterstattung und ihrer Kommentare anlässlich des Eichmann-Prozesses von 1963 gemacht hat. Da schreibt sie (S.22  f), dass “Was wir in diesen Prozessen fordern, ist, dass Menschen auch dann noch Recht von Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts anderes mehr zurückgreifen können als auf ihr eigenes Urteil, das zudem unter solchen Umständen in schreiendem Gegensatz zu dem steht, was sie für die einhellige Meinung ihrer gesamten Umgebung halten müssen.” Und sie kommt zum Schluss, dass Eichmanns Schuld nicht geringer ist, weil er auf “höheren Befehl” gehandelt hat oder weil er nicht aus verbrecherischer Absicht gehandelt hat. Im Gegenteil: Eichmanns Schuld ist unumstritten, er wurde zum verantwortlichen Organisator millionenfachens Mordes durch sein defizitäres Gewissen, durch  die nicht wahrgenommene Autonomie des moralischen Urteils. Hannah Arendt formuliert klar, dass die zentrale Frage der Schuld nur im Rekurs auf die autonome menschliche Urteils­kraft zu beantworten ist, dass der Verweis auf den consensus omnium (die Meinung, die “doxa”) bezüglich des Verbrechens ebensowenig die Tat entschuldigt wie der Hinweis auf die geforderte und erfüllte Ge­horsamspflicht (bei Eichmann und den vielen anderen grossen und kleinen Mördern; auch diese Unterscheidung fällt weg) oder auf das kleinere Uebel (bei der von ihr thematisierten Mit­-Schuld der Judenräte). (H.A. stützte sich vor allem auf Raul Hilberg, “The destruction of the European Jews”, und auf H.G. Adler, “Theresienstadt 1941­-1945”).

Ich muss zum Schluss kommen und um Verzeihung bitten, dass ich so lange Ihre Geduld strapazierte, zumal auch so noch Hannah Arendt’s reiches  Werk nur fragmentarisch ausgeleuchtet werden konnte. Doch war ja das Thema, Widersprüche in ihrer politischen Theorie deutlich zu machen, Widersprüche, die zur  blitzenden Lebendigkeit und Gegenwärtigkeit dieses Werks gehören, und ich hoffe, dass mir dies gelungen ist.

 

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