“Die Fotografie in einem Buch ist das Abbild eines Abbilds.” – Über Charli Schluchters Portraits und Rückenportraits

“Die Fotografie in einem Buch ist das Abbild eines Abbilds.”[1]

Über Charli Schluchters Portraits und Rückenportraits

Hommage an Susan Sontag (1933-2004)  

 

Als ich am früh einbrechenden Abend vom 28. Dezember 2004 im Licht der Schreibtischlampe die von Charli Schluchter vorgelegten Portraits und Rückenportraits alter Menschen nachdenklich betrachtete, um in den Text einzusteigen, wurde am Radio mitgeteilt, Susan Sontag sei gestorben. Vor einem Jahr hatte ich auch über das Radio mit grosser Genugtuung erfahren, dass ihr der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugesprochen worden sei. Damals war sie knapp über 70 Jahre alt gewesen.

Die Nachricht vom Tod Susan Sontag’s bewegte mich. Warum stand sie mir nahe? Kindheit und Jugend hatte sie nicht in Europa, sondern in den USA erlebt, behütet von ihren Grosseltern, vaterlos mit fünf Jahren, ungewöhnlich wissenshungrig und früh erwachsen, noch vor dem zwanzigsten Altersjahr verheiratet, gleichzeitig mit einem Kind und dem Studium der Philosophie, mit 26 Jahren geschieden und fortan ein vielfältiges, in jeder Hinsicht eigenständiges Leben, mit Unterrichten, Reisen und Publikationen, voll wacher Aufmerksamkeit im Erforschen und Hinterfragen der Zusammenhänge menschlichen Handelns und gesellschaftlicher Prozesse – sowohl in ihrer amerikanischen Heimat wie hier in Europa und anderswo in der Welt. Es war insbesondere die ins Masslose anwachsende, als “Fortschritt” erklärte technologische Entwicklung, die sie hinterfragte, die in jeder Art von Produktion – auf politischer und militärischer wie auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene – zu einem zunehmenden Verschleiss menschlicher Werte führt. Darauf richtete sich ihr “leidenschaftliches Interesse”[2] aus, wie sie selber schrieb. Die Bedeutung der Entwicklung der Fotografie, ja das ganze Spektrum der modernen, digitalisierten Bildproduktion gehörte dazu. Vielfach wurde sie und ihr kritisches Denken geehrt, vielfach auch als modernitätsfeindlich angeprangert.

Sich mit Fotografie zu befassen war für Susan Sontag in erster Linie Teil ihrer  Auseinandersetzung mit dem Besitzanspruch von Menschen über Menschen. Für sie galt “Fotografieren heisst sich das fotografierte Objekt aneignen”[3].  Hartnäckig ging sie in ihren Aufsätzen auf den oft verdrängten Zwiespalt oder das verschlüsselte Zusammenspiel zwischen Sinneswahrnehmung, Triebhaftigkeit und Denken ein, zwischen Absicht und Zweck, die beim Fotografen dank der technischen Potenz der Kamera zum Bild und zum Besitz des Bildes führt, beim fotografierten Menschen zum Verlust seines eigenen Bildes von sich selbst, das in der Flüchtigkeit der gelebten Zeit wie in der individuellen Suche nach Identität zum geheimen Distrikt der Seele gehört. Dass Kinder der Kamera gegenüber oft eine Grimasse schneiden, die Zunge zeigen oder das Gesicht verdecken, macht das noch wache, noch nicht verdorbene Bedürfnis nach Schutz des eigenen Bildes deutlich. Und dass in einigen der alten Kulturen der Schutz des menschlichen Gesichtes als Gebot gilt, ist von analoger Bedeutung.

Für Susan Sontag war Fotografie eine stete Auseinandersetzung mit der Tatsache der Differenz zwischen Subjekt und Objekt, die zur Benutzung der einen Menschen durch die anderen führt: zum Verlust des Subjektswertes. “Menschen fotografieren heisst ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie sich selbst niemals sehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst nie erfahren; es verwandelt Menschen in Objekte, die man symbolisch besitzen kann”[4]. Es geht bei ihren Überlegungen um Zusammenhänge von menschlicher Abhängigkeit und Verführbarkeit, von Macht und Machtlosigkeit, die mich zutiefst beschäftigen.

Dass Susan Sontag an Krebs erkrankte und dem Tod während zehn Jahren die Stirn bot, gehörte zum furchtlosen Erfahrungsspektrum, das sie prägte. Nun ist es abgeschlossen. Nicht abgeschlossen ist die Kommunikation mit ihr über ihr Werk. Als ich an jenem Abend von ihrem Tod erfuhr, beschloss ich, mit ihr über die Serie von Aufnahmen, die von den Gesichtern und den Rücken alter Menschen vorliegen, ins Gespräch zu treten. Ich werde mich dabei auf Überlegungen und Aussagen beziehen, die sie veröffentlicht hat, sei es vor Jahren oder Jahrzehnten, sei es in jüngster Zeit[5]. Ebenso werde ich, wie dies in philosophischen Gesprächen üblich ist, Gedanken aufgreifen, die sie in der Auseinandersetzung mit Fotografie ebenso beachtet hatte wie ich – u.a. Gedanken von Walter Benjamin, von Vilém Flusser und von Roland Barthes –  und die Anlass gaben/geben zum Weiterdenken.

 

“Man denke an Balzac’s Vermutung, dass die Kamera Schichten des Körpers verbrauche.”[6]

Viele Fragen stellen sich mir, wenn ich Charli Schluchters Fotografien der alten Frauen und Männer betrachte. Die dringlichste ist: Warum bewirken sie in mir eine Scheu, die jedes Mal, wenn ich sie vor mir habe, sich wiederholt und verstärkt? Welche Art von Unbehagen geht damit einher? Ich selber bin alt; es kann sich nicht um das Alter handeln. Mehr und mehr ist mir klar, dass es ein moralisches Unbehagen ist und nicht ein ästhetisches. Wodurch wird es bewirkt?

Gewiss, jede Frau und jeder Mann wurden von Charli Schluchter um deren Zustimmung gefragt, bevor sie fotografiert wurden, und diese Zustimmung wurde schriftlich bestätigt. Einzelne wenige, unter ihnen ein sehr alter Mann, hatte den Fotografen über viele Jahre gekannt; mit anderen Frauen und Männern waren Kontakte und Vereinbarungen infolge von Inseraten und Begegnungen entstanden. Jedes Bild war mit Vorbereitung und Absprache verbunden. Trotzdem bewegt mich ein Empfinden der komplexen, vielschichtigen  Nichtübereinstimmung zwischen der Tatsache der Übereinkunft zwischen Fotograf und Modell. Hängt dieses etwa mit dem Nebeneinander von Nacktaufnahmen der alten Menschen in deren privatem Raum – Schlafraum oder Waschraum – und deren Portraits zusammen, frage ich mich. Geht es um die Tatsache der öffentlichen Preisgabe der je individuellen Intimität dieser Menschen? – der vollen Erkennbarkeit ihrer selbst, ihrer Identität? Geht es zusätzlich um die Differenz zwischen dem Sekundenbruchteil der fotografischen Aufnahme, um welche es sich bei der Zustimmung handelt, und dem zeitlich unbegrenzten Ausgesetztsein des Menschen im Bild, über welches der Fotograf als Besitzer verfügt?

Walter Benjamin, dem Susan Sontag ihre “kleine Zitatensammlung”[7] zur Fotografie widmet, hatte in seiner “Kleinen Geschichte der Photographie”[8] festgehalten, dass es “ja eine andere Natur ist, welche zur Kamera und welche zum Auge spricht; anders vor allem so, dass an die Stelle eines vom Menschen mit Bewusstsein durchwirkten Raumes ein unbewusst durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, dass einer, beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im Groben, sich Rechenschaft gibt, so weiss er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des ‘Ausschreitens’. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln – Zeitlupe, Vergrösserungen –  erwirkt es ihm. Von diesem Optisch-Unbewussten erfährt er erst durch sie, wie von einem Triebhaft-Unbewussten durch die Psychoanalyse.  Strukturbeschaffenheiten, Zellgewebe, mit denen Technik und Medizin zu rechnen pflegen – all dieses ist der Kamera ursprünglich verwandter als die stimmungsvolle Landschaft oder das seelenvolle Portrait. Zugleich aber eröffnet die Photographie in diesem Material die physiognomischen Aspekte, Bildwelten, welche im Kleinsten wohnen, deutbar und verborgen genug, um in Wachträumen Unterschlupf gefunden zu haben, nun aber gross und formulierbar wie sie geworden sind, die Differenz von Technik und Magie als durch und durch historische Variable ersichtlich zu machen”[9]. Die Kamera, welche Susan Sontag mit einer “Räuberwaffe” oder einer “Wunsch-Maschine”[10] vergleicht, wurde von Walter Benjamin als geheimes und vielfältiges Werkzeug bezeichnet. Doch –  als Werkzeug zu welchem Zweck?

Gewiss, Walter Benjamin bezog sich auf die Anfänge der Fotografie, als diese “die Bühne als Emporkömmling betrat, der eine anerkannte Kunstrichtung – die Malerei – zu missbrauchen und herabzusetzen schien”[11], als gleichzeitig “das Verfahren selbst die Modelle veranlasste, nicht aus dem Augenblick heraus, sondern in ihn hineinzuleben[12]“, wie Benjamin feststellte. Doch hat sich in den über hundertfünfzig Jahren, seit mittels der Kamera Bilder geschaffen werden, etwas im zugleich momentanen und definitiven Ausgesetztsein der “Modelle” verändert? Die Bedeutung dessen, was sich mit Erinnerung dank Dokumentation verbindet, steht dabei nicht in Frage. Doch Susan Sontag meint, dass “trotz der mutmasslichen Aufrichtigkeit, die allen Fotografen Autorität, Bedeutung und Reiz verleiht, die Arbeit des Fotografen ihrem Wesen nach keine Ausnahme in dem meist etwas anrüchigen Gewerbe bildet, das zwischen Kunst und Wahrheit angesiedelt ist”[13]. Ich nehme an, dass Susan Sontag als Vergleich u.a. die “Kunst” des medizinisch-diagnostischen Blicks, des psychoanalytisch-klärenden Fragens, vielleicht auch gewisser juristischer oder religiöser Strukturen wie etwa jene der Beichte meint. Doch ist nicht in all diesen Bereichen die wichtigste Bedingung für die Ausübung der “Kunst” jene des Schweigens und der Diskretion, letztlich der schützenden Anonymität jener Menschen, die sich denjenigen aussetzen, welche sich befähigt erklären, “das Gewerbe zwischen Kunst und Wahrheit” auszuüben? Ist es somit die persönliche Erkennbarkeit der alten Menschen durch das Nebeneinander von Gesicht, direktem Blick und körperlicher Nacktheit, und all dies im eigenen Raum, welche in mir ein Unbehagen weckt?

 

“Eine Fotografie ist nicht Zufall – sie ist Absicht”[14].

Erstaunlich ist für mich, dass meine Reaktion auf Charli Schluchters Bilder eine Empfindung mitschwingen lässt, die ich beim Betrachten von Werbefotos spüre, auf welchen Kinder – nackte oder teilweise bekleidete Kinder – der Kamera und in der Folge ungezählten Augen ausgesetzt sind, damit gleichzeitig pharmakologische Produkte, touristisch attraktive Ferienorte, Spielsachen, Videokameras und vieles mehr beachtet werden. Worin besteht die Differenz zwischen Werbung und “Kunst”, wenn Bilder ähnliche Reaktionen des Unbehagens bewirken? Gewiss, während die Fotos, die in Schaufenstern und auf öffentlichen Plakaten, in Magazinen und Prospekten, über Fernsehspots und Internet im Sinn von marktbezogener Propaganda Wirkung erzeugen sollen, dienen Charli Schluchters Bilder, die grossflächig auf seinen Plateaux und kleinflächig in einem Buch präsentiert werden, einem anderen Zweck. Er selber hebt den “verfeinerten künstlerischen Aspekt der differenzierten Bildmontage” hervor. Dienen die Bilder der alten Menschen eventuell dem Fotografen als Belege seiner selbst als Künstler? frage ich Susan Sontag. “Obwohl die Kamera eine Beobachtungsstation ist, ist der Akt des Fotografierens mehr als nur passives Beobachten. Ähnlich dem sexuellen Voyeurismus ist er eine Form der Zustimmung, des manchmal schweigenden, häufig aber deutlich geäusserten Einverständnisses damit, dass alles, was gerade geschieht, weiter geschehen soll”, stellt Susan Sontag fest[15]. Gewiss, “Zustimmung” und “Einverständnis” stehen ja nicht in Frage, doch erfolgen sie nicht in Unkenntnis dessen, was mit der Preisgabe des Selbstschutzes Dauer gewinnt?

Es geht tatsächlich nicht um Fragen der Ästhetik oder der fotografischen Qualität, die bei Charli Schluchter unbestritten ist, es geht um etwas Anderes. Geht es um den Besitzanspruch des Fotografen auf das, was in der flüchtigen Zeitdimension des Augenblicks die Macht über die Zeit bedeutet? – beinah um etwas Gottähnliches? Liegt hierin die Ursache des Unbehagens? Walter Benjamin notierte, dass, “weil das wahre Gesicht dieses photographischen Schöpfertums die Reklame oder die Assoziation ist, darum ist ihr rechtmässiger Gegenpart die Entlarvung oder die Konstruktion”[16].

Welche “Konstruktion” und welche “Entlarvung”? Tatsächlich besteht eine Wechselwirkung zwischen der verborgenen Absicht des Fotografen und dem Bild. Diane Arbus (geb. 1923), eine der grossen Fotografinnen im Bereich der Mode wie in jenem der Dokumentation amerikanischer Subkultur, soll notiert haben: “Ich fand das Fotografieren immer etwas Unanständiges – das fand ich daran besonders kennzeichnend -, und als ich es zum erstenmal selbst tat, kam ich mir sehr pervers vor”[17]. Es gibt eine vielfache Bedeutung von “pervers”, doch immer wird damit gemeint, was zwischen Vordergründigem und Verborgenem mit einer dem Gewissen widersprechenden Absicht einhergeht. Es war Vilém Flusser, der mit grosser Klarheit festhielt, dass es zugleich “die Absicht des Fotografen ist, andere zu informieren und durch seine Fotos im Gedächtnis der anderen sich unsterblich zu machen. Für den Fotografen sind seine Begriffe (und die Vorstellungen, welche von diesen Begriffen bedeutet werden) die Hauptsache beim Fotografieren, und das Apparatprogramm soll dieser Hauptsache dienen”[18]. Ist die geheime Absicht somit ein narzisstischer Machtanspruch, sowohl über Menschen wie über die Zeit? Jede Art von Narzissmus verbindet sich mit dem Bedürfnis eines Menschen, dem eigenen Spiegelbild Bedeutung zu verleihen, eine unvergleichbare, besondere Bedeutung.

 

“Die Kamera atomisiert die Realität”[19].

“Atomisieren” heisst, auf einen kleinsten Teil reduzieren, der bleibt.  Geht es dabei um das, was des Fotografen Absicht ist, mittels der Kamera zu sehen und festhalten? – andererseits um das, was als Produkt bleibt: eine Fläche – die “Oberfläche” des Bildes? Darin besteht für Susan Sontag tatsächlich die “Atomisierung” der Realität. Sie hält fest, dass “die letzte Weisheit des fotografischen Bildes lautet: ‘Hier ist die Oberfläche. Nun denk darüber nach – oder besser: erfühle, erkenne intuitiv -, was darunter ist, wie eine Realität beschaffen sein muss, die so aussieht'”[20].

Auf erstaunliche Weise kommt Susan Sontag mit dem Wunsch zu verstehen und dem damit verbundenen kritischen Suchen  und Hinterfragen zu einem – vordergründig – analogen Ergebnis wie Roland Barthes mit seiner ganz anderen Methode des philosophischen Ergründens. “Die PHOTOGRAPHIE”, hält er (zum Teil in Grossbuchstaben) fest, “ermöglicht mir den Zugang zu einem Infra-Wissen; sie liefert mir eine Ansammlung von Teilobjekten und vermag einem bestimmten Fetischismus in mir Nahrung zu geben: denn es gibt da ein ‘Ich’, welches das Wissen liebt und daran eine Art von verliebtem Gefallen findet”[21]. Roland Barthes versetzt sich in seiner Vorstellung als Betrachter eines Bildes – er selber sei “kein Photograph”[22], wie er festhält – in die “wesentliche Handlung des operator, die darin besteht, etwas oder jemanden zu überraschen (durch das kleine Loch im Gehäuse)”[23], resp. mit dem Blick durch die Kamera festzuhalten, was dem Fotografen wichtig erscheint.  Unter den Beispielen, die Roland Barthes erwähnt, findet sich unter anderen “das Gesäss einer Frau vor einem rustikalen Fenster”[24], als hätte er Fotografien Charli Schluchters vor sich. Roland Barthes schliesst daraus: “Zuerst photographiert die PHOTOGRAPHIE (…) das Bemerkenswerte; bald aber deklariert sie, im Zuge einer bekannten Verkehrung, das zum Bemerkenswerten, was sie photographiert”[25].

Worauf kommt Susan Sontag, wenn sie sich mit der “letzten Weisheit des fotografischen Bildes” auseinandersetzt und damit die “Oberfläche” hinterfragt, indem sie diese “erfühlt” oder  “intuitiv erkennt”? Bemerkenswert erscheint mir, dass sie zögert. “Wenn ambitionierte Berufsfotografen das Denken auch geringschätzen –  Misstrauen gegen den Intellekt ist ein häufig wiederkehrendes Element in den Versuchen zur Rechtfertigung der Fotografie -, so beteuern sie für gewöhnlich doch gerne, dass es durchaus strenge Gesetze sind, nach denen sich diese ungebundene optische Vergegenwärtigung vollziehen muss. (…) Um ein gutes Foto machen zu können, so wird immer wieder gesagt, muss man es bereits sehen, bevor man den Auslöser bedient”[26]. Gleichzeitig aber hält sie fest, dass “die einflussreichsten unter den jüngeren Fotografen Amerikas jeden Ehrgeiz abweisen, sich das Bild bereits vor der Aufnahme zu vergegenwärtigen” (…). “Fotografie als Wissen” schreibt sie weiter “wird abgelöst durch Fotografie als – Fotografie”[27].

 

“Jede Fotografie ist eine Art memento mori.”[28]

Älter werden und alt sein bedeutet einen immer knapperen Aufschub des Todes. Ungewiss ist die zugestandene Zeit, die ermöglicht, bewusst zu leben. Einzelne Menschen, die Charli Schluchter zugestanden haben, von ihm fotografiert zu werden, leben schon nicht mehr. “Jede Fotografie ist eine Art memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, dass sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfliessen der Zeit”[29].

Liegt hierin der Wert des Verstehens? Doch jedes Verstehen ist geprägt von der Subjektivität des Menschen, so dass nicht von “Verstehen” generell gesprochen werden kann. Susan Sontag hält fest, dass “jede mögliche Form des Verstehens in der Fähigkeit wurzelt, nein zu sagen”[30]. Doch versuchen zu verstehen, schliesst ebenso ein Ja wie ein Nein ein. “Gerade in der Stummheit dessen, was auf Fotografien hypothetisch verstehbar ist, liegt deren Reiz und Herausforderung”[31]. Jene Frauen und Männer, die Charli Schluchter gegenüber Ja gesagt haben, verbanden ihre Zustimmung eventuell mit einem anderen, geheimen Bedürfnis, das zu verstehen verschlossen bleibt.

 

[1] Susan Sontag. Über Fotografie. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2003 (14. Auflage),  S. 11. (Die amerikanische Erstauflage von “On Photography” erschien im Verlag Farrar, Straus  Gitoux, New York 1977¸ die erste Auflage in Deutsch beim Carl Hanser Verlag, München/Wien 1978).

[2] Susan Sontag. Vorwort / Mai 1977 zur Sammlung von Essays in: Über Fotografie, a.a.O., S. 7

[3] Susan Sontag.  Über Fotografie, a.a.O. S. 10.

[4] Susan Sonta. Über Fotografie. S. 20

[5] Susan Sontag. Das Leiden anderer betrachten. Carl Hanser Verlag, München/Wien 2003.  (Amerikanische Originalausgabe: Regarding the pain of others.  Farrar, Straus & Giroux, New York 2003)

[6] Susan Sontag. Über Fotografie, a.a.O. S. 171.

[7] Susan Sontag. Über Fotografie, a.a.O. S. 173 – S. 192

[8] Die beiden Schreibweisen “Fotografie” und “Photographie” werden je nach AutorIn resp. je nach geschriebenem oder zitiertem Text benutzt.

[9] Walter Benjamin. Kleine Geschichte der Photographie. In: Aufsätze, Essays, Vorträge. Gesammelte Schriften, Bd. II-1. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 1977. S. 371-372.

[10] Susan Sontag, Über Fotografie, a.a.O. S. 20

[11] Susan Sontag, Über Fotografie ,a.a.O.  S. 140.

[12] Walter Benjamin. Kleine Geschichte der Photographie, a.a.O. S. 373

[13] Susan Sontag. Über Fotografie, a.a.O. S. 12

[14] Ansel Adams (geb. 1902), zitiert von Susan Sontag, in: Über Fotografie, a.a.O. S. 113.

[15] Susan Sontag,. Über Fotografie, a.a.O. S. 18.

[16] Walter Benjamin. Kleine Geschichte der Photographie. a.a.O. S. 383.

[17] von Susan Sontag zitiert, in: Über Fotografie, a.a.O. S. 18

[18] Vilém Flusser. Für eine Philosophie der Fotografie. Verlag European Photography, Göttingen 1999. S. 42.

[19] Susan Sontag. Über Fotografie, a.a.O. S. 28

[20] Susan Sontag. Über Fotografie, a.a.O. S. 28

[21] Roland Barthes. Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie.  Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1989,

  1. 38. (Originalausgabe: La chambre claire. Notes sur la photographie. Editions de l’Etoile. Editions Gallimard/Le Seuil, Paris 1980).

[22] Roland Barthes, a.a.O. S. 41

[23] Roland Barthes, a.a.O. S. 43

[24] Roland Barthes, a.a.O. S. 43

[25] Roland Barthes, a.a.O. S. 43

[26] Susan Sontag., a.a.O. S. 112 – 113.

[27] Susan Sontag, a.a.O. S. 113

[28] Susan Sontag, a.a.O. S. 21

[29] Susan Sontag, a.a.O. S. 21

[30] Susan Sontag, a.a.O. S. 28

[31] Susan Sontag, a.a.O. S. 29

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