Das Gewissen und die Entwicklung des Gewissens beim Kind – Vorlesungen 1984

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Das Gewissen und die Entwicklung des Gewissens beim Kind

 

1. Abend – Einführung

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Das Gewissen und die Entwicklung des Gewissens beim Kind

2.Abend

Es ist nicht unbedenklich, vom Gewissen gemeinhin zu sprechen. Die Art und Weise, in der wir mit unserm eigenen Gewissen umgehen, hat immer etwas Verschwiegenes, Geheimes an sich und hat häufig weniger mit der Normalität des Alltags zu tun als mit einer Art Ausnahmesituation des Gemüts. Vielleicht fällt uns ab und zu die “Gewissenserforschung” ein, zu der wir als Kinder von mehr oder weniger wohlmeinenden Erziehern angehalten wurden. Es kommt vor, dass wir “uns ein Gewissen machen”, weil wir… die Erledigung eines Auftrags unterliessen, eine Taktlosigkeit begingen, die Beherrschung von Neid-, Eifersuchts- oder Zornausbrüchen nicht zustandebrachten usw. Seltsamerweise meldet sich das Gewissen vor allem als schlechtes Gewissen; das gute Gewissen (als das “sanfte Ruhekissen”) ist eine seltene Erfahrung. Das schlechte Gewissen dagegen kann uns in der Tat eindringlich plagen, als innere “Stimme”, die alle Abwehr- und Ablenkungsversuche durchdringt, die sich vom diffusen Gefühl bis zum Entsetzen über das eigene Ich steigern kann. Wenn wir die ältesten Ueberlieferungen menschlicher Geschichte studieren, so stossen wir auf drei Stufen des Handlungsbewusstseins, die sich in der Entwicklung  jedes Menschen – meist innerhalb der ersten Lebensjahre (etwa bis zur Pubertät) wiederholen. Die erste Stufe ist gekennzeichnet durch Bedenkenlosigkeit des Handelns: so in den ältesten polytheistischen Mythologien, in der griechischen zum Beispiel. Da nehmen sich die Menschen ihr Recht im Mass, in dem sie Macht besitzen, den vielen Göttern gleich, die auch allein ihrer Machtwillkür und ihrer Laune entsprechend handeln. Diese – ältesten – Mythologien  bestehen aus der Erzählung einer Kette von Untaten und der Rache dieser Untaten, die ebenfalls wieder Untaten sind. Eine zweite Stufe menschlichen Handlungsbewusstseins fängt sich da an herauszubilden, wo das Handeln nach Recht- und Unrecht-Handeln unterschieden wird, und wo das Unrecht-Handeln als Unglück empfunden wird. Diese Entwicklungsstufe  geht einher mit der Herausbildung des Monotheismus. Das Wissen um begangenes Unrecht – das Gewissen, das sich als “schlechtes Gewissen”, d.h. als mahnende Stimme meldet – wird als die Stimme Gottes verstanden. Immer erfolgt die Erkenntnis begangener Schuld im Zusammenhanng einer nur vom Handelnden gehörten “Stimme”, einer .”Anrede”, einer Rechenschaftsforderung; und immer ist das Wissen darum begleitet von Scham oder von Flucht.

So, als nach der Schilderung der Genesis Isch, der Mann  (Adam, d.h  der, der aus Acker war)  und Ischa, die Frau (Chawwa, das Leben) von den verbotenen Früchten gegessen hatten, heisst es (nach der Uebersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig):

“Die Augen klärten sich ihnen beiden, und sie erkannten, – dass sie nackt waren …

Sie hörten Seinen Schall, Gottes, der sich beim Tageswind im Garten erging.

Es versteckte sich der Mann und sein Weib vor Seinem, Gottes, Antlitz mitten unter den Bäumen des

Gartens.

Er, Gott, rief den Menschen an  und sprach zu ihm: Wo bist du?

Er sprach: Deinen Schall habe ich im Garten gehört und fürchtete mich…

 Oder,  nach der Schuld des Brudermords:

Er sprach zu Kajin:

Wo ist Habel dein Bruder?

Er sprach:

Ich weiss nicht. Bin ich meines Bruders Hüter?

Er aber sprach:

Was hast du getan?

Die Stimme  des  Geblüts deines Bruders schreit

zu mir aus dem Acker.

Und nun,

verflucht seist du hinweg vom Acker…

schwank und schweifend musst du auf Erden sein.

Kajin sprach zu ihm:

Allzu gross zum Tragen ist meine Verfehlung…

Ist nicht diese Rede und Gegenrede, dieses Sprechen mit der Stimme des Vorwurfs und mit der Stimme der Schuld einer innern Auseinandersetzung ähnlich, die wir als Gewissen erfahren? Hören wir uns dabei nicht bei unserm Namen gerufen, einerseits als den, der wir sind und andererseits als den, der wir sein sollen, und erfahren wir uns nicht gerade in dieser Differenz für verantwortlich erklärt? Diese Differenz ist in der Tat etwas, das aussteht, das wir schulden. Schuld ist dies: ein Ungenügen an einem innern Mass des Seins und Handelns. (Im rechtlichen Sinn dann an einem allgemein anerkannten Gesetz).

Eine dritte Entwicklungsstufe zeigt, sich darin, dass Recht- und Unrechttun nicht nur  als Schicksal und blindes Verhängnis angenommen wird, sondern als eigene Verantwortung verstanden wird,  für die es einerseits Gründe gibt, andererseits Folgen: Strafe und Sühne, auf einer weitern Stufe Verzeihen. Aeltestes Symbol für das Sühnebewusstsein war das Opfer. Das Opfer war als Befreiung von der Schuld und als Wiedergutmachung  gedacht, ursprünglich weniger dem Geschädigten gegenüber als dem erzürnten Gott gegenüber; die Zielsetzung bestand in der Milderung, wenn nicht gar die Aufhebung der Strafe.  Ist es nicht auch heute noch so, dass wir , auch schon die Kinder, etwas hergeben wollen, das uns lieb ist, etwas leisten wollen, um wieder gutzu machen?

Wenn wir nun die psychische Entwicklungsgeschichte jedes Menschen als individuelle Wiederholung der Geistesgeschichte  der ganzen Menschheit verstehen, so lassen sich die geschilderten drei Entwicklungsstufen bei jedem Kind beobachten, zusammengedrängt  in die kurze Zeit bis etwa zum Beginn der Pubertät.

Die erste Stufe, die sich als “bedenkenloses Handeln”,  als Handeln allein nach dem Diktat der Bedürfnisse bezeichnen lässt, ist die Stufe des eigentlichen Kleinkindes,  bis ungefähr zum 3.Altersjahr. Es gibt noch keine Unterscheidung von Recht und Unrecht, im Gegenteil. “Recht” ist alles, was dem kindlichen Bedürfnis entspricht. Piaget reiht diese Phase der kindlichen Entwicklung in die Phase des Egozentrismus ein – wobei Egozentrismus, das muss (nochmal) betont sein, nichts mit Egoismus zu tun hat, nichts mit Selbstsucht oder übermässiger Beschäftigung mit der eigenen Person, sondern mit der dem Kind eigenen Perspektive, aus der heraus es die Wirklichkeit versteht. Piaget’ s Einteilung allein ist jedoch zur Erfassung der Gewissensbildung zu wenig differenziert bezüglich des Handelns und dessen; was er “moralisches Bewusstsein” nennt, stützt er sich vor allem auf zwei Kategorien ab, auf die von Zwang und von Zusammarbeit, d , h , von einseitiger Unterordnung des Kindes unter das Diktat der Erwachsenen, sodann von zunehmendem Regelbewusstsein und allmählicher selbständiger Regelsetzung. Feiner und angepasster scheint mir die Einteilung von Erik H.Erikson zu sein (aus dessen Werk “Identität und Lebenszyklus” ich Ihnen hier einige Diagramm kopiert habe: S.214, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Nr.16, l.Aufl. 1959, 6.Aufl. 1980).

Es handelt sich bei erikson bei dieser 1. Phase auch un  das Säuglings- und frühe Kleinkindalter: ln dem im Mass und in der Weise, wie auf die kindlichen Bedürfnisse eingegangen wird, in ganz besondern Mass von der Mutter, wird jenes Urvertrauen geschaffen, aus dem heraus ein gesundes Selbst- und Weltvertrauen wächst, das nicht nur zum Nehmen und Behalten, sondern auch zum Geben befähigt und das insbesondere die Entwicklung eines lebensbejahenden und nicht überängstlichenGewissens begünstigt. Liebevolles Eingehen auf den vielfältigen Hunger des kleinen Kindes – auf den Hunger nach Nahrung, nach Zärtlichkeit, nach Spiel, nach Getragen- und Gewiegtsein, nach Gestreichelt- und Getröstetsein  – ermöglicht es ihm schon wenig später, sich selbst und seinen Körper zu akzeptieren, ohne in krankmachende Schuldgefühle zu fallen, und andererseits auch die Bedürfnisse der es umgebenden Menschen zu respektieren. Diese Regel der Gegenseitigkeit erfasst das Kind je früher und je konfliktfreier, je grossherziger und wärmer es in das Spiel von Geben und Nehmen eingeführt wirdo Das Beispiel des Gebens und des Anerkennens sind dabei massgebend. Danach wird sich sein eigenes Richtmass, sein gefühl für Recht und Unrecht richten.

Wie viele Kinder werden jedoch ohne Beispiel, ohne “Anleitung” in diesem Sinn in das Verhaltensspiel  eingeführt, das später das Leben ausmacht. Wie viel Unsicherheit, Aengste und lähmende Schuldgefühle erwachsen aus zu viel Strenge (Das Beispiel einer  solchen Kindheit  schildert uns Cecile Ines Loos  in ihrem Buch “Der Tod und das Püppchen”, erstmals 1939, neu 1983 herausgekommen, Edition Kürz: cfs 1. Abschnitt, S.7).

Auf die kindlichen Bedürfnisse eingehen heisst nicht, das Kind ungehemmt und richtungslos und selbst bestimmen und gewähren lassen. Doch ist ebensowenig die Quantität der Regeln massgebend für eine möglichst wirkungsvolle Begleitung und Lenkung des Kindes. Wichtig ist allein die Qualität der vermittelten Regeln. Ja man könnte sagen, dass die Qualität der Regeln umgekehrt proportional ist zu deren Quantität. Da, wo alles geregelt, eingeschränkt oder gar verboten ist, verfällt das Kind entweder in lustlose Passivität, die häufig abgelöst sein kann von heftigen Trotzphasen, oder aber es wächst in beängstigende Schuldgefühle und Selbstzweifel hinein, die sich häufig nicht nur als solche zeigen, sondern sich gerade kompensatorisch entladen: durch Unruhe, durch ein zerstörerisches, aggressives Spielverhalten, durch beständiges Anschwärzen der andern, durch Uebertreiben und Prahlen.

Die eigentliche Gewissensentwicklung findet im Uebergang zwischen Kleinkindalter und Spielalter statt, so um das 3-4. Lebensjahr herum. Da, wo das Kind anfängt, seine eigene Initiative zu entwickeln, seinen Tatendrang, seinen Lerneifer und seine Neugier mit eigenen Versuchen zu verwirklichen, da misst es sich nun auf konkrete Weise am Massstab der Erwachsenen und an ihrem Beispiel und je stärker das Vertrauen ist, das es bis jetzt in sich selbst und in seine Umwelt entwickeln konnte, je untrüglicher entwickelt sich nun das Gewissen als echter Masstab, je geringer ist die Gefahr, dass übertriebene, zerstörerische Schuldgefühle sowohl sein Selbstvertrauen (oft für sein ganzes Leben) belasten oder aber dass die Unterscheidungsfähigkeit für Gut und Böse gar nicht zustandekommen kann.

Ein Beispiel für die früh einsetzende Regung des Gewissens ist das Erröten, Sich-Verstecken und Sich-Schämen des Kindes (Saras Erlebnis mit dem Seidelbaststrauch. Geschichte erzählen). Während Saras kleiner bruder von seiner mutter mühsam dazu gebracht wurde, die giftigen Beeren zu erbrechen, versteckte sich Sara in ihrem Zimmerchen. Sie fühlte sich für das Weinen des kleinen Bruders schuldig, sie versteckte sich. Was bedeutet dieses Sich-Schämen? Es ist ein Gefühl der Ausgesetztheit und des zusätzlichen Kleinseins. Auf verhängnisvolle Weise wird dieses Gefühl von hilflosen Erziehungsmetnoden ausgenützt, von welchen das Kind bei jeder nur denkbaren Gelegenheit beschämt wird, um es in einer möglichst grossen Abhängigkeit und Unselbstständigkeit zu halten. Bei dieser Methode wird alles, worauf  sich seine Neugier bezieht, so z.B. sein eigener Körper, mit einem Tabu belegt, sodass eine übertriebene Scham, eine übertriebene Hemmung bezüglich aller natürlichen Bedürfnisse entstehen. Während das echte Schamgefühl eine Aeusserung des Gewissens ist und damit als Indikator wirkt für die Grenze zwischen Recht und Unrecht, die zu beachten für das Kind auch ein Bedürfnis ist, führt das übertriebene Schamgefühl leicht zu einer Entschlossenheit, die vielen tabuisierten Handlungen heimlich zu tun, um so die überall gegenwärtige Grenze zu unterlaufen. Damit geht jedes echte Schamgefühl verloren. Davon wird die Seele nicht weniger krank als von der übergrossen Aengstlichkeit, der skrupelbelasteten Unfreiheit, die ebenfalls daraus folgen können. Auch die Entwicklung des Gewissens, des Urteilsvermögens zwischen Gut und Böse, braucht Zeit und eine wohlwollende Lenkung. Wichtig ist, dass jeder Ratschlag, den Eltern und Erzieher dem Kind geben, von ihnen selbst ernst genommen wird; dass Vorschriften und verbote nicht Ergebnis ihrer Willkür oder ihrer Laune sind, sondern Ergebnis ihrer liebevollen und klugen ueberlegung, ob siew für das Kind nötig und nützlich sind. ein Vorteil wäre es, wenn das Kind sie immer verstände; da dies nicht möglich ist, ist wenigstens darauf zu achten, dass wenn das Kind sie einmal versteht, sie einen Sinn ergeben.

In welchem Mass der Gehorsam gerade im zusammenhang der Gewissensbildung wichtig ist – und welche Art von Gehorsam – werden wir in der nächsten Woche besprechen.

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2. Abend

Wir werden am heutigen Abend das Gebiet der Philosophie auf das der Psychoanalyse ausweiten, um zwei der bedeutendsten Theorien über die Entstehung und das Werden des Gewissens kennzulernen;  Die psychoanalytische Theorie von Sigmund Freud und die ent­ wicklungspsychologische von Jean Piaget.

Der einzelne Mensch in seinem individuellen Werden liess sich als einzelner so lange nur unzulänglich erfassen, als eine Lehre über die Entwicklung der menschlichen Psyche überhaupt, eine allgemeine Erklärung, nicht gege­ben war.  Noch Ende des 18.jahrhunderts, nachdem die Aufklärung als kultur-geschichtliches Ereignis einen grossen Beitrag zur Erklärung des Menschen geleistet hatte, schrieb Novalis, der frühromantische Dichterphilosoph, in seinen “Fragmenten”: “Menschen zu beschreiben ist deswegen bis jetzt un­möglich  gewesen, weil man nicht gewusst hat, was ein Mensch ist. Wenn man erst wissen wird, was ein Mensch ist, so wird man Individuen wahrhaft gene­tisch beschreiben können”. Dass wir uns heute mit der Eigen­-Geschichtlich­keit jedes Kindes befassen können, dass wir über ein wissenschaftliches Gerüst verfügen, das uns erlaubt, jede individuelle Entwicklung als kon­krete Ausformung einer allgemeinen Entwicklung zu betrachten und zu analysie­ren, das verdanken wir zu einem grossen Teil dem Wiener Arzt Sigmund Freud (1856 geb., 1939 im Londoner Exil gestorben ,  dem viel bewunderten und viel angefochtenen Tabubrecher einer Moralität voller Vorurteile und Aengste. Er behält seine Bedeutung als Pionier im vorher weitgehend unerforschten Land der menschlichen Psyche, analytisch (in der Aufschlüsselung), herme­neutisch (in der Deutung) und therapeutisch (in der Heilung), auch wenn nach ihm in seiner Nachfolge weitere und weniger einseitige  Theorien ent­wickelt wurden. Erich Fromm, einer der bedeutenden “Schüler” Freuds und selbst Psychoanalytiker eigenen Gewichts, formuliert   die Bedeutung Freuds so, dass die Nachfolger Freuds auf dessen Schultern ständen, und weil sie auf diese Weise viel weiter sehen könnten als er, ihn selbst daher als Zwerg betrachteten; tatsächlich aber sei er ein Riese, und alle Bestrebun­gen seiner NACHFAHREN, seine Grössen  zu bestreiten, hätten auch etwas vom wilden Kampf der Söhne gegen den übermächtigen Vater, wie Freud  ihn selbst als “Oedipuskomplex”     diagnostiziert und beschrieben hatte 1).

Was es damit auf sich hat, mit Freuds Theorie und mit dessen Weiterentwick­lung, wollen wir nun möglichst präzise zusammenfassen:

Die ersten eigentlichen Ausführungen Freuds über das Gewissen finden sich in der Studie “Zur Einführung des Narzissmus” von 1914, einer sehr kompri­mierten und überaus wichtigen Schrift des damals 58-jährigen Freud.  Er entwickelt darin die Beziehung zwischen dem Ich als Gegenstand der eigenen Libido (d.h. der Liebeskraft, wie sie als Befähigung zur emotionalen Objektbildung, oder besser, zur Beziehungsbildung zu verstehen ist) und der Ubertragung der Libido auf andere. Sodann,  was uns noch mehr interessiert, er unterscheidet im Ich, in diesem Prinzip bewusster Individualität, einen unbewussten Teil, an dem sich das Ich misst, mit dem es sich vergleicht und vor dem es bestehen muss. Diesen unbewussten Anteil im Ich nennt Freud in dieser frühen Schrift das Ich-Ideal.

Wie kommt das Ich-Ideal zustande? Freud stellt fest, dass dem kleinen Kind die uneingeschränkte, vollkommene Liebe von Vater und Mutter zukommt. Diese vollkommene Liebe verschafft dem Kind ein vollkommenes Selbstwertgefühl, d.h. eine fraglose Selbstliebe, welche eigentlich das bedeutet, was Freud unter “Narzissmus”  versteht. Dem Ich-Ideal, oder, wie Freud auch sagt, dem “Idealich” gilt nun die Selbstliebe, welche in der Kindheit das wirkliche Ich genoss. Der Narzissmus erscheint auf dieses neue ideale Ich verschoben, welches sich wie das Infantile im Besitz aller wertvollen Vollkommenheiten befindet”. Etwas weiter findet sich dann die Einführung des Gewissens. “Es wäre micht zu verwundern”, schreibt Freud, “Wenn wir eine besondere psychische Instanz auffinden sollten, welche die Aufgabe erfüllt, über die Sicherung der narzisstischen Befriedigung aus dem Ich-Ideal zu wachen” (d.h. über die zufriedenstellende Uebereinstimmung zwischen aktuellem Ich und Idealich), “und in dieser Absicht das aktuelle Ich unausgesetzt beobachtet und am Ideal misst. Wenn eine solche Instanz existiert, so kann es uns unmöglich zustossen, sie zu entdecken; wir können sie nur als solche agnoszieren und dürfen uns sagen, dass das, was wir unser Gewissen heissen, diese Charakteristik erfüllt.” Freud sagt damit etwas sehr Zutreffendes: Das Gewissen kann als gesonderte Instanz, allein für sich, nicht erkannt werden, sondern allein durch die vorhandene oder fehlende Uebereinstimmung zwischen dem handelndem Ich und dem Idealich. Er folgert dann, dass diese Instanz in sehr übersteigerter Form auch in den paranoiden Erkrankungen sich meldet. “Die Kranken klagen dann, dass man alle ihre Gedanken kennt, ihre Handlungen beobachtet und beaufsichtigt; sie werden vom Walten dieser Instanz durch Stimmen informiert.” und Freud stellt dann fest, dass die “Klage” der Kranken berechtigt sei. “eine solche Macht, die alle unsere Absichten beobachtet, erfährt und kritisiert, besteht wirklich, und zwar bei uns allen im normalen Leben”. In der Paranoia jedoch, sagt er,”tritt sie in regresssiver Form auf, enthüllt dabei ihre Genese und den Grund, weshalb sich der Kranke gegen sie auflehnt”

Welches ist denn die “Genese” des Gewissens, wie entsteht es?

Freud gibt gleich selbst Antwort: “Die  Anregung zur Bildung des Ich-Ideals, als dessen Wächter das Gewissen bestellt ist, war nämllich von dem durch die Stimme vermittelten kritischen Einfluss der Eltern ausgegangen, an welche sich im Lauf der Zeiten die Erzieher, Lehrer und als unübersehbarer, unbestimmbarer Schwarm alle anderen Personen des Milieus angeschlossen hatten. (Die Mitmenschen, die öffentliche Meinung).”

Freud legt hier gleich drei sehr wichtige Schwerpunkte: l) Ohne die Erfahrung wirklichen Geliebtseins kann sich kein Idealich, d.h. kein Ich-Ideal heraus bilden.  2)   Die kritische Instanz, welche über die Uebereinstimmung zwischen handelndem Ich und Ich-Ideal wacht, ist die ins Innere verlagerte Stime der Eltern  3) Die Stimme des Gewissens entspricht nicht nur der Stimme der Eltern, sondern der ganzen, mit den Eltern verbundenen Umgebung, d.h. des “Milieus”, wie Freud sagt, und ergänzend der “öff’entlichen Meinung”. Mit anderen Worten heisst das: Das Gewissen ist Funktion der sozialen Bedingungen –  eine schwerwiegende Erkenntnis, die in ihrer ganzen Tragweite damals überhaupt nicht erfasst wurde und zum grossen Teil auch heute nicht. Ich erinnere mich an den Fall des 16-jährigen schwarzen Mädchens, das vor zwei Jahren in den USA zum Tod veruerteilt wurde, weil es eine alte Frau mit einem Dutzend Meserstichen umgebracht hatte zum Zweck der Beraubung. Ein paar wenige Dollars waren das Ergebnis, und ein Hinrichtungsurteil. Bie Tatsache, dass dieses junge Mädchen in allerärmsten Verhältnissen aufgewachsen war, vernachlässigt, geschlgen und missbraucht wurde, konnte die Richter nicht zu einem milderen Urteil bewegen. Wir hatten jedoch das letzte Mal gehört, dass das Gewissen die letzte Instanz für Recht und Unrecht sei. Nun aber konnte das Empfinden für das Unrecht des Tuns bei diesem jungen Mädchen gar nicht aufkommen, obwohl es nach allen Rechtsgrundsätzen tatsächlich ein Verbrechen begangen hatte. Tatsächlich hätte daher nicht das schwarze Mädchen, sondern die ganze Gesellschaft mit ihren verbrecherischen Strukturen  vor dem zuständigen Richter erscheinen müssen. Wenn ein Kind in seiner frühesten Kindheit die Erfahrung umfassender Liebe nicht machen kann, bildet sich schwerlich ein Ich-Ideal heraus, und mithin fällt auch die Herausbildung jener zwischen den beiden Ich-Formen vergleichenden Instanz – das Gewissen – kaum in Betracht. Wofür soll also das Kind, d.h. das 16-jährige schwarze Mädchen, verantwortlich gemacht werden?

Fast zehn Jahre später ergänzte Freud seine Theorie vom Ich-Ideal und baute sie aus. Bedeutungsvoll ist dabei seine Schrift “Das Ich und das Es” von 1923. Im gleichen Jahr ist übrigens Martin Bubers “Ich und Du” und, wie wir noch hören werden Georg Groddecks “Buch vom Es” erschienen. “Das Bewusstsein”, sagt dort Freud, ziemlich am Anfang, “ist nur  eine Qualität des Psychischen. Neben dem Bewussten gibt es das Vorbewuste und das Unbewusste. “Wir haben uns die Vorstellung von einer zusammenhängenden Organisation der seelischen Vorgänge in einer Person gebildet und heissen diese das Ich derselben. An diesem Ich hängt das Bewusstsein” … Und Freud führt dann aus, was dieses Ich alles leistet: das Ich kontrolliert die “Abfuhr der Erregungen” in die Aussenwelt”, es kontrolliert alle Teilvorgänge der Psyche, eine Kontrolle, die sogar nachts als Traumzensur weiterwirkt. Vom Ich gehen auch die Verdrängungen aus, wodurch bestimmte Bedürfnisse, Wünsche und Erfahrungen, erfahrene Verletzungen und erfahrener Schmerz vor allem, aus dem Bewusstsein ausgeschlossen werden sollen. Freud stellt jedoch fest, dass in der Analyse, in der die verdrängten Strebungen und Erfahrungen wieder bewusst gemacht werden sollen, ein starker Widerstand wirksam wird, der auch vom Ich ausgeht, der aber unbewusst ist. Auch mit dem Ich ist also Unbewusstes verknüpft, das jedoch nicht mit dem Verdrängten zusammenfällt. Freud fragt sich nach der Natur  dieses  Unbewussten, das er als stärker als den bewussten Teil des Ichs erlebt. Durch di e Anregungen eines anderen Arztes, Georg Groddeck, der mit Freud in einen für beide Teile sehr anregenden Briefwechsel tritt, nennt er diesen unbewusten Teil der Psyche das “Es”.  Das Es, sagt Groddeck immer wieder, beherrscht den Menschen, das Ich verhält sich im Leben wesentlich passiv, es wird “gelebt”  von der unbekannten, unbeherrschbaren Macht des Es. (Der Begriff “Es” geht übrigens auf Nietsche zurück,   er braucht in z.B. im 1. Hauptstück von “Jenseits von Gut und Böse”. Zu ergänzen ist auch, dass Groddeck der eigentliche Begründer der psychosomatischen Medizin ist, da er begeistert von Freuds frühen psychanalytischen Erkenntnissen, diese auch auf die Behandlung organischer Krankheiten überträgt). Groddeck war zweifellos ein genialer, aber sehr unwisenschaftlich und unsystematisch arbeitender Denker, und Anerkennung und Ablehnung haben sich in Bezug auf seine Person sehr eindeutig profiliert. Seine Genialität lag im Intuitiven. Da wir vom Es nur das kennen, was innerhalb unseres Bewusstseins liegt, schreibt er, und da “weitaus das meiste unbetretbares Gebiet ist, … könnnen wir (dann) tief ins Unbewusste eindringen, wenn wir uns entschliessen, nicht zu wissen, sondern zu phantasieren” … “Wie werden Ihnen die Augen aufgehen”, schreibt Groddeck seiner Briefpartnerin, wenn Sie gelernt haben, die Brücke zwischen der Gegenwart und der Kindheit zu schlagen” … Der eigentliche psychoanalytische Ausbau der Theorie vom Ich und vom Es ist Freuds Verdienst. Wichtig ist, was beide Denker immer wieder betonen, dass zwischen dem Ich und dem Es keine starre Grenze verläuft, dass man den Unterschied auch nicht zu starr zu verstehen hat, dass es sich um die gleiche Psyche handelt. Es liesse sich mit Freud dies besonders so deutlich machen, dass das Ich der besonders differenzierte, mit der Aussenwelt in Verbindung stehende Anteil des Es ist. Das Ichideal dagegen, sagt Freud, ist “Ausdruck der mächtigsten Regungen und der wichtigsten Libidoschicksale des Es”. Als “Erbe” der ganz frühen Auseinandersetzung mit dem mächtigen Vater und der Liebesbesetzung der Mutter, von Freud als  Ursprung aller Schuldgefühle diagnostiziert und als Oedipuskomplex bezeichnet, wird das Ich-Ideal, das Freud von nun an “Ueber-Ich” nennt, als  Anwalt der Innenwelt gegen das Ich und seine Aussenwelt-Vertretung aufgerichtet. “Das Ueber-Ich” wird den Charakter des Vaters bewahren” sagt Freud, doch unterscheidet er sogleich; denn das Ueber-Ich ist einerseits die Simme, die auffordert, dem Vater zu gleichen, aber auch die Mahnung, nicht alles zu tun, was der Vater tut, da manches ihm vorbehalten bleibt. Das Ueber-Ich ist also doppelgesichtig; es dient dazu, die Oedipuswünsche, denen sich der Vater entgegenstellt, zu verdrängen, gerade mit Hilfe der Autorität des Vaters, d.h. jene Macht, die ihm ursprünglich feindlich erschien, internalisiert das Kind und macht sie zur Macht, welche all seine Triebregungen kontrolliert. “Je stärker der Oedipuskomplex war” schreibt Freud, und je beschleunigter unter dem Einfluss von Autorität, Religionslehre, Unterricht und Lektüre seine Verdrängung erfolgte, desto strenger wird später das Ueber-Ich als Gewissen über das Ich herrschen, vielleicht als unbewustes Schuldgefühl.”

Die Heraussonderung und Herausbildung des Ueber-Ichs aus dem Ich und des Ich aus dem Es hat somit nichts Zufälliges an sich, sondern ergibt sich notwendig aus der frühesten Interaktion zwischen dem Kinde, der Mutter und dem Vater. Das Gewissen ist jenes feine  Instrument, durch welches das internalisierte Vorbild weiterhin Autorität behält, indem es die befolgte oder mangelhafte Uebereinstimmung des Ichs mit dem Ueber-Ich kontrolliert. “Obwohl allen späteren Einflüssen zugänglich” schreibt Freud, behält das Ueber-Ich doch zeitlebens den Charakter, der ihm durch seinen Ursprung aus dem Vaterkomplex verliehen ist, nämlich die Fähigkeit, sich dem Ich entgegenzustellen und es zu meistern. Es ist das Denkmal der einstigen Schwäche und Abhängigkeit des Ichs und setzt seine Herrschaft auch über das reife Ich fort. Wie das Kind unter dem Zwang stand, seinen Eltern zu gehorchen, so unterwirft sich das Ich dem kategorischen Imperativ seines Ueber-Ichs”  –

Hier wollen wir die Ausführungen Freuds, die noch unendlich fortzusetzen wären, unterbrechen und mit unseren Ueberlegungen einsetzen;  wir wollen uns fragen, was sich aus der psychoanalytytischen Theorie philosophisch gewinnen lässt. Zusammenfassend stellen wir erst einmal fest, dass Freud die Entstehung des Gewissens beim Kind mit der ersten Erfahrung der Elternliebe verknüpft, mit der Liebe der Mutter und zur Mutter einerseits, mit der Liebe des Vaters andererseits, welche jedoch sehr konditional ist, nach Freud, da sie von der Unterwerfung unter den mächtigen Vater abhängt, von der Uebrwindung des Oedipuswunsches, ihn als einen Rivalen zu beseitigen und ihn dafür als Autorität anzunehmen. Nachdem die kindliche Psyche diese Auseinandersetzung bewältigt hat, die gerade im Trotzalter einen ersten heftigen Ausdruck erlebt (später, in der Pubertät, einen zweiten), macht sie sich zugänglich auch für andere Autoritäten (Lehrer, eventuell Religionslehrer, ältere Freunde, der Freundeskreis überhaupt, die sogenannte öffentliche Meinung usw.), die jedoch immer in der gleichen konditionalen Weise wirken. Entweder unterwirft das Kind (der junge Mensch, später der Erwachsene) sich ihnen, oder er hat zu gewärtigen, dass er, im Sinn der ersten frühkindlichen Erfahrung, durch Liebesentzug bestraft wird, d.h. dass er an den Rand gedrängt, nicht mehr akzeptiert, ausgeschlossen wird. Die Konditionalität der sozialen Bedingungen  führt also zur Unterordnung unter sie, das Wohlverhalten der Menschen hängt also, im Sinne Freuds, mit der Furcht vor dem Ausschluss, mit der Furcht vor der Strafe zusammen. Das ursprüngliche “ich möchte” wird durch einen ganzen Katalog von “du sollst” und “du darfst nicht”  in Gehorsam umgebogen und das so anerzogene Selbstwertgefühl und Selbstachtungsgefühl hängt damit vom Mass der Anerkennung  ab, die von der autoritären Gesellschaft her für die geleistete Unterwerfung und den geleisteten Gehorsam verliehen wird. Die damit verbundene Gefahr ist klar, und klar treten auch die Grenzen der Freudschen Theorie zutage. Erich Fromm nimmt die Kritik vorweg. “Bei Freud”, schreibt er, “kann es letztlich nur eine zivilisierte und keine freie Gesellschaft geben”. Triebunterdrückung, sagt Fromm, kann höchstens zu Zivilisation führen. Zivilisation aber ist ein Minimum, ist höchstens die Ordnung des Zusammenlebens nach dem Masstab autoritär gesetzter Gesetze. Was aber, wenn diese Gesetze Unethisches verlangen? Was tun, wenn selbst die grosse Mehrheit diese Gesetze trägt und anerkennt und denjenigen, der sie nicht befolgt, als Gesetzebrecher ausschliesst und entsprechend bestraft? Wie soll sich der einzelne zum Beispiel angesichts eines Asylgesetzes verhalten, welches verlangt, dass verfolgte, häufig mit demTod bedrohte Menschen nicht Zuflucht finden dürfen in einem Land, das ihnen Schutz gewähren könnte? Oder, wenn wir die jüngste Vergangneheit in Erinnerung rufen: Nazideutschland und die von einer allgegenwärtigen Propaganda, die das Privatleben erfassste, das öffentliche Leben, die Erziehung von den Kindergärten über alle Stufen der Schule, der Jugendbewegungen bis zur Universität durchsetzte einheitlich konditionierte  Gesellschaft, welche die Befolgung verbrecherischer Gesetze zur Pflicht macht? Hannah Arendt fragt sieh in ihrem Buch “Vom “Leben des Geistes”, was diejenigen, die nicht mitmachten, zum Widerstand befähigte, obwohl sie von der Mehrheit als verantwortlungslos bezeichnet wurden, geächtet, mit Gefängnis und mit Tod bedroht wurden. (Ich denke etwa an die Studenten, die sich unter der Führung der Geschwister Scholl im Kreis der “Weissen Rose” zusammenfanden). Hannah Arendt schreibt: “Diese waren die einzigen, die aus eigener Kraft urteilen konnten, und dazu waren sie nicht in der Lage, weil sie ein besseres Wertsystem hatten oder weil die alten Wertmasstäbe  von richtig und falsch noch fest in ihrem  Geist oder Gewissen verankert waren, sondern, so vermute ich, weil ihr Gewissen sozusagen nicht automatisch funktionierte – als hätten wir einen Fundus von erlernten oder angeborenen Regeln, die wir dann jeweils auf den Einzelfall anwenden … Ihr Kriterium war, meiner Meinung nach, ein anderes: sie fragten sich, inwieweit sie noch im Frieden mit sich selbst leben konn nachdem sie bestimmte Taten begangen haben würden … Die Voraussetzung für diese Form des Urteilens ist keine hochentwickelte Intelligenz oder moralphilosophische Akrobatik, sondern bloss die Gewohnheit, bewusst mit sich selbst zusammenzuleben, das heisst, sich auf den schweigenden Dialog mit sich selbst einzulassen, den wir seit Sokrates und Platon gewöhnlich Denken nennen”..-

Das Denken schliesst auch den Zweifel ein, d.h. die Infragestellung der Autorität und der Normen, die von ihr gesetzt werden. So kommen wir wieder zu Descartes zurück und zu Kant, und zur Würde des Subjekts, das sich bei diesen Philosophen herausgebildet hat. Wie kann jedoch die Sicherheit des Handelns beim Kind gefördert werden, damit der Mensch erreicht, “in Frieden mit sich selbst zu leben” oder: Wie kann das Denken gefördert werden, damit es zu einer moralischen Qualität wird?

Der Wert des Gehorsams muss in Frage gestellt werden.  Das  heisst: Gehorsam darf nicht als Wert überhaupt gelten, sondern es muss gefragt werden, wem gegenüber und welcher Regel gegenüber Gehorsam geleistet werden soll. Erich Fromm geht sogar so weit, Ungehorsam immer als den ethisch positiven und Gehorsam als den negativen Begriff zu gebrauchen. Er schreibt, zum Beispiel in “Disobedience as a Psychological and Moral Problem”, dass der Ungehorsam Evas der erste Schritt zur Befreiung des Menschen  zu sich selbst gewesen sei, während er die Gefahr der nuklearen Selbstvernichtung der Menschheit als Folge einer langen Gehorsamskette sieht. “Die Geschichte der Menschheit begann mit einer Tat des Ungehorsams” schreibt er (a.a.0.), “und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie mit einer Tat des Gehorsams beendet werden wird”. Erich Fromm differenziert sein apodiktisches Urteil insoweit, als er Gehorsam dann annehmen kann, wenn damit keine Unterwerfung verstanden wird, sondern im ursprünglichen Wortsinn ein “Hören” und ein Bejahen, und wenn hinter den geforderten Normen eine “rationale” Autorität steht, d.h. eine Autorität, welche Normen vertritt, die universelle Gültigkeit haben. Auch hier nähern wir uns wieder der Kant’schen praktischen Vernunft, derzufolge jedes individuelle Menschsein, jedes Ich, sich am transzendentalen Ich misst und mithin die gleiche Würde besitzt, sodass kein Mensch instrumentalisiert werden darf, keiner als Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke gebraucht werden darf.

In der Praxis heisst das, dass dieErziehung zum Gehorsam klug differenziert werden muss.  Die vom Kind geforderte Anerkennung und Bejahung von Regeln hängt von der Glaubwürdigkeit unsere Autorität ab. Erziehung wird damit zuerst eine Forderung an uns, die erziehen. Wie sollen wir dieser Forderung gerecht werden? Wie sollen wir erreichen, dass Gehorsam nicht furchtsame Unterwerfung, sondern vernünftige Bejahung (oder Verneinung) wird? – Wenn wir uns an die Bildung des Ueber-Ichs erinnern, wie es in Freuds Theorie deutlich wird, so ergibt sich als erste Regel, dass die Erfahrung der Liebe, die wir dem Kind vermitteln, nicht konditional ist, d.h. eben nicht mit der Drohung des Entzugs verknüpft ist. Auf Grund dieser Bedingungsfreiheit ergibt sich die zweite Regel, dass auch der Widerspruch des Kindes als notwendig und als sinnvoll angenommen wird, wenn er mit Gründen verbunden ist. Die Anleitung zum kritischen Abwägen, Erörtern und Begründen des Vorgegebenen ist Erziehung zum Denken und damit Erziehung zu Freiheit und Verantwortlichkeit. Denn weder Humanität noch Freiheit noch Verantwortlichkeit können eingetrichertert oder “einfach” auf Grund theoretischer Unterweisung gefordert werden. Sie bilden sich heran, indem sie eingeübt und vorgelebt werden. Gewissensbildung ist Erziehung zum wagnis der autonomen Persönlichkeit. Mit dem Prinzuip der bedingungsfreien Liebe, insbesondere des einübens von Freiheit durch vorgelebtes Denken und vorgelebten Respekt sind wir in grosser Nähe jenes Ideals, das Piaget als Ziel seiner Gewissensentwicklung versteht, wo der Gehorsam durch das Empfinden für Gerechtigkeit und das Prinzip gegenseitiger hilfe abgelöst werden. Jean Piaget (geb. 1896 in Neuenburg, gest. 1980   in Genf   st.) hat sich ein Leben lang mit der Entwicklung der kindlichen Psyche beschäftigt. (Seine Werke wurden deutsch beim Suhrkamp Verlag verlegt und sind zum Teil in Taschenbüchern  erhältlich. Wir stützen uns insbesondere auf das von Lucien Goldmann übersetzte Werk “Le jugement moral chez l’enfant”, resp. “Das moralische Urteil beim Kind”. Piaget versucht, durch ungezählte Beobachtungen und Untersuchungen herauszufinden, wie sich der Zwang zur Regelbeachtung, zur freiwilligen Zusammenarbeit entwickelt, mithin wie sich das Gewissen des Kindes wandelt.  Er geht davon aus, dass jede Moral ein System von Regeln  ist, und dass Sittlichkeit in der Achtung besteht, die das Individuum diesen Regelnente entgegenbringt. Wie aber kommt diese Achtung zustande? Die meisten Regeln, mit denen das Kind konfontiert wird, kommen von den Erwachsenen, Spielregeln von grösseren Kindern. das Kind erlebt diese Regeln zuerst passiv, indem sich der Tag regelmässig in einer bestimmten Abfolge abwickelt, mit einer Regelmässigkeit, die zur Gewohnheit wird. Diese Regelmässigkeit nimmt das Kind gewöhnlich an, sie bringt ihm Vorteile und es bringt sie kaum durcheinander. Bald auch merkt es schon, dass diese Regelmässigkeit (z.B in der Zuwendung der Mutter, in der Nahrung usw.) mit Verpflichtungen verbunden ist, also einen gewissen Zwangscharakter hat, den es jedoch von jenem Augenblick an überwinden kann, als es die “Regel” der Gegenseitigkeit, des Austauschs und der Zusammenarbeit entdeckt und versteht. Aus der Erfahrung der einseitigen Rollenverteilung, die mit einem gewisen Zwang verbunden ist, schält sich die Erfahrung der Gegenseitigkeit, d.h.auch der Dialoghaftigkeit heraus, mithin einer gleichberechtigten Ebenbürtigkeit. Und das Gewissenskriterium für deren Beachtung ist eben die Regel der autonomen Zusammenarbeit selbst.

Wie kommt das Kind zu dieser autonomen Zusammenarbeit? Jean Piaget macht eingehende Untersuchungen über das Spielverhalten der Kinder. Dieses nimmt als ein Verhalten in der Gruppe seinen Anfang nach Abschluss der ersten Entwicklungsphase des Kindes, in der das Kind nur sich selbst als Ausgangspunkt seiner Perspektive erlebt und in der es die Wirklichkeit aus der ihm eigenen Wirklichkeit heraus interpretiert. Piaget nennt diese Phase die Phase des Egozentrismus. Doch schon diese Phase ist auf wesentliche Weise Einführung in das Lebensspiel, welches aus Bekommen und Geben besteht; schon in diesen ersten Jahren erfährt es, dass auf seine Bedürfnisse eingangen wird, dass es aber auch die Bedürfnisse der Mutter  zu respektieren hat. Es ist die Phase des “moralischen Realismus”, wie Piaget sie nennt, d.h. alle Erfahrungen zählen in der unmittelbaren Aeusserung und werden nicht auf die Absichten hin befragt. Beim eigenen Tun und beim Tun der anderen zählt nur das Resultat und nicht die Absicht. Piaget stellt fest, dass Regeln (z.B. beim Spiel) etwas Unumstösslichen bedeuten, dass die Nicht- Beachtung einer Regel bei seiner zweieinhalbjährigen Tochter daher sehr bewusst erlebt wird; sie missachtet sie, obwohl sie weiss, dass sie dies nicht tun sollte (die Geschichte mit dem Handtuch, aus dem sie Fäden zieht), und sie ist auch besorgt, dass nach der Regel der Gegenseitigkeit die Mutter deswegen traurig ist. Das Schuldgefühl, das sich bei ihr zeigt, ist jedoch sofort wieder aufgehoben, wie sie spürt, dass die Mutter ihr verziehen hat.  In dieser Phase wird Gutsein noch ganz als Gehorsamsein verstanden, da allein das Resultat zählt und nicht die Absichten. Diese Phase findet eine allmähliche Ueberwindung vom Augenblick an, wo das Kind bei allem, was ihm begegnet, bei den Regeln, bei den Verboten und bei allen Geschehnissen anfängt, nach dem Grund zu fragen.  Es ist die Phase der “warum”-Fragen, die lange dauert, und deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Denn nur über das Gespräch und die Erörterung gelangt das Kind zur Einübung in die autonome Begründung seines Handelns, damit zu einem allmählichen Gefühl der Eigenverantwortlichkeit. Auch dabei geht es wieder um die Erfahrung der Gegenseitigkeit. Auf Grund dieser Erfahrung entwickelt sich beim Kind allmählich das innere Bedürfnis, stellt Piaget fest, den anderen “gerecht” zu behandeln und selbst”gerecht” behandelt zu werden, d.h. nach den gleichen Masstäben. Diese Regeln entwickeln sich auf autonome Weise in der Kindergesellschaft, und wer sie verletzt, macht sich schuldig. Das Empfinden für Gerechtigkeit zeigt sich auch in der Haltung der Kinder Strafen gegenüber, d.h. sie entwickeln ein sehr feines Gespür für die Angemessenheit von Strafen, ob sie selbst oder andere sie auf sich nehmen müssen.

Um das 10. –  12. Altersjahr herum, stellt Piaget fest, können Kinder einen ausgesprochenen Sinn für Gerechtigkeit und für Zusammenarbeit entwickelt haben, wenn stufenweise ihre autonomer  werdende Persönlichkeit ernst genommen wird.  Damit dies geschieht, darf der Erwachsene kein “Lehrmeister” sein, er muss Vorbild und Begleiter sein, ein “Mitarbeiter” im Heranwachsen, wie Piaget ihn bezeichnet. Eine wichtige Erfordernis wäre eine entsprechende Veränderung des Schulsystems. Piaget vertritt die von anderen fortschrittlichen Psychologen und Pädagogen vertreten Auffassung (z.B. Dewey, Sanderson, Cousinet), dass die herkömmmliche Schule mit ihrer einseitigen Vorbereitung auf Prüfungen und Einzelbeförderungen das Kind eben nicht zur Solidarität und zur Zusammenarbeit erziehe,  die Kinder aber sollten zur Gruppenarbeit, zur gegenseitigen Hilfe beim Lernen und zu einem allmählichen “Self-Government”  innerhalb der Klasse angeleitet werden. Diese Art der allmählichen zwangsfreien Gewissenbildung aus der Einübung gegenseitiger Achtung vermöchte tatsächlich eine bessere Gesellschaft entstehen zu lassen, auch wenn dies vorläufig wie eine Utopie erscheint: eine Gesellschaft, in der das Gewissen die Funktion der Kontrolle des gegenseitigen Respekts hätte, in der zerstörerische Rivalität und Machthunger zunehmend schwächer  und die gegenseitige, wechselseitige Hilfe zunehmend stärker würden.

1) in: Erich Fromm, Sigmund Freuds Psychoanalyse ­  Grösse und Grenzen, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1979

3.Abend

Am vergangenen Abend haben wir die Theorie Freuds erklärt, der zufolge das Gewissen aus der Auseinandersetzung zwischen Ich, Es und Ueber-Ich sich allmählich entwickelt, als jene Kontroll-Instanz, welche das Handeln des Ich mit den internalisierten Forderungen des Ueber-Ich (der verinnerlichten Autorität), d.h. den gewissensbildenden Normen verglichen,  die sich aus den Verboten und Geboten von Eltern, Erziehung, Schule, Umwelt, Freudeskreis eingeprägt haben und die auch eine Kontrollfunktion in Bezug auf das Es ausüben, auf dieses Residuum verdrängter Erfahrungen und nicht eingestandener Bedürfnisse und Wünsche. Da das Gewissen bei Freud als Funktion des Ueber-Ich wirkt, d.h. da sein Wirken immer mit der Angst vor Liebesverlust und vor Strafe verbunden ist, kann Freuds Theorie, wie dies Erich Fromm feststellt, nur das Zustandekommen einer “zivilisierten, und nicht einer freien Gesellschaft” erklären, hinsichtlich des einzelnen Menschen nur das Zustandekommen einer konditionalen, nicht einer wirklichen Autonomie.

Wir haben in unserer Schlussbesprechung dann festgestellt, dass allein die Erfahrung einer nicht-konditionalen Liebe, d.h. einer Liebe, die nicht an Bedingungen geknüpft ist, dem Kind die Möglichkeit bietet, ein nicht- konditionales – und damit angstfreies –  moralische Urteil zu bilden. Jean-Piaget entwicklet diesbezüglich eine interessante Theorie, die ich Ihnen nun kurz vorstellen möchte.

Nochmals zusammenfassend: Piaget stützt sich vor allem auf zwei Kategorien: Zwang und Zusammenarbeit. Er zeigt damit auf, wie sich von der ersten einseitigen Unterordnung des Kindes unter das Diktat der Erwachsenen sich ein zunehmendes Regelbewusstsein und eine allmähliche selbständige Regelsetzung entwickelt.

Ob Solidarität sich allein aus der gegenseitigen Regelbefolgung und -beachtung entwickeln kann und ob das Gewissen als Kontrollorgan für Regelverletzung schon genügend beschrieben ist, ob gemäss Piagets Theorie nicht vor allem das Regelbewusstsein, d.h. die Unterscheidung von “richtig” und “falsch” zustande kommt, scheint mir fraglich. In Ergänzung dazu möcht ich Ihnen den entwicklungspsychologischen Ansatz von Erik H.Erikson erklären, der noch umfassender ist. Erikson ( 1902 in Frankfurt geboren, später nach Amerika emigriert) entwickelt seine Ueberlegungen zum Gewissen im Zusammenhang seiner Identitäts-Theorie. ”Menschen, die derselben Volksgruppe angehören, in derselben geschichtlichen Zeit leben oder auf dieselbe Art und Weise ihr Brot verdienen, werden auch von gemeinsamen Vorstellungen   von Gut und Böse geleitet. Diese Vorstellungen spiegeln  in unendlicher Variation das Ungreifbare des historischen Wandels wieder, und dennoch nehmen sie für die Ich-Entwicklung jedes Einzelnen in Gestalt der herrschenden soziologischen Modelle und Leitbilder von Gut und Böse sehr konkrete Formen an. (“Ich-Entwicklung und geschichtlicher Wandel” in: “Identität und Lebenszyklus” stw 16). Erikson rückt also die psychozialen Prägungen und Einflüsse in den Vordergrund. Das Kind erlebt sich als Teil einer Gruppe, die gebildet ist, je nachdem, aus Mutter, Vater, vielleicht Geschwistern, Grosseltern oder anderen Personen, die fest zur Gruppe gehören. Die Erfahrungen dieser Gruppe bedeutet Welterfahrung, und dies bildet aus den ersten Erlebnissen: Erlebnissen der Geborgenheit, des Sich-Verlassen-Könnens, der Zuverlässigkeit in Bezug auf die Erfüllung der wichtigsten Bedürfnisse, d.h. den Bedürfnissen nach Nahrung, nach Zärtlichkeit, nach Pflege, nach Gewiegt- und Getröstetsein, nach Spiel und Sprache. Auf Grund dieser ersten Erfahrungen entwickelt sich eine Art Grundhaltung, ein “Gefühl von”, sagt Erikson, eigenem Wert und Wert für die anderen, das, was er “Ur-vertrauen” nennt. Aus einem intakten Ur-Vertrauen heraus kann sich allmählich das Bewusstsein persönlicher Identität entwickeln, das, wie Erikson schreibt, gleichzeitig auf zwei Beobachtungen beruht: “Auf der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen”. Es geht also um mehr als um die “blasse Tatsache des Existierens”, sagt Erikson, es geht um die “Ich-Qualität der Existenz”. Ur-Vertrauen und Ich-Identität haben als Grundlage die Erfahrung der Wechselseitigkeit des Gebens und Empfangens. Die Mutter veranlasst das Kind, anzunehmen, was es braucht und was sie ihm gibt, und das kleine Kind veranlasst die Mutter, ihm zu geben, was es braucht. Je zuverlässiger diese “dialogische Situation” ist, in der auch Gebote und Verbote Ausdruck eines Sinns sind, eines Sinnzusammenhangs, und nicht Ausdruck von Launen und Willkür, umso angstfreier entwickelt sich die Empfindlichkeit des Kindes für Störungen dieses Vertrauens, die es möglicherweise selber bewirkt, indem es “seinem” Teil im Austausch, in der Gegenseitigkeit nicht nachkommmt. Mit dieser Empfindlichkeit für Störungen des Vertrauens stimmt die frühe Entwicklung des Gewissens überein, die Erikson mit einem äusserren Entwicklungsschritt des Kindes in Uebereinstimmung bringt: das Kind, das sich aufrichtet, das steht und zu gehen anfängt, fühlt sich plötzlich den Erwachsenen, die auch stehen und gehen, ähnlicher. Das führt zu Konflikten, es muss diese n Wandel der Verhältnisse erproben, auch in Bezug auf die erfahrene Gegenseitigkeit, das Kind muss wissen, ob die gleichen “Vereinbarungen” noch gelten oder ob sie sich auch gewandelt haben. Da probiert es denn manches aus, um jedesmanl, wenn es spürt, dass es zu weit gegangen ist, dass Gefahr bestehen könnte, dass das Gleichgewicht des Vertrauen gestört sein könnte,  sich zu schämen. Erikson ist einer der wenigen Autoren, welche dieses Sich-Schämen des Kindes sehr ernst nehmen. Es bedeutet ein zusätzliches Sich-Klein-Fühlen, ausgesetzt  und beobachtet sein. Uneinsichtige Erzieher haben während Jahrhunderten, bis in die jüngste Zeit, diese Selbsterfahrung des Kindes dazu benützt, es zusätzlich zu demütigen, es noch kleiner zu machen,  um irgendwelche Erziehungsziele zu erreichen, von denen sie behaupten, sie seien zu Gunsten des Kindes, ohne dass sie sich eingestehen, dass sie das Kind dabei nur eigenen Vorstellungen zu unterwerfen und zurechtzubiegen suchen. Eltrn und Erzieher müssen wissen, dass das Sich-schämen des Kindes Ausdruck eines Leidens ist, einer tiefen Angst, nichts mehr (oder nicht mehr gleich viel) wert zusein, und dass Strafen in dieser Situation nur noch mehr Selbstwertverlust und Erniedrigung bedeutet. Das Kind, dessen Gewissen in einer diffusen Vorstufe sich als Verletzung seines Selbstwertgefühls äussert, bedarf allein der Bestärkung und Bekräftigung des gefährdeten Vertrauens. Gerade wenn es spürt, dass es das “Vertrauen” zerstört hat.

Es lässt sich, im Sinn von Eriksons Theorie, dieses “Rezept.” auf alle Entwicklungstufen anwenden, insbesondere auf alle kritischen, ob es sich um die Phase der Sauberkeitserziehung. resp. -gewöhnung handle, oder, etwas später, so um das 3. Altersjahr herum, um die sog. “Trotzphase”, welche für das Kind überaus einschneidend ist, nämlich  eine eigentliche Krise im Prozess der Ablösung vom Säuglingsdasein und der totalen Geborgenheit zum allmählichen Grösser- und Selbständigwerden. Dieser Prozess verunsichert das Kind, ängstigt es. Die Angst betrifft die mögliche Gefährdung des starken Vertrauens, das mit der Säuglingsgeborgenheit einherging und das gleiche bedeutet wie die unbezweifelbare Liebe der Mutter und des Vaters. Das Kind weiss nicht, ob diese Liebe auch noch gilt, wenn es grösser wird, wenn es “stark wird fast wie der Vater”, wenn es gegen die erpobten Gewohnheiten anrennt, nein sagt und sie in Frage stellt. Und je mehr sich das Kind ängstigt, je stärker werden Abwehr, Rückzug, Wut oder Verzweiflung. Da tut sich ihm eine allzu grosse Differenz auf zwischen dem, was es schon will und dem, was es erst kann, zwischen dem Bedürfnis nach Selbständigkeit und der Erfahrung der Abhängigkeit. Wie dem Kind helfen in diesen Momenten, wo es sich zumeist unansprechbar zeigt, wo Argumente oder Beschwichtigung zumeist überhaupt nichts erreichen? Es gibt nicht ein  Rezept,  sondern viele, d.h. keines. Das beste ist, sich eine Grundhaltung anzugewöhnen, die auf das “Besserwissen”  verzichtet. Ausser wenn es um eine wirkliche Gefährdung des Kindes geht, z.B. beim Ueberqueren von Strassen, beim Hantieren mit gefährlichen Gegenständen, ist dem Kind (und den Eltern) mehr geholfen, wenn der Wille des Kindes respektiert wird, das Kind aber dabei nicht allein gelassen wird, als ginge es drum, es zu bestrafen, indem man ihm seinen Willen lässt.  Man muss sich in der Kindererziehung generell, in Zeiten der Krise aber besonders, von jeder Idee des Strafens lösen. Es lässt sich feststellen, dass die Krisen dadurch weniger heftig verlaufen und auch weniger häufig auftreten, – ganz einfach, weil sich die Angst verringern kann.

Wichtig ist, dass Eltern sich durch die Ausbrüche der Kinder nicht angegriffen fühlen; diese Ausbrüche sind nämlich nicht gegen sie gerichtet, auch wenn es den Anschein hat. Wichtig auch, dass Eltern sich nicht in eine eigene Wut hineinsteigern, auch nicht beim hartnäckigsten Toben der Kinder, auch nicht wenn dieses Aerger und Arbeit verursacht und dass sie diese Ausbrüche den Kindern nicht nachtragen. Denn diese Ausbrüche gehören zur Normalität, ja zur Notwendigkeit der kindlichen Entwicklung. Wenn diese Phase ohne Vertrauensbruch durchgestanden weden kann –  die Eltern tun gut daran, sich immer wieder zu sagen, dass es eine Krise ist und daher begrenzt ist –  , wird das Gewissen des Kindes sich als ein feines Instrument zur Regulierung der Initiative, der Selbständigkeit und zur Bejahung von Vorschriften weiter ausbilden können, auch zur Eingliederung in die Spiel- und Tätigkeitsbedingungen der Gleichaltrigen. Eine Phase der Beruhigung und des grossen Lernbedürfnisses tritt ein. Dieses zu fördern, ohne es zu missbrauchen, ohne es mit Bedingungen der stärkeren oder geringeren Akzeptation zu verknüpfen, ist überaus wichtig, nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Weiterentwicklung. Kinder brauchen Anleitung, Hilfe, Vorschriften, sie brauchen eine Ordnung deren Regeln aber so dosiert sein müssen, dass deren Anwendung leicht erfolgen kann, nicht nur von den Kindern, an die sie sich richten, sondern auch von den Erwachsenen, die sie aufstellen, und dass die Nichtanwendung eine Ausnahme ist, die begründet werden muss, oder die wenigsten als Ausnahme empfunden wird.  Auch  dieses –  nicht strapazierte –  Regelbewusstsein  ist bei der Gewissensentwicklung eine grosse Hilfe (wenn auch nicht die ausschliessliche, wie Piaget dies dargestellt hat).

Welche Bedeutung kommt diesbezüglich dem Spiel der Kinder zu? Das Spielen ist mit vielen Missverständnissen behaftet. Allzu oft wird das Spielen ausschliesslich im Gegensatz zum Arbeiten gesehen, das erste als das Unnütze und das zweite als das Sinnvolle. Das ist natürlich falsch. Auch falsch scheint es mir, das Spiel als die Arbeit des Kindes zu bezeichnen; das Kind muss mit dem Spiel nichts erreichen, es braucht nichts zu bestätigen, es muss damit keinen Zweck erreichen, es kann aber wohl, wenn es will. Martin Buber hat das Spiel als den “Jubel des Möglichen” bezeichnet. Das scheint mir sehr schön: Das Spiel als Noch-nicht-Wirkliches, das nach Ausdruck drängt, das irgendwie Form annehmen will. Das Spiel ist eine der wichtigsten  Ausdrucksmöglichkeiten des Kindes, es ist seine eigene, zumeist und vor allem averbale Sprache. Im Spiel drückt das Kind sich so aus, wie es sich selbst fühlt, wie es sich empfindet, und wer das Spiel seines Kindes, ob im Sandkasten oder mit herkömmlichen oder modernen Bausteinen oder Bauelementen oder mit Puppen und anderen Gegenständen, mit Tüchern, Kissen und Verkleidungen zu beobachten weiss, kann viel über die inneren Zusammenhänge des Kindes verstehen, über seine Bedürfnisse, über sein Selbstgefühl, über seine Aengste und über das Mass von Intaktheit oder von Störung seines Vertrauens. Vielleicht –  das wurde, glaube ich, noch nie so untersucht – ist auch die unverstellte, wenngleich häufig symbolhafte Umsetzung seines inneren Befindens ins Spiel  eine Funktion des Gewissens.

Vera Strasser, eine Zürcher Aerztin, die schon 1921 eine “Psychologie der Zusammenhänge und Beziehunqen” geschrieben hat, bedauert in ihrem Buch, dass eine “Psychologie des Gesamtlebens des Kindes”,  d.h. seines fortlaufenden Erlebens, gar nie geschrieben werden könne, weil dazu das Haupthilfsmittel fehle: das Sich-selbst-Wiedergebenkönnen. Das Spiel des Kindes aber, schon des Säuglings, ist diesbezüglich eine grosse Hilfe. Wie einleuchtend ist es daher, dass nicht die Erwachsenen den Kindern vorschreiben dürfen oder sollen, was diese und wie diese spielen sollen. Denn wenn den Kindern auch die Ausdrucksmöglichkeit im Spiel, wenn ihnen diese ihre eigene Sprache genommen wird oder verunmöglicht wird, kann es sein, dass, wie Vera Strasser es fürchtet, wir nur über kleinen oder grössere Katastrophen von den Bedürfnissen –  oder gar vom Unglück –  der Kinder erfahren.

Vom Gehorchen und vom Gehorsam

Wenn wir das letzte Mal von der Entwicklung des kindlichen Vertrauens sprachen, so wird deutlich, dass dieses Vertrauen nur dann entstehen und wachsen kann, wenn von den Eltern her in grosser Selbstlosigkeit die Bedürfnisse des Kindes angenommen und ernstgenommen werden. Nun gehört zu den Bedürfnissen des Kindes auch das Bedürfnis nach Ordnung. Ordnung ergibt sich einerseits von Aussen, durch den Wechsel von Tag und Nacht, von Aktivität und Ruhe; andererseits von Innen, durch den Wechsel von Hunger und Sättigung, von Betätigungslust und Ermüdung. Sie ergibt sich vor allem als eine Ordnung der Liebe aus dem Austausch von Gegebenbekommen und Geben.

Aus  der Erfahrung dieses Austauschs lernt das Kind um seine eigene Fähigkeit zu geben oder zu verweigern und auch das zu respektieren oder zu missachten, was als Bedürfnis der Eltern für es deutlich wird. Dieses Bedürfnis zeigt sich – zuerst und vor Allem – als eine Anzahl Regeln, Verhaltensregeln, die die Eltern nach und nach dem Kind nahelegen, als eine Ordnung, die sie setzen. Das Kind spürt sehr schnell, was es mit dieser Ordnung auf sich hat: Im Mass, in dem es sie beachtet, kommt ihm Lob und Anerkennung zu, im Mass, in dem es sie missachtet,Tadel oder sogar Ablehnung und Strafe. Im Mass, in dem die Eltern sie selbst beachten, ist sie mehr oder weniger glaubwürdig. Diese Ordnung schafft den ersten Masstab für Gut und Böse, für Recht und Unrecht. Und an diesem Masstab misst sich das noch sehr unbestimmte Gefühl des Kindes  für Recht und Unrecht,  das Gewissen.

Wir sprachen vom Gewissen als von der innern Stimme, auf die man hört oder gegen die man sich verschliesst mit seinem innern Ohr.   Mit   diesem. “Hören”  hat eben das “Genorchen” zu tun. Gehorchen bedeutet in einem ersten Sinn Hören auf die Stimme  des Gewissens. Übereinstimmung mit dem Richtmass, welches von dieser innern Stimme gesetzt wird. In diesem Sinn führt der Gehorsam zu einem Gefühl des In-der-Ordnung-Seins, des Wohlbefindens und Geborgenseins.

Die innere Ruhe, die damit einhergeht, ist das, was als das “gute Gewissen” bezeichnen könnte. Nun schliesst jedoch die erste Selbsterfahrung des Kindes – und dann mit zunehmendem Alter in wachsendem Mass – die Erfahrung des eigenen Willens ein. Diesem Willen wird von Seiten der Eltern stattgegeben oder nicht; auf jeden Fall ist der Wille eine Kraft, die, wie die Kraft im physikalischen Sinn, nach Einsatz und Erprobung verlangt. Am stärksten und deutlichsten erfährt sich der Wille selbst im Widerstand: als Kraft, welche sich Regeln oder Bedürfnissen widersetzt und damit eine eigene Regel setzt, die Regel des Willens. (Ich erinnere mich, in meiner eigenen, frühesten Kindheit aus dieser Willenserprobung eine Art Spiel gemacht zu haben, das ich mit Regeln und mir selbst auferlegten Sanktionen die längste Zeit zu “spielen” pflegte: z.B. untersagte ich es mir, während eines ganzen Tages auch nur einmal zu trinken oder auf die Toilette zu gehen oder “ich” zu sagen. Wenn ich den Vorsatz nicht einhalten konnte, bestrafte ich mich, indem ich die Uebung um einen weitern Tag verlängerte oder mir auch noch das Essen verbat oder ähnliches. Dabei ging es eigentlich nie um das, was ich mir verbot, sondern um die Tatsache, dass ich mir etwas verbot). Nun aber übt sich der Wille natürlich nicht nur, indem er sich den eigenen Bedürfnissen widersetzt, die eine Art erster Kraft sind, sondern auch indem er sich fremden Kräften widersetzt: dem Willen der Mutter, des Vaters, eines Erziehers, später eines Lehrers oder gar des Gesetzgebers. Ungehorsam, vor allem im Kleinkind- und Spielalter, auch in der Schulzeit, vor allem aber in der Zeit der zweiten starken Persönlichkeitskrise des Kindes, in der Pubertät, Ungehorsam hat in der Tat häufig gar nicht mit dem Inhalt von Regeln zu tun, die abgelehnt werden, sondern viel stärker mit der Tatsache des Ablehnens selbst – mit der Bestätigung und Bewährung des eigenen Willens. Wie viel Unrecht wird häufig Kindern getan, die  aus dem Bedürfnis heraus, ihre Autonomie zu erproben und zu beweisen, als unfolgsame, ja als “böse” Kinder behandelt und bestraft werden. Gewiss ist es so, dass es ohne  jeden Zwang nicht geht, wenn es um die Sicherheit des Kindes geht (gewisse Gegenstände  dürfen  nicht berührt werden,  auf die Balkonbrüstung darf nicht geklettert werden,  am Rand einer Fahrbahn darf nicht Ball gespielt werden usw. ).  Wenn jedoch nichtdas ganze Leben des Kindes von Regeln eingeschnürt und beengt ist, wird es die echten und notwendigen Regeln beachten können,  ohne daran gerade seinen Willen erproben zu müssen. Mit der Zeit wird es möglich sein, ihm zu erklären,  dass auch die Beachtung dieser Regeln ein Beweis seiner Willenskraft ist; man wird es dazu ermuntern, indem man es lobt. Vielleicht indem man es deswegen als “gross” bezeichnet. Doch auch da gilt es, klug abzuwägen,  ist doch das Bedürfnis, “gross” zu sein” mit der Angst verbunden,  gross sein zu müssen. Und der Trotz, in den das Kind sich flüchtet, wenn der eigene Wille sich gegen den Willen von Mutter oder Vater stellt,  ist in starkem Mass Ausdruck von Hilflosigkkeit und Angst. Vielleicht liesse sich manche Klippe glücklicher umschiffen, wenn das doppelte Bedürfnis des Kindes nach eigener Willensäusserung  und nach Geführt- und Gelenktwerden beachtet würde.  (Wenn sich zum Beispiel häufig Szenen ergeben,  wenn das Kind mitten aus dem Spiel heraus zum Essen gerufen wird, weil es dann nicht gehorcht und bei mehrmaliger Aufforderung mit Zorn reagiert, so kann eventuell vorgebeugt werden,  indem das Kind eine halbe Stunde  vorher gefragt wird, ob es “jetzt dann” essen möge oder ob es nicht etwa Hunger habe. Es wird ihm so Gelegenheit und Zeit gegeben,  sich mit einem Ja auf den Zeitpunkt einzustellen, den die Mutter fürs Essen bestimmt, so, als hätte es ihn mitbestimmt.

Ueberaus wichtig ist auch in dieser Kleinkind-Phase das Beispiel des elterlichen Verhaltens. Wenn Vater und Mutter ihre Rollen als Ausübende von Pflichten erfüllen können,  ohne dabei in ihrer Selbständigkeit und Würde als geschädigt und gedrückt zu zeigen, wenn sie in ihrer Beziehung zueinander und in der sie umgebenden Gesellschaft sich im Austausch von Pflichten und Rechten unangefochten fühlen, so überträgt sich das abwechselnde Nachgeben und Sich-Behaupten als Selbstverständlichkeit auf das Kind. Ueberaus gefährlich ist es, in der Erwachsenen-Kind-Beziehung ebenso wie in den Beziehungen zwischen Erwachsenen die -scheinbar – stärkere Abhängigkeit des einen Beziehungsteils auszunützen, um ihn zu widerspruchsloser Unterordnung zu zwingen. Nicht nur entsteht anstelle eines wachsenden und bereichernden Austauschs eine Rollenfixierung gegenseitiger Verachtung und Ablehnung, die meistens von zerstörerischer Selbstverachtung begleitet wird, welche wiederum zu zunehmenden Beziehungsschwierigkeiten führt, zu Misstrauen sich selbst als Beziehungspartner und zum andern,  sondern es erwächst beim unterdrdckten,  zur Anpassung gezwungenen Kind und Jugendlichen auch ein starkes Bedürfnis nach Kompensation, nach Anerkennung seiner Persönlichkeit und Individualität ausserhalb der gegebenen oder gewachsenen Beziehungen.  (Erikson, der nach den Ursachen des jugendlichen Deliquententums in Amerika forschte,  stiess unter anderem auch auf diese Wurzel: auf das nicht anerkannte Bedürfnis nach Autonomie im Rahmen einer von Austausch, von gegenseitiger Bestätigung geprägten Ordnung).

Ein “braves” Kind ist nicht unbedingt ein immer folgsames Kind. “Brav” muss wieder in seiner ursprünglichen Bedeutung verstanden werden ,  als “tapfer”, als “mutig”,  ja sogar als “verwegen”,  eine Bedeutung, die es in den romanischen Sprachen noch beibehalten hat, in Ableitung vom lateinischen “barbarus”, das ursprünglich nur “fremd” hiess, “ausländisch”, und erst etwas später die den Römern feindliche, trotzige Eigenschaft der Fremden meinte. Welch seltsamer Bedeutungsumschwung im Deutschen!

Auch Ungehorsam mag manchmal Anerkennung verdienen. Erinnern wir uns an die Geschichte vom ungehorsamen Sohn, der den Vater verliess, der sein Gut verschleuderte, der, statt zu arbeiten, scheinbar zum Taugenichts wurde, und der aber, als er zurückkam, vom Vater nicht wegen seines Ungehorsams gestraft wurde, sondern in Ehren und mit einem grossen Fest wieder Aufnahme fand. Versuchen wir, die herkömmlichen Deutungen dieser Geschichte zu vergessen, in denen vor allem die bedingungslose Liebe und Grossmut des Vaters Ausdruck finden.  Liegt in dieser Geschichte nicht  auch eine Anerkennung des trotzigen Muts, mit dem der Sohn seine  Abkehr vom Vaterhaus wie seine Rückkehr verwirklicht? Denn ist nicht jeder Ungehorsam ein Schritt in jenem schmerzlichen Prozess, der beim Kind da beginnt, wo es zu gehen und wegzugehen, zu sprechen und zu widersprechen beginnt, ein Schritt im Ablösungsprozess von den Eltern, der zugleich Konstitutionsprozess des eigenen Ichs des Kindes ist? Gilt es nicht, alles vorzukehren, damit dieser Ablösungsprozess konstruktiv und nicht destruktiv verläuft, damit gefühls- und beziehungsmässig nicht ein wachsendes Vakuum entsteht,  sondern im Prozess selbst sich eine andere Art  der Beziehung entwickelt,  eine Beziehung gegenseitigen Respekts.

Wie ist dabei vorzugehen? Von grösster Bedeutung ist die Art und Weise, mit der von Vater und Mutter der Ungehorsam des Kindes beachtet, eventuell bestraft wird. Ebenso falsch ist es gewiss,  das Nichtbefolgen von Regeln, das Zuwiderhandeln einfach zu übersehen (wozu dienen dann Regeln?) wie auch sofort mit strengen Strafen oder mit Liebesentzug zu antworten.  In zahllosen Märchen folgt auf das Nichtbeachten von Geboten oder Verboten lebensbedrohender Schrecken,  ja sogar Tod (Rotkäppchen: Verbot,  sich im Wald auf dem Weg aufhalten zu lassen;  Sieben Geisslein: Verbot, jemandem andern als der Mutter Einlass zu gewähren; Dornröschen: Verbot, das Kämmerchen zuoberst im Turm zu betreten). Immer aber wird nach einer Zeit der Sühne die ursprünglich angesetzte Strafe getilgt und derjenige, der sich schuldig gemacht in die Achtung der Gesellschaft wiederaufgenommen. Diese Funktion sollte die Strafe auch heute noch bei Erwachsenen haben.

Und bei Kindern?

Soll man Kinder überhaupt strafen? Die Antwort liegt wahrscheinlich zwischen Nein und Ja:  Strafen soll man anders als im Sinn einer Wiedergutmachung, wie sie das Kind selbst anstrebt. Auch das  Kind will wieder in die Achtung aufgenommen sein. Wieso nicht es selbst fragen, wie es das, wogegen es verstossen hat, wieder in Ordnung bringen will? So wird es weder das Gesicht verlieren noch  sich ungerecht behandelt vorkommen und doch die Gelegenheit haben, wieder gutzumachen.  (Beispiel: Sara soll Wägelchen mit Severin für ein paar Momente auf dem Spielplatz halten. Sie geht aber einen  Augenblick weg, um im Sandkasten die kleine Schaufel zu holen.  In diesem Augenblick kippt das Wägelchen,  Severin fällt hinaus und weint sehr. Der Mama, die herbeieilt, gibt Sara zu verstehen, dass sie schuld ist und dass sie – um   wieder gutzumachen – Severin die kleine Spielzeugschaufel schenken will,  von der sie sich sonst kaum trennt).

Wichtig ist, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass Gehorsam und Ungehorsam,  Strafe und Wiedergutmachung immer nur von der psychischen Entwicklung des Kindes her beurteilt und gewertet werden können, und dass andererseits alles kindliche Verhalten nur im Zusammenhang des alltäglichen Erlebens und Beispiels seiner Umgebung verstanden werden kann.

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4. Abend Gewissensbildung  in Pubertät und Adoleszenz –  Gehorsam – Widerstand – Autonomie

Die Pubertät ist die Zeit der Geschlechtsreife, ums 12./13./14. Altersjahr herum (pubescere: reifen; pubes: mannbar; puberes: die Waffenfähigen), die Adoleszenz die Zeit des Heranwachsens, d.h. eine Zeit der Stabilisierung und Weiterentwicklung nach der Pubertät. Beide Entwicklungsphasen sind voller Widersprüche, Spannungen, Herausforderungen und – Leiden.

Im Mittelpunkt der Pubertäts-Auseinandersetzung steht die Frage der Geschlechtlichkeit und der Autorität. Die Entwicklung seit frühester Kindheit wird in geraffter und gesteigerter Weise nochmals durchlebt und durchlitten, erfahrene Mängel und ungestillte Bedürfnisse, die während der Kinderjahre ins Unbewusste abgedrängt wurden, zeigen sich nun plötzlich als Hindernisse harmonischen Weiterwachsens. Die Qualität aller Wissens- und Wertvermittlung die während der Kinderzeit erfolgte, bewährt sich nun oder bewährt sich nicht, der unbestechliche Wahrheitsfilter dieser Zeit siebt sie aus, und je nachdem entwickelt sich die Krise in einer konstruktiven oder destruktiven Heftigkeit. Mit dieser Krise muss die Kindheit zurückgelassen und das ängstigende und zugleich lockende Erwachsenwerden begonnen werden.

Vor allem zeigt sich, wie verlässlich die grosse Grunderfahrung des Vertrauens ist, des Urvertrauens, welches, wie wir das letztemal erfuhren, unerlässlich  ist, damit das Kind in der Vielzahl der unverständlichen und oft gegensätzlichen Welterfahrungen seiner selbst sicher wird, und Anweisungen, Verbote und Forderungen annehmen und unterscheiden lernt, ohne dass immer die Frage der Liebe, des  Geliebt- und Angenommenseins  im Mittelpunkt steht. Vertrauen baut sich auf der Glaubwürdigkeit der Uebereinstimmung von Sprechen und Handeln auf, auf der Glaubwürdigkeit des Vorbilds, dessen die Kinder von Anfang an bedürfen, und nun in zunehmendem Mass, um Regeln als notwendige Regeln annehmen zu können, oder als als willkürliche überflüssige  ablehnen zu können. In der Auseinandersetzung mit den Regeln erprobt sich das eigene moralische Urteil des Kindes. Es geht dabei um die Auseinandersetzung  mit der Autorität der Regelsetzung.

Die Pubertät bedeutet in dieser Frage eine Zäsur. Das Selbstvertrauen des Kindes wird erschüttert, allein schon durch die körperlich spürbaren und sichtbaren Veränderungen, welche mit bedeutenden schulischen Anforderungen zusammenfallen. Selbstzweifel werden mächtig, weil das erprobte Selbstverständnis in bewährten Rollen erschüttert wird, und die Vergleiche zurück und nach vorn oder in der Runde verunsichern gleichermassen. Man ist kein Kind mehr, aber gehört auch noch lange nicht zu den Erwachsenen, man weiss überhaupt nicht mehr, welche Regeln gelten, man weiss vor allem nicht, ob man nach dieser Phase der persönlichen Veränderung (Gewichtzunahme, starkes Wachstum, Herausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale usw.) noch als der gleiche Mensch angenommen und geliebt wird. Zweifel und Unsicherheit sind quälend, führen zu grossen Stimmungsschwankungen, zu Uebermut und Euphorie, oder zu grosser Mutlosigkeit  (Herumliegen, Mühe aufzustehen, Mühe, sich Prüfungen zuzutrauen usw.), auch zu grossen Kraftproben. Das Verhalten  ist noch uneingeübt, beim Kind und bei den Eltern, es muss mit neuen Grenzziehungen erprobt werden, das mag zu Wut und Tränen führen, oder zu Verschlossenheit und Rückzug. Infragegestellt sind die (nicht mehr bewussten) Erfahrungen des ersten “Trotzalters” als einer ersten Selbstfindungskrise, als deren Errungenschaft das Wissen um den eigenen Willen, um das eigene Ich  als auch um die Vereinbarkeit von Elternautorität und Elternliebe hervorgingen. Je nach der Bedingtheit oder Bedingungslosigkeit dieser erfahrenen Elternliebe  in der Krise konnte der Wille des Kindes auch zu einem Instrument der Bejahung der  elterlichen Autorität werden oder er wurde gebrochen, mit der Folge des ständigen Selbstunwertgefühls und des ständigen Bedürfnisses nach Kompensation nicht erfahrenen Respekts. Sogenannte “schwierige Kinder”, die dann nicht selten als “sondererziehungsbedürftige” oder “schwererziehbare” Kinder eingestuft werden, sind das Resultat. Nun, in der Zeit des grossen Umbruchs ist auch das bewährte Gleichgewicht von Anpassung und Selbständigkeit, von Autonomie im Gehorsam und im Widerstand erschüttert. Die Jugendlichen kompensieren die Unsicherheit durch Prahlen und Widersprechen, durch offen zur Schau getragene Intoleranz gegen Erwachsene und gegen kleinere Kinder, durch Verleugnung des herkömmlichen Ich-Zusammenhangs (manchmal der Herkunft der Eltern, machmal des Eigennamens, der durch einen Namen eigener Wahl ersetzt wird, des gegebenen und identifizierbaren Aussehens durch Kleidung, Schminken, Haarefärben usw.), durch Isolation und Einzelgängerei oder durch Anlehnunung an eine Gruppe Gleichaltriger und Gleichgesinnter, in der die unsichere Persönlichkeit des Einzelnen durch die ähnliche Unsicherheit aller neutralisiert und entschärft wird, in der eine geteilte Gruppensicherheit entsteht. Die Möglichkeit der Flucht in diese “peer-groups”  ist überaus wichtig. Die Gruppe vermag das Defizit an Geborgenheit zu kompensieren, sie stellt auch eine moralische Instanz dar, deren Regeln der einzelne Jugendliche mitkonstituiert. Auffallend ist, dass das starke Bedürfnis nach Bekundung der Individualität und Differenz im Familienrahmen mit dem Bedürfnis nach Angleichung, ja nach Uniformität in der Gruppe einhergeht, bis in kleine Details der Bekleidung und des Verhaltens.  So wie zu Hause Unterschiede betont werden, gelten in der Gruppe Aehnlichkeit und Uebereinstimmung. Auch ist die Gruppe ein Freiraum für das Erproben neuer Rollen in Freundschaft und Spiel, frei von der Einmischung und Störung durch Erwachsene, für die Einübung  in  Initiative und Verantwortung (z.B. im Herrichten von Gruppenräumen, in der Organisation von Festen, Ausflügen, Aushelfen und Ausleihen von Gegenständen, Kleidungsstücken usw., im Beistehen, Raten und Helfen bei Enttäuschungen, Aerger mit den Eltern und Lehrern und in vielem mehr). Die Stützung des Einzelnen durch die Gruppe ist umso wichtiger  als die Pubertätskrise  häufig mit Schul- und Lernkrisen, mit Motivationskrisen in Bezug auf Ausbildung und Zukunftsgestaltung einhergent. Diese Krisen hängen zu einem grossen Teil mit dem Bruch im Vertrauen zur Zeit und zu den früheren Vorbildern zusammen.

Es kommt auch vor, dass die mit diesen Krisen verbundene Unsicherheit allzu ängstigend ist  und dass sie durch übertriebene Identifikati0n mit einem  Elternteil oder durch eine exzessive Betätigung  – sei es durch übersteigerten Sport oder Lerneifer, durch  absorbierende Hobbies – überdeckt  und kompensiert wird. Die schwerwiegendsten Folgen des Vertrauensbruchs und der Hilflosigkiet zeigen sich zweifellos im Drogenmissbrauch und in der Kriminalität, als Ausdruck einer ins Selbstzerstörerische und Gemeinschaftszerstörerische gesteigerten Unfähigkeit, Zukunft ins Auge zu fassen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Generell lässt sich nur sagen, dass hier immer das Mass an Unsicherheit das Mass an Vertrauen bei weitem übersteigt, sodass der junge Mensch sich an den Rand gedrängt fühlt, ohne Unterstützung und ohne Zustimmung. Das Ungleichgewicht zwischen der Erwartung, die von den Eltern oder von der Gesellschaft (im Rahmen der Schule oder der nächsten Umgebung) an ihn gerichtet wird und seiner Selbsteinschätzung ist gross, oder das Bild der Gesellschaft, wie der junge Mensch es aus seiner Erfahrung erlebt und vor sich hat, stimmt nicht mit den Forderungen dieser Gesellschaft überein. Wem und was soll er noch glauben? – welche Regeln gelten noch?

Die Pubertät ist vor allem eine schwere Autoritätskrise. Aber: Was ist eigentlich Autorität? Ist Autorität die Eigenschaft einer Person? – oder ist sie mit einer bestimmten Funktion oder einem bestimmten Amt oder Auftrag verbunden?

Ich werde mich in den folgenden Ausführungen vor allem auf Erich Fromm berufen (cf. “Escape from Freedom”, 1941, resp. “Die Furcht vor der Freiheit”).  Autorität  ist vor allem nicht die Eigenschaft einer Person, s0ndern ist Ausdruck der Ueberlegenheit  in einer zwischenmenschlichen Beziehung. Es geht also um eine gemeinsame Sache, besser, um ein gemeinsames Anliegen. Fragt man junge Menschen, was sie unter Autorität verstehen, so erhält man die unterschiedlichsten Antworten: “Strenge”, “Macht”, “Einschüchterung “, “Ueberlegenheit”. Diese Antworten weisen auf zwei grundsätzlich verschiedene Arten  von  Autorität hin, nämlich auf “rationale” und auf “irrationale” Autorität.

“Rationale Autorität hat ihren Ursprung in der Kompetenz”, sagt Fromm. Rationale Autorität ist mit Glaubwürdigkeit verbunden, mit dem glaubwürdigen Vorbild, mit einfühlender Hilfe; sie hat die Tendenz, sich vorweg abzubauen, die verpflichtenden Aspekte aufzugeben, Vorbildlichkeit mit Parität, mit Ebenbürtigkeit zu verbinden. Im rationalen Autoritätsverhältnis ist eine zunehmende Angleichung auf Grund einer liebevollen, vertrauensvollen Grundvoraussetzung zwischen den Beziehungspartnern möglich.

Die “irrationale” Autorität dagegen definiert Erich Fromm als “Macht über Menschen”. “Diese Macht kann physischer oder geistiger Natur sein, sie kann tatsächlich sein oder sich nur indirekt im Ausdruck von Hilflosigkeit und Angst der Person, die sich dieser Autorität unterwirft, äussern”. Die “irrationale” Autorität trachtet danach, die Beziehungskluft tief und breit zu erhalten, und eher zu vergrössern als Abzubauen. Bei den Menschen, die sich ihr unterwerfen, herrschen Ressentiments, Angst und Feinseligkeit vor, häufig auf ambivalente Weise gekoppelt mit blinder Bewunderung, ja “Anbetung”.

“Rationalele Autorität” könnte auch als “echte”, “irrationale” als “unechte” Autorität bezeichnet werden. Während “unechte” Autorität die Abhängigkeit des untergebenen, resp. schwächeren Beziehungspartners verstärkt, strebt “echte” Autorität danach, überflüssig zu werden, indem sie die Autonomie des Schwächeren stützt und fördert. Auf dialektische Weise bleibt sie als Autorität glaubwürdig, während unechte Autorität zu Auflehnung oder zu Unfreiheit führt. Auflehnung (mit anderen Worten, Ungehorsam) ist unechter Autorität gegenüber Ausdruck des Willens zur Freiheit, zur Parität, zur Eigenverantwortlichkeit und zum Respekt, Ausdruck auch des Willens zu echter Autorität.

Die 80-er Jugendunruhen sind hierfür ein gutes Beispiel. Da hat die Gesellschaft in Gestalt der Behörden, der Polizei, vieler Schulleitungen und leider auch vieler Eltern – nicht aller –  den Anspruch auf Autorität verscherzt, indem sie sich als unterdrückende,  einschüchternde Macht den Jugendlichen gegenüber konsituiert hat, indem sie eben nicht verstand, die Bedürfnisse der Jugendlichen als “gemeinsame Sache” zu verstehen und alles daran zu setzen, um den Graben aufzufüllen. Die zunehmende Auflehnung der Jugend war die notwendige Konsequenz der sich steigernden repressiven Gewalt der Gesellschaft, die nicht abliess, auf ihrer – eben unechten – Autorität zu beharren. Deren Unglaubwürdigkeit wuchs im Mass der Gewaltsteigerung, und bald ging es nur noch um Gewalt und Gegengewalt; das Anliegen der Jugend, welches zu einer ersten Auflehnung geführt hatte – nämlich Gehör zu finden für ihre Bedürfnisse, dem Bedürfnis nach Respekt nicht nach Ueberfütterung mit Konsumgütern; dem Bedürfnis nach Vertrauen ins Leben und in die Zukunft, nicht nach zunehmender industrieller, technologischer und militärischer Perfektionierung; dem Bedürfnis nach Geborgenheit, nicht nach gesteigertem Leistungs- und Anpassungsdruck – das Anliegen der Jugend brach unter der rücksichtslosen Gewalt zusammen; die Jugend selbst wurde durch die stärkere Gewalt gebrochen.

Die Folgen der 80-er Unruhen sind für viele jungen Menschen verheerend gewesen, und sie sind es noch. Wie sollen durch die Erfahrung von Gewalt und rücksichtslos ausgeübter Unterdrückungsautorität Gewissenskriterien für soziales Verhalten, für gegenseitige Verantwortlichkeit, für Zusammengehörigkeit im Gemeinwesen entwickelt werden können? Da fehlte es im grossen Rahmen an der vorbildlichen, echten Autorität. (Dagegen: Erwähnung der Eltern-Initiative in Basel, s. Slave).

Der Rückzug der nun erwachsenen Jugend ins Private, ihr Desinteresse an politischen Zusammenhängen lässt sich nicht zuletzt durch diese Erfahrungen erklären. Dass es sich in vielen Familienzusammenhängen ähnlich abspielt, wie es hier in der Oeffentlichkeit geschah, braucht keiner langen Erläuterung.Die Auflehnung eines jungen Menschen hat immer Gründe und muss ernst genommen werden. Echte Autorität ist dabei hilfreich, zuwartend, verstehend, und so eben vorbildlich; unechte Autorität aber kann zwar die Auflehnung aufgrund der grösseren Macht brechen, verliert dadurch aber jede Glaubwürdigkeit, und Eltern oder Erzieher, welche Autorität durch Macht durchsetzen wollen, verlieren zurecht das Vertrauen der Kinder. (Beispiel M. mit Forderung nach Anpassung, Wegweisung  in Pensionate etc.).

Tragisch ist, dass einmal gebrochene Menschen nur selten die Kraft zur weiteren Auflehnung behalten. Die meisten bleiben gebrochen und  werden unechter Autorität gegenüber, Macht gegenüber auf stumpfe Weise hörig. Diese unechte Autorität kann auch die diffuse Gestalt anonymer Autorität annehmen. Auch darauf geht Erich Fromm ein. Die anonyme Autorität hat sich vor allem im 20.Jahrhundert entwickelt, sie tarnt sich als common sense, als Normalität, als Fortschritt,  sie verlangt  scheinbar nur völlig Selbstverständliches, nämlich Anpassung, Trend-Folge, Konformismus. Wer sich ihr unterwirft, ist nur noch sich selbst als Teil des Trends, der Masse, der Anonymität. Das Resultät ist ebenso verheerend wie bei der Brechung der Auflehnung resp. der Autonomie durch Gewalt: der entpersönlichte, letztlich gewissenlose Mensch. Die Entwicklung des Gewissens bedarf der Auseinandersetzung mit der Autorität. Damit das Gewissen autonom wird, damit der junge Mensch eigene, zuverlässige Kriterien des Handelns, des guten und des bösen, entwickeln kann, muss er Autorität  in Frage stellen können, muss er sie auch auflehnen können, ohne dadurch selbst abgelehnt zu werden. Diese Auseinandersetzung brauchen Eltern und Erzieher nicht zu fürchten. Wenn ihre Autorität im Vertrauen begründet  ist, wenn sie glaubwürdig ist, so ist die Auseinandersetzung kaum verhängnisvoll, für keinen Teil.

Immer wieder werde ich auch nach dem Wert der Religion gefragt, resp. der Religionen. Viele Eltern sind unsicher, ob sie ihre Kinder noch gläubig erziehen sollen. Darauf gibt es kein einfaches Ja oder Nein. Aehnlich wie Autorität hat Religion ihre Bedeutung im Beziehungscharakter; “religio” bedeutet ja Bindung, Verbindung zwischen dem Menschen und einer höheren Macht, die wir nicht erkennen und benennen können und die für die meisten Menschen den Namen “Gott” trägt. Falls die “religio”, welcher Tradition auch immer sie angehört, das Selbst- und Weltvertrauen stärkt, falls ihre Lehren glaubwürdig  sind, weil diejenigen, die sie vertreten, sie auf glaubwürdige Weise ausüben, so ist Religi0n und Unterweisung  in Religion sicher nützlich. Wenn sie aber im Sinn einer “unechten Autorität” einschüchternd Macht ausübt, so ist sie schädlich. Ich denke, dass der freie Entscheid junger Menschen für oder gegen eine Religion der Erfahrung ihrer Glaubwürdigkeit entspricht, d.h. der Glaubwürdigkeit der Menschen, die sie vertreten. Und weil dieser Entscheid begründet ist, muss er auch respektiert werden. Die oft merkwürdig  anmutende Zuwendung zu fernöstlichen Religionen oder zu neuen Sekten hat vermutlich auch mit dem Glaubwürdigkeitsdefizit der herkömmlichen Religionen und der damit verbundenen Ethiken zu tun.

Die Adoleszenz  ist die Zeit der grossen Gewissensentscheide und damit der Persönlichkeitsdefinition, der Identitätsfindung: Berufswahl, Partnerschaft (-en), Religion, Einstellung zur Gesellschaft und zum Staat, also politische Selbstdefinition, Militärdienstleistung oder -verweigerung bei jungen Männern – alle diese schweren Entscheide können nur dann ohne grosse Erschütterungen und Persönlichkeitsstörungen getroffen werden, wenn die Kriterien zum selbständigen moralischen Handeln vorher geschaffen werden konnten. Denn der eine und der andere Entscheid müssen sich ergänzen und sich stützen, damit von der privaten und von der öffentlichen Seite her ein einiges Menschenbild entsteht, damit das Ich, als das der einzelne sich empfindet und das Du, als das er angesprochen wird, sich übereinstimmend decken. Diesem Entscheidungsprozess muss ge- nügend Zeit gewährt werden, er kann nicht von einem Tag auf den anderen zustandekommen, manchmal geht er tastend vor sich und bedarf der Pausen und Korrekturen. Wichtig ist, dass diese Zeit zugestanden wird, ob sie kürzer oder länger dauert. Ob ein Entscheid richtig ist oder falsch, lässt sich von aussen nicht beurteilen. Der einzelne Mensch weiss es allein auf Grund des vorhandenen oder fehlenden Wohlbefindens mit sich selbst. Dieses Wohlbefinden hat mit der Uebereinstimmung der verschiedenen Entscheide zu tun und ist täglich der empfindliche Massstab für die eigene, persönliche Lebenswahrheit. Darin, nämlich in der Bekundung von Störungen und Mängeln, zeigt sich aufs feinste die Funktion des Gewissens: im Mass der vorhandenen oder nicht vorhandenen inneren Ruhe. Kommt dieses Wohlbefinden mit sich zustande, nicht ein für allemal, sondern als immer wieder mögliche Erfahrung, die dauernde Aufmerksamkeit und Selbstkontrolle erfordert und bei der es immer um ein Gleichgewicht zwischen der Erfüllung individueller Bedürfnisse (oder Pflichten sich selbst gegenüber) und Pflichten der Gemeinschaft gegenüber geht, so lässt sich sagen, dass die Identitätsfindung gelungen ist, in mündiger, erwachsener Weise. Fortan bleibt Identität dauernde Aufgabe, unabschliessbar bis ins hohe Alter.

Freud wurde einmal gefragt, wodurch sich denn ein “normaler”, d.h. ein erwachsener, mündiger Mensch auszeichne. “Dass er lieben und arbeiten könne”, hat Freud darauf geantwortet. “Lieben und arbeiten” – für andere da sein und sich selbst entfalten.

Gibt es Erziehungsrezepte zu diesem Ziel? Keine präzisen, aber eine wichtige grundsätzliche Haltung: Alles tun, um die Autonomie des Kindes zu fördern; eine Identifikation mit sich selbst fordern, nur die Pflicht, Vorbild zu sein, ernst nehmen, damit das Kind zwangsfrei zustimmen oder ablehnen kann; sein Selbstvertrauen  stark machen und ihm damit Zukunft ermöglichen.

5.Abend – Die Entwicklung des kindlichen Gewissens: Wahrheit und Lüge, der Realitäts­begriff beim Kind, die Rolle der Phantasie

Wenn wir die Philosophiegeschichte von den ältesten Quellen bis auf den heu­tigen Tag auf die Frage der Wahrheit hin befragen, so finden wir eine ver­wirrende Vielfalt von Antworten. Und wenn wir einander nach der Wahrheit und Unwahrheit befragen, nicht im allgemeinen  und nicht im Absoluten, sondern in Bezug auf ein Ereignis oder eine Situation oder einen Zusammenhang, so geraten wir einander schnell in die Haare, weil das, was der eine als “Wahr­heit” empfindet”, für den anderen anzweifelbar ist. Und doch empfinden wir die Regel “Du sollst die Wahrheit sagen, resp. du sollst nicht lügen” als sinnvoll, ja als unerlässlich, und wir geben sie unseren Kindern weiter. Weder Wissenschaft noch gesellschaftliches Zusammenleben, weder privates noch öffentliches Leben sind ohne die Beachtung dieser Regel möglich. Und da niemand sich ausserhalb der Gesellschaft befindet, selbst der Verbrecher nicht, der gegen viele, vielleicht alle Regeln des Zusammenlebens verstösst, ist diese Regel auch für alle verbindlich, obwohl niemand weiss, was d i e  Wahrheit ist.

In diesen wenigen Sätzen haben wir eine verwirrende Verwendung des Wahr­heitsbegriffs gewagt, die zuerst zu klären ist, bevor wir über den Wahr­heitsbegriff des Kindes sprechen.

Es lassen sich zwei Arten von  Begriffsunterscheidung vornehmen, eine tra­ditionelle und eine heute eher übliche:

  1. a) die Unterscheidung in metaphysische (oder transzendente), in ethische und in logische Wahrheit
  2. b) in formale und in materiale Wahrheit

Die metaphysische (oder transzendente) Wahrheit, d.h. diejenige Warheit, die alle Erfahrung übersteigt, die jenseits der menschlichen,  immer irrtums­behafteten Erkenntnismöglichkeit liegt, die die Religionsgründer und Religionen für sich in Anspruch nehmen und um welche blutige Kriege geführt wurden, ­ diese Wahrhheit konnte nie ein Mensch begreifen, sie ist auch nicht Thema unserer Erörerungen.

Die ethische Wahrheit dagegen wohl, sie bedeutet dasselbe wie Wahrhaftigkeit. Auch der grieichische Begriff  “aletheia” meint dies: Offenheit, Unverborgen­heit. Wie im Hebräischen wird er als personifizierte Eigenschaft gebraucht, “emeth”, hier jedoch weniger im Sinn von Offenheit, als in der Bedeutung von Unverbrüchlichkeit. Wenn “emeth” mit Jahwe in Verbindung gebracht wird, dann ist Derjenige gemeint, “der sein Wort fest macht”,   d.h. Derjenige, der eins ist mit seinem Wort. Also auch hier der Sinn von Wahrhaf­tigkeit. (Im Jiddischen wurde aus “emeth”  “emess “; viele geflügelte Worte geben die Bedeutung wieder, etwa “Ein halber emess ist eine ganze Lüge”, oder “Emess gibt es nur bei Gott,  und bei mir ein bisschen”). Wahrheit im Sinn von Wahrhaftigkeit ist auch mit der Forderung gemeint, die “Wahr­heit zu sagen”, nicht zu lügen, nicht in diesem zweiten Sinn ist Gegenstand der Geschichtsschreibung, der Jurisprudenz, insofern es in der Rechtsfindung um Wahrheitsfindung geht. Viele ausdrücke, etwa “die Sonne bringts an den Tag”, weisen auf den Erfahrungsgehalt, auf die moralische Alltagsbedeutung der forderung nach Wahrhaftigkeit hin, die Gewähr für Beständig­keit und für Gewissheit ist (auf “Treu und Glauben” heisst es auch, oder “es soll gelten”). Wahrhaftigkeit ist die innere Wahrheit jedes Menschen, die Uebereinstimmung zwischen seiner Empfindung oder Erkenntnis und dem Ausdruck dieser Empfindung oder Erkenntnis. Bezüglich dieser Uebereinstimmung gibt es verschiedene Grade, und nicht nur die konträre  Ausschliesslichkeit von Wahrheit oder Unwahrheit resp. Lüge.

Wahrhaftigkeit ist ein Ziel, das ein Leben lang angestrebt werden muss, ohne dass es definitiv erreicht ist, ein Ziel menschlicher Vervollkommung; Lauterkeit und grosse Zuverlässigkeit fallen damit zusammen.

Die dritte Begriffskategoeire in dieser ersten Einteilung, die logische Wahrheit, meint die völlige Uebereinstimmung  von Inhalt und Form, oder von mehreren Gegebenheiten, oder meint die völlige Widerspruchsfreiheit. Wahrheit meint hier Richtigkeit; ist das Gegenteil von Falschheit. Die zweite Unterscheidung, djejenige zwischen formaler und materialer Wahrheit, ist eigentlich eine Sekundärunterscheidung der logischen Wahrheit. In for­maler Hinsicht etwa mag eine Schlussfolgerung wahr sein, stimmen, wenn im Lauf des Schliessens keine Fehler gemacht wurden; in materialer Hinsicht mag es sich trotzdem um Unwahrheit handeln (z.B “Alle Athener sind Lügner, Socrates ist ein Atherner.. ). Diese Unterscheidung von materialer und formaler Wahrheit ist in ideologiekritischer Hinsicht überaus wichtig. Viele bedeutende Ideologiekritiker, etwa Arnold Künzli (Basel), weisen auf die Betrugsabsicht der Ideologien hin, d.h.  auf die gewollte und bezweckte Ver­fälschung der materialen Wahrheit. Der Antisemitismus der Nazis ist hierfür ein Beispiel, er funktionierte analog zum Syllogismus “Alle Athener sind Lügner” … Die Folgen der Umkehrung von Lüge und Wahrheit, d.h. die Pro­klamation der Lüge als Wahrheit (und umgekehrt) sind bekannt: die völlige Dehumanisierung der Gesellschaft, ihre Verrohung und Zerstörung durch die Ausser­-Kraft-­Setzung des je menschlichen Kriteriums für Wahr und Falsch ­- des Gewissens ­  sowie der Ausser­-Kraft­-Setzung  der Uebereinstimmung zwischen Wahrhaftigkeit und materialer Wahrheit.

Wahrheit, lässt sich zusammenfassend sagen, ist sowohl ein Erkenntnisziel als auch ein ethisches Ziel, die Uebereinstimmung von Erkenntnis und Aussage, von Inhalt und Form. Denn nur wenn formale und materiale Wahrheit übereinstimmen, lässt sich von “Wahrheit” überhaupt sprechen. Und Wahrhaftigkeit ist zugleich ein Ziel des indivi­duellen und gesellschaftlichen Seins, der Uebereinstimmung von Empfindung oder Erkenntnis und Aussage  oder Handeln, der Uebereinstimmung auch von privatem und öffentlichem Verhalten.

In Wahrheits-Zusammenhängen, in denen unsere eigene Erkenntnis nicht ausreicht, berufen wir uns auf eine zuständige Autorität, etwa im Gebiet der Naturwissenschaften. Ohne die Astrologen  würden wir wohl heute noch die Bewegungen der Ge­stirne nicht kennen und ebenso wenig die unendliche Vieldimensionalität des Kosmos und wir würden ungeschmälert die Geozentrizität des Weltalls behaup­ten.  “Oben” und “unten” würde ganz einfach mit der Position von Kopf und Füssen übereinstimmen. Aber seit man z.B. weiss, dass die Erde rund ist und dass auf den Antipoden auch Menschen gehen und stehen, also mit dem gleichen Wahrheitsrecht auch von “oben” und “unten” sprechen, sagt “oben” und “unten” nur noch etwas Wahres aus, wenn ergänzend dazu die Richtung zu verstehen ist, in der die Schwerkraft auf der Erde verläuft. Also selbst in den allereinfachsten Definitionen -­  denen von “oben” und “unten” -­  hat sich der Wahrheitsbegriff mit der zunehmenden Erfahrung auf entscheidende Weise verändert. Albert Einstein, der grosse Naturwissenschaftler und Weise, kam zum Schluss, dass Wahrheit in der Bewährung  liegt, d.h. im Zusammenhang von Erfahrung, Prüfung und  Bestätigung in der Zeit.

Nun, wenn schon die Wahrheit der messbaren Daten, all dessen, was mit der äusseren Welt zu tun hat, so schwer zu bestimmen ist, um wie viel schwerer ist  es da mit den inneren, mit den persönlichen emotionalen und erkenntnis­mässigen Daten, und wie vielmal schieriger noch für ein Kind, das ja zudem nur über beschränkte begriffliche Möglichkeiten verfügt, diesem Inneren Ausdruck  zu geben.  Gleich zweierlei fällt beim Kind zusammen, was den Wahrheitsbegriff nochmals auf besondere Weise differenziert: Zum einen, wie schon erwähnt, das noch begrenzte Sprachvermögen, zum anderen eine reiche Tätigkeit der Phantasie, in der sich Aussenwelt und Innenwelt vermischen, in der das Unbelebte ebenso belebt ist wie das Kind selbst oder die es um­gebenden Menschen und aus deren Perspektive die äussere Welt erlebt, erfahren, bewertet und geschildert werden.

Jean Piaget (1896 ­  1980; in: Das moralische Urteil des Kindes, Suhrkamp Ta­ chenbuch Wissenschaft Nr.27) hat in zahllosen Befragungen von Kindern zu erfahren versucht, von welchem Alter an Kinder Wahrheit und Unwahrheit unter­scheiden, von welchem Alter an sie wissen, was lügen heisst, d.h. worin sich Irrtum von Lüge unterscheiden, und auch ob sie es unterschiedlich beur­teilen, Erwachsene anzulügen resp. Unwahrheiten zu erzählen, oder gleichaltri­ge oder jüngere Kinder zu belügen. Er versuchte auch herauszufinden, aus wel­chen Gründen sie davon absehen zu lügen, ob aus Angst vor der Entdeckung der Wahrheit, ob aus Angst vor Strafe oder aus dem echten Entschluss zur Wahr­haftigkeit. Piaget hat eine lange Liste von Ergebnissen veröffentlicht, die ich für Sie hier zusammenfasse:

Er kommt zum Schluss, dass etwa bis zum 6.Altersjahr Wahrheit und Lüge für die Kinder etwas sehr Aeusserliches ist, etwas, das allein mit der Sprache zu tun hat. Wenn er Kinder fragte, ob sie wissen, was eine Lüge sei, antworteten die meisten, das sei ein “hässliches Wort”, das sei “ein Wort, das man nicht sagen dürfe”. Dabei, betont Piaget, verwechseln die Kinder nicht “fluchen” und “lügen”.  Sie wissen, dass “lügen” bedeutet, “nicht die Wahrheit” sagen. Aber sie wissen nicht, was “Wahrheit” ist. Sie erleben, dass die Eltern sich auf die gleiche Weise entrüsten, wenn sie gewisse Re­densarten von der Strasse mit nach Hause bringen wie wenn sie”nicht die Wahrheit sagen”. Beide “Vergehen” wickeln sich über die Sprache ab, immer ha­ben die Kinder etwas gesagt, was sie nicht hätten sagen sollen. Lügen hat also während langer Zeit nur mit der Sprache zu tun. Die genaue Kenntnis dessen, was “lügen” heisst, hat noch mit einem anderen Umstand zu tun, näm­lich damit, dass in bestimmten Zusammenhängen das Kind für die Vermischung von Phantasie und Wirklichkeit, für das Fabulieren und Ausschmücken, Ergän­zen und Verschönern und sogar Uebertreibung lauter Lob und Bewunderung von Seiten der Eltern und Erzieher erfährt, in anderen Zusammenhängen aber Tadel und Schelte, fälsschlicherweise manchmal sogar Strafe (Beispiel: Der kleine Bub, der mit einem Stock herumgeht und sich als Vater oder Grossvater oder wen immer ausggibt und dafür lächelnde Anerkennung erntet).

Wieso das eine Mal auf die Ausschmückung, resp. Veränderung der Realität Anerkennung folgt und das andere Mal Tadel, ist für das Kind schwer ver­ständlich. Gleichzeitig aber weiss es um das Verbot zu lügen. Und da dieses Verbot  von Erwachsenen erlassen wird, deren regelsetzende Autorität es anerkennt und deren Liebe es braucht, ist es bemüht, die Regel einzu­halten und nicht zu lügen. “Nicht lügen”  heisst daher für die Kinder bis knapp ins Vorschulalter “eine Regel befolgen”,   schliesst Piaget, eine von den Erwachsenen aufgestellte Regel, und “lügen” verletzt nur insofern den moralischen Kodex, als das Kind der Gehorsamspflicht nicht nachkommt. Was Wahrheit ist im Sinn der Wahrhaftigkeit lernt es auch nur durch das vor­gelebte Beispiel der Eltern, der Erzieher und der grösseren Kinder. Wenn diese aber der den Kindern gegenüber erhobenen Forderung selbst nicht genügen, wenn sie selbst lügen und das Kind deren Unwahrhaftigkeit erlebt, so ist die Erziehung  zur Wahrhaftigkeit eine vergebliche Mühe. Nur durch Bewährung wird sie vermittelt. Mit Piaget’s  Worten: “Allein die gegen­seitige Achtung und die Zusammenarbeit bilden den wahren Faktor des allmählichen Verständnisses des Gebots der Wahrhaftigkeit” (S.189, a.a.0.). (Piaget illustriert seine “Regel”  mit dem Beispiel jener Mutter, die  wiederholt ihr Kind, das sie bittet, mit ihm zu spielen, mit der Erklärung abspeist, sie habe Kopfschmerzen und wolle in Ruhe gelassen werden, und die sich dann wundert, wenn das Kind einen schmerzenden Fuss vorgibt, wenn es vom Fern­seher weg in den Keller gehen müsste, um Kartoffeln zu holen).

Nur indem das Kind erfährt, dass das Wort der Erwachsenen etwas “Festes”  ist und dass es mit der Wirklichkeit übereinstimmt, nur indem es selbst die Achtung erfährt, welche die Erwachsenen für sich fordern, kann aus dem zuerst rein äusserlichen Gebot, nicht zu lügen, eine innere Verpflichtung werden. Irrtum und Lüge lernen Kinder schnell unterscheiden, wenn sie erfassen, was Wahrheit und Wahrhaftigkeit bedeuten.  Irrtum und Lüge unterscheiden sich auch durch die vorhandene oder nicht vorhandene Uebereinstimmung zwi­schen der inneren Wirklichkeit, d.h. dem Denken oder Sich-­Erinnern, und der Aussage. Beim Irrtum ist diese Uebereinstimmung gegeben; allein das Denken resp. das Sich­-Erinnern ist mangelhaft. Der Irrtum ist eine Art unbewusster Selbsttäuschung, er entsteht nie aus der Absicht, einen ande­ren Menschen zu täuschen, sondern immer mangels besserer Kenntnisse oder besseren Wissens. So wird ein neun-­ oder zehnjähriges Kind, das nach einem Strassennamen gefragt wird und das aus einer Verwechslung heraus eine fal­sche Auskunft gibt, wissen, dass es nicht gelogen, sondern dass es sich geirrt hat, und es wird deswegen kaum von Gewissenbissen geplagt werden. Eine schwere Gewissensnot aber entsteht, wenn Kinder durch das Verhalten der Erwachsenen oder anderer Kinder zum Lügen gezwungen werden. “Notlügen” haben gewöhnlich weniger mit “Not”wendigkeit zu tun, als mit der inneren Not und dem Zwiespalt der Kinder zwischen Wahrheitspflicht und Gehorsams­pflicht, unabhängig davon,  ob es sich um eine gewichtige Unwahrheit oder einen geringfügigen “Schwindel” handle.

(Beispiel: Familienalltag, Samstagmor­gen, Eltern verschlafen sich und Kinder sollten zur Schule etc.). Eine andere, ebenfalls häufige Situation, in der Kinder mit der Wahrheit “in Not” geraten, wird durch das ungeschickte, manchmal gar zynische Frageverhalten der Erwachsenen geschaffen, welche sich leicht zu ­ scheinbar allwissenden ­ Richtern aufspielen. Die Frage des Vertrauens stellt sich hier, diese Grundfrage, wleche ja auch Voraussetzung ist für die Gegenseitigkeit des Respekts und damit der  Wahrhaftigkeit. Fühlt das Kind sich im Vertrauen geborgen, so kann es kaum in die Enge getrieben werden, auf eine Weise, dass es nicht mehr ein noch aus weiss, dass es nur noch lügen kann und sich dabei selbst aufs schrecklichste quält. Ich selbst kann mich an solche Situationen in meiner Kindheit erinnern, immer ging es um Unwichtiges, aber immer waren es Erfahrungen grössten Elends. Cecile Ines Loos, eine heute zu Unrecht kaum mehr gelesene Schriftstellerin aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts, hat in ihrem Roman “Der Tod und Das Püppchen”* meisterhaft die Ausweglosigkeit des Kindes geschildert, das, mit sich und seiner Wahrheit allein gelassen, einer ihm feindlichen Umwelt gegenüber nur lügen kann.  Ich lese ihnen eine kurze Passage vor (p.71,72­73).

Erziehung zur Wahrhaftigkeit ergibt sich als Bewährung des Vertrauens. Wahrhaftigkeit kann nicht “verlangt” werden, sie muss als Voraussetzung des Zusammenlebens vorgelebt werden. Wahrhaftigkeit ist also zuerst eine an uns gestellte Forderung, eine Aufgabe, der wir selbst täglich gerecht werden müssen, eine unabschliessbare Aufgabe, in welche die Kinder als in ein Lebensprogramm hineinwachsen und das sie übernehmen, wie alles, was sie im Austausch, in der Gegenseitigkeit, als stärkend und wohltuend empfinden. Dazu gehört auch das Verzeihen, wenn etwas schief geht, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden, wenn die Kinder trotz aller Liebe, die wir ihnen geben uns enttäuschen. Immer sind wir ja ein grosses Stück voraus im schon erlebten, schon gewährten und bewährten Leben, und alles erlebte Leben, wie es auch war oder wie es auch ist, verpflichtet zu verstehender Liebe.

*) Neu aufgelegt bei Edition Kürz, Küsnacht/Zürich 1983

6.Abend

Wir stehen am Schluss unserer Reflexionen über die Entstehung des Gewissens beim Kind und über die Bedeutung des Gewissens. Vieles blieb ungesagt und unbesprochen wegen der Kürze der verfügbaren Zeit. Wir wollen an diesem letzten Abend ein paar Akzente, die vergessen gingen,  noch zu setzen versu­chen,  auch nochmals hervorheben, was besonders wichtig ist.

  • Voraussetzung für die Gewissensbildung ist die erstaunliche Tat­sache des spontanen, freien Handelns des Menschen, d.h. der menschlichen Fähigkeit,  zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen,  an Entscheidungen festzuhalten,  andere aufzugeben, Pläne zu fassen oder zu ändern,  auf gewisse Handlungen stolz zu sein und andere zu bedauern, ja sich schuldig zu fühlen und wiedergutmachen zu wollen.  Diese Fähigkeit deckt einen be­deutenden Teil  dessen ab, was wir als Freiheit verstehen.
  • Gewissen und Gewissensbildung haben mit dem Bewusstsein dieser nicht nur vorausgesetzten,  sondern realisierten Freiheit zu tun. Hierin besteht die eine, nämlich die anthropologische Voraussetzung  für die Auseinandersetzung mit dem Gewissen. Die zweite Voraussetzung besteht in der Tatsache, dass der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist.  Das Gewissen ist auch Funk­tion dieser Gemeinschaftszugehörigkeit,  d.h. es ist Antwort auf die unterschiedlichen Erwartungen, Forderungen und Regeln, welche sich aus dem Zusammenleben der Menschen ergeben, die alle zugleich Subjekt sind, d.h. freiheitsbefähigt, wahlbe­fähigt und damit handlungsverantwortlich,  beziehungsverantwort­lich und gemeinschaftsverantwortlich ­  und Objekt in Bezug auf die Wahl­ und Handlungsentscheide der anderen Menschen und in­sofern von diesen abhängig.  Der holländische Philosoph de Graaf bezeichnet den Menschen als “antwortendes Wesen”, und damit trifft er die eine, wichtige Wesenbestimmung:  “antwortendes Wesen” ist der Mensch einerseits, antwortbedürftiges anderer­seits.  In der unaufhebbaren Interaktion von Subjektsein und Objektsein liegt die soziale Funktion des Gewissens. Die Gewissensbildung muss beide Voraussetzungen berücksichtigen und beiden gerecht werden:  Sie muss als Bewusstsein der Frei­heit und damit des Selbstwerts gefördert werden, und  zugleich als Bewusstsein der sozialen Verantwortung.  Joseph HubertusH uijts (in :  “Gewissensbildung”, Verlag  Bachem,  Köln)  sagt: “Gewissen ist für uns überall  dort nachweisbar, wo der Mensch,  im Kontakt mit der Welt,  sich zu einer Antwort auf die Fragen ver- anlasst fühlt, die die Welt stellt”. Wir haben gesehen, dass die Gewissensnormen  d.h. jene Kriterien, nach denen das Handeln vor dem “inneren Gerichtshof” als gut oder als schlecht beurteilt werden, durch die ursprüngliche Einflussnahme der stärksten Autorität, deren Forderungen verinnerlicht  werden  ( des “Ueber-Ichs” Sigmund Freuds), zustande kommen, und dann allmählich durch die Auseinandersetzung und den Vergleich dieser ursprünglichen Vorschriften und Regeln mit anderen. Die Freiheit, welche Voraussetzung für das Gewissen ist, manifestiert sich, oder besser,  konstituiert sich gerade durch die Wahl  der Gewissensnormen.  Erziehung im besten  Sinn besteht eigentlich darin, sowohl die Selbständigkeit dieser Wahl zu fördern als auch die Vereinbarkeit der Wahlkriterien, sodass alle Handlungsentscheide sich auf der Basis einer in sich nicht widersprüchlichen Ethik begründen lassen.  Diese Basis ist auch die Voraussetzung für eine erfreuliche Identitätsfindung und damit für eine echte Persönlichkeitsentfaltung. Die entfaltete und immer weiter entwicklungsfähige Persönlichkeit ist das Ziel der Erziehung, wenn als deren wichtigste Aufgabe die Gewissensbildung verstanden wird.Wir betonten immer wieder, dass in der Erziehung allein das Vorbild überzeugt, ob im Sinn des Freud’schen autoritären Ueber- Ichs, das eine –  manchmal  revolutionäre –  Auseinandersetzung provoziert, die häufig nur das Entweder-Oder der Unterwerfung oder der Umorientierung zulässt; oder ob im Sinn von Piaget’s Modell der kommunikativen Zusammenarbeit und Solidarität, demzufolge nicht Unterwerfung, sondern Zustimmung oder Neuorientierung erfolgen.  Es gibt für jeden Menschen –  und schon für jedes Kind –  ein Vielzahl von Kommunikations- und Solidaritätsebenen,  unter denen jene den Einzelnen massgeblich prägt, welche am überzeugendsten den massgeblichen Kriterien der “Zusammenarbeit” gerecht wird: der Achtung und dem Respekt.Diese Entwicklung braucht viel  Zeit; da hat man lange den Eindruck  dass trotz aller Vorbildhaftigkeit nichts Eindeutiges erreicht wird, dass das Kind ständig hin- und herschwankt und von einer Krise in die andere gerät.  Das ist normal:  Keine Entwicklung ohne Krisen, und die moralische Entwicklung, d.h. die Entwicklung zur Selbstständigkeit,  zur Begründbarkeit  und zur  Verantwortbarkeit des Handelns, kennt am meisten Krisen. Und die Zeit, welche Pubertät und Adoleszenz umfasst, d.h. diese wichtigen 6 bis 8 Jahre, sind ohne Krisen nicht denkbar.Sie sind “normal”,  sagten wir eben. Was heisst denn “normal”? Was ist bei  kleinen Kindern “normal”? was bei grossen? was bei  Erwachsenen?Ein paar Beispiele, zu denen Sie mit vielen zusätzlichen Ergänzungen beitragen können, nehme ich an. Die Frage nach der Normalität stellt sich bei allen:Da ist zum Beispiel  Nicolas,  knapp ein Jahr alt, eine Frühgeburt (um mehrere Wochen), der körperlich gut aufgeholt hat,  bei jeder kleinsten Aenderung der Trink- und Essgewohnheiten jedoch mit masslosen Wein- und Verweigerungsanfällen reagiert. Oder der achtjährige Francois, das dritte Kind von sechs Geschwistern, der ununterbrochen an seinem linken Daumen saugt, immerhin schon ein Zweitklässler. Mit ihm in der gleichen Klasse sitzt Anne, die bis zum Schuleintritt alle Gleichaltrigen an Munterkeit weit in den Schatten stellte und die nun dumpf und verschlossen in ihrer Bank sitzt, kaum am Unterricht teilnimmt und zu Hause erklärt, lieber möchte sie sterben als weiter zur Schule gehen. Oder da ist Sandra,  heute 12 Jahre alt, die während der Woche in einem Kinderheim lebt, wo sie auch die Schule besucht, und die Wochenende bei einer ihr bekannten Familie verbringt und dort regelmässig das Bett nässt. Oder der 13-jährige Tobias, der die erste Sekundarschule besucht, alle schriftlichen Arbeiten aufs sorgfältigste macht, jedoch schleppend geht, schleppend spricht und jede Bewegung doppelt so langsam macht wie seine Kameraden, die ihn ablehnen. Oder ein 17-, bald  18-jähriges Mädchen, das ins Gymnasium geht, etwas widerwillig, weil es die Behandlung der Schüler als unwürdig empfindet, welches sich sorgfältig und sehr bewusst kleidet,  in seinem eigenen Zimmer aber einen solchen Zustand von Unordnung herstellt und duldet, dass dieser an schlimmste Verwahrlosung erinnert.Bei allen diesen kleinen und grossen Kindern stellt sich die Frage:  Ist dies normal?Wenn wir zuerst allein auf den Wortsinn achten,  so ist “normal” e i n  vom Substantiv  “Norm” abgeleitetes Adjektiv. Norm heisst Richtmass,  bezeichnet das, was unbedingt sein soll  oder geschehen soll.  Das kann etwas Doppeltes bedeuten:  einerseits ein gefordertes Ziel, eine Ideal, ein Grenze nach oben;  andererseits kann es ein minimales Richtmass bedeuten, das Durchschnittsmass. (Von der Norm unterscheiden sich die Regel, die beachtet werden kann oder nicht, und das Gesetz, welches einem Sein oder Geschehen auf notwendige Weise innewohnt. Je nachdem wird die Norm als Ziel  gesetzt oder sie ergibt sich als statistischer Wert, d.h.  aus einer bestimmten Regelmässigkeit und Häufigkeit der Erscheinung, und ist hiermit Resultat von Beobachtungen und Vergleichen. So mag z.B.  für einen  Arzt die Körperlänge eines Kindes als durchaus normal  gelten, d.h.  als statistisch normal;  innerhalb der Familie aber, deren Mitglieder alle sehr klein sind, wirkt das Kind abnormal  gross.  Oder: In bestimmten Ländern mag es als durchaus normal  gelten, dass ein Kind mit drei  Jahren noch von der Brust trinkt,  in Mitteleuropa ist dies eher selten und wirkt daher befremdlich.  Oder: Dass ein Kind schreit, wenn es Hunger hat,  ist zweifellos normal,  solange es ein Säugling ist.  Tut es dies jedoch später, wenn es schon sprechen kann und andere Ausdrucksmöglichkeiten als das Weinen besitzt, so kann man sich mit Recht fragen, ob das normal  sei.Neben dem Vergleich innerhalb des soziologischen und kulturellen Umfelds drängt sich zusätzlich der Vergleich zwischen den verschiedenen emotionalen,  intellektuellen, sozialen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes auf,  sowie zwischen seinem Verhalten zu Hause und in der Oeffentlichkeit. Wie soll zum Beispiel das Verhalten eines 6-jährigen Buben beurteilt werden, der viele schöne Spielsachen besitzt, der aber auf dem Spielplatz und wo immer er sich mit anderen Kindern aufhält, diesen Spielsachen wegnimmt oder kaputtmacht? –  Oder jenes Neunjährigen, der aus der Spielgruppe, dem Kindergarten und der Schule schon jahrlange Erfahrungen mit Kindern hat, der aber jede Gesellschfat Gleichaltriger ablehnt, sich an keinem Spiel beteiligt und nur und allein mit seiner Mutter spielen will? –  Oder jenes Vierjährigen, der starke, gesunde Beinchen hat, gut gehen kann, aber zu gehen verweigert und immer getragen sein will? “Noramlität” könnten wir also eingrenzend bestimmen als eine Koordinations- und Integrationsleistung der veschiedenen Elemente der kindlichen Persönlichkeit zu einem sowohl  in sich abgerundeten wie auch in die Gemeinschaft einfügbaren Ganzen. Diese Koordinationsleistung geht mit einer –  altermässig – zunehmenden Steuerung der ursprünglichen Bedürfnisse und Triebe durch das Denken und den Willen einher, d.h. durch das Bewusstsein. Das Bewusstsein ist auch moralisches Bewustsein, d.h. Bewustsein der vorhandenen oder mangelhaften Uebereinstimmung von Sollen und Wollen,  von Wollen und Können. Das Ziel der Koordination aller Fähigkeit und Bedürfnisse ist Autonomie. Auch dieses Ziel  kann als Norm verstnden werden, d.h.  als normativen, als orientierungweisenden und anzustrebenden Wert.Autonomie hat eine individuelle und eine soziale Funktion.  Im Individuellen stimmt sie mit einem intakten Selbstwertgefühl überein;  im Sozialen bedeutet sie ein schwer herstellbares Gleichgewicht zwischen der nötigen Behauptung der Selbständigkeit innerhalb der Gemeinschaft, die immer mit der Erfüllung der wesentlichen Bedürfnisse einhergeht, und der Vermeidung von Rücksichtslosigkeit, eine tatsächlich schwierige Verbindung von Erfüllung der eigenen inneren “Norm” und von Anpassung an gesellschaftliche Normen.  Bei dieser Koordination spielt das Gewissen eine wesentliche Funktion.  Denn je nach der stärkeren Beeinflussung und der entsprechenden “Beantwortung” durch das Verhalten des Kindes, des Menschen überhaupt, erwächst ein Durchschnittskind, ein Durchschnittsmensch, der dann zweifellos als “normal” gilt, oder aber ein  Kind und ein Mensch, der zwischen seiner eigenen Norm und der gesellschaftlichen Norm eine –  mehr oder weniger –  erträgliche Spannung herstellen kann, aus der sowohl  eine aussergewöhnliche,  aber persönlich lebbare, schöpferische Normalität erwachsen kann, oder aber eine Zerrissenheit, die schweres Leiden bedeuten mag.Normalität beim Kind bedeutet daher die Verbindung von bestmöglicher Selbstentfaltung und von  nicht-zerstörerischer Anpassung an die kulturellen und sozialen Gegebenheiten von Familie und Umwelt,  soweit diese Persönlichkeitsrespekt und Freiheit als gemeinschaftskonstitutive Bedingungen beachten und verwirklichen.  In diesem Sinn ist “Normalität” etwas sehr Fragiles, das nie definitiv erreicht ist. Wird die seelische Entwicklung des Kindes auf einer bestimmten Stufe gestört,  sei  es, dass das Kind in einem wesentlichen Bedürfnis zu kurz komme,  sei  es, dass es wegen äusserer Ursachen auf bedeutende Weise verusichert werde,  so muss es immer wieder, wenn ähnliche Umstände auftreten, auf diese Stufe zurückkehren, bis es den Mangel  aufgeholt  oder die Störung überwunden hat.  (Gibt es nicht viele Erwachsene, von denen  wir  sagen,  dass sie sich  “wie ein Kind” verhalten, wenn jedesmal, wenn ihnen etwas nicht gewährt wird,  so wie sie es erwarten, Zorn- und Wutanfälle auftreten oder tiefe Depressionen überhandnehmen, oder wenn sie eine Leistung zu erbringen haben, die sie sich nicht zutrauen, Herzbeschwerden oder Verdauungsstörungen oder Migränen einsetzen: Gewiss, man darf in der psychologischen Deutung körperlicher Reaktionen nicht zu weit gehen,  häufig liegen die Ursachen wirklich im Körper selbst. Aber seit Freud und Groddeck sind sich die psychsomatisch arbeitenden Aerzte einig, dass zumindest der Zeitpunkt, wann eine Störung oder eine Krankheit auftritt,  psychisch bedingt ist).

    Autonomie bedeutet auch, mit unerfüllten Bedürfnissen und mit immer wieder spürbaren Mängeln ein erfültes Leben leben zu können.

    Schon für den Säugling und für das Kleinkind ist ja das Leben ein schwieriger Lernprozess:  Da ist ein kleiner,  unerfahrener Mensch, der dem Ansturm stärkster Gefühle und Bedürfnisse ausgesetzt ist, und zugleich dem Ansturm stärkster Eindrücke und Einflüsse von aussen. Um leben und sich entwickeln zu können, muss er lernen,  seine Bedürfnisse so mitzuteilen, dass sie verstanden und erfüllt werden.  Er kennt aber weder die Regeln der Erwachsenenwelt, die ihn umgibt, noch die Begriffe der Sprache, die sie spricht; er ist noch unfähig, seine Gefühle zu filtern und zu dämpfen, damit sie nicht auf Abwehr und Empörung stossen. Auch unter idealen Verhältnissen sind Missverständnisse, Versagungs- und Verzichtserfahrungen fast nicht auszuschliessen,  sodass gewisse Störungserscheinungen –  fast – bei  jedem Kind mit zur Entwicklung gehören.  Die Frage ist, wie das Kind, wie die Eltern und Erzieher mit diesen Störungen leben können, wie sie damit zurecht kommen, ob die Symptome, durch welche sie sich zeigen, richtig verstanden werden:  als Zeichen,  als Signale, dass ein Ungleichgewicht entstanden ist, dass das Kind Hilfe braucht.  Erst wenn diese Signale nicht verstanden werden, wenn sie ihre Aufgabe nicht erfüllen können, wird das Kind seelisch  krank.  Denn bevor es sich “abnormaler” Zeichen bedient, um auszudrücken, dass es auf schwerwiegende Weise in einem seiner Bedürfnisse zu kurz kommt, wird es lange erfolglos auf normale Weise versucht haben, zu seinem Recht zu kommen. So ist z.B.  Sandras Bettnässen ein deutlicher Protest gegen allzu strenge,  lieblose Erziehungsmethoden.  Als Ausdruck eines seelischen Leidens muss diese Fixierung auf eine einzige unter vielen Möglichkeiten der Bedürnismitteilung verstanden werden.  In anderen Fällen hat das Kind das Glück, von Erwachsenen umgeben zu sein, Eltern oder Fremde, die nicht mit Härte,  sondern mit Geduld, mit Einfühlungsvermögen und Phantasie auf die einseitige Ausdrucksmöglichkeit des Kindes reagieren,  sodass Mängeln abgeholfen werden kann, bevor sie sich zu einem schweren seelischen Leiden zementieren, zu einer Behinderung der Normalität werden.

    Einen Menschen zu finden, der keine Mängel  und keine Störungen erlebt hat, ist kaum möglich. Wohl aber gibt es viele, die gelernt haben, mit den damit verbundenen Bedingungen so zu leben, dass aus den vielen Möglichkeiten der Kompensation jene ausgewählt wurden, welche ein Leben der Selbstbejahung  und der Gemeinschaftsbejahung trotzdem ermöglichen. Hierin besteht die höchste Leistung der Autonomie, in einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentfaltung, unabhängig von den Bedingungen.

    Der Weg dazu, für das Kind, besteht im Einüben der Freiheit. Dabei  braucht es Unterstützung.  Es muss lernen dürfen,  unter verschiedenen Reaktionen auswählen zu dürfen.  Es muss die Möglichkeit haben,  sich selbst in verschiedenen Reaktionen erfahren zu dürfen, ohne gleich moralisch “abgestempelt” zu sein, ohne gleich als “böses”,  als “schwieriges” oder gar als “schwererziehbares” Kind zu gelten. Das heisst, formelhaft: Schöpferisches Spiel statt eintönige Wiederholung, Freude am Entdecken statt Angst vor dem Neuen, Begründung des Ungehorsams statt Strafe, Autonomie statt Automatismus. Vor allem verstehende Liebe.

    Zur Normalität gehört auch, dass das Kind allmählich lernt, Verzicht üben zu können und Verlust zu ertragen, dass es lernt, dass mit  einem  Verzicht oder Verlust noch nicht alles verloren ist, dass es daneben noch viel  Welt gibt, die weiter hält und trägt. Dass es lernt, Alleinsein und  Gemeinschaft zu ertragen, als die beiden Daseinsformen des Menschen, und dass es innerhalb der Gemeinschaft sowohl  die Unterlegenheit wie die Ueberlegenheit ertragen kann, aus der Erfahrung und aus dem Wissen liebevoller Gleichheit.  Diese Lernprozesse kann das Kind nur in der Begleitung von uns Erwachsenen vollziehen, indem wir im gleichen Lernprozess immer ein Stückchen weiter voran sind, den Weg und die Schwierigkeiten aber kennen.  Diese Art von Begleitung  ist  sinnvolle Erziehung.    Und die “Normalität”, die auf diesem Weg und in diesem Respekt vor der Freiheit des einzelnenangestrebt wird, ist ein Ziel, das sich anzustreben lohnt, in einer Zeit, in der Normalität gemeinhin Anpassung und Gleichschaltung bedeutet. So verstandene “Normalität” fällt mit dem Ziel der “Identität” zusammen (cf. Erik H. Erikson), d.h. mit dem Ziel der ganzheitlich entfalteten Persönlichkeit resp. des wirklich erwachsenen Menschen.

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