Über den Hunger nach Glück – Die Suche nach Glück im Zusammenhang von Lebensentwicklung – Zwei historische Beispiele: Etienne de la Boëtie und Rahel Varnhagen

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Über den Hunger nach Glück

Die Suche nach Glück im Zusammenhang von Lebensentwicklung

Zwei historische Beispiele: Etienne de la Boëtie und Rahel Varnhagen

 

Wohl gab es seit dem Beginn der Neuzeit Denker und Denkerinnen, die die programmatische Unterwerfungs- und Zähmungsabsicht identitätsorientierter Weltbilder und damit verbundener Erziehungssysteme durchschauten und kritisierten. So etwa der 1530 in Sarlat (in Frankreich im Périgord, östlich von Bordeau) geborene Etienne de la Boëtie, der mit 33 Jahren in Germignan starb, von dem posthum – im Jahre 1577 – ein Buch erschien (von seinem Freund Michel de Montaigne herausgegeben[1]), vermutlich sein einziges Werk, dessen Titel “Contr’un” oder “Discours de la servitude volontaire” schon Aufruhr verursachte, dessen Inhalt umso mehr. Es ist eine bittere Kritik am mangelnden Widerspruch gegen Unterwerfungsforderungen, die durch Herrschaftsstrukturen und Erziehung vermittelt werden. “Wohl bestimmt die Natur den Menschen zur Freiheit und verleiht ihm den Willen dazu, aber sein Wesen ist so, dass er die Züge trägt, die die Erziehung ihm aufprägte. Daraus folgt, dass dem Menschen alles, wozu man ihn erzieht und gewöhnt, zur zweiten Natur wird[2]. Gemäss Etienne de la Boëtie kommt es daher zum sklavischen Angleichungsstrebens der Untertanen an den Fürsten, an den “Tyrannen”. “Sie müssen nicht nur tun, was er sagt, sondern denken, was er will und oft noch seinen Gedanken zuvorkommen, um ihn zu befriedigen. Es reicht nicht, ihm zu gehorchen, sie müssen ihm auch noch zu Gefallen sein, (…) sein Vergnügen für das ihre halten, den eigenen Geschmack um seinetwillen aufgeben, ihren Charakter verändern und ihre Natur verleugnen. (…) Heisst das wohl glücklich leben? Heisst das leben?[3]” fragt Etienne de la Boëtie.

 

Etienne de la Boëtie stellt fest, dass autoritäre Identitätsforderungen, denen widerstandslos stattgegeben wird, nicht nur die Freiheit, den Geschmack, den Charakter, ja die “Natur” der Menschen pervertieren, sondern zutiefst das Glück zu leben, damit das wirkliche Leben in Frage stellen. Zweihundert Jahre später formuliert Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) seine in “Emile” niedergelegte Erziehungskritik einer ähnlichen Linie entlang, die dann weitere Erziehungstheoretiker aufnahmen, so etwa Karl Philipp Moritz oder Pestalozzi, Fröbel und später viele andere mehr. Rousseau ist der Überzeugung, dass Erziehung der naturgemässen Entwicklung der individuellen Anlagen des Kindes keine Hindernisse entgegenstellen darf, auch dass die von der Gesellschaft diktierten Angleichungs- und Unterwerfungsforderungen “die Natur des jungen Menschen verderben”. Dass Angst vor der Besonderheit des Andersseins den im Unbewussten angestauten Druck bewirkt, der jedes Bedürfnis nach hierarchischer Macht trägt, aber auch das mit der  geforderten Anpassung verbundene Leiden prägt, erwies/erweist sich über die spätere existenzphilosophische, analytische und genetische Fülle von Erkenntnissen als Fortsetzung der Aufgabe, mit Sorgfalt und Skepsis jede Art von Macht, Abhängigkeit und Ohnmacht zu untersuchen.

Dass die gesellschaftlich und hierarchisch geprägten Angleichungsforderungen Frauen gegenüber noch einschränkendere Folgen hatten, vor allem bezüglich der eigenständigen Ich-Entfaltung und persönlichen Werte – letztlich bezüglich dewr Identität -, kritisierte als eine der ersten Rahel Varnhagen (ursprünglich Rahel Levin). Sie lebte von 1771 bis 1833, war in Berlin geboren, als älteste Tochter in einer jüdischen Kaufmannsfamilie, in welcher nicht die Religion zählte, sondern der Kampf um einen besseren Platz in der Gesellschaft, ein Kampf, den der Vater Levin Markus führte, auch innerhalb der Familie. Interessant ist, dass Rahel früheste Briefe an die Familie auf Jiddisch in hebräischen lettern geschrieben sind. Margarete Susman, welche in ihrem Buch über die “Frauen der Romantik”[4] ein Portrait Rahel Varnhagens, dieser “problematischen Gestalt”[5] präsentierte, hielt fest, dass unter den Geschwistern der mittlere Bruder Ludwig Robert ein wirklicher Freund war (der zweitältete hiess Markus, nach Ludwig kam Rose, die einzige Schwester, als jüngster Moritz), dass aber die Mutter, “schwach und verscheucht, ihr wenig bedeuten konnte” und dass der Vater “ihr Verhängnis wurde”, wie Margarete Susman aus einem Brief Rahel Varnhagens zitiert, ein “rauer, strenger, heftiger, launenhafter, genialer, fast toller Vater, der mein überzartes und starkes herz übersah und es brach, brach. Mir jedes Talent zur Tat zerbrach, ohne solchen Charakter brechen zu können. Nun arbeitet dieser ewig verkehrt wie eine Pflanze, die nach der Erde hineintreibt: die schönsten Eigenschaften werden die hinderlichsten”[6]. Gespräche und Begegnungen in den Salons, die im damaligen Berlin Ort der Emanzipation waren, verband sie fieberhaft mit ihrem Hunger nach Freundschaft und Liebe, mit ihrer Suche nach Glück. Wieder zitiert Margarete Susman aus einem der Briefe Rahel Vernhagens, der erhalten blieb: “Wenn wir einen all unseren besten Anforderungen entsprechenden Gegenstand fänden, würde nur Liebe, nie Leidenschaft entstehen: die Anstrengung, die uns übrige Liebe anzubringen, ist Leidenschaft”. Leidenschaft – passion (lat. pati) –  ist tatsächlich in erster Linie Ausdruck von Leiden, heftigste Suche nach Liebe und zugleich Suche nach sich selbst. Sie empfand sich selbst nicht als schön, als “Falschgeborene und sollte eine Hochgeborene, eine schöne Hülle für meinen wohl ergiebigen inneren Grund sein[7], wie sie schrieb.

Eine heftige Liebesgeschichte verband sie, als 24 Jahre alt war, mit Karl von Finkenstein, einem blonden jungen Grafen, der ihr schrieb, sie habe das Beste in ihm frei gemacht, er fühle sich von ihrem Geist wie von einer Sonne angestrahlt. Sie verlobten sich, doch für die Familie war sie nichts wie eine Bürgerliche und eine Jüdin. Sie löste selber die Verlobung auf, litt jedoch während Jahren unter dem Gefühl des erlebten Minderwertes. Sieben Jahre später verliebte sie sich in Paris in den Legationssekretär der spanischen Botschaft, Don Raphael d’Urquijo, “einen geistig einfachen, aber moralisch ernsthaften und korrekten Menschen von südlicher männlicher Schönheit”[8], wie von Margarete Susman geschildert wurde. Die Zeit der Verlobung mit d’Urquijo sei die “namenloseste Qual in Rahels Leben” gewesen, hält sie fest, denn in nichts hätten die zwei Menschen übereinstimmen können: sie habe ihn vergöttlicht, habe sich bemüht, sich ihm ganz anzupassen, er sei überrollt worden von ihrer Leidenschaft, die sich, gemäss Margarete Susman, “wie ein unheimlicher Koloss vor ihm aufgerichtet habe”. Er begann, sie zu kränken und zu demütigen, einen schattenhaften Rivalen zu vermuten und sie mit sinnloser Eifersucht zu quälen. So endete auch dieser Liebeshunger in Verzweiflung. In ihren Briefen konnte Rahel Varnhagen klagen. Gleichzeitig konnte sie Begegnungen mit Dichtern und Gelehrten wie Schleiermacher und Goethe wie eine seelisch stärkende Nahrung erleben. Auch bedeuteten über Jahre sich fortsetzende Freundschaft mit Frauen, die für sie wie Wahlschwestern waren, Entlastung, wie ein haltbares Netz. Tausende von Briefen, die sie schrieb, sowohl innerhalb von Berlin wie auf ihren Reisen quer durch Deutschland und bei ihren Aufenthalten in Paris und in Holland, geben davon Zeugnis.

Die Suche nach Glück, zugleich nach Liebe wie nach Zustimmung zu ihrem eigenen Ich. Als sie mit 37 Jahren, 1808, den 14 Jahre jüngeren Karl August Varnhagen von Ense kennenlernte, einen preussischen Diplomaten und Publizisten, der sie zutiefst bewunderte, verehrte und liebte, konnten Trauer und Schmerz ihres unruhigen Lebens Teil ihrer Geschichte werden. Varnhagen schrieb ihr: “Ich weiss keine Erscheinung, keinen Dichter, keinen Helden, der mir grösser wäre, al s ich Dich sehe: und du, diese Rahel, als in Bezug auf mich betrachtet, löscht alles andere, was sich aus diesem Gewühl auf mich bezieht, völlig aus. Ich betrachte es vor Gott, dass die grösse Gunst, die mir zuteil geworden ist, die ist, dich erkannt, dich empfunden zu haben”[9]. Nach sechs Jahren, 1814, entschloss sich Rahel zu Taufe und Heirat. Die Besetzung Berlins durch Napoleon war vorausgegangen, Krieg überzog ganz Europa. Rahel Varnhagen war mit der Familie ihres Bruders Markus nach Breslau, dann nach Prag geflohen und wurde schwer krank. Als es 1814 zum Friedenskongress in Wien kam, an welchem Varnhagen teilnahm, folgte Rahel als Ehefrau nach. 1819 – mit 39 Jahren – wurde Varnhagen wegen seiner kritischen Äusserungen, damals in Karlsruhe, wo das Ehepaar lebte, aus dem diplomatischen Dienst entlassen. Varnhagen und Rahel kehrten nach Berlin zurück, lebten dort in materiell gesicherten Verhältnissen, wenngleich in politischer und gesellschaflticher Hinsicht ohne Sicherheit. In jenem Jahr ging ein Pogromsturm über ganz Preussen. Obwohl Rahel Levin nun Rahel – resp. Antonie Friederike – Varnhagen hiess, wusste sie, dass sie sich nichts vormachen konnte, dass sie sich auch nichts mehr vormachen musste. Auch hinter dem schönsten Kleid war ihre eigene Haut, war sie selbst: Jüdin und Paria. Wichtige spätere Beziehungen, für welche ebenfalls eine Fülle von Briefen Zeugnis sind, geben davon Kenntnis, von der Akzeptanz wie vom Schmerz. So etwa schrieb sie am 8. Juni 1826 der Freundin Pauline Wiesel: “Keine Freiheit. Wollen Sie noch mehr wissen? Oft wundere ich mich, dass ich lebe, dieselbige bin und so weit von mir abkam. (…). Man ist nicht frei, wenn man in der bürgerlichen Gesellschaft etwas vorstellen soll: eine Gattin, eine Beamtenfrau usw.” Rahel Varnhagen hatte erkannt, dass es nicht genügen konnte, ein gesellschaftskonformes Kleid zu tragen.

1831 lernte sie den jungen Heinrich Heine kennen, den sie wie ihren geistigen Erben betrachtete. In ihren Briefen äusserte sie sich ihm gegenüber in aller Klarheit. “Unsere Krankengeschichte ist allein unsere Geschichte. Alle haben wir mit gefressen; und das muss wieder heraus”[10]. Es ging um die Frage nach der Bedeutung der durchgestandenen schmerzvollen Suche nach Glück. Mehr und mehr wusste sie, dass es die Suche nach ihren eigenen Ich war, nach Übereinstimmung von Denken und empfinden mit ihrem Ich, mit ihrer Identität. Sie bedurfte keiner Selbsttäuschung mehr, keine mehr wünschte sie. 1831 brach in Berlin die Cholera aus. Viele Bekannte starben, 1832 auch Rahel Varnhagens Bruder Ludwig Robert und im gleichen Jahr ein alter, bedeutender Freund von ihr, Friedrich von Gentz, mit dem sie über dreissig Jahre verbunden war. Rahel Varnhagens Leben endete am 7. März 1833. Sie wurde bei der Dreifaltigkeitskirche vor dem Halleschen Tor in Berlin beigesetzt.  Karl August Varnhagen lebte noch 26 Jahre, verwaltete, vernichtete zum Teil und publizierte Rahels Briefe und Tagebuchnotizen, erlebte die bürgerlich-demokratische Revolution von 1848/49 und publizierte Artikel, mit denen er sich wiederum Feinde schuf. Als er 1859 starb, wurde er im gleichen Grab beigesetzt, in welchem Rahel schon begraben war.

Die sorgfältigste Aufarbeitung von Rahel Varnhagens Leben findet sich im frühen Werk Hannah Arendts, das sie noch in Deutschland – in Übereinkunft mit Karl Jaspers in Hinblick auf eine Habilitation – schrieb, jedoch erst über zwanzig Jahre später in den USA veröffentlichte. Für Hannah Arendt steht Rahel Varnhagens Kritik am Paria-Dasein der Frauen stellvertretend für die lange Reihe von Frauen, die das Leiden an frauenfeindlichen gesellschaftlichen Erwartungen nicht einfach hinnahmen, sondern sich dagegen auflehnten. Es geht dabei  nicht  um Auflehnung gegen das Frausein, sondern gegen ein von patriarchaler Selbstüberschätzung geprägtes pauschales Bild des weiblichen Daseins und der Rolle, die Frauen einzunehmen haben, es geht um Auflehnung gegen den gesellschaftlichen Druck, diesem Bild zu entsprechen. Dabei geht es im individuellen Bestreben immer auch um die Suche nach Übereinstimmung mit dem Ich: um die Suche nach Glück.

Noch heftiger formulierte die gleiche Anklage eine Zeitgenossin Rahel Varnhagens, die französisch-peruanische Schriftstellerin Flora Tristan, die von 1803 bis 1844 lebte. Sie erkannte als eine der ersten, dass Frauenfrage und Arbeiterfrage eng miteinander verknüpft waren. Zur offenen Rebellin wurde sie, als sie feststellte, dass ihr als Frau nicht einmal zustand, sich gegen Gewalt und Unrecht, das ihr durch ihren Ehemann zugefügt wurde, zu wehren. Nachdem dieser sie zu töten versucht hatte und sie ihn verliess, wurde ihr – und nicht ihm – der Prozess gemacht. “Ich war Frau, ich war Mutter“, schreibt sie, “aber die Gesellschaft hat mir das Herz gebrochen. Jetzt bin ich nicht mehr Frau, nicht mehr Mutter, ich bin die Paria“.

 

[1] Michel de Montaigne’s Skepsis (1533 – 1592) gegenüber jeder Art von Wahrheitserklärung, sein fortgesetztes “Que sais.je?”, sein Bezug zur Natur in den Fragen des Menschseins und der Zeitlichkeit, seine Skepsis gegenüber jeder Form gesellschaflticher Herrschaft und persönlicher Eitelkeit prägten zutiefst die Fortsetzung des kreativ-emanzipatorischen Denkens (cf. Spinoza, Descartes, Pascal, Rousseau, Bergson, Landauer, Benjamin etc. bis in Existenzphilosophie und zeitkritische Philosophie hinein).

[2] Etienne de la Boëtie. Von der freiwilligen Knechtschaft. Hrsg. von Horst Günther. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 1980, S.63

[3] a.a.O. S. 85

[4] Verlag Eugen Diederichs, Jena 1929

[5] a.a.O. S. 97

[6] a.a.O. S. 99

[7] a.a.O. S.106

[8] a.a.O. S. 109

[9] a.a.O. S. 118

[10] Hannah Arendt. Rahel Varnhagen. Lebensgschichte einer deutschen Jüdin. Piper-Verlag, München 1959 / 1981; S. 270

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