Von den notwendigen und den nicht-notwendigen Widersprüchen einer freiheitlichen Gesellschaft
lies auch:
und:
Buchbeitrag in: Willi Goetschel / John G. Cartwright / Maja Wicki (Hrsg.),
“Wege des Widerspruchs – Festschrift für Prof. Hermann Levin Goldschmidt zum 70. Geburtstag”, Verlag Paul Haupt Bern und Stuttgart 1984, ISBN 3-258-03314-5
Von den notwendigen und den nicht-notwendigen Widersprüchen einer freiheitlichen Gesellschaft
Der aktuelle Anlass
Als in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai 1980 vor dem Zürcher Opernhaus mit eruptiver Unmissverständlichkeit jene „Bewegung” ihren Anfang nahm, die einer grossen Flutwelle gleich während mehr als einem Jahr nicht nur die Fassaden dieser scheinbar mustergültigen Stadt zerstörte, sondern auch deren Fundamente angriff, da bildeten sich aus der gewalttätigen, hilflos-lauten Sprachverstummung Fragen heraus, die trotz angestrengter „Thesen” und „Antithesen” und trotz einer oberflächlichen Beruhigung der Situation zum Teil immer noch offen stehen.
Im Unterschied zu 1968, als sprachgewandte Wortführer die Anliegen der rebellierenden Studentenschaft nicht nur als moralisch motivierte Abrechnung mit einer einseitig auf quantitative Wohlstandssteigerung hin orientierten Weltanschauung zu erklären vermochten, sondern auch als Zukunftsentwurf philosophisch absicherten und öffentlich respektabel machten, wurde in der „Bewegung” von 1980 nichts deutlich ausser der Radikalität ihres „subito” (d. h. ultimativ gestellter Forderungen nach Gewährung von „Sachen”: dem Autonomen Jugendhaus, dem Autonomen Kulturzentrum); ausser der Anonymität der häufig vermummten „Spontis” (denn diese beherrschten Vollversammlungen wie Demonstrationen; die These von den „linken Agitatoren”, die als Inspiratoren und „Schuldige” das Verständnisdefizit auf einfache Weise hätten beheben sollen, trug ja nichts zur Erklärung der Stärke und Breitenwirkung der gewalt- tätigen Auflehnung bei); ausser der erschreckenden Zukunftsabsage ihrer Slogans (die zur Aufhellung der geistigen Hintergründe eine Code-Funktion haben; ,,Eiszeit” und „no future” machen jede auf rationales Handeln und Planen gegründete Konsensbereitschaft zu nichte. Es sind Aussagen des Misstrauens gegen jede Aussage. Was bleibt, ist die Forderung nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung).
Deutlich wurde vor allem die zunehmend breitere Kluft zwischen Jugend und Erwachsenengesellschaft, zwischen den ungeduldigen Bilderstürmern einer postindustriellen Kulturrevolution, welche mehr als den „Lebensbegriff”, nämlich die als Lebensqualität deklarierte Stadtkultur in Frage stellen, und den diese Stadtkultur tragenden und finanzierenden, auf Ruhe und Ordnung erpichten Steuerbürgern; zwischen den Verweigerern einer arbeitsbürgerlichen, mussefeindlichen Gesellschaft und den Verteidigern eben dieser Gesellschaft; zwischen den nicht eigentlich an der Demokratie, sondern an einer breit angewachsenen Bürokratie irregewordenen Staatsverdrossenen und den Staatsbefürwortern à tout prix; und hüben und drüben die Versteifung in einer Haltung des wachsenden Misstrauens, das sich auf beiden Seiten in einer Eskalation rücksichtsloser Gewalt Luft machen sollte. Wie kam es zu dieser Flucht in die Gewalt?
Woran krankt eine in jeder Hinsicht selbstverantwortliche Gesellschaft, die sich einer Spaltung von der erfahrenen Heftigkeit ausgesetzt sieht?
Die Auffächerung der Fragen nach den Ursachen der Gewalt und der Gegengewalt und den damit beginnenden totalitären Tendenzen auf beiden Seiten einerseits, nach den Ursachen der dahinter und darunter aufklaffenden gesellschaftlichen Spaltung andererseits geht von der Kernfrage nach der aktuellen Tragfähigkeit und Glaubwürdigkeit der Demokratie aus, d. h. nach dem Mass der Verant wortung des politischen Ganzen für jeden. Die Wechselseitigkeit der Verantwortung ist zweifellos eine Art gesellschaftlichen Vertrags, auch wenn der Begriff heute für den Austausch von politischen Rech ten und Pflichten kaum mehr gebraucht wird. An der Wurzel der Vernetzung von Pflichten, Rechten und Verantwortung stellt sich die Frage nach der Freiheit als Frage nach dem Anfang, nach Zustimmung oder Verweigerung, nach dem Gebrauch von Erkenntnisfähig keit, Urteilsfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit, nach Macht und Ohnmacht des Einzelnen in der Gesellschaft.
Die im Rahmen der Freiheitsverwirklichung erwachsenden Widersprüche sind, sofern sie auf das doppelte Sein der Existenz als Individuum und als Gemeinschaftswesen zurückgehen, unausweichlich und somit notwendiger Natur; sofern sie jedoch aus der Missachtung individueller Freiheit durch andere Menschen oder durch die Gesellschaft folgen, sind sie nicht notwenidg und daher zu vermeiden.
Merkwürdigerweise lassen die zahlreichen, im Zusammenhang der Unruhen aufgeworfenen Fragen und die entsprechenden Antworten und Vorschläge, die „Thesen” und „Stichworte” der Eidgenössischen Kommission für Jugendfragen wie die „Antithesen” von Jeanne Hersch gerade die Unterordnung unter die grundgelegte Widersprüchlichkeit vermissen, obwohl es bei der grossen Betroffenheit, die auf beiden Seiten die Untersuchungen und Stellungnahmen kennzeichnet, offensichtlicherweise um mehr als um adhoc-Reaktionen geht. Gerade deshalb wäre zu hoffen gewesen, dass eine erneute Fixierung gesellschaftlicher Feind-Freund-Bilder überwunden würde und über die Gewährung partikulärer „Pflästerchen” (wie „Autonomer Zentren”) und mehr oder weniger abgegriffener und nichtssagender Diagnosen (wie den Nihilismus-Vorwurf) zum grundsätzlichen, grossen Übel vorgedrungen würde: dem Zustimmungsdefizit des Einzelnen zum Nächsten und des Einzelnen zur Gemeinschaft, ausserhalb derer niemand wirklich steht (letztlich auch nicht der „Aussteiger”, nicht einmal der Verbrecher), innerhalb derer jedoch nur gelebt werden kann, wenn die Besonderheit jedes Einzelnen auf Grund des gleichen Menschseins und damit der gleichen Rechtsgrundlage gegen seitig und im Bewusstsein der Gesamtverantwortung für die Freiheit respektiert wird.
Die Flucht in die Gewalt
Nach dem Auftakt vom 30. Mai, als auf der einen Seite Molotowcocktails und Pflastersteine, auf der andern Seite Gummiknüppel, Tränengas und Verhaftungen den Lauf der Ereignisse bestimmten, da machten sich beide Lager rechtfertigungsbedürftig. Denn im Gegensatz zur Macht, die „allen menschlichen Gemeinschaften immer schon inhärent ist”(1) und daher keiner Rechtfertigung bedarf (jedoch der Legitimität, die sich einerseits aus der freiheitlichen Anerkennung und Bewährung in der Vergangenheit ergibt, andererseits aus dem Mass aktueller Zustimmung auf Grund der Freiheit, die dem Einzelnen belassen wird), kann in Ausnahmefällen „Gewalt zwar gerechtfertigt, jedoch niemals legitim sein “(2). Zum vornherein ist Gewalt Unrecht, trotz Sorel und Fanon. Der Versuch der Rechtfertigung hängt vom Zweck ab, in dessen Dienst Gewalt angewendet wird. (Zweifellos ist sie, um ein Beispiel zu nennen, zum Zweck der Selbstverteidigung bei tödlicher Bedrohung gerechtfertigt.) Mit Macht hat Gewalt nur insofern etwas zu tun, als sie einen Mangel an Macht aufzeigt, sei es Ohnmacht (bei der rebellierenden Jugend), sei es Machtverlust (beim Handeln der politischen Organe). Bei intakten Machtverhältnissen erübrigt sich Gewalt, da ja Einordnung und Unterordnung freiwillig erfolgen, sich Macht gerade durch die Zu stimmung zum politischen Ganzen konstituiert.
Es wäre nicht nur bequem, sondern falsch, Gewalt als etwas Irrationales zu erklären. Dies würde bedeuten, dass die Handelnden nicht mehr in ihrer Verantwortlichkeit belangt werden können, die immer auf die Vernunft des Einzelnen rekurriert. Jeder Entschluss zur Gewalt und jedes gewalttätige Handeln erfolgt aus Gründen und in Freiheit (ausser in Ausnahmefällen psychischer Krankheit), und die Gründe, aus denen sie erfolgen, sind die Kriterien der Verantwortlichkeit. Irrational und nur schwer mehr kontrollierbar sind dagegen die Folgeerscheinungen von Gewalt. So wie das Öffnen einer Schleuse im Wissen um die Bedeutung der Handlung erfolgt, der wild gewordene Fluss und die Verwüstungen, die er anrichtet, aber nicht mehr gebremst werden können, so verhält es sich mit einem ersten Steinwurf oder einer ersten willkürlichen Verhaftung.
Im Fall der „Bewegung” war der Hauptgrund für den Anfang der Gewalt zweifellos die Tatsache der Bewegung selbst, der Empörung und des Zorns. Um vernünftig reagieren zu können, muss man zuerst einmal ansprechbar sein, ,,bewegt” werden können(4), schrieb Hannah Arendt im Anschluss an die 1968er Unruhen. Es mag eine seltsam anmutende Behauptung sein, dass diese schwarzgekleidete Jugend, welche in den Altstadtgassen wüsten Schaden anrichtete und sich in Schlachten mit der Polizei einliess, zuerst gerade durch ihr scheinbar unvernünftiges Handeln Vernünftigkeit bewies: der Trauer aufkündigte, einen Bruch setzte mit einer langen Phase der Lethargie und Resignation (der „Frustration”, wie es allenthalben hiess) einer aus sichtslosen, überbedrohten „leeren” Zukunft gegenüber. Was Ausbruch war, hätte Aufbruch sein können, wäre die erste gewalttätige Demonstration als Notschrei verstummter Vernunft verstanden worden, wäre nicht Gegengewalt und Härte die Antwort gewesen, wäre sie nicht als böse Mutwilligkeit gedeutet worden, wäre damals, am Anfang, der Dialog (im Sinne Goldschmidts) zustandegekommen zwischen denen, die sich als die Zukurz-Gekommenen unserer Gesell schaft empfinden, weniger materiell als seelisch, und jenen, welche als Vertreter der politischen Institutionen die ganze Gesellschaft (und damit die Macht) vertreten. Die Tatsache, dass dieses Fanal missachtet wurde, dass die Macht zur Repression der Jugendunruhen diente statt zu deren fruchtbaren Umsetzung in explizit rationales politisches Verhalten, d. h. in die Förderung möglicher Zustimmung zu verantwortlichem Handeln im Rahmen der Gesellschaft, gehörte zweifellos mit zu den Ursachen sowohl der mit der Gegengewalt schnell einsetzenden Machteinbusse als auch der beidseitigen Quasi Institutionalisierung der Gewalt, welche nicht zuletzt die lange Dauer der Unruhen erklärt. Mit der Missachtung der schwächsten Glieder einer Gesellschaft schwächt sich die ganze Gesellschaft, während das Mass des Widerspruchs, das sie erträgt, das Mass ihrer Qualität ist, d. h. das Mass der Vereinbarkeit von individueller Freiheit und Gemeinschaftssinn.
Wenn Jakob Burckhardt schreibt, dass, im Gegensatz zu den Tierstaaten, die in ihrer Organisation bei weitem vollkommener sind ,,nur der Menschenstaat eine Gesellschaft, d. h. eine irgendwie freie, auf bewusster Gegenseitigkeit beruhende Vereinigung”(5) sei, wenn damit gerade der Kern auch unseres Demokratieverständnisses ausgedrückt wird, dann muss eine Gesellschaft, in welcher Gegenseitigkeit sich als Gegenseitigkeit der Gewalt äussert, eine zutiefst kranke, im eigentlichen Sinn pervertierte Gesellschaft sein. Gegenseitigkeit soll ja Wechselseitigkeit bedeuten, Förderung der individuellen Fähigkeiten der Menschen untereinander in Hinblick auf deren volle Entfaltung (als Individuen und als Gemeinschaftswesen). Sie konstitutiert sich als Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten sowie als Wechselseitigkeit in deren Respektierung und Verwirklichung, wobei, in Anlehnung an einen zentralen Gedanken von Simone Weil, auf den später eingegangen wird, die Pflichten vor den Rechten da sind(6). Hermann Levin Goldschmidts „Freiheit für den Widerspruch” ist ein Wegweiser zur Reflexion über den dringlich zu aktualisierenden Gehalt der Freiheitsidee im widersprüchlichen Zusammenhang des ursprünglichen Gedankens des politischen Vertrags. Denn die Tatsache, dass „Freiheit”, ,,praktische Vernunft”, ,,Demokratie” heute im gesellschaftlichen und politischen Rahmen meist nichts als inhaltsleere Titel sind statt Bewährung im Austausch von Erwartung und Erfahrung, erklärt einen Teil der Sinnmisere, gegen welche eine werthungrige Jugend aufbegehrt und derzufolge abwehrende Reaktionen des Erwachsenen-Establishment sich hilflos zeigen.
Das Spannungsfeld widersprüchlicher Notwendigkeit
Weil Freiheit einerseits die Dimension des Geistes und damit des individuellen Denkens und Handelns ist, andererseits die Dimension menschlichen Zusammenlebens und damit des politischen Handelns, besteht innerhalb der Freiheit selbst die ungeheure Spannung, die aus widersprüchlicher Notwendigkeit erwächst: aus der gleichzeitigen Notwendigkeit der Bejahung von Freiheit und des Verzichts auf Freiheit aus Freiheit. Und weil menschliches Zusammenleben ohne diesen allseitig zu leistenden Freiheitsverzicht aus Freiheit nicht denkbar ist, weil andererseits der demokratische Staat als Form des Zusammenlebens diesen Freiheitsverzicht der Gemeinsamkeit der Interessen wegen postuliert, selbst aber ein Postulat der Vernunft (und damit der Freiheit) zum Schutz des Einzelnen und der menschlichen Gemeinschaft ist, ist die der Demokratie zugrundeliegende rationale (nicht existentielle) Konstruktion des „Sozialvertrags” so wohl aus der Freiheit entstanden wie gegen die Freiheit gerichtet”. Die dieser Widerspriichlichkeit inhärente Spannung ist unverzichtbare Voraussetzung verantwortlichen Handelns; denn „die Unerforschlich keit der Idee der Freiheit schneidet aller positiven Darstellung gänzlich den Weg ab: das moralische Gesetz aber ist an sich selbst in uns hinreichend und ursprünglich bestimmend, so dass es nicht einmal erlaubt, uns nach einem Bestimmungsgrunde ausser demselben umzusehen “(8). Was hier in Kants Formulierung seit La Boetie und Spinoza (in der englischen Linie von Milton zu Locke), über Rousseau, Kant, Mendelssohn, Schelling, Humboldt, Cohen zu Jaspers, Goldschmidt (seit dessen „Philosophie als Dialogik” von 1948), Buber, Plessner, Margarete Susman, Hannah Arendt und Simone Weil im Mittelpunkt der philosophischpolitischen Reflexion steht, ist diese Spannung, die der Mensch denkend und handelnd auszuhalten hat als urteilsfähiges und damit dem eigenen und zugleich allgemeinen „moralischen” Gesetz verantwortliches Einzelwesen und als ver antwortlicher Teil des Ganzen.
Wenn nun die Rede davon ist, dass die Idee der Freiheit aktualisiert werden soll, dann geht es um die Aktualisierung dieser Spannung aus doppelter Widerspriichlichkeit (innerhalb der Freiheit selbst und zwischen Freiheit und sozialer Verpflichtung). Sie ist das Ferment wirklicher Demokratie. Dies mag selbst widerspriichlich klin gen, ist aber eine unabdingbare Erfordernis, soll der Auflösungsprozess der Strukturen freiheitlicher Gesellschaft noch gestoppt werden. Unsere Gegenwart, sofern sie als eben vergangene Zeit Gegenstand der Reflexion ist, zeigt ein erschreckendes Nachlassen dieser innern Spannung, dafür in zunehmendem Mass äussere Gespanntheit, beides Zeichen politischer Erschöpfung: politische Indifferenz (d. h. mangelndes Interesse für das Wohl des Ganzen) einerseits, Verhärtung der politischen Fronten (d. h. einseitige, damit intolerante Inanspruchnahme des Prinzips Freiheit) andererseits'”. Soll nun Gegenwart als zu schaffende Gegenwart, als Zukunft, die zu realisieren wir eben im Begriff sind, für den Einzelnen und für die Gesellschaft sinnkonsi stent werden, dann muss die freiheitsimmanente Spannung lebendig ausgetragen und politisch fruchtbar gemacht werden.
Die Bedeutung des notwendigen Widerspmchs als Kern und Brennpunkt echter Demokratie wird nur aus der Verbindung von ideengeschichtlicher Retrospektion und einer aufs verantwortliche Handeln ausgerichteten Prospektion deutlich, als Wissen im Dienst des Ungewissen, im Sinn des von Kant verwendeten „Sapere aude!” (10). Angesichts des Zusammenbruchs des gesellschaftlichen Friedens, wie wir ihn 1980 erneut erlebt haben, ist es angezeigt, die Theorien der politischen Vernunft auf ihre gültige und anwendbare Allgemeinheit hin zu prüfen und die Wirklichkeit in ihrer Besonderheit daraufhin zu beziehen. Gerade weil zwischen diesen Theorien und der Wirklichkeit ein Abgrund von Verrat und Hoffnungslosigkeit klafft der Verrat von Auschwitz, Verrat am Menschen durch den Menschen, durch politische Institutionen, bestehend aus verantwort lich handelnden Menschen; und Hoffnungslosigkeit angesichts der eskalierenden, als „Gleichgewicht” deklarierten Potentiale sinnloser Vernichtung , gerade weil auf Grund dieser Erfahrung jeder Staatlichkeit misstraut werden könnte, bedarf es der Besinnung auf das dynamische Prinzip demokratischer Staatlichkeit: auf die Akzepta tion des Widerspruchs. Montesquieu’s Rechtfertigung (für dessen Befassen mit der römischen Geschichte zum Zweck der Zeitanalyse), dass „il faut connaitre les choses anciennes non pour changer les nouvelles, mais afin de bien user des nouvelles” (11), soll in der Forderung angenommen, in der Begründung aber widersprochen und umgekehrt werden!
Freiheit und Gemeinschaftssinn
Der Gedanke, dass „der Mensch frei in selbstbestimmter und selbstbestimmender Gemeinschaft stehen solle” (12) der demokratische Grundgedanke, in dem die bedeutsame Verbindung von Autonomie und Gemeinschaftssinn erstmals politisch relevant wurde , dieser Gedanke war die eigentliche Frucht der Aufklärung. Zwar fin det er sich im Judentum seit ältester Zeit biblisch begründet und verwirklicht, zwar erlebte er eine erste ständisch eingeschränkte Blütezeit in der athenischen Demokratie, doch konnte er in der Neu zeit nicht eher zum Durchbruch gelangen, als die augustinische für politische Machthaber sehr kommode Lehre von den zwei „Bürger schaften”, der irdischen und der himmlischen, in Frage gestellt war. Mit diesem Schritt lässt sich geistesgeschichtlich der Beginn der Neu zeit datieren, mit dem Bekenntnis zur Unaufschiebbarkeit mensch lichen Freiheitsstrebens und Verlangens nach Glück, mit der Aner kennung des vom Tod her betrachtet gleichen Menschseins und mit der Erkenntnis des unlösbaren Widerstreits zwischen dieser Gleichheit (die erst als Brüderlichkeit Handlungssinn gewinnt) und dem brudermordenden Streben nach Macht.
Denn was vor der Aufklärung ( und dem damit verbundenen Erstarken des Bürgertums) an Proklamationen der Freiheit wirksam wurde, betraf nicht die im Menschsein begründete Freiheit des Einzelnen, sondern die Freiheit von Gemeinschaften, d. h. die Selbstbestimmung und Selbstverwaltung von Ständen, Orten, Städten und Talschaften, so den Eidgenössischen Bund, so vorher schon die Magna Carta Libertatum, durch welche die englischen Barone nicht nur die Beschränkung der Exekutive einhandelten, sondern wenn auch in Unkenntnis der grundsätzlichen Bedeutung dieses Schritts die bis in die jüngste Zeit tragfähige Grundlage für die Verwirklichung der angelsächsischen Freiheitsidee setzten. Dass diese oft erstritten, oft erhandelt, oft verfochten und verteidigt wurde, immer bahnbrechend für den Rest der Welt, beweist die lange Reihe von Dokumenten von der Petition of Rights über die Habeas Corpus Akte, in der sich die Rechte der Person bis auf den heutigen Tag verankert finden, bis zur Bill of Rights die, wiederum beinah achtzig Jahre später, der Bill of Rights von Virginia und im selben Jahr 1776 der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika zum Vorbild dienen sollte. Das Aufsehenerregende an den beiden amerikanischen Verfassungen ist die Schlichtheit und Selbstverständlichkeit, mit der die Erklärung der Gleichheit und Freiheit der Menschen, ihres Strebens nach Glück und der Beschränkung der Macht der Regierung durch die Zustimmung der Regierten an den Anfang gesetzt werden an den Anfang der Erklärung selbst und damit zugleich an den Anfang der demokratischen Verfassungsgeschichte.
In der langen Reihe der Denker, welche die doppelte Verantwortlichkeit des Einzelnen und des Staates für die Freiheit in den Mittelpunkt ihres Philosophierens und Handelns gestellt haben, sollen aus verschiedenen Epochen nur wenige, in diesem Zusammenhang jedoch kaum beachtete, einander in vielem verwandte Wegbereiter einer lebendigen, freiheitlichen Gemeinschaft befragt werden, während von den häufig berühmteren nur einzelne gestreift werden, welche zwi schen den ersten eine Brücke der Vermittlung oder des Widerspruchs bildeten. Zu unserer trotz allem auf die Zukunft gerichteten Zeit aber bietet Hermann Levin Goldschmidts Dialogik und die darin zu verstehende Freiheit als Freiheit für den Widerspruch das philosophische Rüstzeug zu deren Verwirklichung.
Anstoss und Aufbruch: Etienne de la Boetie
Gegen die Macht des päpstlichen Absolutismus, wenn auch noch für ständische Interessen (d. h. für diejenigen des Kaisers Ludwig des Bayern), setzten sich noch im 14. Jahrhundert Occam und Marsilius von Padua ein. Für die Interessen des einzelnen Menschen im politi schen Machtgefüge aber war der erste, der den Weg des Widerspruchs ging, seiner Zeit weit voraus, Etienne de la Boetie (1530-1563), Montaigne ‘s Freund.
La Boetie ist der erste in diesem Sinn neuzeitliche Denker, der Freiheit nicht religiös, sondern auf explizite Weise in der allen Menschen gleichen Vernunftbegabtheit begründet und den Unterschied im Vermögen und Wollen dadurch erklärt, ,,dass die Natur, die dem einen mehr als dem andern gab, damit der brüderlichen Liebe Raum schaffen wollte, sich zu betätigen, denn die einen haben Macht, Hilfe zu leisten, und die andern das Bedürfnis nach Hilfe” (13) . Die mit dem Menschsein gegebene gleiche Art von Freiheit eines jeden lässt jede Art von Zwang zum Unrecht werden, ebenso den von aussen ausgeübten Zwang zur Gleichstimmung wie die selbstvollzogene, innere Negation der Freiheit, die „freiwillige Knechtschaft”. ,,Nichts auf der Welt (aber ist) so gegen die von Grund aus vernünftige Natur wie das Unrecht. Also sind wir von Natur aus frei, und ebenso folgt daraus, wie ich meine, dass wir nicht nur im Besitz unserer Freiheit geboren werden, sondern auch mit dem Trieb, sie zu verteidigen” (14). Verzicht auf Widerspruch, Gleichstimmung ist das Unrecht, nicht aber Einstimmung aus Freiheit auf das Wohl der andern Menschen innerhalb der Menschheits-Gesellschaft. Der Widerspruch ist auf unveräusserliche Weise mit der Freiheit verknüpft; in ihr allein ist die Würde des Menschen begründet, von ihr aus definiert sich Vernunft. Und die Achtung vor der eigenen Anlage ist ebenso Pflicht wie die Achtung vor der Freiheit des Nächsten. ,,Lernen wir doch einmal! Lernen wir recht zu handeln!” (15) ist La Boetie ‘s Aufruf zur Absage an die jeder totalitären Tendenz zugrundeliegende Passivität im selbständigen Vernunftge brauch.
La Boetie ‘s Vorstoss für den Mut zur Freiheit und zur Gemeinschaft blieb nicht unbeachtet (16). Das ausgehende 16. und das beginnende 17. Jahrhundert waren einerseits Zeiten erbittertster religiöser und politischer Kämpfe, die zwar einerseits im trotzigen Verfechten eigener Überzeugung die Erfahrung autonomer Entscheidungen vermittelten, andererseits aber durch den einseitig religiös fundierten oder machtbedingten Impetus, durch das Fehlen vernunftbegründeter Motivation zu freiheitswidrigem Fanatismus führten, welche die Schrecken der damaligen (und jeglicher, auch der heutigen) Glaubenskriege erklärt. Den „Innenraum des Menschen freizukämpfen, Grundsätze der gegenseitigen Achtung, der Menschlichkeit und Toleranz durchzusetzen” (17) war damals allein das verzweifelte Anliegen der Humanisten, welche einige, wenn auch nur kurz wirksame Erfolge erzielten.
Im alleinigen Rekurs auf die Vernunft wurde Glaubensfreiheit als Ausdruck innerer Freiheit überhaupt erst von Herbert von Cherbury ‘s „De veritate” 1624 verlangt und begründet. Von nun an steht das im Erkennen und Irren, Denken und Handeln selbstverantwortliche Subjekt im Vordergrund. 1637 erscheint Descartes’ ,,Discours de la Methode”, welcher der Disjunktion von Denken und Sein ein Ende macht und den Menschen ganzheitlich für verantwortlich er klärt. 1644 wird die erste Bresche für die Rede und Meinungsfreiheit geschlagen: Wie in England das mehrheitlich presbyterianische Parlament ein Zensurgesetz erlässt, veröffentlicht Milton, noch immer erschüttert durch die Verurteilung Galileis, den er in Florenz besucht hat, seine „Areopagitica”, in welcher er gegen das Zensurgesetz ausruft, man dürfe „die Geister nicht einsperren”; es sei „Zeit, frei zu sprechen und zu schreiben über die öffentlichen Dinge”. Denn „siegen wird ohnedies nur die Wahrheit”!, d. h. die Wahrheit, wie der Mensch sie zu erkennen versteht und in Wahrhaftigkeit, in „honneéteté” der Lebensführung, umzusetzen bestrebt ist.
Die Herausforderung der Vernunft: Spinoza
Das Bekenntnis zur innern Freiheit und damit zur Selbstverant wortlichkeit des Individuums konnte sich bei den grossen Wegbe reitern des 1 7. Jahrhunderts nicht anders als im Widerstand gegen die Ansprüche politischer und religiöser Macht nach Unterwerfung herausbilden: so bei Descartes, der sein erkenntnistheoretisches System zu einer Ontologie menschlicher Autonomie im Exil in Holland entwickelte; bei Spinoza, der dem „cherem” seiner Gemeinde zum Trotz, im Rückzug von aller Öffentlichkeit, das Recht des Individuums (als eines Teils der Natur) auf „alles, was es vermag” (18) vertrat, d. h. auf die „Macht” der Vernunftbetätigung, durch welche sich Freiheit realisiert. Was Spinoza im „Theologischpolitischen Traktat” und vor allem in der „Ethik” verficht und als „Vermögen” und „Streben” im Rekurs auf die GottTeilhaftigkeit des Individuums transzendental begründet, ist die Freiheit des Einzelnen in gemeinschaftsbezogener Verantwortlichkeit, die innere Freiheit, welche die politische Freiheit begründet. ,,Der Mensch, der sich durch Vernunft leiten lässt, ist frei im höchsten Sinn, und der freie Mensch ist zugleich der soziale Mensch: er ist auch gegenüber seinem Nebenmenschen treu, ehrenhaft und gerecht” (19).
Der „Theologischpolitische Traktat” von 1670 ist das erste demokratische Manifest der Neuzeit überhaupt, in dem der „Zweck des Staates” dahin bestimmt wird, ,,nicht zu herrschen noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann …. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit”(20).
Dieser Zweck wird am ehesten in der Demokratie verwirklicht, so dass „Demokratie … demnach zu definieren (ist) als eine allgemeine Vereinigung von Menschen, die in ihrer Gesamtheit das höchste Recht zu allem hat, was sie vermag”. Und Spinoza fährt fort: ,,Ich habe diese lieber als alle andern behandelt, weil sie, wie mir scheint, die natürlichste ist und der Freiheit, welche die Natur jedem einzelnen gewährt, am nächsten kommt. Denn bei ihr überträgt niemand sein Recht derart auf einen andern, dass er selbst fortan nicht mehr zu Rat gezogen wird; vielmehr überträgt er es auf die Mehrheit der gesamten Gesellschaft, von der er selbst ein Teil ist. Auf diese Weise bleiben alle gleich, wie sie es vorher im Naturzustand waren” (21).
Nun ist dieses „vorher” wie auch der Begriff des „Naturzustan des”, auf den es sich bezieht, häufig missverständlich gedeutet wor den, geht es hier doch nicht um eine Zäsur in der Entwicklung eines Gemeinwesens, sondern um den entscheidenden Schritt in der Ent wicklung des Einzelnen vom unbesonnenen zum urteilsreifen, vom selbstbezogenen zum gemeinschaftsbezogenen Menschen. Der Schritt besteht in der Zustimmung zur Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, ob in der Übereinstimmung mit der Mehrheit, die sie bildet oder im Widerspruch zu ihr, immer im Bewusstsein der Einordnung der persönlichen Freiheit in das grössere Ganze. Hierin besteht die „Übertragung des Rechts”, das, was Rousseau den „Vertrag” nennen wird: in der freiwilligen, widerspruchsbereiten Einordnung der eigenen Freiheit in die Freiheit der andern und damit in die Freiheit des Ganzen. Spinoza räumt wohl ein, dass gerade der demokratische Gebrauch der Freiheit widersprüchlich ist, dass „diese Freiheit zuweilen auch Missstände im Gefolge haben kann. Aber welche noch so weise Einrichtung hat es jemals gegeben, die nicht irgend einen Missstand hätte mit sich bringen können? Wer alles durch Gesetze bestimmen will, wird eher zu Lastern reizen als Laster bessern … Um so mehr”, betont er, ,,muss man die Freiheit des Urteils gewähren, denn sie ist sicherlich eine Tugend, und sie zu unterdrücken ist unmöglich “(22). Wie modern mutet die Frage an, ob „sich ein grösseres Unglück für einen Staat denken (lasse), als dass achtbare Männer, blass weil sie eine abweichende Meinung haben und nicht zu heucheln verstehen, wie Verbrecher des Landes verwiesen werden? . . . wenn Männer nicht wegen eines Verbrechens oder einer Freveltat, sondern nur weil sie freien Geistes sind, zu Feinden erklärt und zum Tod geführt wer den … ? “(23). Und dann folgen die programmatischen Sätze, dass, „soll nicht Kriecherei, sondern Treue geachtet werden und sollen die höchsten Gewalten die Regierung in festen Händen halten und nicht gezwungen sein, sie Aufrührern zu überlassen, so die Freiheit des Urteils notwendig gewährt und die Menschen so regiert werden (müssen), dass sie, trotz offenbar verschiedener, ja entgegengesetzter Meinungen, doch in Eintracht miteinander leben. Es kann kein Zweifel sein, dass diese Regierungsweise die beste ist und die wenigsten Missstände im Gefolge hat, denn sie steht mit der Natur des Men schen am meisten in Einklang” (24) .
Selbständigkeit im Denken und Urteilen ist mit der Eintracht im Handeln zu Gunsten des politischen Ganzen vereinbar. Wenn Spinoza die Stadt Amsterdam als Beispiel freiheitlicher und demokratischer Gesinnung rühmt, in der als Früchte dieser Gesinnung konfessioneller Friede und wirtschaftlicher Wohlstand blühen, und in der er selbst als Angehöriger einer vertriebenen und gejagten Minderheit Schutz geniesst (25), so weist er indirekt auf den soziologischen Zusammenhang hin, innerhalb dessen die politische Ausformulierung der individuellen Freiheit erst möglich wird: auf die Heranbildung des frühen Bürgertums mit seiner als Freiheit erfahrenen Verbindung von unternehmerischer Selbständigkeit und wissenschaftlich nutzbarem Handwerk ”. Erst durch diese Verbindung von Theorie und Praxis und deren Bewährung gelingt es, komplexe Sachverhalte auf Prinzipien zurückzuführen, den Zufall auszuschalten und so das Gewebe einer ganzheitlichen, intelligiblen Gesetzlichkeit transparent zu machen, als deren einen Teil Spinoza auch die Freiheit versteht.
Die Gesetzlichkeit besteht in der Notwendigkeit der Zusammen hänge. Der Platz, den Spinoza der Notwendigkeit einräumt, hat zu den meisten Missverständnissen seiner Philosophie geführt, hat andererseits aber auch auf fruchtbare Weise die bedeutendsten Ethiksysteme der Folgezeit beeinflusst. Die Quelle der Missverständnisse liegt in der einseitig politischen, falschen Auslegung von Notwendigkeit als Zwang. Notwendigkeit ist jedoch im viel weitem, ontologischen Sinn der „Ethik” zu verstehen. In diesem Sinn sind Freiheit und Notwendigkeit nicht widersprüchliche Begriffe, ja nicht einmal gegensätzllche ”, sondern, bezüglich der Seinsvollkommenheit der göttlichen Natur, welche „natura naturans”, auf notwendige Weise freie Ursache ihrer selbst ist(28), komplementär; bei der „natura naturata”, die definitionsgemäss nicht Ursache ihrer selbst ist, sondern infolge der Dynamik des vollkommenen Seins notwendigerweise aus diesem folgt, liegt die Freiheit im Gebrauch der Vernunft, im Nach vollzug der intelligiblen Notwendigkeit und in der Überwindung der vernunftwidrigen Affekte. Nicht in einem „Bewusstsein des Begehrens”, nicht in einer „Zufälligkeit noch in einer Willkür besteht Freiheit, sondern in einem Modus des Bejahens und Verneinens, so dass wir desto freier sind, je weniger willkürlich wir etwas bejahen oder verneinen” (30). Freiheit verwirklicht sich auf höchste Weise im selbstbejahten Gehorsam dem innern Gebot gegenüber, das sich der Erkenntnis erschliesst. Freiheit als Gehorsam ist Einklang mit der grossen Gesetzlichkeit, in welche der Mensch als erkennender mitein bezogen ist, in Freiheit, insofern die Einstimmung in die Gesetzlich keit (oder deren Verweigerung) sein eigenverantwortliches, mit schöpferisches Werk ist.
Nicht mit Notwendigkeit, sondern mit Zwang oder Gewalt ist Frei heit unvereinbar. Spinoza unterscheidet deutlich zwischen diesen Be griffen (31). Dieser Unterscheidung muss Rechnung getragen werden, wenn die Spinozanische Staatslehre interpretiert wird, die sowohl auf dem Naturrecht basiert (was Spinoza selbst als den Unterschied zur Hobbes’schen Staatslehre erklärt)(32) wie auf der rationalen Konstruktion eines allseitig verpflichtenden, freiheitlichen Sozialvertrags. So gilt die von Franz Borkenau (33) namhaft gemachte Antinomie bei der doppelten Begründung der Demokratie für Spinoza nur in sehr eingeschränktem Mass. Wohl kann „ein Staat nur durch Gesetze, denen jeder zu gehorchen hat, bestehen. Wollten alle Glieder einer Gesellschaft sich von den Gesetzen lossagen, so würden sie damit die Gesellschaft auflösen und den Staat zerstören”(34). Das positive Recht des Staates ist somit von hoher, jedoch nicht von unbedingter Verbindlichkeit. (Spinoza als Positivisten zu bezeichnen, wie dies A. Menzel (35) tut, ist zweifellos falsch, auch wenn gewisse Stellen in der unvollendet gebliebenen „Abhandlung vom Staat” diese Meinung entstehen lassen mögen)(36). Wenn die Unterwerfung des Einzelnen unter den Staat verlangt wird, dann nur unter der Voraussetzung der gewahrten Doppelseitigkeit von Rationalität, die einerseits in der prinzipiellen, freiheitlichen Zustimmung zum Staatsganzen durch den Bürger besteht und andererseits in der „vertragsmässigen” Ausübung und Anwendung der nicht usurpierten, sondern von den einzelnen Staatsbürgern derrogierten Macht, ,,um die gemeinsame Furcht zu beseitigen und das gemeinsame Übel abzuwenden”(37).
Der Zweck des Staates ist es, ,,Beschützer des Rechts und der Freiheit” zu sein (38), und solange er dieser Aufgabe gerecht wird, sind seine Beschlüsse bindend. Aber nur so lange; denn „jeder Vertrag ist nur kraft seiner Nützlichkeit gültig; fällt diese weg, so wird auch der Vertrag hinfällig und verliert seine Gültigkeit”(39). Nach Spinoza gilt für das demokratische Staatsleben die unaufhebbare Komplementarität von Pflichten und Rechten, auf beiden Seiten, und die davon abgeleitete Konstitution von Macht, respektive von Gehorsam, nicht antinomisch, sondern auch diese komplementär, da beide sich nach der übergeordneten Gesetzlichkeit der Vernunft ausrichten.
Innerhalb des Spinozianischen Systems spielt sich der Widerspruch weniger zwischen den zwei Begründungen der Demokratie oder zwischen dem Staatsganzen und dem einzelnen Menschen ab als im Menschen selbst. Der Mensch erscheint nicht in idealisierter Vereinfachung, nicht als problemloses Element in einem utopischen Vernunftstaat; er wird ernstgenommen in der Vielschichtigkeit seiner Anlagen, in seinen unterschiedlichen Begabungen, in der Duplizität von Vernunft und Unvernunft bei der Betätigung des einen, ursprünglichen „conatus sese conservandi”, der vernunftbegründeten, dynamisch verstandenen Autonomie. Hier verwirklicht sich, in der Befähigung zu Erkenntnis und Freude, gemeinschaftsfähige Freiheit oder, im vernunftwidrigen und gemeinschaftswidrigen Streben nach Befriedigung der Begierden freiwillige Knechtschaft. Der demokratische Staat aber, als selbständig handelndes Ganzes auf Grund der Vereinigung der Vielen, die aufeinander angewiesen sind, begründet seine Legitimität nur immer in der ganzheitlichen und somit widerspruchstoleranten Verwirklichung der Menschen, die als Träger von Rechten und Pflichten ihn durch Zustimmung bilden, durch Ablehnung auflösen, die Freiheit und Gemeinschaftssinn zu vereinen imstande sind.
Die Vereinbarkeit von Freiheit und Gemeinschaftssinn, die sich bei La Boetie zum erstenmal als Desiderandum formuliert findet, wird bei Spinoza zum metaphysisch begründeten Postulat rationalen Handelns, nicht in Hinblick auf eine zu erstellende Einheitlichkeit (was zu „verächtlichster Heuchelei”(40) führen würde), sondern auf eine lebensfähige Eintracht, die „trotz offenbar verschiedener, ja entgegengesetzter Meinungen(41) auf das Wohl des Ganzen ausgerichtet und verwirklicht werden kann. Der Preis, den es hierfür zu bezahlen gilt, ist die unbequeme, aber fruchtbare Spannung doppelten Freiheitswiderspruchs innerhalb des Menschen selbst und zwischen Mensch und politischer Gemeinschaft.
Ansätze rationaler Konstruktion und politischer Realität
In der offenen, zumeist aber verschwiegenen Rezeptionsgeschichte des Spinozanischen Werkes, welche hier nicht anders als summarisch gestreift werden kann, steht bedeutungsmässig Jean-Jacques Rousseau an nächster Stelle (42), eher jedoch bezüglich der Breitenwirkung seiner politischen Philosophie als bezüglich der Kongruenz der Ideen. Zwar bestehen auffallende Übereinstimmungen in der Grundbestimmung der „ethischen Freiheit”, wie dies Walther Eckstein auf sorgfältige Weise nachweist (43), in der Rückführung allen Handelns auf die unverzichtbare Grundlage der Vernunft, wodurch zum Zweck der Selbsterhaltung (des „conatus sese conservandi” bei Spinoza, des „amour de soi” bei Rousseau) nicht Schlechtem, sondern Gutem der Vorzug gegeben wird (44), Erfüllung und Bewährung jener, der menschlichen Natur eigenen Gesetzmässigkeit. Nur auf Grund dieser Freiheit, im Verneinen der innern Gesetzmässigkeit, kann Handeln böse sein. (Wohl wurde der Begriff der ethischen Freiheit schon in der Stoa entwickelt, wie Eckstein auch ausführt, und wurde explizit wieder von Rousseau aufgenommen, gehörte aber seit La Boetie über Montaigne, Descartes und Spinoza zum gemeinsamen, spezifischen Gedankengut der Aufklärung.)
Was bei Eckstein unbesprochen bleibt, ist die wichtige Differenz in der Ausübung ethischer Freiheit als Gemeinschaftssinn, als Verantwortlichkeit für das politische Ganze. Während sie bei Spinoza als Einstimmung in die „mens una” Verwirklichung der vernünftigen Natur bedeutet, hat bei Rousseau das Eingehen der „volonte particulière” in die „volonte générale ” weniger den Charakter der Verwirklichung, als den der Verwandlung der menschlichen Natur(45). Auch ist die Erfüllung des „Vertragszwecks”, die Sicherung des gesellschaftlichen Friedens und damit das Wohlbefinden des Einzelnen, bei Spinoza in einer Verbindung von widerspruchstoleranter Humanität und Staatlichkeit gewährleistet, bei Rousseau jedoch durch die Verknüpfung mit einer widerspruchsintoleranten „religion civile”, einer Staatsreligion, nationalistisch reduziert (46) und im eigentlichen Sinn totalitär präjudiziert. Denn was bleibt von der ethischen Freiheit übrig, wenn in Fragen der geistigen Grundlagen des Staates keine Gedanken und Redefreiheit gewährleistet ist, wenn diesbezügliche Meinungen als rechenschaftsabhängig erklärt werden, wenn bei Abweichung Exil und bei „geheuchelter” Übereinstimmung der Tod droht? Bei Spinoza heisst es, dass „darum also eine Regierung als Gewaltherrschaft angesehen wird, wenn sie sich auf die Geister ausdehnt”(47). Das Spinozanische Verdikt gilt auch für den Rousseau’schen Entwurf, dessen revolutionär ansteckender Impetus zwar freiheitlich begründet, jedoch durch kalvinistischen Rigorismus unheilvoll belastet ist. Hat nicht leider bis in die Gegenwart jede Gewaltherrschaft zwar revolutionär begonnen, mit dem missbräuch lichen Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie auf ihrem Banner, um sich alsbald durch ihren Übergriff auf die Gedanken und Urteilsfreiheit und die Unterbindung deren Äusserung in Rede und Presse zu demaskieren? Und wurde nicht eine weitere Unvereinbarkeit mit dem Prinzip ethischer Freiheit, Rousseau ‘s Einführung des , “göttlich” inspirierten, genialen Legislators(48) schon mehr als einmal folgenschwerste Wirklichkeit? Wie können Stimm und Wahlfreiheit als politische Grundrechte erklärt werden, ohne dass diese in der ethischen Freiheit als gesetzgeberischer Vernunft verankert sind? Denn Freiheit, die für den Menschen als Menschen zwar anerkannt, für den Menschen als aktiven und mitverantwortlichen Teil des Staatsganzen nicht anerkannt ist, ist keine Freiheit. Hier geht es zweifellos um die wesentliche Bestimmung des Menschen als Individuum und als Gemeinschaftswesen. ,,Unglückselig ist der Staat” schreibt Moses Mendelssohn nur gute zwanzig Jahre nach Rousseau ‘s „Contrat social “(49), ,,der sich gestehen muss, dass ihm die wesentliche Bestimmung des Menschen mit der wesentlichen des Bürgers nicht harmonieren” … Denn „wenn die Freiheit des Menschen, seine Meinung zu sagen, eingeschränkt werden soll, so muss die eiserne Macht es thun, nicht die Vemunft”(50).
Dass im Fall eines Konflikts zwischen staatlicher Raison und menschlicher Freiheit die Freiheit siegen muss, steht gerade für Mendelssohn unbezweifelbar fest. Dieser Grundsatz steht in keinem Gegensatz zu jenem andern von der Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten, an welche der Einzelne wie das politische Ganze gebunden ist. Er steht jedoch in engem Zusammenhang mit der von Jaspers gestellten Frage nach der „Grenze des Mangels an Gegenseitig keit” (51). Von der Seite des einzelnen Menschen her ist die Frage schwer beantwortbar, ist doch sein Denken und Handeln immer ein Suchen, dem Werden unterworfen und selbst im Irren vielleicht noch gerechtfertigt, solange es in Übereinstimmung mit dem Mass an eigenem Wissen ist. Und dieses ist in der Zeitfolge des Lebens sehr verschieden.
Das gerechteste, wenn auch nicht für alle Fälle und Situationen richtige Kriterium liefert Kant durch den uneingeschränkten, jedoch kritischen Vernunftrekurs, sowohl in dem, was als Verallgemeine rungsfähigkeit, als gesetzesträchtige Vorbildlichkeit des einzelnen Handelns (in der Absicht und in den Folgen) die Bedeutung des „moralischen Gesetzes” als „kategorischen Imperativ” auch und vor allem im gesellschaftlichen Zusammenhang hat, als auch in der unmissverständlichen Unterscheidung von Mittel und Zweck(52). Und da der Mensch nie Mittel sein soll, sondern immer Zweck ist, ist die Frage nach den Rechten und Pflichten des Staates leichter zu beantworten. Die „Grenze des Mangels an Gegenseitigkeit” ist da erreicht, wo er sich selbst zum Zweck und den Menschen zum Mittel macht, d. h. wo der Mensch, statt aktives Subjekt des Staates zu sein, zum Objekt staatlicher Macht degradiert wird. Bei Mendelssohn findet sich der Grundsatz aufs deutlichste formuliert: ,,Der Endzweck ist nicht Fortgang der Gesellschaft, sondern Fortgang des Menschen “(53).
Dieser Grundsatz mag als zuverlässigstes Richtmass gelten für die Beurteilung staatlichen Handelns. Mag ein Grund für die Kluft, die sich zwischen dem Staat und einem Teil der Gesellschaft heute auftut der Jugend als dem machtlosesten Teil, dessen Macht nur darin liegt, dass er die Zukunft des Staates verkörpert nicht aus dem Empfinden herrühren, gerade dieser Grundsatz sei verletzt, der Staat und seine Organe verfügten über den Menschen, engten ihn durch zunehmende Reglementierung zu einem passiven Instrument einer selbstzweckgewordenen Ordnung ein? Gewiss kann gerade die Majorisierungserfahrung des demokratischen Alltags den Eindruck er wecken, der Einzelne und sein politischer Wille zählten im staatlichen Entscheidungsprozess nichts, was Kant zur Bemerkung veranlasst, „unter den drei Staatsformen (sei) die Demokratie, im eigentlichen Verstande des Wortes, notwendig ein Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht einstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschliessen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist”(54).
Dieser Widerspruch ist jedoch auf notwendige Weise mit jeder freiheitlichen Gesellschaft verbunden und solange tragbar, als auch das Widerstandsrecht gegen den Staat als ultima ratio politischer Meinungsäusserung gewährleistet ist. Hierin bestätigt sich letztlich die Unterscheidung von Mittel und Zweck, hier beweist sich die Trag fähigkeit politischer Vernunft in der Praxis. Und gerade hier ist Kant zweideutig. Aus der Definition des öffentlichen Gesetzes folgert er, ,,dass alle Widergesetzlichkeit gegen die oberste gesetzgebende Gewalt, alle Aufwiegelung, um Unzufriedenheit der Untertanen tätlich werden zu lassen, aller Aufstand, der in Rebellion ausbricht, das höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen ist; weil es dessen Grundfeste zerstört. Und dieses Gebot ist unbedingt, so dass, es mag auch jene Macht oder ihr Agent, das Staatsoberhaupt, sogar den urspriinglichen Vertrag verletzt und sich dadurch des Rechts, Gesetzgeber zu sein, nach dem Begriff des Untertans, verlustig gemacht haben, indem sie die Regierung bevollmächtigt, durchaus gewalttätig (tyrannisch) zu verfahren, dennoch dem Untertan kein Widerstand, als Gegengewalt, erlaubt bleibt”(55). Wenn wir nun gar ,,Untertan” durch „Bürger” ersetzen, so wird der untragbare Wider spruch dieses absolutistischen Ansatzes mit dem Grundsatz politischer Freiheit und Verantwortlichkeit des Einzelnen doppelt deutlich. Gewiss zwingt die Regel freiheitlicher Gesellschaft, dass die Freiheit des Einen mit der Freiheit des Andern vereinbar sei, zu Restrik tionen in der Ausübung der Freiheit; doch dürfen diese nicht bis zur Negation der Freiheit gehen, da ja immer die Freiheit des einzelnen Menschen Zweck des Staates sein soll, nicht im Sinn eines abstrakten Individualismus, sondern im Sinn eines Wandels von ungleicher, gegenseitiger Abhängigkeit zu gleicher, gegenseitiger Verantwortlichkeit.
Hannah Arendt löst das Rätsel um die Kantische Zweideutigkeit durch den Verweis auf die Bedeutung der Urteilskraft und deren politische Anwendung, nicht indem sie den Widerspruch auflöst, sondern indem sie ihn erklärt(56). Kants Stellungnahme zur Französischen Revolution eignet sich dazu als Beispiel vortrefflich. Denn da ist einerseits seine unbestreitbare Akklamation der Revolution wie auch die Bewunderung von Sieyes für Kant, dessen Schriften er in Frankreich einführen möchte, denn „l ‘étude de cette philosophie par les Francais serait un complement de la Révolutionv”(57): und da ist andererseits Kants ebenso unmissverständliche Verurteilung der Revolution als eines mit der „Moralität” unvereinbaren Mittels und daher als „jederzeit ungerecht”(58). Hannah Arendt führt die Unvereinbarkeit dieser Aussagen auf den tieferliegenden Konflikt zwischen Handeln und Urteilen zurück, letztlich auf den unlösbaren Wider spruch im Menschen selbst, der zugleich ein verantwortlich Handeln der und ein unparteiisch Betrachtender und damit Urteilender ist. Während für den Handelnden die Massstäbe des Kategorischen Imperativs gelten (denen zufolge die Teilnahme an Revolutionen verwerflich ist), für den Urteilenden dagegen der Rückzug vom Handeln und die Sicht der Dinge aus der erweiterten Perspektive Bedingung ist (wodurch Revolutionen, im Zusammenhang ganzheitlicher Menschheitsgeschichte, als Ereignisse befürwortet werden können), geht es so und so um die conditio humana und damit um die Teilhaftigkeit in Form der vita activa des Handelns oder der vita contemplativa des urteilenden Betrachtens an der ganzen menschlichen Gemeinschaft und an der einen Erde. Insofern erweist sich gerade die Urteilskraft als eigentliches politisches Talent, als Fähigkeit zum Allgemeinen und zur Sinnfindung im widersprüchlichen Auf und Ab der von indivi duellem Denken und Wollen abhängigen Ereignisse.
Im Vergleich mit Kant drängen sich die Äusserungen eines weitem „urteilenden Betrachters” auf. Unter dem Eindruck der radikalen politischen Veränderung in Frankreich, die mit dem überwältigenden Bekenntnis zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Auseinandersetzung mit dem despotisch regierten, feudalherrschaftlichen Preussen geradezu herausfordert, stellt sich auch der junge Wilhelm von Humboldt die Frage nach dem „Zweck der ganzen Staatseinrichtung” und nach den „Schranken ihrer Wirksamkeit”(59). Die Antwort leitet er ein mit der Bestimmung des „wahren Zwecks” des Menschen, nämlich die „höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung”(60). ,,Der Staat (aber) enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem andern Endzwecke be schränke er ihre Freiheit” (61). Was hier in Spinozanischem und Mendelssohn ‘schem Geist postuliert wird, schafft die Voraussetzung für eine grosse Toleranz, innerhalb derer auch die Unvollkommenheit der Gesellschaft als Ausdruck der Freiheit gewertet wird. Dem selbst tätigen Streben gilt es vor allem, Platz einzuräumen. Analog dem Kantischen Satz, dass „man frei sein muss, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmässig bedienen zu können”(62), schreibt Humboldt, dass „durch nichts die Reife zur Freiheit in gleichem Mass befördert wird als durch die Freiheit selbst”(63). Freiheit als Form der Verwirklichung menschlicher Natur kann nicht anders als durch Freiheit begründet werden, in transzendentaler Weise und zugleich als Notwendigkeit. ,,So ist es also das Prinzip der Notwendigkeit, zu welchem alle in diesem Aufsatz vorgetragenen Ideen wie zu ihrem letzten Ziel hinstreben” … Denn „kein anderes Prinzip (ist) mit der Ehrfurcht für die Individualität selbsttätiger Wesen und der aus dieser Ehrfurcht entspringenden Sorgfalt für die Freiheit so vereinbar als eben dieses. Endlich ist es das einzige untrügliche Mittel, den Geset zen Macht und Ansehen zu verschaffen, sie allein aus diesem Prinzip entstehen zu lassen “(64).
Humboldt begründet die individuelle Freiheit und den Staat als Beschützer dieser Freiheit in der gleichen Gesetzmässigkeit. Welch erstaunliche Ähnlichkeit zeigt sich hier mit dem Spinozanischen Staats-Entwurf einer dynamischen Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit (auch wenn bei Humboldt die tragende ethische Unter mauerung von Spinozas System, das selbst wiederum in einer konsequenten Ontologie verankert ist, fehlt), hier an der Schwelle zu 19. Jahrhundert, in welchem die bedeutendsten politischen Philosophien erst entstehen und die gesellschaftliche und staatliche Wirk lichkeit massgeblich verändern werden: Das gewaltige Werk Hegels und die einerseits revolutionären, andererseits restaurativen Einflüsse seiner sich nach Links und Rechts aufsplitternden Schüler(65), so ins besondere Marx und sein folgenschwerer Aufruf zur Veränderung der gesellschaftlichen Praxis, so der Sozialismus als konsequenteste Ausformung des Prinzips der Gegenseitigkeit mit Proudhon, der es vom Anarchismus her und Cohen, der es auf dem Boden des Neukantianis mus und der Nächstenliebe zu verwirklichen suchen. Vor allem wird dieses Jahrhundert geprägt sein durch den Kampf um die Fixierung und Legalisierung der revolutionären Erfolge, durch den Kampf um die moderne Verfassungsidee, wie sie seit der ersten amerikanischen Verfassung von 1787 auf den Prinzipien der Freiheitsrechte, der Gewaltentrennung und der Herrschaft der Gesetze ausgebildet wurde, der grosse, allgemein verbindliche Versuch einer lebensfähigen Verbindung der Widersprüche.
Deutlichster Ausdruck der Verbindung von Freiheit und Gemeinschaftssinn auf der Verfassungsstufe ist zweifellos das „pouvoir constituant”, welches dem Volk (bei Sieyes verstanden als der „Tiers Etat”) und damit jedem einzelnen Menschen, sofern er Teil und Glied des Volkes ist, als (gesetzgeberische) Vernunft „unveräusserlich innewohnt’tv”. Die übergeordnete Idee ist die Idee der allseitigen Verantwortlichkeit, die sich als Aufteilung der Staatsgewalt verwirklicht (nicht aber als Aufteilung der Souveränität, wie Jellinek betont, da Souveränität ja die „Fähigkeit ausschliesslicher rechtlicher Selbstbestimmung” meint, als deren lediglich inhaltliche Bestimmung die Staatsgewalt zu verstehen ist) 67, eine Idee, die Hobbes noch als „aufrührerisch”(68) bezeichnete, da sie zur Auflösung des Staates führe. In der Tat aber war sie nicht gegen den Staat gemeinhin, sondern gegen den absolutistischen Staat gerichtet und gegen die Bestimmung der Staatsordnung „von oben”. Der von Montesquieu 1748 im „Esprit des Lais” formulierte Kernsatz, dass „il faut que, par la disposition des choses, le pouvoir arête le pouvoir” gewann seine Sprengkraft zweifellos erst durch die von Sieyes formulierte, Spino zanisch und Kantisch beeinflusste Bestimmung der Staatsordnung ,,von unten”.
Wenn man bedenkt, dass es 1820 auf der ganzen Welt erst drei Republiken (Schweiz, USA und Haiti) und drei konstitutionelle Monarchien (England, Frankreich und Holland) gab, so wird deutlich, dass die kurze Zeitspanne seither nur die Gedrängtheit und Heftigkeit der gesellschaftlichen und staatspolitischen Bewegung zeigen kann und kein Urteil über die Überlebensfähigkeit der politischen Vernunft im Kampf gegen die totalitäre und damit gemeinschaftszer störende Widervernunft zulässt ausser man versetzt den Gedanken der Freiheit und damit der Begrenzung der Staatsgewalt über alle Jahrhunderte an ihren Anfang zurück, nach Israel und Griechenland, die das geistige Patrimonium Europas bis zum heutigen Tag geprägt haben. Wählt man so die grosse historische Perspektive die Perspektive des „Betrachters” im Sinn von Pythagoras und Kant , so treten aus dem Dickicht der Ereignisse die Parallelen hervor: Die biblische Linie einerseits mit der Lehre von der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen, welche als letzte Begründung jeder tragfähigen Ethik das Postulat von Gleichheit und Brüderlichkeit selbstverständlich macht; und die politische Linie andererseits, welche von der Grabrede des Perikles zu Ehren der im Peloponnesischen Krieg gefallenen Athener, in der er die Vorzüge der athenischen Demokratie gegen Sparta dadurch aufweist, dass dieser Staat nicht den ganzen Menschen beanspruche, sondern ihm die Freiheit lasse, sein Leben nach seinem Gutdünken einzurichten und ausserdem aktiv an der Gestaltung der politischen Gemeinschaft teilzunehmen (69), von dieser Rede zu derjenigen Abraham Lincolns mehr als 2000 Jahre später 1863 auf dem grossen Friedhof von Gettysburg, wo die Gefallenen dieser Schlacht, einer der mörderischsten im Amerikanischen Bürgerkrieg, bestattet wurden und in der er an die unvollendete Aufgabe der Freiheit erinnerte, ,,dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk nicht von dieser Erde verschwinde”(70), über die Verlesung eben dieser Rede durch den Sprecher eines ungarischen Freiheitssenders, am 4. November 1956 (71) mitten zwischen verzweifelten Appellen um Hilfe und knappen Berichten über das Vorrücken der russischen Truppen, bis zur Rede Churchills (am 14. Mai 1940), dass sich der Kampf für die Freiheit lohne, auch wenn er lange währe, ja dass er mit Zuversicht erfüllen müsse wegen der allgemeinen Bereitschaft, ,,alles zu wagen, alles zu ertragen und alles durchzusetzen” und weil, wie er zu Beginn der Rede sagt, ,,niemals sich die Welt Hitlers Evangelium des Hasses, der Begehrlichkeit und der Tyrannei unterwerfen werde”(72).
In der Verachtung des Menschen als Menschen, wie sie sich als „Hass, Begehrlichkeit und Tyrannei” gegen Geist und Leben, gegen Sein und Haben wendet, liegt der unannehmbare Widerspruch. Wie ist ihm zu begegnen? Durch Kampf, nach Churchill, Durch Dialogik, die in Vertrauen gründet und in Vertrauen mündet, nach Goldschmidt. Durch ein „Wagnis” scheinbarer Nüchternheit die Berufung auf die Pflicht, nach Simone Weil. Ihr Ansatz, soweit er in diesem Kontext relevant ist, soll im folgenden vorgestellt werden:
Menschliche Würde aus dem Vorrang der Pflicht über das Recht: Simone Weil
1943, wenige Monate vor ihrem Tod, entsteht im Londoner Exil ,,L’enracinement”, ein Buch, das Simone Weil im Dienst der französischen Exilregierung schreibt und das sie selbst als „Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain” (73) bezeichnet.
Nachdem sie in den knappen zehn Jahren, in denen sich ihr philosophisches Werk entwickelt (weniger im Rückzug von der Welt als in der engagierten und kritischen Teilnahme an der drückenden sozialen und politischen Wirklichkeit), ihr Streben darauf gerichtet hat, die durch die Erfahrung als unausweichlich und damit als notwendig erwiesenen Widersprüche sowohl innerhalb des einzelnen Menschen wie innerhalb der menschlichen und staatlichen Gemeinschaft in ihrem Wahrheitsgehalt zu erfassen, existentiell durchzusetzen und denkerisch zu transzendieren, entwirft sie zum Schluss das Modell einer menschenwürdigen Gesellschaft.
Dieser Entwurf steht nicht nur deutlich in der Spinozanischen Tradition; er geht auch in mancher Hinsicht Goldschmidts „Dialogik” entgegen, auf andern, manchmal widersprüchlichen Wegen, je doch dem gleichen Ziel zu.
Angesichts der Erfahrung der Fragilität zwischenmenschlicher und staatlicher Gegenseitigkeit durch die totalitäre Umkehrung von Zweck und Mittelsetzung, deren Folgen, auch bei staatlichem Handeln, immer auf besinnungsloser (oder bewusster und kalkulierter) Unmenschlichkeit, auf dem Verrat des Menschen am Menschen beruhen, gelangt Simone Weil zu einer neuen Bestimmung der menschlichen Würde auf Grund der allseitigen Beachtung urspriinglicher Verbindlichkeit.
,,La notion d’obligation prime celle de droit qui lui est subordonnée et relative”?”. Im ersten Satz, der das Werk einleitet, wird der Grundgedanke zusammengefasst: Recht und Pflicht sind nicht einfach komplementäre Begriffe. Die Pflicht hat den Vorrang vor dem Recht, weil das Recht der Anerkennung durch Andere bedarf, Pflichten aber mit dem Menschsein gegeben sind. Wäre der Mensch ganz allein, so könnte er keine Rechte geltend machen, hätte aber Pflichten sich selbst gegenüber zu erfüllen.
Die Erfüllung der Pflicht ist Bestätigung der Erkenntnisfähigkeit und Freiheit.
Dass der Mensch Rechte hat, ist die Folge seiner Bedürftigkeit. Die Rechte haben wohl grundsätzliche Bedeutung, jedoch nur in Funk tion ihrer Anerkennung. Ihre Legitimität misst sich an der Allgemein heit der Bedürfnisse, die ihnen zugrundeliegen. Ihre Verwirklichung hängt davon ab, in welchem Mass Verbindlichkeit wahrgenommen wird.
Wird im oben zitierten Satz „obligation” mit „Pflicht” übersetzt, so ist der Satz einfache Handlungsanweisung in der Begegnung von Mensch und Mit-Mensch, von Mensch und Gesellschaft; wird „obligation” jedoch in der ursprünglichen Sinngebung als „ Verbindlichkeit” verstanden, so gewinnt er bezüglich der ersten Bedeutung begründenden Gehalt: Bedingung der Möglichkeit von Rechten und Pflichten ist die Verbindlichkeit, welche ihrerseits in der Bedürftigkeit des Menschseins begründet ist. Das, worauf sich die Verbindlichkeit richtet, das „Objekt” der Verbindlichkeit, ist allein der Mensch, der jedoch zugleich Subjekt der gleichen Verbindlichkeit ist(75). Zwar ist der Grund der Verbindlichkeit die „destinée éternelle”(76) des Menschen, gleiche Zugehörigkeit eines jeden zum einen vollkommenen Sein (im spinozanischen Sinn), auf das hin sich das Menschsein verwirklicht; der „Ort” der Erfüllung der Verbindlichkeit aber ist die Zeit dieser Verwirklichung, ist die existentielle, irdische Bedürftigkeit. ,,L’obligation n ‘est accomplie que si le respect est effectivement exprimé, d’une manière réelle et non fictive; il ne peut l’être que par l’intermediaire des besoins terrestres de l’homme”(77).
Was Simone Weil hier als oberste Norm praktischer Ethik begründet, ist nichts anderes als das Gebot der Nächstenliebe. So und so ist das Mensch-Gott-Verhältnis die meta-ethische Begründung.
Was aber versteht sie unter der Bedürftigkeit des Menschen?
In der Bedürftigkeit drückt sich eine Haltung der Erwartung aus, nicht ins Ungefähre und Unbestimmte hinein, sondern an den je nächsten Menschen; nicht bei besondern Gelegenheiten, sondern all täglich und immer. Nie ist die Erwartung zu Ende; sie zeigt sich in immer neuen Ausbildungen. Alle diese Ausbildungen haben eine gemeinsame Eigenart: die des Anspruchs im ursprünglichen Sinn, im Sinn von Ansprechen, von Anfragen. Der Angesprochene ist immer der dem Bedürftigen zunächst Verbundene. Er wird auf eine Antwort hin angesprochen. Er wird in die Pflicht genommen als einer, der zu antworten hat. Er steht in dieser Verantwortlichkeit drin nicht auf Grund besonderer Umstände, sondern auf Grund seiner immer schon bestehenden Mit-Menschlichkeit. Als Mensch ist er ein Bedürftiger, als Mit-Mensch ein Angesprochener. Er kann sich dem einzelnen Anspruch verschliessen oder öffnen; sein Verhalten und Handeln hat allein mit Freiheit zu tun. Dass er aber in der Verantwortlichkeit drin steht, dessen kann er sich nicht entziehen; denn das Verhältnis von Bedürftigkeit und Verbindlichkeit, aus welchem die Verantwortlichkeit erwächst, ist unaufhebbar,
Das Mit-Mensch-Sein ist ebenso final wie das Mensch-Sein selbst. Wenn dieses sich als Prozess der Widersprüchlichkeit von existentieller Notwendigkeit und in Freiheit gegründetem Verlangen nach Erkenntnis zeigt, so zeigt sich jenes in der aus der Bedrüftigkeit erwachsenden Erwartung, als nie verstummendes Ansprechen des andern Menschen. Der eine Mensch ist da, damit der andere ihn sehe, damit er ihn höre, damit er auf ihn achte, damit er ihn achte. Einen Menschen achten heisst praktisch nichts anderes als auf seine Bedürftigkeit, die sich als Anspruch zeigt, antworten. Das kann in der Art und Weise vieles sein: dass er genährt werde, wenn er hungrig ist, dass er bekleidet und gegen die Kälte geschützt werde, wenn ihn friert, dass seine Schmerzen gelindert werden, dass ihm Schlaf und Erholung gewährt werden. Nicht die Besonderheit von Ernährung, Kleidung, Pflege usw. sind bedeutsam, sondern die Tatsache deren Gewährung als selbstverständliche Antwort, nicht als zusätzliche Leistung.
Mit derselben Dringlichkeit gelten die verborgenen Bedürfnisse der Seele, ,,les besoins qui sont à la vie de I’âme ce que sont pour la vie du corps les besoins de nourriture, de sommeil et de chaleur”(78), wiederum nicht die willkürlichen und nur je besondern Wünsche und „caprices”, sondern die wirklichen Bedürfnisse, deren Erfüllung oder Nicht-Erfüllung die Würde oder die grundsätzliche Verletzung des Mensch-Seins ausmachen.
Aus dem Nicht-Wissen, ob der aus der Bedürftigkeit erwachsende Anspruch Antwort findet (da diese ja allein aus Freiheit erfolgt), entstehen Verunsicherung und Angst. Deren Ausmass wächst einerseits im Mass der eigenen Verweigerung dem Verhältnis von Verbindlichkeit und Bedürftigkeit gegenüber, d. h. im Mass der eigenen Verneinung der zu gebenden Antwort, andererseits im Mass der vom andern Menschen erfahrenen Verweigerung der Antwort. Verunsicherung und Angst können nur durch Zustimmung aufgehoben wer den. Zustimmung ist die dem Mensch-Sein und dem Mit-Mensch-Sein gerechte Äusserung der Freiheit. Sie zeigt sich als Bereitschaft bezüg lich der eigenen Verantwortlichkeit und als Vertrauen bezüglich der Verantwortlichkeit des Andern.
Bereitschaft und Vertrauen kennzeichnen das in Freiheit bejahte Mensch-Sein, d. h. Bejahung des immer gleichen Verhältnisses von Verbindlichkeit und Bedürftigkeit in der endlosen Vielzahl menschlicher Situationen. In dieser Bejahung findet die Ausrichtung auf das Göttliche im Menschen, auf die „destinée éternelle “, seine existenzgemässe, irdische Verwirklichung und damit seine Bestätigung.
Wenn die Erfüllung der grundsätzlichen Verbindlichkeit einerseits nach den besondern Bedingungen, in denen die Menschen zueinander stehen und nach denen sie einander begegnen, auf direkte oder auf indirekte Weise geschieht, so findet sie andererseits eine mehr oder weniger entsprechende Formulierung im positiven Recht, dessen Legitimität sich gerade nach dem Mass der Übereinstimmung mit der grundsätzlichen Verbindlichkeit beurteilen lässt. Während diese nie aufhebbar ist, können sich die davon abgeleiteten Pflichten, ob sie kodifiziert seien oder nicht, unter Umständen als widersprüchlich und als untereinander unvereinbar erweisen, so dass ein Mensch sich gezwungen sieht, auch im Bewusstsein der grundsätzlichen Verbindlichkeit die Erfüllung der einen Pflicht einer andern wegen zu vernachlässigen. Die Vernachlässigung der einen Pflicht stellt kein „Vergehen” dar, wenn sie angesichts der Pflichtenkollision zwar aufgegeben, aber nicht verneint wird.
Bezüglich der zu erfüllenden Pflicht gibt es bei Simone Weil keine explizite „Vorrangregel”, doch ist anzunehmen, dass, in Analogie zu Ethiksystemen, in denen die Priorität des höhern Rechts gilt (respektive die „umfangreichere” Freiheit), das niedrigere Bedürfnis dem höhern zu weichen hat, d. h. jene Pflicht zu erfüllen ist, die einem höhern Bedürfnis entspricht. Ein zwischenmenschliches Verhältnis oder eine Gesellschaftsordnung sind je vollkommener, je weniger Pflichtenkollisionen dieser Art sich ergeben, d. h. je mehr auch widersprüchliche Bedürfnisse nebeneinander bestehen können. Auch misst sich wahrer Fortschritt am Mass der zunehmenden Entsprechung von menschlichem Zusammenleben, von rechtlicher und öffentlicher Praxis mit dem Gehalt der grundsätzlichen Verbindlichkeit.
Auf jeden Fall rekurriert Simone Weil auf den Vorrang der Verantwortlichkeit des einen Menschen dem andern gegenüber, nie Gruppen gegenüber. Die Pflichten gegenüber Gruppen (oder Gemeinschaften) werden zwar nicht geleugnet; sie gelten jedoch auf indirekte Weise, sofern deren Erhaltung und Respektierung einem Grundbedürfnis des einzelnen Menschen entspricht, weil sie unersetzbare und zeitübergreifende Orte der Beheimatung sind. ,,On doit du respect à une collectivité, quelle qu’elle soit patrie, famille ou autre, non pas pour elle-même, mais comme nourriture d’un certain nombre d’âmes humaines”(79). Nie aber hat die Pflicht der Gemeinschaft gegenüber den Vorrang vor der Pflicht dem einzelnen Menschen gegenüber. Fehlt der Gemeinschaft gar die Vereinbarkeit mit dem Sinn der ursprünglichen Verbindlichkeit, so fehlt ihr auch die Legitimität jeglichen Anspruchs auf Pflichterfüllung ihr gegenüber. Hier ist das Widerstandsrecht deutlich verankert: gegen den illegitimen Machtanspruch und Machtgebrauch von Gesellschaft und Staat, gegen die Auswüchse der Gemeinschaft zum Kollektiv, zur „grosse Bête”.
Diese kritische, auf Freiheit gegründete Haltung muss bedacht werden, wenn neben den äusserlichen, so ungleichen und vielschichtigen Bedingungen, welche die konkreten Bedürfnisse des Alltags entstehen lassen, die innern Bedingungen der Gleichheit auf die Bedürfnisse der Seele hin befragt werden und wenn dann scheinbar paradoxerweise das Bedürfnis nach Ordnung an erster Stelle genannt wird. Auch hier drängt sich der Vergleich mit Spinoza auf, ist doch Simone Weils Leitbild die gesetzgewordene Vollkommenheit des Kosmos ,,l’exemple de l’univers, ou une infinité d’actions mécaniques independantes concourent pour constituer un ordre qui, à travers les variations, reste fixe”(80). So ist das Bedürfnis nach Ordnung Ausdruck des Verlangens, es möge in den zwischenmenschlichen Belangen, ob sie sich in einer grössern oder kleinem Gemeinschaft oder im Staat realisieren, ein der kosmischen Ordnung analoges Gleichgewicht der Kräfte herrschen, welches alle unumgänglichen Widersprüche auszuhalten in der Lage ist, wo auch den untergeordneten Bedürfnissen und den davon abgeleiteten Pflichten der ihnen gemässe Platz zukommt; eine Gesellschaftsordnung, welche in erster Linie dem Menschen in seiner Mit-Menschlichkeit gerecht wird und nicht den Machterfordernissen von Staat und Wirtschaft. Dieses Bedürfnis ist so unverfälschbar, dass es verhindert, dass sich die Menschen auf die Länge mit einer Scheinordnung abfinden können, in welcher die wirklichen, die zwischenmenschlichen Pflichten nicht erfüllt werden können.
Auch die weitem Grundbedürfnisse tragen den Stempel der Widersprüchlichkeit, sind jedoch mit dem Bedürfnis nach Ordnung, wie Simone Weil es versteht, vereinbar: so das Bedürfnis nach Freiheit und, komplementär dazu, das Bedürfnis nach Gehorsam (aus der Ver bindung von Erkenntnis und Freiheit).
Die Tragik der Menschheitsgeschichte besteht in der Missdeutung und in der verbrecherischen Ausnützung des Bedürfnisses nach Gehorsam, in dessen freiwilligen oder unfreiwilligen Kompensation durch Versklavung. Simone Weils Warnung vor dem Totalitarismus dessen ideologische und politische Entstehung im nationalsozialistischen Deutschland sie als wache Beobachterin miterlebt hat, von dessen sowjetrussischer Ausformung sie sich, trotz ihres frühen marxistischen Engagements, von Anfang an abgesetzt hat, ist heute ebenso aktuell wie im Vorfeld und während des Krieges. Denn ganz im Sinn von La Boétie und Spinoza versteht sie die eigentliche „Knechtschaft” als ein Phänomen der Innerlichkeit, als selbst verantwortlichen Verlust der Freiheit, ob aus mangelnder Aufmerksamkeit oder im Wissen um Bedeutung und Folgen des Entscheids. Sie ist nicht nur das Ergebnis politischer Verführung, sondern beruht auf einer grundsätzlichen Verfälschung der Hierarchie von Zweck und Mitteln bezüglich Mensch, Gesellschaft und Staat. Die materialistischen Konsum und Erfolgsstrukturen der heutigen Zeit mit ihrem ausschliesslich gewinnorientierten Propaganda-Apparat, dessen Leitbildern sich ganze Bevölkerungen mit erschreckender Kritiklosigkeit unterwerfen, enthalten ebenso sehr die Gefahr latenter Versklavung wie die wirtschaftliche und politische Not der frühen Dreissiger Jahre.
Die weitem Grundbedürfnisse, die Simone Weil namhaft macht, lassen sich alle unter die Dichotomie von Freiheit und Notwendigkeit, von Freiheit und Gemeinschaftssinn ordnen: das Bedürfnis nach eigener Initiative und nach konkreter Verantwortung in der Arbeit, von dessen Erfüllung in starkem Mass das Selbstwertgefühl abhängt, dessen Verlust bei Arbeitslosen weder durch Versicherungsleistungen noch durch Entschädigungen wettgemacht werden kann, sondern allein durch Arbeit; das Bedürfnis nach Gleichheit, nicht in den Lebensbedingungen, sondern im Mass und in der Selbstverständlichkeit bezeugter Achtung, ob es sich um Erfolgreiche und Anerkannte handle oder um Erfolglose und „Fremde”; das Bedürfnis nach gerechter Strafe, die das zerrissene Netzwerk menschlicher Beziehungen wieder neu zu knüpfen erlaubt; das Bedürfnis nach Meinungsfreiheit als Bedürfnis der tätigen Intelligenz, dessen Missbrauch im Dienst von Propaganda und Lügen jedoch wie jedes andere Vergehen zu ahnden ist. Was vorausgeht, von Simone Weil seltsamerweise nicht erwähnt, ist das Bedürfnis nach Sprache und Gespräch, das in Hermann Levin Goldschmidts Philosophie einen so wichtigen Platz einnimmt und auf welchen noch einzugehen ist. Unerwähnt bleibt auch das Bedürfnis nach Öffentlichkeit, nach Veröffentlichung, dessen Erfüllung nur den wenigsten gewährt wird.
Unübersehbar ist dagegen das Bedürfnis nach Sicherheit, die nicht erstickt, die Raum lässt für Herausforderung und Wagnis, die nichts mit Absicherung zu tun hat, sondern mit Sorglosigkeit, entsprechend der ethymologischen Bedeutung von „sécurite”. Diese Sicherheit beruht allein auf dem Wissen um die tragende Kraft der Verbindlichkeit. Sie ist, was im ursprünglichen Sinn Glaube sein sollte: Beheimatung im Vertrauen.
Simone Weils ganzes Denken ist geprägt von der Sorge um die Entwurzelung des Menschen, um seine Unfähigkeit, die Widersprüche seines Daseins anzunehmen. Was als „Beheimatung” Ziel des Strebens ist, was als umfassendes Bedürfnis an erster Stelle steht, das Bedürfnis nach Ordnung, mündet schliesslich in die Überwindung aller Entwurzelung ein, in „l’enracinement”, Einwurzelung im menschlichen und göttlichen Ganzen.
Nicht nur der Kreis der Grundbedürfnisse schliesst sich damit und nicht nur der Kreis von Simone Weils praktischer Philosophie, son dern auch der Kreis der Betrachtung, der von der aktuellen Fragestellung aus über die grossen Denker wieder zur Aktualität zurückkehrt. Versagt die Zeit, versagt die Gesellschaft nicht am Menschen, und der Mensch am Menschen, weil statt auf das Grundnetz von Bedürftigkeit und Verbindlichkeit ausschliesslich auf Rechte rekurriert wird? Rechte sind starr und ungenügend präzis, ein Minimum zwischen Praktikabilität und Wunschdenken, lassen ausser Acht, dass der Mensch immer schon verantwortlich ist für den nächsten Menschen und dass er immer schon aufgehoben ist beim nächsten Menschen. Dass in diesem unlösbaren Miteinander das Verhalten zwischen Menschen zu einem Tun des Guten werden könnte, da ja die Motivation dazu aus der Bedürftigkeit jedes Einzelnen abgeleitet werden kann, ist, wie jede echte Hoffnung, auf der Vernünftigkeit der Freiheit gegründet. Nur so, im Sinn der Weil’schen Verbindlichkeit und im Wissen um die Unverzichtbarkeit des Du für das Ich, im Sinn der Goldschmidt’schen Dialogik, ist Zukunft heute noch denkbar: als ,,tägliche Arbeit auf dieser Erde” (81) .
Offenheit und Prägung zum Mensch sein: Hermann Levin Goldschmidts Dialogik
Als Teil einer „neuen” Philosophie stellt 1948 Hermann Levin Goldschmidt seine „Philosophie als Dialogik” vor, als Absage an die Einseitigkeit und Ausschliesslichkeit eingrenzender Abhängigkeit von einem Zentrum im Denk und Daseinsbezug. Gegenseitig sind die Menschen untereinander und voneinander abhängig, und in der Allseitigkeit und Gleichzeitigkeit dieses Bezuges erfahren sie sich selbst als Individuen und als Gemeinschaft, als Zeit und als Geschichte auf dieser Erde, die selbst nur wieder Teil in der gleichgewichtigen Bezugs und Abhängigkeitsdynamik des Alls ist. Der in seiner Wirklichkeit einzeln wahrgenommene und ernstgenommene Bezug bestätigt das wahrnehmende Ich immer schon als angesprochenes Du, doch nie konstituiert sich ein Du, das nicht selbst ansprechendes Ich ist; wechselseitig sind die Menschen zugleich Bezugsausgang und Bezugsziel, im dialogischen Austausch, der das Menschsein prägt. Goldschmidt sei bst erarbeitet die Geschichte dieses „neuen” Denkens, das mit Feuerbachs „Grundsätzen der Philosophie der Zukunft” von 1843 als Reaktion auf die Monologik von Hegels „absolu tem Geist” seinen Anfang nimmt und das mit Hermann Cohens Alterswerk, in welchem die „Zuwendung” als der immer wieder einzeln relevante Bezug zum „Nächsten” im Mittelpunkt steht und mit Kierkegaards Ringen um den in jedem Menschen dem Gespräch widerstrebenden und doch das Gespräch fordernden letztlich göttlichen Gesprächspartner sich fortsetzt; vorher Julius Bahnsen, dann Wilhelm Dilthey, Ferdinand Ebner, Hans Ehrenberg, Max Scheler, dann Martin Buber, Gogarten, Grisebach, Guardini eine Reihe von Denkern, welche die Unfruchtbarkeit der Monologik erkennen und aus ihr hinauszuführen suchen, häufig jedoch einen Weg neuer, meist theologischer Einseitigkeit weisen (82).
Hermann Levin Goldschmidts Bestreben aber, in seinem ganzen menschlichen und philosophischen Wirken, geht darauf aus, weder Einseitigkeit noch Missbrauch des als richtig erkannten Prinzips aufkommen zu lassen, weder Verabsolutisierung noch Dialogismus(83), sondern dem Menschen ein von allen „ismen” freies, wohnliches Haus zu bauen, das zugleich „aufgeräumt” ist und offen (84), das damit aber auch eingezäunten und schützenden Raum darstellt für die Begegnung zwischen Mensch und Mensch, für die Ergänzung der Menschen untereinander, die gerade wegen ihrer gegenseitigen Bedürftigkeit fähig sind, ein nie abgeschlossenes, lebendiges Ganzes zu bilden. Nicht von ungefähr findet sich in Goldschmidts Werken immer wieder die Stelle aus Jesus Sirach (33,15, 16; 42, 25): ,,Also schaue alle Werke des Höchsten: so sind immer zwei und zwei, und eines wider das andere geordnet, … und er hat ein jegliches geordnet, dass eins dem andern nütze sei”.
Diese nicht aufbebbare Zuordnung der Menschen zueinander, Ordnung aus der Freiheit des Menschseins, ist der Kerngedanke der Dialogik. Eine ihrer wesentlichen Ausformungen zeigt sich in der Verantwortlichkeit des Gesprächs, im Vertrauen in die Verstehbarkeit und Aussagefähigkeit der Sprache als sinnlichem Ausdruck mitteilbarer innerer Erfahrung, im Austausch von Aufborchen, Antworten, Ansprechen und Sagen. Denn „Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat” zitiert Goldschmidt Rilke (85), im Bewusstsein der schwierigen, nur durch beständige, persönliche Anstrengung durchführbaren Aufgabe, auch dem Unsagbaren in der Sprache Raum zu schaffen, vom Missbrauch der Sprache zum wirklichen Gehalt der Worte, zur Sparsamkeit und Richtigkeit ihres Gebrauchs zurückzufinden, ,,nicht” Tod zu meinen, wenn man Leben sagt (nach Nelly Sachs). Immer ist die Sprache Gradmesser der Menschlichkeit oder des Verlusts an Menschlichkeit, und immer entspricht das Mass an Gesprächsbereitschaft der Qualität, der Glaubwürdigkeit und Tragfähigkeit der Beziehung der Menschen untereinander. Menschen, die sich dem Gespräch entziehen, die es abbrechen oder verweigern, verhalten sich „unmenschlich”, indem sie, die von Natur aus in der Mitte eines Beziehungsgefüges stehen sollten, sich an dessen Rand setzen, die Ver-Antwortung ablehnen und damit nicht nur jenen gegenüber vielfältiges Unrecht tun, die ihrer Antwort bedürfen, sondern auch sich selbst gegenüber, die in dieser Verweigerung zunehmend vereinsamen und sich verhärten. Und auch jene, die, gesprächswillig und gesprächsbedürftig, nicht angehört, sondern zurückgewiesen oder missverstanden werden, erkranken in ihrer Menschlichkeit, mehr oder weniger, je nach dem Mass des so erfahrenen Vertrauensverlustes und der ihn begleitenden Verstummung. Denn die Menschen können als Menschen nicht anders leben als in der Heimat der Sprache; sie selbst sind Sprache und Gespräch (86). Diese Tatsache gleichzeitig Bedürfnis, Freiheit und Verantwortung ist eine der wenigen, denen nicht widersprochen werden kann. Sie ist, wie es die Traurigkeit der heutigen Zustände beweist, weiter nichts als Aufgabe.
Wie ist gerade diese eindeutige Aufgabe in der Vielfalt der widersprüchlichen Aufgaben des Menschseins zu erfüllen?
Der „geheime Reichtum”
Theodor Herzl lässt in seinen „Philosophischen Erzählungen”(87) Solon erklären, ,,der geheime Sinn (seiner) Gesetze (sei) es, eine erträgliche Unzufriedenheit Aller herzustellen”, ja „die Unzufriedenheit (sei) der geheime Reichtum (seiner) Gesetze; dem Lyder König aber lässt Herzl Solon raten, den jungen Mann, der das Geheimnis besitzt, die Menschen von aller Not zu befreien, töten zu lassen.
Erstaunt liest man und sträubt sich erst zu verstehen, dass das, was vernünftig erscheint und das, was unglaublich ist, zusammengehören. Nicht von Unglück oder Not spricht Solon, sondern von der conditio humana, die unablösbar mit Glücks-Unvollkommenheit verbunden ist und die in seinem Gesetz Ausdruck findet. Nur in der Unvollkommenheit des Befindens ist die faustische Erkenntnis möglich, dass dem Menschen zwar nicht das Glück versagt ist, wohl aber das definitive Glück. Wer definitives Glück verheisst, ist ein Versucher, ein Verderber der menschlichen Natur, die nur im beständigen Hunger, nur im Streben sich verwirklicht. Saturation ist Stillstand, ist Unglück und Tod der Seele, hoffnungslose Vereinzelung. Denn wenn der Mensch sich für „gesättigt” erklärt, erklärt er sich der Bedürftigkeit ledig und löst sich damit aus dem Verbindlichkeitsnetz von Ich und Du; wenn er sich dem notwendigen, fruchtbaren Widerspruch zu entziehen versucht, setzt er sich selbst in Widerspruch zu seiner Natur, die nicht im Stillstand, sondern nur im Werden sich gerecht wird.
So unverzichtbar die Bejahung der notwendigen Widerspruche ist, so zerstörerisch sind die aus deren Verneinung erwachsenden - nicht notwendigen – Widersprüche. Sie erwachsen aus der Verneinung grundlegender Bedürfnisse und wesentlicher Eigenschaften. Durch die Verneinung fällt die Spannung zwischen den Widerspruchspolen Freiheit und Notwendigkeit, Freiheit und Gemeinschaftssinn zusammen, innerhalb derer die Entfaltung des einzelnen Menschen in der Gesellschaft und das verantwortliche Zusammenleben der Menschen als Gesellschaft nur möglich ist. Gleichzeitig wird der eine Pol zur ausschliesslichen Bezugs und Rechtfertigungsgrundlage des Handelns, wodurch er, aus dem dialogischen Zusammenhang gerissen, überansprucht und missbraucht wird.
Die Negation des Gemeinschaftssinns ist Abbruch des Dialogs, ist Rückzug auf das alleinige, monologische Ich. Die Folgen sind heute in erschreckendem Masse sichtbar: Ungeduld, Desinteresse und Intoleranz dem Nicht-Ich gegenüber; Bindungsunfähigkeit in Partnerschaft oder Familie; Abschiebung der in besonderm Mass gemeinschafts und hilfsbedürftigen Menschen, der Fremden, der Kranken, der Schwierigen, der Alten in ghettoähnliche Siedlungen, Anstalten und Asyle; politische Interesselosigkeit, innere Abwanderung in eine kommunikationslose Isolation und Abschirmung gegen jegliche Mit-Wirklichkeit durch Alkohol und Drogeneinnahme. Was bleibt ist das stumme, wechselnde Auf- und Nebeneinander in den grossen Städten, die „diffuse und unverbindliche Fremdnähe”, nach einem Wort Plessners (88), in der Vertrauen nicht aufkommen kann, Angst, Misstrauen und Menschenverachtung aber ein Klima der Kälte schaffen. Sartre ‘s Satz, die Hölle, das seien die Andern, ist aus dieser Erfahrung entstanden, aus der Erfahrung latenter und allzu häufig virulenter Misanthropie, eine, schon nach Kants Worten, ,,lange traurige Erfahrung, wovon der Hang zur Eingezogenheit, der phantastische Wunsch, auf einem entlegenen Landsitz, oder auch (bei jungen Personen) die erträumte Glückseligkeit, auf einem der übrigen Welt unbekannten Eilande, mit einer kleinen Familie, seine Lebenszeit zubringen zu können… Zeugnis gibt”; und er begründet diesen ,,Wunsch” und diesen „Hang” mit der „Falschheit, Undankbarkeit, Ungerechtigkeit, (dem) Kindischen in den von uns selbst für wichtig und gross gehaltenen Zwecken, in deren Verfolgung sich Menschen selbst (und) untereinander alle erdenklichen Übel antun”; und indem sie „mit der Idee dessen, was sie sein könnten, wenn sie wollten, so im Widerspruch stehen, … scheint die Verzichtung auf alle gesellschaftlichen Freuden nur ein kleines Opfer zu sein “(89).
Was die Menschen „sein könnten, wenn sie wollten”, verweist auf den innersten Widerspruch: auf das Tun gegen den Willen zum Guten, auf das Tun des Bösen, das immer Verneinung des tragenden Beziehungsnetzes ist, indem es für Augenblicke oder für lange das Band zum nächsten Menschen zerreisst und die furchtbare Vereinzelung der Schuld einerseits, des Leidens andererseits zu verantworten hat, das immer zum Tod hin zieht statt zum Leben. Das Tun des Bösen als ein Versagen praktischer Freiheit ist immer zuerst ein Versagen der Erkenntnisfähigkeit bezüglich der menschlichen Natur wie bezüglich der Ordnung des Ganzen. So ist das, was zuerst gestört und unterbrochen wird, der eigene Fortschritt und damit der affektive Selbstbezug, die Selbstachtung, woraus neues Böses erwächst, da das Opfer dafür für verantwortlich erklärt wird.
Vermindert, wenn schon nicht ganz überwunden, wird das Böse nur, indem es nicht getan wird, indem der Mensch, kraft seiner Freiheit, sich gegen es entscheidet, auch wenn ihm selbst Böses angetan wurde. Doch wie wird der Mensch, der selbst Urheber von Bösem ist, fähig, weiteres Böses nicht zu tun, dafür fremdes Böses zu akzeptieren? gegen den Widerstand des eigenen Ich, welches alles Erdenkliche vorkehrt, um sich Leiden zu ersparen, gegen das Misstrauen vor der eigenen Schwäche?
Es ist ein langer Prozess der Sinnfindung, der Erkenntnis einer ganzen Ordnung auch im scheinbar Sinnlosen. Dass gerade in diesem Prozess, der den innern Widerspruch des Menschen auf die Spitze treibt, Freiheit im Entscheid gegen das Zerstörerische sich als schöpferische Kraft verwirklicht, obwohl sie sich scheinbar nur als Akzeptation des Leidens zeigt, macht deutlich, dass der ursprüngliche Konflikt im Widerspruch zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Freiheit und Gemeinschaftssinn bedingt ist durch Zeit und Schuld und dass er zunehmend versöhnbar ist durch Bejahung seiner Pole.
Der Widerspruch selbst muss weder überwunden noch versöhnt, er muss akzeptiert werden. Er ist der Bogen, der das Werden zum Sein hin zieht, ist die unerfüllbare Sehnsucht nach Harmonie, ist das Leben der Seele im beständig sich neu knüpfenden Spannungsfeld von Autonomie und Gesetz, von Einzelheit und Zugehörigkeit zum Ganzen.
Wer aus diesem Spannungsfeld austritt, wer die Bejahung des notwendigen Widerspruchs ausschlägt, verkümmert in seiner Menschlichkeit. Weniger der Missbrauch als der Nicht-Gebrauch der Freiheit ist in der heutigen Gesellschaft Verhängnis und Gefahr. Anpassung aus Indifferenz lässt das politische Leben erstarren, Entscheidungsunwille aus Interesselosigkeit lähmt die persönlichen Beziehungen. Was diese Lähmung beim Einzelnen bewirkt und sich bei den Vielen auf potenzierte Weise verstärkt, ist weniger Mangel an Mut als Mangel an Vertrauen in die Möglichkeit, Zukunft sinnvoll zu gestalten.
Und doch gibt es für die Freiheit keine bessere Zeit und keine andere Zeit als die Gegenwart. Für die Freiheit gibt es keinen Aufschub, und bestände Freiheit für uns, die heute in dieser, wie Margarete Susman sie nennt, ,,gottfremden und menschenfremden” Zeit leben, nur darin, uns für den Widerspruch zur Zeit zu entschliessen. Mit diesem Entschluss mag mehr Menschlichkeit ihren Anfang nehmen. Das Setzen eines Anfangs ist Freiheit. Wenn Hermann Levin Goldschmidt den letzten Abschnitt seiner “Freiheit für den Widerspruch” mit der Forderung nach Menschen einleitet, so weil „die Menschheit nur in der Gestalt ihrer Individuen besteht. Das und allein das, was bei ihnen beginnt, hat begonnen “(90), geheimer Reichtum der Freiheit, selbst wieder widersprüchlich, da jedes Beginnen auf Dauer angelegt ist, alles Dauernde sich jedoch „neuem” Beginn (und damit der Freiheit) widersetzt, gleichzeitig aber Verwirklichung von Hoffnung verheisst.
1 Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 1970, S. 53
2 Hannah Arendt: a. a. 0.,\S. 53
3 Georges Sorel: Reflexions sur la violence, Paris 1908; Frantz Fanon, Les damnes de la terre, Paris 1961
4 Hannah Arendt: a. a. 0., S. 165
5 Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart 1955, S. 32
6 Simone Weil: L’enracinement, Paris 1949, S. 9: ,,La notion d’obligation prime celle de droit qui lui est subordonnee et relative.”
7 Vgl. den Aufsatz von Franz Borkenau: Zur Geschichte der demokratischen Ideologie, Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 13, 1933, S. 336 ff. Der Gedanke der Demokratie wird hier auf zwei unvereinbare Wurzeln zurückgeführt, auf die freiheitliche des Naturrechts und auf die herrschaftliche des Gesellschaftsvertrags.
8 Kant: Kritik der Urteilskraft, B 126 / A 124
9 Vgl. die neulich erschienene Studie Erich Gruner/Hans Peter Hertig: Der Stimmbürger und die „neue Politik”, Bern und Stuttgart 1983
10 Von Kant zitiert in „Was ist Aufklärung? “, Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. XI, A 481
11 Montesquieu: Cahiers, Paris 1941, S. 222
12 Werner Näf: Der demokratische Gedanke in der neuem Geschichte, in: Staat und Staatsgedanke, Bern 1935, S. 308
13 Etienne de la Boetie: De la servitude volontaire (Von der freiwilligen Knecht schaft), franz.deutsche Ausgabe, übersetzt und herausgegeben von Horst Günther, Frankfurt a. M. 1980, S. 4647
14 Etienne de la Boetie: a. a. 0., S. 4849
15 Etienne de la Boetie: a. a. 0., S. 9495
16 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte den Anhang in der von Horst Günther herausgegebenen La BoetieAusgabe, a. a. 0.
17 Janko Musulin: Proklamationen der Freiheit, Frankfurt a. M. 1959, S. 14
18 Baruch de Spinoza: Theologischpolitischer Traktat, hrsg. von Günter Gawlick, Hamburg 1976, S. 232
19 Walther Eckstein: Die rechtsphilosophischen Lehren Spinozas im Zusammen hang mit seiner allgemeinen Philosophie, Archiv für Rechts und Wirtschafts philosophie, Bd. 26, 19321933, S. 163
20 Theologischpolitischer Traktat, S. 301
21 Theologischpolitischer Traktat, S. 237238; S. 240
22 Theologischpolitischer Traktat, S. 304
23 Theologischpolitischer Traktat, S. 306
24 Theologischpolitischer Traktat, S. 307
25 Theologischpolitischer Traktat, S. 307. Zu den ideengeschichtlichen Lei stungen des sephardischen Judentums im Mittelalter und in der Renaissance, vgl. H. L. Goldschmidt, Der Beitrag des Judentums, in: Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, Zürich 1981 ; sodann, für die Zusammen hänge des deutschen Sprachraums, vom gleichen Autor, Das Vermächtnis des deutschen Judentums, Frankfurt a. M. 1965
26 Vgl. Edgar Zilsel: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft,
Frankfurt a. M. 1976. Auf Spinozas Verankerung im Bürgertum gründet auch die irreführende Missinterpretation des vor allem in der spinozanischen Ethik entwickelten potentiaBegriffs zur Legitimation von politischer Gewalt durch Antonio Negri, in: Die wilde Anomalie (mit dem dialektisch verfäng lichen Untertitel: Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft), Berlin 1982
27 Spinoza: Briefwechsel, 56;Brief (an Hugo Boxel), hrsg. von Manfred Walther, Hamburg 1977, S. 228: ,,Dass notwendig und frei zwei Gegensätze sind, scheint mir nicht minder unsinnig und vernunftwidrig; denn niemand kann bestreiten, dass Gott sich selbst und alles übrige frei erkennt, und doch geben alle einstimmig zu, dass Gott sich selbst notwendig erkennt. Sie scheinen mir daher zwischen Zwang oder Gewalt und Notwendigkeit keinen Unterschied zu machen. Dass der Mensch leben will, lieben usw., ist keine gezwungene Handlung und doch eine notwendige, und viel mehr, dass Gott sein, erken nen und wirken will.”
28 Spinoza: Ethik, hrsg. von Otto Baensch, Hamburg 1976, Lehrsatz 17, Folgesatz I und II; Lehrsatz 29, Anmerkung
29 Spinoza: Briefwechsel, a. a. 0., 58. Brief (an G. H. Schuller)
30 Spinoza: Briefwechsel, a. a. 0., 21. Brief (an Willem van Blyenberh)
31 Vgl.(27)
32 Spinoza: Briefwechsel, 50. Brief (an Jarig Jelles): ,,Was die Staatslehre be trifft, so besteht der Unterschied zwischen mir und Hob bes … darin, dass ich das Naturrecht immer unangetastet lasse … ”
33 Franz Borkenau: Zur Geschichte der demokratischen Ideologie, Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 13, 1933, S. 336 ff.
34 Spinoza, Theologischpolitischer Traktat, S. 54
35 Adolf Menzel: Spinoza in der deutschen Staatslehre der Gegenwart, Sehmol lers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 31. Band, 1907. Vom gleichen Autor: Sozialvertrag bei Spinoza, Zeitschrift für das privat und öffentliche Recht der Gegenwart, Band 34, 1907
36 Spinoza: Abhandlung vom Staate, Hamburg 1977, 3. Kap.,§ 4: ,,Undenkbar ist es ferner, dass es jedem Bürger frei stünde, die Beschlüsse und Gesetze des Staates zu interpretieren … § 5: ,,Daher ist der Untertan gehalten, wenn er auch die Beschlüsse des Staates unbillig findet, sie nichtsdestoweniger auszu führen.”
37 Spinoza: Abhandlung vom Staate, 3. Kap.§ 6
38 Spinoza: Theologischpolitischer Traktat, Vorrede, S. 11
39 Spinoza: Theologischpolitischer Traktat, 16. Kap., S. 236
40 Spinoza: Theologischpolitischer Traktat, 20. Kap., S. 304.
41 Spinoza: Theologischpolitischer Traktat, 20. Kap., S. 307
42 Vgl. G. Pariset: Sieyes et Spinoza, Revue de Synthese Historique, Bd. XII, S. 309 ff. Rene Worms, La morale de Spinoza; examen de ses principes et de l’influence qu’elle a exerce dans les temps modernes, Paris 1892
43 Walther Eckstein: Rousseau et Spinoza. Their political theories and their conception of ethical freedom, Journal of History of Ideas, 5. Band, JanuarOktober 1944
44 Spinoza: Abhandlung vom Staate, 2. Kap. § 7; Ethik, 4. Teil, Lehrsatz 38; Rousseau, 1. Buch
45 Die ideen und begriffsgeschichtliche Zusammenfassung der „volonte gene rale” hat Kurt Weigand im Kommentar zu seiner Obersetzung des „Contrat Social” zusammengestellt: Staat und Gesellschaft, übersetzt und kommen tiert von Kurt Weigand, München 1959, S. 145 ff.). Vgl. hier auch den von Jules Vuy Ende des letzten Jahrhunderts erbrachten erstaunlichen Nachweis einer ersten Verwirklichung des politischen Vertragsgedankens in den ,,Franchises nationales” des Genfer Erzbischofs Fabri aus dem Jahr 1387.
46 JeanJacques Rousseau: Contrat Social, 4. Buch, Kap. 8
47 Spinoza: Theologischpolitischer Traktat, 20. Kap.
48 Rousseau: Contrat Social, 2. Buch, Kap. 7
49 Der Contrat Social erschien 1762, Moses Mendelssohns Aufsatz „Was heisst aufklären?” erschien 1783 (im selben Jahr wie sein Hauptwerk „Jerusalem oder Ober religiöse Macht und Judentum), vgl. Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Stuttgart/Bad Cannstatt 1981, S. 117
50 Moses Mendelssohn: Ober die Freiheit, seine Meinung zu sagen, a. a. 0., 123
51 Karl Jaspers: Kant: Leben, Werk, Wirkung, München 1983
52 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1958, BA 52, BA 67, BA 74, 75, BA 71, BA 85, 86, BA 87
53 Moses Mendelssohn: über die beste Staatsverfassung, a. a. 0., S. 146
54 Kant: Zum Ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, a. a. 0., Bd. XI, BA 26, 27
55 Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, a. a. 0., Bd. XI, A. 255, 256
56 Hannah Arendt: Lectures on Kant’s Political Philosophy, edited and with an interpretative essay by Ronald Beiner, Chicago 1982
57 Zitiert bei Hannah Arendt (vgl. (56), S. 45
58 Kant: Über den Gemeinspruch, a. a. 0., A. 255, 256
59 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksam keit des Staates zu bestimmen, verfasst 1792, erstmals erschienen 1851; Leipzig 1945
60 Humboldt: a. a. 0., Kap. II, S. 12
61 Homboldt: a. a. 0., Kap. III, S. 43
62 Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, a. a. 0.,
Bd. VIII, Anmerkung B 292/A 275
63 Humboldt: a. a. 0., Kap. XVI, S. 195
64 Humboldt: a. a. 0., Kap. XVI, S. 201
65 Vgl. Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, München 1974
66 Vgl. G. Jellinek: Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 7. Neudruck von 1960, S.501
67 Jellinek: a. a. 0., S. 497 und 495
68 Thomas Hobbes: De cive, 6. und 7. Kapitel
69 Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, II,§§ 3741
70 Janko Musulin: a. a. 0., S. 123124
71 Janko Musulin: a. a. 0., S. 8
72 Janko Musulin: a. a. 0., S. 139 f.
73 Simone Weil: L’enracinement, Paris 1949
74 Simone Weil: L’enracinement, a. a. 0., S. 9
75 Simone Weil: L’enracinement, a. a. 0., S. 11: ,,L’objet de l’obligation, dans le domaine des choses humaines, est toujours l’etre humain comme tel. Il y a obligation envers tout etre humain, du seul fait qu’il est un etre humain, sans qu’aucune autre condition ait a intervenir et quand meme lui n’en reconnaitrait aucune.”
76 Simone Weil: L’enracinement, a. a. 0., S. 1213: ,,Le fait qu’un etre humain possede une destinee eternelle n’impose qu’une seule obligation; c’est le respect.”
77 Simone Weil: L’enracinement, a. a. 0., S. 13
78 Simone Weil: L’enracinement, a. a. 0., S. 1112
79 D. h. wenn sie die Bedeutung der „cite” haben, vgl. L’enracinement, S. 1516: ,,De par sa duree, la collectivite penetre dejà dans l’avenir. Elle contient de la nourriture non seulement pour les âmes des vivants, mais aussi pour celles d’êtres non encore nés … Enfin, de par la même durée, la collectivité a ses racines dans le passé. Elle constitue l’unique organe de conservation pour les trésors spirituels amassés par les morts.”
82 Hermann Levin Goldschmidt, Philosophie als Dialogik, Affoltem a. A. 1948, s. 5666
83 Hermann Levin Goldschmidt, Freiheit für den Widerspruch, Schaffhausen 1976, s. 198 ff.
84 Hermann Levin Goldschmidt, Dialogik, Frankfurt a. M. 1964, S. 185 ff. (Von der gemeinsamen Aufgabe der Architektur und Philosophie)
85 Hermann Levin Goldschmidt, Haltet Euch an Worte, Betrachtungen zur Sprache, Schaffhausen 1977, S. 23 ff.
86 Nach Hölderlin, bei H. L. Goldschmidt, ,,Haltet Euch an Worte”, a. a. 0., S. 142
87 Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen, Berlin/Wien 1919, daraus die Erzählung „Solon in Lydien” (1900)
88 Helmuth Plessner: Diesseits der Utopie, Frankfurt a. M. 1974, S. 216
89 Kant: Kritik der Urteilskraft, a. a. 0. Bd. X, B 126/A 125, 126B 128/A 127