Wenn Berechnung oder Verzweiflung nur noch Zerstörung schaffen, was tun? – Alle Mittel in Erziehung und Bildung investieren
Wenn Berechnung oder Verzweiflung nur noch Zerstörung schaffen, was tun?
Alle Mittel in Erziehung und Bildung investieren
Am 8. Oktober 1975 erschien im “Corriere della Sera” ein Artikel von Italo Calvino, eine Art Schmerzanalyse der Zeit.
Er schrieb: “Es ist nur ein kleiner Schritt von der moralischen Gleichgültigkeit und der sozialen Verantwortungslosigkeit zu offener Misshandlung und zu Mord”… Weiter schrieb er: “Wir leben in einer Welt, in der die Eskalation des Mordens und der Entwürdigung des Menschen zu einem der hervorstechendsten Merkmale der historischen Entwicklung geworden ist”…
Am 30. Oktober 1975 entgegnete Pier Paolo Pasolini in “Il mondo” in seinem “Lutherbrief an Italo Calvino”, dass die Analyse stimme, dass es aber falsch sei, Sündenböcke zu schaffen. Selbst die Bourgeoisie sei nicht der Sündenbock. Man müsse tiefer suchen. Eine “neue Produktionsweise”, die nicht nur den heutigen Warenüberfluss, sondern auch Menschen und gesellschaftliche Verhältnisse produziere, habe begonnen, “zynisch die früheren Kulturen zu zerstören, angefangen bei der traditionellen bürgerlichen Kultur bis hin zu den verschiedenen partikularistischen und pluralistischen Volkskulturen. An Stelle der zerstörten Werte und Modelle setzt sie eigene Werte und Modelle, die bisher noch nicht benannt und definiert sind: Ausdruck einer neuen Bourgeosie, einer Art von Bourgeosie. Die Kinder dieser Bourgeosie sind daher die ersten, die diese Werte und Modelle übernehmen, und durch diese tastende, unsichere (und daher entsprechend aggressive) Aneignung machen sie sich zum Vorbild für diejenigen, die ökonomisch nicht mithalten können und daher die Rolle unbeholfener und plumper Imitatoren übernehmen müssen. Daher ihre Schergennatur, daher ihre Verwandtschaft mit der SS.”
Die Erscheinungen der Zerstörung, die Pasolini 1975 mit seiner “telegrammartigen Aufzählung” nur ungenügend erklären konnte, wie er selbst festhielt, haben sich heute, fast zwanzig Jahre später, auf exponentielle Weise vervielfacht. Die neuen “Werte und Modelle”, die damals noch nicht “benannt und definiert” waren, können heute beim Namen genannt werden. Sie heissen Austauschbarkeit und Beliebigkeit. Diese “neuen Werte” werden nicht nur den Sachen, nicht nur den Produkten übergestülpt, sondern auch den Gefühlen und, in einer letzten zynischen Zuspitzung, der menschlichen Existenz, auch der eigenen. Die Entfremdung kann weiter nicht gesteigert werden.
Eine haltlose Angst ist die Folge, eine nagende Verzweiflung. Und deren Ausdruck ist Gewalt: sinnlos sich steigernde Gewalt.
Wohin wir schauen, nimmt die Gewalt überhand. Der während Jahren andauernde Krieg im ehemaligen Jugoslawien mit dem unsäglichen Leiden, das er verursachte, ist – gewissermassen – die millionenfache Bestätigung, dass es wenig braucht, “nur einen kleinen Schritt von der moralischen Gleichgültigkeit und der sozialen Verantwortungslosigkeit zu offener Misshandlung und zu Mord”. Gewalt auch bei uns: in den Schulen, auf den Strassen, in der Wirtschaft und im Aussenhandel, im sogenannten Rechtsvollzug. Es gehört mit zur gleichen Entwicklung, dass – nicht nur in China oder im Iran -, dass selbst in den USA in den letzten Wochen und Monaten wieder Dutzende von Menschen hingerichtet wurden.
Eine andere Folge der Austauschbarkeit und Beliebigkeit, die die “Kultur” unserer Zeit kennzeichnet, ist das Bedürfnis nach Remedur, nach festen Richtlinien, Ideologien, Religionen, Nationalismen: Festungen gleich, mit Schiessscharten, die das Sichtfeld auf mögliche Feindgrösse einengen. Feinde und Feindinnen sind alle diejenigen, die anders sind, die sich selbst nicht in die gleiche Festung einsperren. Aus der Perspektive dieser Festungen ist Gewalt legitimes Mittel der Abwehr überall auftauchender Bedrohung. Bedenkenlos, skrupellos wird Gewalt – Waffengewalt, Gesetzesgewalt, Gesinnungsgewalt – vorgegebenermassen als Abwehr von Bedrohung eingesetzt: gegen Kinder, gegen Jugendliche, gegen Frauen, gegen andere ethnische Gruppen, gegen Mitglieder anderer Religionen, gegen die Massen der Elenden, gegen Flüchtlinge, gegen Drogenabhängige, gegen Arbeitslose, gegen Alte, gegen das eigene Leben.
Es gibt nicht dieses oder jenes Rezept gegen die Gewalt und Zerstörung, die aus Berechnung oder aus Verzweiflung allmählich jeden Teil der Erde erfasst. Es gibt nur die ganz andere Option: ein Leben in Frieden. Sie ist vielleicht die schwierigste Option, sie konnte sich noch nie eine historische Periode lang bewähren, sie ist wie ein unbekanntes Land, für das es nur eine annähernde Karte gibt.
Damit diese Option eine Chance hat, muss das Leben in Frieden eingeübt werden können, von Klein auf. Es braucht dazu Erziehungs- und Bildungskonzepte, die vorweg erprobt werden können, und es braucht Beispiele, die Mut machen. Es braucht Menschen, die mit ihrem Verstand, mit ihrem Herzen und ihrem gelebten Leben sich voll dafür engagieren. Ein Beispiel hierfür ist das Siedlungsprojekt Neve Shalom/Wahat al-Salam in Israel, das arabische und jüdische Familien gemeinsam aufgebaut haben und weiter ausbauen, wo Kinder beider Kulturen in beiden Sprachen und in allen drei Herkunftsreligionen gemeinsam unterrichtet werden, nicht irgendwo in einer neutralen Exklave, sondern mitten im entzweiten, von Misstrauen und Feindseligkeit erschütterten Land; nicht als Selbstzweck, sondern um weiterzuwirken in den Dörfern und Städten ringsherum, um auf ansteckende Weise zu beweisen, dass ein Leben in Frieden möglich ist.
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