Nachwort zu den Gedichten von Anne Wunnerlich

Nachwort zu den Gedichten von Anne Wunnerlich

 

Als Fortsetzung der europäischen Aufklärung mag gelten, dass Lyrik nicht länger einer wissenschaftlichen Bewertung noch einem ästhetischen Register ausgesetzt ist. Lyrik – Dichtkunst – ist sprachliche Mimesis der  Seele. Ein Gedicht schreiben heisst der Lyra der Seele lauschen, heisst Ton für Ton, dem Atem folgend, in Worte übersetzen, schlicht und knapp, hämmernd und klagend, sehnsüchtig rufend.

Doch wie kommt die dichterische Übersetzung der inneren Sprache des Menschen zustande? Mäanderhafte Prozesse sind damit verbunden:

Ein Gedicht schreiben heisst die Vatersprache-Muttersprache-Schulsprache-Lehrsprache-Lautsprechersprache verlassen, heisst die Sprache-mit-dem-Eigennamen suchen und sie annehmen, wenn sie sich öffnet.

Ein Gedicht schreiben heisst den Intellekt zum Spiel verkehren, die Logik in Farben klären, die Körperlaute in Klanggrammatik stimmen, den Pulsrhythmus in Worte kleiden.

Ein Gedicht schreiben heisst vielleicht auch die Alltagssprache als Werkkleid befragen, trotz Verbrauch der Regeln und Sätze den Kern der Naht erproben, Stich für Stich, und wenn er hält, die Strophe schliessen.

Ein Gedicht schreiben heisst noch viel mehr, heisst ein Destillat schaffen von Leben und Sprache, von Traum und Sprache, von Geschlecht und Sprache, von Leere und Sprache, von Zeit und Sprache, von Unaussprechbarem und Sprache, von Ich und Sprache.

Ein Gedicht schreiben ist ein grosses Projekt. Was soll damit erreicht werden? Was strebt Lyrik an?  Hilde Domin erklärte 1968, Lyrik sei “Einladung zur einfachsten und schwierigsten aller Begegnungen, zur Begegnung mit uns selbst”. Eine “einfachste Begegnung” ist es kaum, zu den “schwierigsten” und zu den wichtigsten gehört jene mit uns selbst. Die Sprache, deren der Mensch bedarf, um der “Einladung” zu folgen, ist in Konservenschichten verschachert. Und erst die deutsche Sprache! Wie darin Worte finden, die der inneren Übersetzung genügen? – in diesem “verwüsteten Land der Sprache”, wie Günther Anders in seiner “Sprachelegie” 1945  schrieb, wo “Sätze ragen, kahl und abgelaubt, / das Nichts in ihren Ästen, Redensarten / stehen schräg im Raum, die wurzeln in der Luft. / Und Worte, wo du hintrittst: angeschlagen / und eingebeult”.

Damals, als diese klagenden Zeilen geschrieben wurden, lebte Anne Wunnerlich als Kind in Deutschland. Kurz vor Schulbeginn stand sie, als der Krieg zu Ende ging. Von welcher Sprache wurde sie geprägt? Von der “kahlen und abgelaubten”, verstummten Sprache? Wo sie lebte, setzte sich die Sprache fort, mit gleichen Vokalen und Konsonnanten wie während des Kriegs, das Tempo der Sprache blieb gleich, es sprachen weiter die Einen laut, Andere lauter und Andere kaum. Ihr prägte sich ein, dass das Wort, das gesagt wird, und das, was mit dem Wort gemeint wird, Ungleiches heisst. Auch dass es dem Menschen zusteht, in der Sprache nach dem richtigen Wort zu suchen und die Bedeutung der Worte zu finden, dass es Wahlmöglichkeiten gibt.

Ein Gedicht schreiben kann von momentaner Dringlichkeit sein oder kann sich als fortgesetztes Bedürfnis erweisen. Wer auf dem gewundenen Weg von einer Lebensetappe zur nächsten die “Einladung” annimmt, wagt auf die innere Lyra zu horchen. Gedichte werden zu Sprachgeländern, an welche der Mensch sich hält und stützt, wenn er/sie staunend  – sich selbst begegnet. Für Anne Wunnerlich trifft dies zu. Ein Gedicht schreiben heisst für sie verdichten, was Sprache ermöglicht, heisst Worte wählen, die sich aneinanderflechten, heisst daran Halt erfahren, wenn die gesprochene Sprache versagt.

 

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