Kontingenz gelebten Widerspruchs – zwischen jüdischer Herkunft, Assimilation und Freiheit des Denkens – Untersuchungen über die Verbindung zwischen Rosa Luxemburg, Simone Weil und Hannah Arendt

Loader Wird geladen …
EAD-Logo Es dauert zu lange?

Neu laden Dokument neu laden
| Öffnen In neuem Tab öffnen

Download [162.00 B]

Kontingenz gelebten Widerspruchs

zwischen jüdischer Herkunft, Assimilation und Freiheit des Denkens

 

Untersuchungen über die Verbindung zwischen Rosa Luxemburg, Simone Weil und Hannah Arendt

 

Als ich noch zur Mittelschule ging und mit dem Philosophiestudium begann, also in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren, da liessen sich, wie mir schien,  die akademischen Lehrer (Jeanne Hersch war in der Schweiz die einzige “Lehrerin” in Philosophie) in zwei Gruppen einteilen: in diejenigen, die sowohl vor den sozialistischen und revolutionären  “Aufwieglern” wie vor den existentialistischen “Verführern” warnten. Von den ersten wurde behauptet, sie würden zu Aufruhr und “bürgerlichem Ungehorsam” verleiten, von den zweiten, dass sie “atheistische Anthropozentriker”, “irrationale Agnostiker” und “amoralische Libertinisten” seien und entweder zu  Schwärmerei oder zu schwarzem Pessimismus missleiteten.

Diejenigen, die so eindeutig und einseitig ein – philosophisches und gesellschaftliches – Establishment verteidigten, erreichten mit ihren Warnungen das Gegenteil. Denn Bücher und Lehren, die mit einem Tabu belegt sind, verheissen besondere Erkenntnis. Und so suchte ich selbst und stiess mit der Zeit auch auf jene zweite Gruppe, die, wenngleich kleiner, selbst interessiert-kritisch oder fasziniert, Jaspers “Philosophie”, Heideggers “Sein und Zeit”, Sartre’s “L’Etre et le Néant” las, die in den so unterschiedlichen Ansätzen von Henri Bergson und Eugène Minkowski, von Martin Buber und Franz Rosenzweig, von Emmanuel Mounier und Maurice Blondel, von Nicolay Berdjajew, Leo Isaac Schestow und Paul Ludwig Landsberg ebenfalls den philosophsichen Ausdruck der Zeit erkannte, die Albert Camus weiterempfahl, die sogar auf Simone de Beauvoir hinwies, die Dostojewski, Franz Kafka und Robert Walser existenzphilosophisch las, die vor allem die Bedeutung Nietzsches und Kierkegaards für das neue philosophische Denken erkannte und die bemerkte, dass es in Kierkegaards Auseinandersetzung mit Hegels grossem System um den – in diesem System – nicht existierenden denkenden und vor die Wahl des Handelns gestellten einzelnen Menschen geht, um den “Schwindel der Freiheit” und um die Angst als Grunderfahrung der Existenz, letztlich um die Erkenntnis, dass Wahrheit sich nur als Paradox zeigen kann, dass es infolgedessen galt, Blaise Pascal als eigentlichen Vorläufer existenzphilosophischen Denken neu zu lesen. Dass es ebenso galt, Nietzsches Weltdeutung als Rückverweis auf den allein auf sich gestellten, leidenden, zweifelnden und verzweifelnden Menschen zu deuten. Dabei wurde nicht nur auf Kierkegaards und Nietzsches Infragestellung hegelscher und christlicher Sicherheit hingewiesen, sondern ebenso auf Marx und auf die von ihm zur gleichen Zeit entwickelte Destruktion der Selbstrechtfertigung bürgerlicher Moral als einer weiteren Vorbereitung existenzphilosophischen Denkens. (Marx’s “Ökonomisch-philosophischen Manuskripte” wurden im gleichen Jahr veröffentlicht wie Kierkegaards “Philosophische Brocken” und der “Begriff der Angst”). Es kam sogar vor, dass auf Gustav Landauer aufmerksam gemacht wurde, ja selbst auf Rosa Luxemburg, die zur Zeit ihres Lebens wie nach ihrem gewaltsamen Tod zugleich als Ärgernis wie als Ansporn wirkte.

Simone Weil und Hannah Arendt waren dagegen zumeist noch Geheimtips, obwohl von beiden Denkerinnen schon 1948 wichtige Werke in den Buchhandlungen lagen: “L’enracinement” von Simone Weil und die “Sechs Essays” von Hannah Arendt (darunter der Essay “Was ist Existenzphilosophie?”). Die ersten Auflagen von Simone Weils “Cahiers”, sowie der in “Oppression et Liberté”, in den “Ecrits historiques et politiques”, in “La source grecque” und in “Les intuitions préchrétiennes” gesammelten Aufsätze erschienen wenig später, in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, ebenso wie Hannah Arendts Opus magnum – ein gemeinsam mit Heinrich Blücher, ihrem Lebenspartner, zustande gebrachtes Werk – “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft”. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre veröffentlichte Hannah Arendt  drei weitere Werke: “The human condition” (deutsch “Vita activa”), sodann ihre noch in Deutschland begonnene Studie über Rahel Varnhagen, die “Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik” wie ihre breit angelegte zeitgeschichtliche Untersuchung “Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus”. Eigentlich in aller Mund war Hannah Arendt erst 1963, als sie “Eichmann in Jerusalem”,  ihren “Bericht von der Banalität des Bösen”, veröffentlichte und damit die zeitgenössischen Leserinnen und Leser polarisierte – vor allem die jüdischen. Simone Weil dagegen war nie in aller Mund, polarisierte jedoch die Leserschaft ebenso sehr, wiederum auf besondere Weise die jüdische. Verurteilende Qualifikationen geschahen und geschehen schneller als Lektüre – bei allen drei Denkerinnen.

Rosa Luxemburg, Simone Weil und Hannah Arendt wurden für mich Kristallisationsgestalten gelebten Widerspruchs, jede der drei auf je eigene, jedoch zugleich auf je verdichtete Weise, “gelebt” sowohl  im Werk wie in der konsequenten privaten und politischen Anteilnahme und Verpflichtung, “Widerspruch” sowohl in Bezug auf die biographischen Bedingungen jüdischer Herkunft in einer Zeit, die sowohl von Assimilation wie von zunehmendem Antisemitismus und, allmählich, von Ausgrenzung und spürbarer Bedrohung geprägt war; in einer Zeit, wo die einzelne Existenz angesichts politischer Massenentwicklungen, von denen alle ausnahmslos von unsäglicher Gewalt begleitet waren, nicht umhin konnte, sich ihrer selbst, ihrer Herkunft, ihres Wegs, ihrer Zugehörigkeit und ihrer Ziele bewusst zu w

Jede der drei Denkerinnen lebte im ersten Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts in einer je eigenen Lebensetappe und mit unterschiedlichen Folgen der Zeitereignisse wie des Zeitgefälles, teilweise abschliessend, teilweise weiter im zweiten Drittel, ja sogar bis ins dritte hinein: Rosa Luxemburg bis 1919, als sie – damals 49 Jahre alt – von einer aufgehetzten Soldateska ermordet wurde, Simone Weil bis 1943, als sie als 34jährige im Exil in London sich zu Tode hungerte, Hannah Arendt bis in den frühen Winter 1975, als ein sanfter Tod sie im 69sten Altersjahr heimholte.

Die Zeitereignisse waren geprägt durch wachsenden Nationalismus und Judenhass, auch durch sich verstärkende sozialistische, kommunistische und zionistische Hoffnungsbewegungen, von denen die zwei ersten in Revolutionen mündeten, die jedoch nicht Demokratien, sondern Diktaturen nach sich zogen, in diesem blutgetränkten Jahrhundert, in dem die Russische Revolution, der Erste, dann der Zweite Weltkrieg, dazwischen der Spanische Bürgerkrieg Dutzende von Millionen von Toten und eine völlige Zerstörung personaler und gesellschaftlicher Ethik schufen, wo unmittelbar auf den Zweiten Weltkrieg die Gründung des Staates Israels folgte und in dessen Gefolge neue Kriege, in Europa dagegen ein aufbaubemühtes Wursteln einsetzte, das dem einen Zweck diente: möglichst schnell mit den Ruinen und mit den Toten auszuräumen, ohne Zeit mit der Besinnung auf die kollektiven Ursachen des grossen Unglücks zu verlieren.

Es waren die Herkunfts- und Zeitbedingungen, gegen welche Rosa Luxemburg, Simone Weil und Hannah Arendt ihren Widerspruch austrugen. Zusätzlich aber machten es ihr Urteilsvermögen und ihr Gewissen auch nötig, dass sie in Bezug auf Gefolgschaftserwartungen politischer Bewegungen, denen sie selbst während einer gewissen Zeit angehört hatten, Widerspruch anmelden und durchsetzen mussten. Und da alle drei Frauen Philosophinnen waren, ohne dass sie diese Bezeichnung für sich beanspruchen wollten, durchdachten und durchlitten sie die Widersprüchlichkeit der unaufhebbaren Grundbedingungen menschlicher Existenz gemeinhin: die Zerrissenheit zwischen Freiheit und Endlichkeit, das heisst zwischen der Fähigkeit, einen Anfang zu setzen, und der Unfähigkeit, Leiden, Sterben und Tod zu verhindern.

Widersprüchlichkeit erlitten sie auch zwischen der Fähigkeit zu erkennen und zu denken, die sie zu fördern und zu verstärken suchten, den Möglichkeiten des Umsetzens von Erkennen in Handeln sowie den emotionalen Kräften der Psyche, die als pschische Bedürfnisse, als Sehnsucht und als Leiden auf sehr ungleiche Weise beachtet werden durften. Allen drei Frauen wurde die Tatsache bewusst, dass dem Erkennen und Denken die Grenzen des Subjektseins gesetzt sind, auch zwischen der Fähigkeit, das Tun des Guten vom Tun des Bösen zu unterscheiden und der Unfähigkeit, ohne Schuld oder Mitschuld zu leben. Eine weitere Widersprüchlichkeit bestand für jede von ihnen auf je persönliche Weise in der Möglichkeit, durch die Liebes- und Sehnsuchtsfähigkeit die Ahnung von Ewigkeit zu kennen und zugleich eingebunden zu sein in die Kontingenz der davongaloppierenden Zeit und sowie fremdbestimmter Beziehungen, das heisst, um das, was „Glück“ heisst,  zu wissen, ohne es zu erreichen, und mit Trauer und  Abschied sich abzufinden – bei Simone Weil sich davon abzuwenden.

Die Kontingenz gelebten Widerspruchs widerspiegelt daher bei allen drei Denkerinnen eine Nichtübereinstimmung emotionaler und intellektueller Bedürfnisse in der je persönlichen Bedeutung von “passio”: als Leidenschaft und als Leiden. Das gelebte Leben wie die Sprache, welche für Rosa Luxemburg, für Simone Weil wie für Hannah Arendt nicht nur in wissenschaftlichen Texten, sondern auch in Gedichten und in einer Vielzahl von Briefen als direktes Instrument der Übersetzung von Gefühlen und Bedürfnissen, von Fragen und von Erkenntnissen diente, widerspiegelt die von der Kindheit und Jugend ins Erwachsenenalter sich fortsetzende Intensität der berauschenden wie der besetzenden, qualvollen Widersprüchlichkeit.

So zeigt sich sowohl in psychoanalytischer wie in existenzphilosophischer Hinsicht eine Kontingenz gelebten Widerspruchs im Verhältnis zur eigenen Existenz, im Verhältnis zur Herkunftsgeschichte und zur Zeitgeschichte, in der Komplexität der Suche nach dem eigenen Ich wie der Zustimmungsmöglichkeit zu einem Kollektiv. In erkenntnistheoretischer Hinsicht geht es um die Skepsis zu Theorien, welche Wahrheit beanspruchen, gleichzeitig um ein Eingebundensein in rationalistische Vorgaben des Denkens; in sozio-politischer Hinsicht um die ebenso skeptische Auseinandersetzung mit Macht und Gewalt.

Ich will im folgenden herausarbeiten, was den gelebten Widerspruch der einzelnen Denkerinnen auf spezifische Weise kennzeichnet, zugleich das, was in der Bedeutung der Kontingenz sie verbindet, deutlich machen.

 

Was heisst „als voller Mensch leben“? – Rosa Luxemburg

Zorn und Zärtlichkeit sind die zwei – scheinbar – so widersprüchlichen Kräfte, die Rosa Luxemburgs Leben und Werk prägten. “Vor allem muss man jederzeit als voller Mensch leben”, schrieb sie ihrer Vertrauten Mathilde Jacob 1917 aus dem Gefängnis in der Barnimstrasse in Berlin. Der Satz, scheint mir, hat die Bedeutung eines existenzbestimmenden Mottos, nicht nur für die letzten Jahre des unruhigen und glühenden Lebens dieser zärtlichen und zornigen Frau, sondern von allem Anfang an.

Das Geburtsdatum Rosa Luxemburgs steht nicht mit Sicherheit fest. Nach den meisten Biographinnen und Biographen (etwa Luise Kautsky, Paul Fröhlich oder Elzbieta Ettinger) ist es der 5. März 1870, gemäss dem Oxforder Politologen Peter Nettl ist es der 5. März 1871, nach Rosa Luxemburgs Basler Eheschein der 25. Dezember 1870. Geboren wurde sie in Zamost, dem galizischen „Klein-Paris”, wie Isaac Leib Peretz das Städtchen südöstlich von Lublin nannte, das seit dem 16. Jahrhundert als Markt- und Handelsplatz bekannt war und Händler und Handwerker aus allen Weltgegenden und Kulturen anzog – armenische, griechische, türkische und jüdische. Schon 1588 muss sich in Zamost eine bedeutende sephardische Gemeinde hervorgetan haben, erhielt diese doch in jenem Jahr Niederlassungs- und Aufenthaltsprivilegien. Doch als Schweden im 17. Jahrhundert Polen mit einem blutigen Krieg überzog, floh fast die ganze sephardische Gemeinde. Die Ashkenasim, die später die Gemeinde wieder aufbauten, erreichten nie mehr den Wohlstand der sephardischen Gemeinde, zumal im 18. Jahrhundert mal Österreich, mal Preussen, dann von 1815 an Russland die Oberhoheit über Polen beanspruchten und die jüdischen Gemeinden, auch jene von Zamost, schweren Einschränkungen unterwarfen

Rosa Luxemburgs väterliche Vorfahren sollen im 18. Jahrhundert als Landschaftsgärtner aus Bruxelles nach Zamost geholt worden sein. Von Rosas Grossvater weiss man, dass er ein Holzhändler war, und dass seine Geschäfte ihn weit nach Osten und nach Westen führten. Schon der Grossvater wandte sich von der Orthodoxie ab. Rosas Vater, Eliasch Luksenburg, führte das Holzgeschäft weiter und setzte die Assimilation fort.

Rosa Luxemburgs Mutter, Lina Löwenstein, entstammte einer Familie, die siebzehn Generationen zurück lauter Rabbiner und Gelehrte zählte, deren Urahne der berühmte spanische Talmudweise Rabbi Zerachya Halevi war. Vermutlich war der frommen und gelehrten Familie die Heirat Linas mit Eliasch Luksenburg ein Dorn im Auge. Der Sabbat und die Feste wurden bei Luksenburgs wohl gefeiert, doch die Umgangssprache war Polnisch, nicht Jiddisch. Lina Luksenburg-Löwenstein, eine Kennerin der deutschen und polnischen Literatur, erzog ihre Kinder in einem weltoffenen Sinn, allerdings ohne Kontakt zu den Haskalim, der Bewegung der jüdischen Aufklärer, die sich in Zamost gegen die Orthodoxen und gegen die Chassidim nicht durchsetzen konnten. Als nach dem polnischen Aufstand gegen die russische Herrschaft von 1863 eine Reihe von Pogromen und antijüdischen Gesetzen einsetzte, gingen Eliasch Luksenburgs Geschäfte immer mehr zurück, sodass er sich 1873 entschloss, mit seiner Familie nach Warschau zu ziehen.

Rosa Luxemburg war damals drei Jahre alt, die jüngste von fünf Geschwistern. Statt in einem zweistöckigen eigenen Haus lebte die Familie nun in einer Wohnung in einem Miethaus an der Zlota-Strasse, nicht weit entfernt vom jüdischen Quartier, das von Armut und Elend geprägt war. Obwohl die Zlota Strasse  eine „gute Adresse” war, hatte sie eine Rückseite, und auf der Rückseite einen schmutzigen und armseligen Innenhof. Der Gegensatz zwischen Vorder- und Hinterseite war Rosa Luxemburgs erste Einführung in die Härte der Klassengegensätze. Fast dreissig Jahre später, als sie in Zwickau im Gefängnis sass, erinnerte sich Rosa Luxemburg an diesen Hof. Sie schilderte ihn in einem Brief an Luise und Karl Kautsky und hielt dann fest: “Damals glaubte ich fest, dass das ‚Leben’, das ‚richtige’ Leben, irgendwo weit ist, dort über die Dächer hinweg. Seitdem reise ich ihm nach. Aber es versteckt sich immer hinter irgendwelche Dächer. Am Ende war alles ein frevelhaftes Spiel mit mir, und das wirkliche Leben ist gerade dort, im Hof, geblieben”…

Eine weitere einschneidende Erfahrung machte sie wenig später. Wegen eines Hüftleidens musste sie zwischen dem vierten und fünften Altersjahr das Bett hüten, regungslos, eingezwängt in ein Korsett. Als sie mit fünf wieder gehen lernte, war das eine Bein beträchtlich kürzer, eine Missbildung, unter der sie ihr ganzes Leben litt. In der Zeit, als sie bettlägrig war, lernte sie lesen und schreiben, zugleich in Deutsch, Polnisch und Russisch, sie schrieb kleine Gedichte und korresponierte vom Bett aus mit den Eltern und Geschwistern, kurz, sie legte sich jene Fähigkeit zu, die sie später, während der vielen Jahre, die sie in Gefängnissen zubrachte, auszeichnete: jede Einschränkung als Chance zu nutzen.

Eine dritte tiefgreifende Erfahrung, die sie als Kind machte, hatte mit der “condition juive” zu tun, eine Erfahrung gesellschaftlicher Minderwertigkeit und Ungleichbehandlung. Der Besuch des sogenannten “Ersten Gymnasiums” war ihr, wie allen jüdischen Kindern, verwehrt. Auch das sogenannte “Zweite Gymnasium” gestattete jüdischen Kindern den Besuch nur, wenn sie eine schwierige Aufnahmeprüfung bestanden. Rosa Luxemburg bestand als Zehnjährige die Prüfung glänzend, doch die antisemitischen Schikanen nahmen damit noch kein Ende. Sie fühlte sich durch den Nationalismus der polnischen Mitschülerinnen gleich ausgrenzt wie durch die mit grosser Festlichkeit gefeierten christlichen Feiertage, auch wenn sie alle unter der russischen Oberhoheit zu leiden hatten. Die antipolnischen Massnahmen spitzten sich jedoch mit antisemitischen Beigaben gegenüber den jüdischen Schülern und Schülerinnen zu.

Als Rosa Luxemburg noch nicht zwölf Jahre alt war, machte sie die einschneidenste Erfahrung jüdischer Rechtlosigkeit. Ein nichtiger Grund löste an Weihnachten 1881 unter den Besuchern der Heilig-Kreuz-Kirche in Warschau eine Panik aus, die sich zu einem brutalen Pogrom ausweitete. Rosa Luxemburg’s Familie musste sich tagelang versteckt halten. Die ausgestandene Lebensgefährdung versuchte sie zu verdrängen, doch es blieb in ihr die Angst vor der Unberechenbarkeit und vor der nicht kontrollierbaren Brutalität aufgepeitschter Menschenmassen. Mehrmals hielt sie fest, zum Beispiel in einem Brief an Lusie Kautsky von 1917 aus dem Gefängnis, dass sie angesichts von Menschenmassen stets nur das Bedürfnis habe wegzurennen.

Man muss sich nicht wundern, dass Rosa Luxemburg schon während ihrer Gymnasialzeit an der illegalen Tätigkeit der politischen Opposition teilhatte. Auch lässt sich durch die Erfahrungen der Jugenzeit die Tatsache erklären, dass sie, sobald sie erwachsen war, einerseits nichts mehr mit dem Judentum zu tun haben wollte, dass sie andererseits keine Art menschlicher Demütigung, keine schicht- oder klassenspezifische Diskrimierung anzunehmen gewillt war, auch dass sie sehr früh zu einer hellsichtigen Warnerin vor nationalistischen Entwicklungen wurde.

In der Einleitung zu ihrer Korolenko-Übersetzung hielt Rosa Luxemburg später fest,  dass die achtziger Jahre, die sie in Warschau als Gymnasiastin verbrachte, “eine Periode starrster Hoffnungslosigkeit” waren. Massgeblich beeinflussten sie in jener Zeit die Werke des Dichters Adam Mickiewcz, der, ein politisch Verfolgter und Emigrant, im Jahr 1855, fünfzehn Jahre vor ihrer Geburt, auf ungeklärte Weise in der Türkei starb und der nicht nur zur sozialistischen Verbrüderung, sondern auch zum jüdischen  u n d  zum polnischen Freiheitskampf aufgerufen hatte.

Als Rosa Luxemburg am 14. Juni 1887 das Gymnasium abschloss, war sie geheimes Mitglied der „Revolutionär-Sozialistischen Partei Proletariat”. Nur weil sie ihre Mitgliedschaft geheimhalten konnte, war es möglich, dass ihr am 5. März 1888 ein Pass ausgestellt wurde. Ein Jahr später, im Februar 1889, kam sie in Zürich an. Die Schweiz und insbesondere die Universität Zürich, die damals noch im südlichen Flügel der ETH untergebracht war, konnte sich rühmen, ein Sammelbecken der polnischen und russischen Opposition zu sein, zumal an den Schweizer Universitäten Frauen damals schon zum Studium zugelassen waren.

Rosa Luxemburgs Vorbilder waren die jungen polnischen und jüdischen Rebellinnen, die ein leidenschaftliches Leben einem sicheren und ordentlichen Leben vorzogen: etwa Sofia Perovskaja, die nach dem Zarenattentat von 1881, als Rosa Luxemburg elf Jahre alt war, erhängt wurde. Oder Aleksandra Jentys, die ein Doppelleben führte, tagsüber als verehrte Lehrerin am Institut für “Töchter höherer Abkunft”, nachts aber als “Verschwörerin” agierte und heimliche Geliebte eines verheirateten Mannes war, und die, als Rosa Luxemburg dreizehn Jahre zählte, gemeinsam mit ihrem Geliebten Ludwig Warynski, dem Gründer der Arbeiterpartei “Proletariat”, in der Warschauer Zitadelle eingekerkert wurde, bevor sie, wiederum zwei Jahre später, nach Russland deportiert wurde. Oder zwei weitere Frauen, die, als Rosa fünfzehn Jahre alt war, in der Warschauer Zitadelle inhaftiert wurden: die polnische Adlige Maria Bohuszewicz, die als Neunzehnjährige Leiterin des Zentralkommitees der Arbeiterpartei “Proletariat” wurde, und deren Freundin Rosalia Felsenhard, eine jüdische Lehrerin, die während des Dezemberpogroms das Leben von dreissig ihr anvertrauten Kindern schützte und retten konnte. Als Rosa Luxemburg das Gymnasium abschloss, wurden die beiden Frauen nach Sibirien deportiert und erlitten unterwegs den Tod. Politischer Widerstand, Mut und Liebe wurden für Rosa Luxemburg zu Leitplanken ihrer intellektuellen, emotionalen und existentiellen  Entfaltung.

Dies waren die prägenden Erfahrungen und Vorbilder, die Rosa Luxemburg in sich und mit sich trug, als sie sich an der Zürcher Universität einschrieb: einerseits Erfahrungen, die aus der gering geachteten jüdischen Herkunft und aus ihrer körperlichen Behinderung stammten und die vor allem Ausgrenzung bedeuteten, die aber auch den Willen wachsen liessen, dagegen aufzustehen.  Andererseits Erfahrungen, die aus ihrer politischen Untergrundtätigkeit ein theoretisches und erlebtes Fundament der sozialistisch-proletarischen Solidarität sowie der beispielhaften Unerschrockenheit einzelner Frauen entstehen liessen. Auf diesen Voraussetzungen baute sie ihr Verhältnis zur Herkunft – zum Judentum – auf, ihr Verhältnis zur politischen Aufgabe in ihrer Zeit, ihr Verhältnis zu sich als glückshungriger, tatenhungriger, hochbegabter Frau. Jede Art von Verhältnis konkretisierte sich in Beziehungen – Ausdruck davon sind ihre Briefe -, in ihren öffentlichen Auftritten und in ihrem theoretischen Werk.

Als Rosa Luxemburg sich 1889 in Zürich immatrikulierte (zuerst an der Philosophischen Fakultät, wo sie Zoologie, Botanik und Mathematik belegte, wobei sie nach drei Jahren an die Juristische Fakultät wechselte, an der sie 1897 mit einer Disseration über die industrielle Entwicklung Polens doktorierte), da wusste sie schon, dass sie nicht in der Schweiz bleiben wollte, dass ihr Wirkungsfeld Deutschland sein würde. Zwar knüpfte sie von Zürich aus Kontakte mit den führenden russischen und polnischen sozialistischen Emigranten und Emigrantinnen, die sich in der Schweiz aufhielten (etwa mit Zofia Daszynska, mit Julian Balthasar Marchlewski, mit Georg Plechanow u.a.m.), auch mit einzelnen Schweizer Sozialisten und Sozialistinnen (so mit Mathilde und Robert Seidel, mit Paul Axelrod). Am III. Sozialistenkongress, der im August 1893 in Zürich stattfand, lernte sie August Bebel, Karl Liebknecht, Friedrich Engels, Clara Zetkin und Karl Kautsky kennen, mit dessen Familie, insbesondere mit dessen Frau Luise, Rosa Luxemburg ihr Leben lang befreundet blieb. Über die “Sprawa Rabotniza“ sodann, das Organ der “Sozialdemokratie Polens und Litauens”, das in Paris herauskaum und wofür Rosa Luxemburg während Jahren verantwortlich war, kam sie auch in Kontakt mit bedeutenden französischen Sozialisten, z.B. mit Eduard Vaillant.

Am bedeutungsvollsten aber war, dass sie zu Beginn ihrer Zürcher Zeit Leo Jogiches begegnete, dem aus einer grossbürgerlichen jüdischen Kaufmannsfamilie von Wilna gebürtigen Theoretiker der revolutionär-marxistischen Bewegung, der schon als Jugendlicher wegen konspirativer Tätigkeit inhaftiert worden war und der sich durch seine Flucht nach Zürich dem Militärdienst entziehen konnte. Leo Jogiches’ und Rosa Luxemburgs Beziehung war eine Liebesbeziehung, die alle Abstufungen der Nähe, der gegenseitigen Bewunderung, der Enttäuschung, Abgrenzung und Trennung, dann der erneuten freundschaftlichen und politischen Verbundenheit durchmachte. Jogiches nahm später aktiv an der russischen Revolution in Polen teil, stellte sich nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in den Dienst des Spartakusbundes, bekämpfte die Gründung der KPD und fiel 1919, nach dem Januarputsch, in die Hände der Ordnungskräfte. Nachdem er alle seine Kräfte eingesetzt hatte, damit der Mord an Rosa Luxemburg aufgedeckt und die Mörder zur Veranwortung gezogen wurden, wurde er selber wenig später in seiner Zelle meuchlings ermordet.

Rosa Luxemburg und Leo Jogiches waren von 1891 an ein Paar, nach Jogiches Wunsch und zu Rosa Luxemburgs Leiden in aller Heimlichkeit. Die beiden hätten nicht unterschiedlicher sein können: Jogiches war ein kühler, systematischer Denker, ein überaus disziplinierter, beinah asketischer Denker, für den es nichts ausser der politischen Arbeit gab. Rosa Luxemburg dagegen war ebenso scharfsinnig wie überschwenglich, sie war Idealistin und zugleich, nach ihren eigenen Worten, “ins ganze Leben verliebt”. Ihre Briefe, die in grosser Zahl erhalten geblieben sind, sind eine ständige Klage über vermisste Wärme und Zärtlichkeit von Seiten Jogiches, zugleich aber auch Bestätigung ihrer Liebe sowie des nie abbrechenden Austauschs über die politische Arbeit.

Rosa Luxemburg hatte später noch andere Lieben und Liebschaften, ich werde nicht darauf eingehen. Zu erwähnen ist jedoch, dass sie am 19. April 1898, nach Beendigung ihres Studiums, mit Gustav Lübeck, dem Sohn ihrer Freundin Olympia Lübeck, eine Scheinehe einging, damit sie einen deutschen Pass erhielt, der ihr erlaubte, sich in Deutschland frei zu bewegen. Die Ehe, die nie vollzogen wurde, wurde fünf Jahre später von der preussischen Regierung anerkannt und wieder geschieden.

Interessant ist, dass sich Rosa Luxemburg auf dem Trauschein noch als “israelitisch” eintragen liess, sich später jedoch immer als kofessionslos bezeichnete. Vom Judentum löste sie sich zunehmend, im gleichen Mass, wie ihr politisches Engagement wuchs. Eine Erklärung gibt sie selbst in einem Brief, den sie am 16. Februar 1918 an Mathilde Jacob aus dem Gefängnis Wronke schrieb: “Vor allem muss man jederzeit als voller Mensch leben”. Und sie fuhr fort: “Was willst Du mit den speziellen Judenschmerzen? Mir sind die armen Opfer der Gummiplantagen in Ptumayo, die Neger in Afrika, mit deren Körper die Europäer Fangball spielen, ebenso nahe. Weisst du noch die Worte aus dem Werk des Grossen Generalstabs über den Trotha’schen Feldzug in der Kalahari Wüste; ‘Und das Röcheln der Sterbenden, der Wahnsinnschrei der Verdurstenden verhallten in der erhabenen Stille der Unendlichkeit? – O diese erhabene Stille der Unendlichkeit, in der so viele Schreie ungehört verhallen, sie klingt in mir so stark, dass ich keinen Sonderwinkel im Herzen für das Ghetto habe. Ich fühle mich in der ganzen Welt zuhause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt.”

Bezeichnend erscheint mir, dass Rosa Luxemburg sich wegen ihrer Abkehr vom Judentum nicht mit Selbstvorwürfen oder Schuldgefühlen quälte. Das mag mit der schon im Elternhaus eingesetzten Assimilation zusammenhangen, sicher aber mit ihrem Bedürfnis, sich ohne Einschränkung und ohne Hinderung durch psychische Belastungen für ihre politische Arbeit einzusetzen. Doch war nicht gerade ihr leidenschaftliches politisches Engagement Ausdruck ihres Wunsches zu verdrängen, was eine nicht wählbare Zugehörigkeit bedeutete? – ein Zwiespalt in ihr, der sich nicht verdrängen liess, da Name, Aussehen und Geschichte, resp. ihre Herkunft sich nicht leugnen liessen, auch weil.der Antisemitismus von 1880 an in Deutschland immer mehr an Boden gewann. 1893 sassen im Deutschen Reichstag schon 16 Abgeordnete aus antisemitischen Parteien. Rosa Luxemburg muss sich dieser bedrohlichen Entwicklung bewusst gewesen sein, als sie im Mai 1898 nach Berlin zog und von diesem Augenblick an begann, mit einem unermüdlichen Einsatz für die Befreiung der Arbeiterschaft aus den unwürdigen Bedingungen von Ausbeutung, Abhängigkeit, materiellem Elend und Bildungsnotstand zu kämpfen.

Als Rosa Luxemburg im Oktober des selben Jahres am Stuttgarter SPD-Parteitag teilnahm, war sie eine von sechs Frauen unter 252 männlichen Delegierten, eine von sechs Delegierten mit einem akademischen Titel, dazu als polnische Jüdin Vertreterin einer verschwindenden jüdischen Minderheit inmitten nicht-jüdischer, häufig antijüdisch gestimmter Kongressteilnehmer. In ihren Briefen liess Rosa Luxemburg kaum etwas über die wachsende antisemitische Stimmung verlauten, als hätte sie sich davor gescheut. Leo Jogiches gegenüber, der damals noch in Zürich war, hielt sie in ihren Briefen jedoch immer wieder fest, dass sie sich in Deutschland “allem und allen gegenüber fremd fühle”. Ihre Herkunft konnte sie tatsächlich nicht aufheben, doch sie verschönte sie, wie Luise Kautsky in ihren Erinnerungen festhält. Von ihrem Vater Eliasch, zum Beispiel, der als Holzhändler bei seinen Geschäften Jiddisch sprach, erzählte sie, er habe Eduard geheissen und sei ein aufgeklärter Vorkämpfer sozialer Reformen gewesen.

Die tatsächlichen Beziehungen zu ihrer Familie reduzierte sie auf ein Minimum. Als die Mutter im April 1897 an Magenkrebs erkrankte und Rosa durch Briefe der älteren Schwester Anna erfuhr, wie sehr sie sich danach sehnte, ihr jüngstes Kind zu sehen, antwortete Rosa mit Ausreden, versprach immer wieder zu kommen und fuhr doch nicht zu ihr. Als Lina Luksenburg am 30. September 1897 starb, befand sich Rosa für eine Ferienwoche in Weggis am Vierwaldstättersee. Auf den Tag genau zwei Jahre später starb auch der Vater. Rosa Luxemburg hielt sich damals am Kongress der Internationalen in Paris auf und “kümmerte sich um die dringenden Sorgen der Menschheit”, wie sie in einem Brief bemerkte. Ein Jahr zuvor hatte sie mit dem Vater im Spätsommer zwei Wochen in einer Badekur zugebracht, wobei sie sich ihrer Ablehnung und Fremdheit ihm gegenüber bewusst wurde. An Jogiches schrieb sie, wie unangenehm es ihr war, mit dem gebeugten, schlurfenden alten Mann, den die Leute anstarrten, einen Spaziergang zu machen. Doch als sie nach dem Tod des Vaters die – zum Teil unbeantworteten – Briefe ihrer Eltern durchlas, wurde sie von Schuldgefühlen und Schmerz überwältigt, wie sie Jogiches schrieb. Vermutlich wurde ihr bewusst, dass das, was ihre Eltern als Lieblosigkeit empfunden haben mussten, zugleich ihr eigenes innerstes Leiden war. Auch dass dieses Leiden unabtrennbar verbunden war mit der nicht versöhnbaren Kontingenz existentieller Widersprüche.

Der eigentliche Stachel, der ihrem Widerspruchswillen zugrundelag, war das entwürdigende Elend der Arbeiterexistenz. Hier war der Motor ihrer unermüdlichen politischen Aktivität. Sie begnügte sich nicht mit einer weitgespannten publizistischen Tätigkeit, mit Beiträgen, die sie für die verschiedensten Parteizeitungen schrieb, sondern sie reiste unentwegt quer durch Deutschland, hielt Vorträge und Reden vor Arbeitern, vor allem in den grenznahen polnischen Industriebezirken, “an der Grenze zwischen der Zivilisation und der Barbarei”, wie sie einmal den Kautskys schrieb, bestritt nächtelange Diskussionen mit den Arbeitern, hielt Reden vor SPD-Parteitagen und stand – wiederum nächtelange – parteiinterne Debatten durch, in denen sie gegen den Bernsteinschen Revisionismus  – d.h. gegen Bernsteins These, die kommunistische Bewegung sei als Bewegung schon das Ziel des Marxismus – und für eine echte proletarische Revolution kämpfte, in denen sie für eine gerechte Verteilung des Mehrwerts, für Meinungsfreiheit und Menschlichkeit stritt.

Im Dezember 1905 folgte Rosa Luxemburg unter dem Namen Anna Matschke dem geliebten Jogiches (der sich das Pseudonym Otto Engelmann zugelegt hatte) nach Warschau, wo sie am 4. März 1906 verhaftet und in der Warschauer Zitadelle eingekerkert wurde, bis sie im Juni dank der Bemühungen ihrer Geschwister und einzelner Parteifreunde wieder freikam. Nach einem Abstecher nach St. Petersburg und nach Finnland nahm sie von Frühherbst an wieder all ihre Tätigkeiten auf, wirkte von 1907 an zusätzlich als Dozentin für Nationalökonomie an der Parteihochschule in Berlin, musste kürzere Gefängnisaufenthalte absitzen, kämpfte gegen Lenins Organisationsprinzipien, die, wie sie feststellte, einen antifreiheitlichen Kern hatten. Luise Kautsky hielt in ihren Erinnerungen fest: “Das war’s, was sie vor allem auszeichnete, was ihrem Dasein solchen Schwung verlieh, bei der Arbeit wie beim Geniessen, im Lieben wie im Hassen: sie war sie stets von der gleichen Glut beseelt, lautete doch einer ihrer Lieblingssprüche: Man soll sein wie eine Kerze, die an beiden Enden brennt”. Und Luise Kautsky schloss: “Sie war eine Zaubererin in der Kunst, Menschen zu gewinnen, natürlich nur dort, wo sie es darauf anlegte”.

Rosa Luxemburg hatte allerdings nicht nur die Fähigkeit, Menschen für sich zu gewinnen. Sie brachte Menschen auch gegen sich auf, wurde zur Zielscheibe antidemokratischer und antisozialistischer, antisemitischer und persönlicher Angriffe. Sie liess sich nicht einschüchtern. Für sie galt, wie sie an Otto Hue schrieb, dass “die freie und offene Kritik, der lebhafte Meinungsaustausch, das rege geistige Leben geradezu die Existenzbedingungen, die Lebensluft für die moderne Arbeiterbewegung sind, sowohl für ihren ökonomischen wie für ihren politischen Teil”.

An dieser Linie hielt sie allen Anfeindungen zum Trotz fest. 1918, ein Jahr, bevor sie ermordet wurde, schrieb sie aus dem Breslauer Gefängnis in einem der “Spartakusbriefe”: Es ist „eine offenkundige, unbestreitbare Tatsache, dass ohne freie, ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen undenkbar ist (…). Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur die Freiheit der Andersdenkenden. (…). Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschliessung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt. (…). Der einzige Weg zur Wiedergeburt ist die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkteste, breiteste Demokratie, öffentliche Meinung”.

Der Marxismus, für den Rosa Luxemburg kämpfte, war nicht der Bolschewismus, den Lenin und Stalin durchsetzten. Ihr ging es auch nicht, wie etwa Kautsky, in erster Linie um die Hebung des materiellen Wohlergehens der Arbeiterschaft, sondern um die Schulung der Menschen zur Freiheit. Dem Missbrauch der Arbeitermassen zu Machtzwecken suchte sie mit allen Mitteln entgegenzuwirken. Am 5. Kongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in London von 1907 machte Rosa Luxemburg auch mit aller Deutlichkeit klar, dass, was mittels einer Revolution erreicht werden sollte, nicht  e i n e r  Nation zugute kommen sollte, sondern der Menscheit überhaupt. Sie warnte vor nationalistischen Zielsetzungen. Gegen die Ausschliesslichkeitsansprüche nationaler Gruppierungen, gegen Terror und ausgrenzende Machtansprüche proklamierte sie die Vision einer friedlich zu verwirklichenden Gemeinsamkeit der Lebensinteressen.

Ihre grösste Sorge galt der Verhinderung des Weltkriegs, der eigentlich nicht mehr zu verhindern war. Sie rief zu internationalen pazifistischen Meetings auf, organisierte in Berlin eine Friedenskundgebung, an der 100’000 Menschen teilnahmen, appellierte an die Vernunft der Menschen an der letzten Sozialistischen Friedenstagung vor dem Krieg in Brüssel. Doch ihr verzweifeltes Bemühen war vergeblich. Die deutschen Sozialdemokraten waren zutiefst zerstritten. Sie begingen den Verrat und willigten in die Kriegskredite ein.

Im Februar 1914, bei Ausbruch des Kriegs, wurde Rosa Luxemburg zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Wegen eines Krankenhausaufenthaltes wurde der Strafantritt auf Februar 1915 verschoben. Ein Jahr später kam sie frei, Anfang März 1916 schrieb die Junius-Broschüre und im Juli wurde sie erneut verhaftet und in “Sicherheitshaft” verbannt, zuerst in der Festung Wronke, dann in Breslau, nachdem Karl Liebknecht gleich nach den Maidemonstrationen gefasst und Clara Zetkin in ein Irrenhaus gesteckt worden waren. Nach angestrengten Bemühungen ihrer Rechtsanwälte, denen Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis selbst die Weisungen erteilte, wurde sie schliesslich am 9. November 1918 wegen ihrer Magenerkrankung aus der Haft entlassen. Noch auf dem Breslauer Domplatz hielt sie die erste Rede, reiste dann nach Berlin, wo am 14. Dezember 1918 das Programm des Spartakus-Bundes beschlossen und am 8. Januar1919 in der “Roten Fahne” veröffentlicht wurde. Jede freie Minute verwendete Rosa Luxemburg auf die Herausgabe dieser einzigen “wirklich sozialistischen Zeitung”.

Der Spartakus-Bund, dessen Führung aus Rosa Luxemburg, Leo Jogiches und Karl Liebknecht bestand, strebte die Verwirklichung des humanistisch und pazifistisch geprägten sozialistischen Programms an, das Rosa Luxemburg immer schon vertreten hatte, gegen Kompromisse (à la Kriegskredit-Zustimmung) und gegen Terror. Das hiess deutlich und unmissverständlich gegen den anpasserischen Kurs der SPD und gegen den bolschewistischen Terror.

Die Arbeit war unvorstellbar schwierig. Antisemitische Hetze, Angriffe und Verleumdungen, Terror und persönliche Bedrohung gehörten zum Alltag. An Clara Zetkin schrieb Rosa Luxemburg vom täglichen Wohnungswechsel, von der stündlichen Gefahr, von Gehetzheit und Gejagtheit. Sie riet ihr, unter diesen Umständen nicht sofort nach Berlin zu kommen, sondern zu warten, bis sich, vielleicht in einer Woche, die Situation etwas beruhigen würde.

Aber die Situation beruhigte sich nicht. In Berlin herrschte eine nicht mehr kontrollierbare Pogromstimmung. Am 15. Januar wurden Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Pieck, der politische Leiter der KPD, von einem Rollkommando der Garde-Kavallerie verhaftet und ins Eden-Hotel gebracht, das voll von aufgetzten Soldaten und Offizieren war. Pieck kam wieder frei, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden voneinander getrennt. Pieck berichtete in der Folge, wie ein Hauptmann den Soldaten Zigaretten verteilte und ihnen sagte, die Bande dürfe das Hotel nicht lebend verlassen. Er hielt fest, wie ein Dienstmädchen sich einer Kollegin in die Arme warf und schluchzte, sie könne das nicht vergessen, wie die verhaftete Frau – Rosa Luxemburg – niedergeschlagen und herumgeschleift worden sei.

Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht müssen kurz hintereinander erschossen worden sein. Rosas Körper wurde in den Landwehr-Kanal geworfen, aus dem er erst vier Monate später, am 31. Mai 1919, geborgen wurde.

Als Rosa Luxemburg am 13. Juni 1991 auf dem Friedhof Friedrichsfeld beigesetzt wurde, folgte dem Sarg eine unabsehbare Menschenmenge: Arbeiter, Matrosen, uniformtragende Soldaten, eine schweigende Demonstration der Trauer um diese ungewöhnliche, widersprüchliche Frau, die den humanistischen Kern von Marx’ Lehre mit dem biblischen Gebot der Gerechtigkeit zu verbinden suchte, unermüdlich, ohne Schonung ihrer Kräfte, im ständigen Ertragen der eigenen existentiellen Widersprüchlichkeit, letztlich im Glauben an das unteilbare Recht aller Menschen auf das “ganze Leben”, auf Freiheit, auf Glück.

 

Was heisst „Es ist ein Fehler, verstanden werden zu wollen, bevor man sich selbst mit seinen eigenen Augen klar gesehen hat“?– Simone Weil

 

Als Rosa Luxemburg ermordet wurde, war Simone Weil gerade zehn Jahre alt. Sie kam am 3. Februar 1909 in Paris zur Welt.

 

Meine Auseinandersetzung mit ihr begann, als ich gerade die Mittelschule beendigt hatte. Meine Schwester hatte mir damals für die Rückfahrt von Paris in die Schweiz ein kleines Buch mit aphorismenartigen Texten in die Hand gedrückt, das unter dem Titel „La pesanteur et la grâce” kurz nach dem Krieg durch den katholischen Laientheologen Gustave Thibon herausgegeben worden war. Was ich las, wühlte mich auf – die knapp formulierten Gedanken über das Unglück, über die Leere, über Notwendigkeit, Entwurzelung und Einwurzelung, über Ent-Schöpfung, über die Gottesliebe -, nichts aber so sehr wie die Ausführungen über das jüdische Volk und über das Judentum. Das war blasphemisch, ich war entsetzt. Zugleich liess mir das Geheimnis dieser Frau und Denkerin keine Ruhe mehr.

Erst als mir die „Cahiers“ vorlagen und ich die Komplexität der Aufzeichnungen lesen konnte, wurde mir klar, mit welch tendenziöser Willkür Gustave Thibon Auszüge aus diesen Arbeitsheften, die Simone Weil ihm vor ihrer Emigration in die USA anvertraut hatte, thematisch “geordnet” hatte. Eine der Folgen dieser Veröffentlichung war, dass Simone Weil während langer Zeit von christlichen Kreisen vereinnahmt wurde. Es verwundert nicht, dass jüdische Denker – so Martin Buber oder Emmanuel Lévinas – sie ablehnten, von ihr befremdet oder verletzt.

Andere jüdische Interpreten, etwa Wladimir Rabi, waren sich einig, dass Simone Weils Werk nur verstanden werden kann, wenn ihre Jüdischkeit, diese so offenkundige und zugleich so schmerzlich geleugnete Prägung, miteinbezieht. Ich bin überzeugt, dass dieser Widerspruch zum grossen Teil die Kontinuität der selbstverletzenden Nichtübereinstimmung von Rationalität und Emotionalität in Simone Weils Leben erklärt: ihr Unglück, ihre Einsamkeit, ihr scheinbares Scheitern in der Welt und ihren Tod, dass er ebenso die Quelle ihres mystischen, ihres philosophsichen und ihres revolutionären Werkes ist.

Die Rationalität ist in der kartesianisch geprägten Philosophie, die in Frankreich als Masssta “richtigen“ Denkens auch für Simone Weil galt, in einer harten Nichtübereinstimmung mit allen verborgenen, emotionalen Teilen der Psyche. „Verstehen muss immer konkret sein“, wird in Cahiers I, S. 97 festgehalten. Dass die unbewussten Teile der Psyche auch die intellektuellen Kräfte des Menschen, ja den Körper in seiner gesasmten Komplexität beeinflussen, war für Simone Weil nicht annehmbar, da für sie Vernunft als regulierende Instanz auch in allem, was psychischer und physischer Schmerz ist, was Leiden, Hoffnung und Freude oder was „Schuld“ bedeutet, beachtet werden muss, im Sinn einer moralischen Verpflichtung. Jede “Suche nach Vergnügen“ und jede Art von Lustempfinden galt für sie als “schlecht“. Da aber das, was “schlecht“ ist, nicht korrigiert oder aufgehoben werden kann, nachdem es getan oder erlebt wurde, d.h. indem es Vergangenheit bedeutet, kommt es für Simone Weil zu jener “grossen Versuchung“: zu verdrängen resp. vergessen zu wollen, was belastet, weil es im Jetzt nicht mehr ist. Sie spricht von Schwäche, ja von schuldhaftem Ungenügen der Vernunft: “Die Notwendigkeit in ihrer reinsten Form – die Zeit – nicht überwinden zu können; ihr durch den Mangel an Bewusstsein zu entkommen oder sich ihr blind zu unterwerfen, das ist die schändlichste Versuchung“ (Cahiers I, S. 95-96).

Eine extreme Spaltung ist in Simone Weil spürbar zwischen der moralischen Forderung, durch Gehorsam gegenüber einem streng zu beachtenden Rationalismus eine zeitunabhängige Regulierung der eigenen psychischen, physischen und intellektuellen Kräfte zu schaffen, analog der Perfektion eines Instruments, das abhängig ist von der Perfektion dessen Kontrolle – und der Tatsache ihrer weiblichen Existenz mit der Fülle von Bedürfnissen, von Zeitbedingtheit und von Abhängigkeit. Diesem Widerspruch zwischen philosophischer und existentieller Werteskala, welcher Simone Weil sich aussetzte, gilt die Untersuchung. Warum war es für sie eine moralische – wie letztlich auch eine aesthetische– Pflicht, körperliche und emotionale Bedürfnisse zu überwinden? – für sie, die festhielt, es sei “ein Fehler verstanden werden zu wollen, bevor man sich sebst mit seinen eigenen Augen klar gesehen hat“ (Cahiers I, S. 97). Mit  „klar sehen“ meinte sie die schonungslose Kontrolle der Empfindungen und der Triebe – auch der Bedürfnisse ihrer Weiblichkeit -, besonders der Bedürfnisse nach Freundschaft und nach Liebe.

Wie lässt sich diese rätselhafte Kontingenz des Widerspruchs entschlüsseln?

Ein Teil der Kindheits- und Jugendgeschichte mag klärend sein: Als Simone Weil zur Welt kam, lebten ihre Eltern in Paris. Der Vater, Bernard Weil, war Arzt, zur Zeit von Simone Geburt 37 Jahre als, aus Strasbourg gebürtig, aus einer Familie, die seit langer Zeit im Elsass ansässig war. Bernard Weils Vater, Abraham Weil, hatte nach dem Tod seiner ersten Frau ein zweites Mal geheiratet, die Schwester der ersten Gattin, und hatte aus den zwei Ehen eine Schar Kinder. Bernard Weils Mutter, Eugénie Weil, wurde 93 Jahre alt, eine sehr gläubige Frau, die jede Woche bis ins hohe Alter im Haus ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter zu Besuch weilte und dabei regelmässig die Küche inspizierte. Sie soll gesagt haben, sie würde ihre Enkelin lieber tot sehen als mit einem Goj verheiratet. Bernard Weil, im Gegensatz zu seinen Eltern, soll sich als Atheist und Anarchis bezeichnet haben, dies wenigstens in jungen Jahren; gleichzeitig aber war er ein freundlicher und hilfsbereiter Mensch, hilfsbereit vor allem Armen gegenüber in seiner Tätigkeit als Arzt.

Simone Weils Mutter Selma Reinherz (oder Salomea, wobei sie offenbar beide Namen nicht mochte) war in Rostov am Don zur Welt gekommen, wo die Familie an die zwölf Jahre lang in grossem Stil gelebt hatte. Ihr Vater, Adolphe Reinherz, stammte aus Galizien, und ihre Mutter, Hermine Sternberg, aus Wien. Infolge der in Russland einsetzenden Pogrome gelangte Adolphe Reinherz mit seiner Familie nach Antwerpen, wo sie sich 1882 niederliessen, bald wieder Wohlstand und Ansehen erwerben konnten und mit der belgischen Staatsbürgerschaft geehrt wurden. Adolphe Reinherz war ein  Sammler hebräischer Bücher und verfasste selber hebräische Gedichte. Hermine Reinherz-Sternberg, also Simone Weils Grossmutter, kam aus einer Musikerfamilie und spielte hervorragend Klavier. Auch Simone Weils Mutter hatte eine Gesangsausbildung gemacht. Sie wäre gerne Ärztin geworden, was damals in ihrem Kreis jedoch als unschicklich galt. Auch ihre Geschwister, die zum Teil jung starben, zum Teil in Frankreich lebten, waren in vielen Belangen begabte Menschen. Die Familie Reinherz fühlte sich jüdisch, jedoch in weltoffener, liberaler Weise. Die Grossmutter lebte nach dem Tode ihres Ehemannes bei den Weils.

Simone Weils familiärer Hintergrund war somit das jüdisch emanzipierte, grossbürgerliche Milieu, in welchem eine tolerante, humanistische Bildung selbstverständlich war, wo auch existentielle Privilegien zum Alltag gehörten, etwa Ferienaufenthalte am Meer oder in den Bergen. Vor dem Ersten Weltkrieg und  teilweise noch in der Zwischenkriegszeit war dieser Lebensstil in jüdischen Kreisen in Europa nicht selten. Während des Ersten Weltkriegs wurde Bernard Weil als Truppenarzt eingezogen. Selma Weil folgte ihm mit den Kindern quer durch Frankreich, wo immer er stationiert war.

Der stärkste Einfluss, der in jener Zeit auf Simone Weil einwirkte, war ihr zweieinhalb Jahre älterer Bruder André. Er war der enge Spielgefährte ihrer Kindheit, ihr Vorbild und Ansporn, ihr Masstab in intellektueller Hinsicht auch während ihrer ganzen Jugendzeit. Als Simone Weil vier Jahre alt war, lehrte André sie lesen, er führte sie in die griechischen Götterhierarchien und in die römische Geschichte ein. Mit vierzehn Jahren bestand er die Baccalauréat-Prüfungen und studierte anschliessend Mathematik an der Ecole Normale Supérieure in Paris. Er wurde in der Tat ein berühmter Mathematiker, der noch vor dem Krieg in die USA emigirierte, in den fünfziger Jahren auch kurze Zeit an der ETH in Zürich lehrte.

Simone Weil war in frühen Kindheit häufig krank, ein überempfindliches und zugleich hochbegabtes Kind (ausser in manuellen Belangen, wo sie höchst linkisch war). Im Vergleich mit ihrem Bruder kam sie sich als Mädchen immer ungenügend vor. Später hielt sie fest, dass sie mit vierzehn Jahren “wegen der Mittelmässigkeit  ihrer natürlichen Fähigkeiten in eine bodenlose Verzweiflung gefallen” sei. Es sei nicht Neid gewesen wegen der äusseren Erfolge ihres Bruders, sondern ein grosses Bedauern, “keine Hoffnung zu haben, in jenes transzendente Reich vorzudringen, wo nur wirklich grosse Männer Zugang haben und wo die Wahrheit ihren Sitz hat. Ich wollte lieber sterben, als ohne Wahrheit leben”.

Ich denke, dass drei Kindheitsprägungen hervorzuheben sind, die Simone Weils spätere Entwicklung sowohl in philosophischer und religiöser, in existentieller wie in sozialer Hinsicht beeinflussten: Die starke Identifikation mit dem bewunderten Bruder schürfte in ihr schon früh das Bedürfnis, wenn auch nicht mit der gleichen Leichtigkeit, so doch mit dem gleichen Ernst alle wichtigen Fragen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und somit nicht ein “weibliches” Leben, nach damaligen Kriterien, sondern ein “männliches” Leben anzustreben. Dass ihr das “Reich der Transzendenz” allein “grossen Männern” vorbehalten erschien, mag die Negation ihrer eigenen Weiblichkeit mitverursacht haben. Allein dadurch aber lässt sich ihre zunehmende Askese und die Ablehnung aller körperlichen Bedürfnisse nicht erklären, die während des Londoner Exils 1943 in die tödliche Anorexie – diese mit ärztlicher Kunst nicht mehr heilbare Hungerkrankheit – mündete. Sie zerbrach an der Nichtübereinstimmung zwischen den intellektuellen Forderungen, denen sie zu genügen suchte, und ihrem eigenen Existenzwert, den sie herabsetzte. Alles Erkennen musste der Idealisierung der rationalen Kontrolle gehorchen. Noch in Cahiers I, in welchem Aufzeichnungen aus den Jahren 1933 bis 1940 vorliegen, hielt sie fest: “Wie man sie auch betrachtet, erdrückt die Zivilisation, in der wir leben, den menschlichen KÖRPER. Der Geist und der Körper sind einander fremd geworden. Die Verbindung ist weg. In diesem Sturm ist es schon viel, den Begriff der Richtung zu bewahren (den konkreten Begriff)“.

Zweitens hat, scheint mir, der zu jener Zeit gerade im gehobenen Bürgertum – auch in der Familie Weil – übliche Reinleichkeitswahn Simone Weils übersteigerte Selbstkontrolle beeinflusst. Es war die Zeit der Bakterienphobie. Die Kinder Weil wurden angehalten, sich ständig zu waschen, vor allem, wenn sie fremden Menschen die Hand gaben oder öffentlich benutzte Türklinken oder andere “schmutzige” Gegenstände benutzt hatten. Das führte dazu, dass Simone Weil einen Widerwillen – “dégout” (als Kind sagte sie „dégoutation”) – vor jeder Berührung entwickelte, ja sich nicht einmal mehr von ihrer Mutter umarmen lassen wollte. Mag sein, dass diese Entwicklung den Eindruck einer gewissen burschikosen Härte schuf, die in keiner Weise mit ihrer Warmherzigkeit, letzlich mit ihrer mitempfindenden, mitleidenden Psyche übereinstimmte.

Drittens führten die Ereignisse des Ersten Weltkriegs dazu bei, dass Simone Weil früh ein soziales Gewissen zu entwickeln begann, das immer stärker und bestimmender wurde. Schon als Kind und als Jugendliche erkannte sie, dass Menschen zu Opfern gemacht werden, und dass sie sich mit diesen und nicht mit jenen anderen, die Macht ausübten, solidarisieren wollte. Später erkannte sie, dass diejenigen Menschen, die Opfer von Machtmissbrauch und Gewalt werden, ein Ausmass an Demütigung erleiden, das ihnen die Kraft raubt, gegen den Missbrauch, den sie zu erleiden haben, aufzustehen, ob dies Soldaten seien, die als Kanonenfutter eingesetzt werden, oder Arbeiter und Arbeiterinnen, die als Produktionsmittel wie Maschinen benutzt und ausgebeutet werden. Sie erkannte, dass diese Menschen in erster Linie befähigt werden müssen, sich selbst als handlungsfähige und denkende Individuen zu erkennen. Später wird Simone Weil – auf Grund dieser schon in der Kindheit intuitiv erfassten Zusammenhänge – erkennen, dass eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in erster Linie ein Erziehungs- und Bildungsproblem der Arbeiterschaft ist, dass eine Arbeiterkultur entstehen muss, die die Grundlage für ein veränderungsfähiges Selbstwertgefühl schafft, das über die Erfüllung individueller Bedürfnisse hinaus zur Solidarisierung der Unterdrückten führt. Doch damit habe ich vorgegriffen.

Auf jeden Fall wird deutlich, dass Simone Weil in ihrer Identität durch ihre jüdische Herkunft zwar geprägt wurde, gleichzeitig aber kaum geprägt war. Sie erlebte das Judentum durch ihre Grosseltern, insbesondere durch die Grossmütter, als Teil familiärer Selbstverständlichkeit im Rhythmus der Wochentage und der Jahresfeste, jedoch kaum als Zwang religiöser Zugehörigkeit, da im Verhalten immer eine Differenz akzeptiert wurde. Mit der Zeit geriet sie in eine Art Abwehrhaltung. Während ihrer Gymnasial- und Studienzeit traten viele jüdische Intellektuelle, darunter einige ihrer Lehrerinnen, zum Katholizismus über. Zum Teil versuchten diese auch, die wenigen jüdischen Schülerinnen in dieser Hinsicht zu beeinflussen. Simone Weil, deren intensives Erkenntnisbedürfnis auch die Gottesfrage und mithin die religiöse Frage einschloss, nahm während der Schulzeit an Betrachtungs- und Diskussionszirkeln teil, die teilweise missionarische Zielsetzungen hatten. Doch sie beachsichtigte schon damals in keiner Weise, wie sie eines Tages ihren Eltern versicherte, die Religion zu “wechseln”. Gemäss ihren Aufzeichnungen war die Gottesfrage für sie wichtiger war als die Religionsfrage. Allerdings zeigte sie während des Studiums eine Art Befangenheit, wenn die Rede auf ihre jüdische Herkunft kam. Simone Pétrement, ihre Freundin, Studienkollegin und Biographin, von der viele Details von Simone Weils Entwicklung festgehalten wurden, erzählt, dass eines Tages, als sie zusammen durchs Quartier Latin spazierten, eine Gruppe von Studenten eine Zeitung verkauften, die als „anti-métèque et anti-youpin” angepriesen wurde. Simone Pétrement habe die Freundin gefragt, was damit wohl gemeint sei. Simone Weil soll rot geworden sein und ihr geantwortet haben, dass sei so ein Schimpfwort für die Juden.

Auch in Frankreich nahm in den zwanziger Jahren der immer schon latente und – wie z.B. die „Dreyfus-Affaire” beweist – auch schon im 19. Jahrhundert schnell aktivierbare Antisemitismus und Rassismus (die Zeitung der Studenten war ja zugleich antijüdisch und anti-mestizisch, das heisst gegen alle „Mischlinge”) immer offenere und unverschämtere Formen an, bis er dann 1933, im Zug der Entwicklung in Österreich, letztlich überall in Europa, besonders aber im benachbarten Deutschland in offene Hetze ausartete. Doch nicht dies, scheint mir, hat Simone Weils Verhältnis zum Judentum beeinflusst. Ihrem Charakter entsprechend hätte genau diese Entwicklung ihre aktive Solidarisierung wecken müssen. Es war eine viel geheimere und kompliziertereAbwehr, die parallel zur Abwehr ihrer Weiblichkeit ging. Die Abwehr der jüdischen Tradition in ihrer eigenen Spiritualität, in welcher ein mystisches Bedürfnis spürbar wird, war Ausdruck des Widerstands gegen die Kräfte der Emotionen überhaupt. Dazu kam, dass ihr Denken – wiederum entsprechend dem Gebot des Rationalismus – die Frage des Judentums ausschliesslich mit der Darstellung Gottes in der Thora verband.

Beide – völlig verinnerlichten – Negationen müssen einen erschöpfenden Leidensdruck bewirkt haben. Sie setzte diesem die Unerbittlichkeit ihrer Wahrheitssuche entgegen, nach der sich ihr Studium, ihr politisches und soziales Engagement wie ihr Weg der mystischen Erfahrung, die sie selber als Denken verstand, ausrichtete. Gerade angesichts dieser unbedingten Wahrheitssuche erscheint die Zurückweisung ihrer Geschlechtlichkeit und ihrer Jüdischkeit als schwer verständlich. Sich selber nachzuspüren und die Ursachen ihrer Abwehr zu finden, um sie lösen zu können, erlaubte sie sich nicht; die Psychoanalyse lehnte sie als trügerischen Erkenntnisweg ab.

Als Simone Weil das Baccalauréat machte, war sie sechzehn Jahre alt. Wie ihr Bruder André schrieb auch sie sich an der Ecole Normale Supérieure ein, jedoch nicht für das Mathematikstudium, sondern für Philosophie. Ihr Lehrer war Alain, der damals hoch geschätzte Autor der “Propos” (mit bürgerlichem Namen Emile Chartier). Simone Weil gehörte zu einer kleinen Gruppe gleichgesinnter Studierender, in welcher die Forderung nach konsequenter Übereinstimmung von Denken und Lebenspraxis galt. In jener Zeit fühlte sie sich vermutlich beinah glücklich. Niemanden störte ihr eigenwilliges Aussehen, das männliche Kostüm mit den grossen Taschen, das sie täglich trug, die Lebhaftigkeit ihrer Gesten, die Monotonie ihrer Stimme. Simone de Beauvoir, die gleichzeitig mit ihr an der Sorbonne studierte, hält in ihren “Mémoiren einer Tochter aus gutem Haus” fest: “Sie interessierte mich wegen des grossen Rufs der Gescheitheit, den sie genoss, und wegen der bizarren Aufmachung”. Sie erinnert sich auch, dass Simone Weil in Schluchzen ausgebrochen sei, als bekannt wurde, dass eine grosse Hungersnot China heimgesucht habe. “Diese Tränen zwangen mir mehr Achtung ab als ihre Begabung für Philosophie”, fügte Simone de Beauvoir hinzu. “Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen”.

Die beiden hatten grundlegend verschiedene Interessen. Die soziale Frage, die für Simone Weil im Zentrum stand, interessierte Simone de Beauvoir nicht, während die Geschlechterfrage, mit der Simone de Beauvoir sich schon früh beschäftigte, für Simone Weil ohne Bedeutung war. Als die Gruppe um Alain und die “Libres Propos” sich zu einer “Groupe d’éducation” zusammenschlossen – einer Art Arbeiterbildungsorganisation -, um regelmässig Eisenbahnarbeitern in allen möglichen Fächern Unterricht zu erteilen, hätte Simone Weil auch über die Frauenfrage sprechen sollen, nachdem sie Gesellschaftskunde, Philosophie und griechische Poesie mit Begeisterung unterrichtet hatte. Über die Frauenfrage zu sprechen weigerte sie sich. Sie sei keine Feministin, erklärte sie kurz, und bat eine Mitstudentin, Jeanne Alexandre, sie zu vertreten. Ähnlich wie Rosa Luxemburg wollte sie nicht die doppelte Ausbeutung und Rechtlosigkeit der Frauen wahrnehmen.

Nach Abschluss des Studiums und einer ersten philosophischen Lehrstelle in Le Puy, in der Nähe des grossen Industriezentrums von Saint Etienne, hatte sie wichtige Erfahrungen gesammelt. Diese wurden spürbar in ihrer Methode, Philosophie nicht mittels eines Lehrbuchs zu unterrichten, sondern über das Studium bedeutender Texte und über Fragen, die mit der vielfältigen Wahrnehmung der Realität zu tun hatten. Dies stiess auf harsche Kritik, auch ihr politisches Engagement für die arbeitslosen und erwerbslosen Industrie- und Landarbeiter der Region, an deren Spitze sie sich bei Demonstrationen stellte. Sie wurde zur “vierge rouge” gestempelt. Die Hetze, die gegen “la juive Weil”  losging, mit Polizeiverhören und anonymen Drohbriefen, und die zum Verlust ihrer Anstellung führte, hatte einen unüberhörbar antisemitischen Hintergrund.

Trotzdem – oder gerade deshalb – entschloss sie sich, den Sommer und Herbst 1932, unmittelbar vor Hitler Machtergreifung, in Berlin zu verbringen. Sie wollte sich mit dem Kräfteverhältnis der Parteien befassen, mit den sozialen Bedingungen der Arbeiterschaft, die einen grossen Teil der acht Millionen hungernder Erwerbsloser in Deutschalnd ausmachte, mit den Chancen und Schwächen einer Organsiation der Arbeiter in den Gewerkschaften, in der KPD oder in der SPD, sodann mit dem zunehmenden Bedrohungspotential des Nationalsozialismus und den Gründen seines Erfolgs – kurz mit der wachsenden Lähmung der demokratischen Strukturen und mit der fortschreitenden Verelendung der Bevölkerung. Sie spürte, dass die Lage revolutionär war  – und trotzdem brach keine Revolution aus. Simone Weil fragte sich, warum dies so war.

Ihre Analysen und Kommentare, die sie im  gleichen und im darauf folgenden Jahr in “L’Ecole émancipée”, dem Organs der Lehrergewerkschaft veröffentlichte, gehören zum Scharfsinnigsten, was kurz vor Hitler Machtübernahme über die heillose Handlungsunfähigkeit der deutschen Sozialdemokratie und der deutschen Kommunisten, aber auch über das verhängnisvolle Verführungspotential des Nationalsozialismus geschrieben wurde. Es ist eine klare, rationale Analyse. Simone Weil schloss darin auch Untersuchungen über den zur terroristischen Staatsbürokratie verkommenen Marxismus in der damaligen UdSSR ein. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, zu denen etwas mehr als zehn Jahre früher Rosa Luxemburg gehört hatte, war Simone Weil ihrer Zeit weit voraus.

Warum brach, Simone Weil zufolge, 1932/33 in Deutschland keine Revolution aus? Sie kam zum Schluss, dass von einem bestimmten Grad der Entwürdigung und Abhängigkeit an eine Revolution nicht mehr möglich ist, sondern nur noch die vollständige Unterwerfung der Menschen unter die entwürdigenden Bedingungen. Diese bestanden in erster Linie in der Instrumentalisierung der Arbeiter. Menschen, die wie Maschinen allein zum Zweck der Produktionssteigerung benutzt werden, sind nicht mehr in der Lage, sich für ihre menschlichen Werte zu wehren. Lähmend ist – gemäss der Erkenntnis Simone Weil’s – die Herrschaftsstrategie, deren Opfer nicht allein von den Eigentumsverhältnissen bezüglich der Produktionsmittel abhängig sind, sondern ebenso eindeutig von den Produktionsverhältnissen, von der Struktur der Fabriken, von der völligen Entpersönlichung der Arbeit. Was Simone Weil schon in Le Puy festgestellt hatte, bestätigte sich in Berlin. Ihre Überzeugung war, dass die Anonymität und das Ohnmachtsgefühl der Arbeiter aufgehoben werden musste, dass Arbeit wieder zum überschaubaren, mitschöpferischen Prozess werden musste. Es ging darum, die Struktur der industriellen Produktion zu verändern und damit die Struktur der Herrschaft, ob diese durch privaten Kapitalismus oder durch Staatskapitalismus getragen war. Es ging darum, die neue Versklavung der Menschen aufzuheben. Und dies war, sah Simone Weil ein, in erster Linie ein Bildungsproblem. “Die einzige subversive Kraft ist das Denken”, hielt sie in einem ihrer Texte fest. Nur durch ein neues Konzept der Arbeit, durch welches der Arbeit wieder Würde zukam, konnte die demütigende Entwertung der Arbeitenden und deren Rückzug auf die blosse Subsistenz, damit deren Verzicht zu denken, aufgehoben werden. Das hing nicht in erster Linie von der Verkürzung der Arbeitszeit und der Verlängerung der Freizeit ab, sondern von der Aufhebung des Taylorismus.

Nach der Rückkehr aus Deutschland und nach kurzen Lehrtätigkeiten in Roanne und in Auxerre entschloss sich Simone Weil, nicht länger Philosophie zu unterrichten, sondern selbst in Fabriken zu arbeiten, um die Bedingungen der entfremdeten Arbeit nicht nur aus der Theorie oder aus der Beobachtung, sondern im gelebten Leben zu kennen. Im Dezember 1934 begann sie, zuerst bei Alsthom, dann bei Renault,  als ungelernte Arbeiterin zu arbeiten, an grossen Werkzeugmaschinen und am Fliessband, unter Akkordbedingungen, im ohrenbetäubenden Lärm – eine erschöpfende, peinigende Erfahrung, zumal sie ständig unter schweren Kopfschmerzen litt. Ihr “Fabriktagebuch”, sowie Briefe und kürzere Aufzeichnungen jener Zeit geben davon Zeugnis.

Simone Weil erkannte nicht nur, sondern erlebte, wie schwer es ist, in einem oppressiven System ein Bewusstsein der Freiheit und der Würde zu erhalten. In ihrem letzten Lebensjahr, neun Jahre später, entwickelte sie die Erkenntnisse der Fabrikarbeit in einem programmatischen Werk, das sie im Auftrag der französischen Exilregierung in London schrieb. “L’Enracinement” muss als ihr eigentliches Testament betrachtet werden. Im Zentrum steht hier der Gedanke, dass die gleiche Bedürftigkeit der Menschen die Grundlage ist für die gleiche verbindliche Verpflichtung, diese Bedürfnisse zu erfüllen. Von Rechten kann erst gesprochen werden, wenn die Verbindlichkeit ernstgenommen wird. “La notion d’obligation prime celle de droit”.

Ich nehme an, dass “obligation” im Verhältnis von Mensch zu Mensch nichts anderes bedeutet als “religion” im Verhältnis von Mensch zu Gott. Doch während Religion sich allein durch die Kraft der Aufmerksamkeit erfüllt, bedarf die “obligation” des denkenden  u n d  handelnden Menschen. So wie die gegenseitige Bedürftigkeit  im Verhältnis der Menschen die Erfüllung der “obligation” erfordert, so liegt ihr gleichermassen das Verhältnis eines jeden Menschen zu Gott zugrunde, gemäss Simone Weil “la destinée éternelle de chacun”. Anzunehmen ist, dass für sie der Respekt vor der gleichen “destinée éternelle” die Herstellung gerechter Lebens- und Arbeitsverhältnisse notwendig macht.

Den Zweck der kleineren und grösseren Gemeinschaften, auch den des Staates, erkannte Simone Weil in der Verhinderung der Unterdrückung des einzelnen Menschen, insbesondere in der Verhinderung von Kriegen. Denn Kriege, stellte sie fest, sind die gewalttätigste Zuspitzung eines Systems der Unterdrückung, der Menschenverachtung und der Gewalt. Es gibt keinen Krieg, sagte Simone Weil, der nicht ein Krieg der Mächtigen gegen diejenigen ist, die ihn führen müssen und die in ihm getötet werden. Jeder Krieg ist weniger ein Ereignis zwischen den Staaten als ein Ereignis im Inneren der menschlichen Gesellschaft. “Quand il y a oppression, ce n’est pas la nation qui est opprimée, c’est un homme et un homme et un homme”..

Was der Krieg bedeutet, wieviel unkontrollierbare Gewalt durch ihn freigesetzt und quasi legitimiert wird, wurde ihr schon 1936 deutlich, als sie sich der internationalen Anarchistengruppe, der Kolonne Durruti, anschloss, um auf Seiten der Republikaner am Bürgerkrieg in Spanien teilzunehmen. Zwar war ihr Spanienaufenthalt nach wenigen Wochen infolge eines Unfalls beendet, doch sie hatte an der Front genug erlebt, um die Lüge jedes sogenannt “gerechten” Kriegs zu durchschauen.

Noch bevor sich der Weltkrieg mit der deutschen Besetzung Frankreichs, mit dem Arbeitsverbot für Juden, mit der Flucht oder mit deren Abtransport in die Lager, schliesslich in die Vernichtung zuspitzte, wurde für Simone Weil die Frage nach ihrer Zugehörigkeit mit dem sich verschärfenden Antisemitismus immer quälender. Ihre Nähe zum Judentum zeigt sich trotz ihrer Abwehr, wie mir scheint, in der Ethikdie ihrem  Entwurf einer gerechten, unterdrückungsfreien Gesellschaft zugrundeliegt. Hier ist ihr Platz in einer langen Tradition, auch wenn sie dies nicht anerkennen konnte, so wie auch Rosa Luxemburg ihren Platz in dieser Tradition nicht anerkannte. Doch gerade daurch spitzte sich der Widerspruch, den sie sich in einer langen Kontinuität zu leben zwang, aufs schmerzlichste zu.

Dieser Widerspruch schmerzte in allen existentiellen und philosophischen Bezügen zutiefst. In politischer Hinsicht verlangte er von ihr eine fortgesetzte Korrektur von Positionen: vom Marxismus zum Anarcho-Syndikalismus, dann zu einer  – nach Gerechtigkeitskriterien ausgerichteten – staatlichen Ordnung und einer – nach Kriterien der Verantwortlichkeit abgestuften – gesellschaftlichen Hierachie. In spiritueller Hinsicht prägte die Nicht-Übereinstiummung ein von den griechischen Mythologien genährtes Streben nach Gottnähe, verbunden mit dem Studium der altägyptischen, indischen und  chinesischen religiösen Lehren, schliesslich über die Annäherung an den spanischen Mystiker Juan de la Cruz allmählich eine schwierige Auseinandersetzung mit ihrem Judentums, zu dem sie keinen religiösen Zugang fand, das sie andererseits durch ihre an Isaac Luria, Cordovero oder Haim Vital gemahnende Schöpfungstheorien, zum Beispiel zur Erklärung des Bösen, unter gewissen Aspekten wiedergab, dann weiter eine Verbindung mit einer schwärmerischen Christologie, zu der sie sich jedoch wiederum in formaler Hinsicht in Distanz setzte durch ihre strikte Weigerung, sich taufen zu lassen, auch weil sie es nicht fertig brachte, ihre Gefühlsverbindung mit den nicht-christlichen Religionen, vor allem mit dem Judentum, aufzugeben. “Je sentais que je ne pouvais pas honnêtement abandonner mes sentiments concernant les religions non chrétiennes et concernant Israël – et en effet le temps et la méditation n’on fait que les renforcer”, wie sie dem Dominikanerpater Jean-Marie Perrin im Mai 1942 schrieb.

In philosophischer Hinsicht gelangte sie, geprägt und während langer Zeit beherrscht von einem – zwar skeptischen – cartesianischen Rationalismus, zu einer totalen Infragestellung des Subjekts in ihrem existenzphilosophisch umgekehrten Ansatz der Existenzerfüllung durch Entwerden, durch  Dekreation. In menschlicher Hinsicht wurde das Bezi8ehungsnetz zunehmend schmaler, die Einsamkeit zunehmend grösser, sowohl infolge ihres kompromisslosen Lebens wie infolge der Emigration nach den USA und des Exils in London. Mit ihren Eltern und ihrem Bruder blieb sie in einem zärtlichen Kontakt bis zum Ende ihres Lebens.

Kaum aushaltbare Kopfschmerzen quälten Simone Weil in all diesen Jahren. Die Zeit zwischen dem Exodus aus Paris im Juni 1940 bis zum ihrem Tod am 24. August 1943 war ausgefüllt mit ruheloser Besetztheit von Denken und Arbeit, sowohl während der zwei Jahre in Marseille wie nach ihrer Abreise über Casablanca nach New York und von dort, im November 1942, nach London. Sie hoffte, von der französischen Exilregierung mit einer gefährlichen Mission im besetzten Frankreich betraut zu werden, doch es wurden ihr Schreibtischarbeiten zugewiesen. So entstand “L’Enracinement” , von dem Albart Camus, der es 1948 als Lektor bei Gallimard herausgab,  sagte, Europa könne nur wiedererstarken, wenn die von Simone Weil aufgestellten Forderungen ernstgenommen würden. Entbehrungen und Enttäuschungen, schliesslich eine nicht mehr tragbare Nichtübereinstimmung ihrer intellektuellen Forderungen und ihrer erstickten psychischen Bedürfnisse schwächten ihren Lebenswillen dermassen, dass sie sich sich im April 1943 in Spitalpflegen begeben musste. Sie hungerte sich buchstäblich zu Tode. Als sich eine Lungentuberkulose einstellte, wurde sie ins Sanatorium von Ashford in Kent gebracht, wo sie am 24. August 1943 starb.

Franz Kafkas Parabel vom ” Hungerkünstler” mag eine Parabel auch für Simone Weil sein. “Warum kannst du denn nicht anders”, fragt der Auseher den sterbenden Hungerkünstler, und dieser flüstert, “gerade ins Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verlorenginge, ‘weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaub mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle'”.

 

Was heisst “Weder dem Vergangenen anheimfallen noch dem Zukünftigen; es kommt darauf an, ganz gegenwärtig zu sein”? –  Hannah Arendt

Dies ist das Motto, das nicht nur über Hannah Arendts erstem grossem Werk “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” steht, sondern eigentlich über ihrem  ganzen Leben. Wenn der rote Faden bei Rosa Luxemburg die von Widersprüchen und Enttäuschungen gesäumte kämpferische Glückserwartung war – nicht nur für sich selbst, sondern für alle unterdrückten und um ihr Glück betrogenen Menschen -, wenn sich bei Simone Weil die durchgehende Linie als Zerrissenheit in einer nicht versöhnbaren – erkenntnismässigen, existentiell-psychischen und politischen – Widersprüchlichkeit herausstellte, so zeigt sich bei Hannah Arendt als wiederkehrendes Merkmal in einer von grossen Veränderungen bestimmten Entwicklung der nicht abreissende Wille zur umfassenden und zugleich schonungslos kritischen Gegenwartsbejahung –  und zur Liebe. Der ihrem Lehrer Karl Jaspers entliehende Satz, den sie als Motto über “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” (in Zusammenarbeit mit Heinrich Blücher geschrieben, 1951 in New York, 1962 in Frankfurt a.M. erschienen) stellte, gilt für sie selbst, für ihre Lebensentscheide, für ihr philosophisches und gesellschaftskritisches Werk, für ihr Verhältnis zum Judentum. Dabei war sie sich bewusst, dass alle dise Verhältnisse von Widersprüchen geprägt sind, “und zwar aus dem einfachen Grund”, hielt sie fest, “weil die Welt, in der wir leben, in jedem Augenblick auch die Welt der Vergangenheit ist; sie besteht aus Zeugnissen und Überresten dessen, was die Menschen im Guten wie im Schlechten getan haben”.

Die Welt, wie sie Hannah Arendt zuerst begegnete, war – nach einem Wort Stefan Zweigs – noch das “goldene Zeitalter der Sicherheit”. Hannah Arendt kam am 14. Oktober 1906 in Hannover zur Welt, zog aber schon als Vierjährige mit ihren Eltern nach Königsberg, wo sie ihre Kindheit und einen grossen Teil ihrer Jugend zubrachte. Beide Elternteile, Paul Arendt und Martha Cohn, stammten aus altansässigen Königsberger Familien. Hannah Arendts Grossvater mütterlicherseits, Jacob Cohn, war 1838 im heutigen Littauen geboren. Nachdem 1851 Zar Nikolaus per Dekret die Juden in die wohlhabenden “Nützlichen” und und die armen “Unnützen” eingeteilt hatte und letztere der Wehrpflicht unterwarf, floh Jacobs Vater mit der ganzen Familie nach Königsberg und gründete dort ein Tee-Import-Exportunternehmen, das später unter der Führung von Hannah Arendts Grossvater zur “J.N.Cohn & Co.” und zur grössten Firma in Königsberg wurde. Als Jacob Cohn 1903 starb, hinterliess er seinen drei Kindern aus erster Ehe und seinen vier Kindern aus zweiter Ehe sowie seinen Enkelkindern viel Geld und ein stabiles Unternehmen, das allen bis zu den Inflationsjahren nach dem Ersten Weltkrieg ein Leben in Wohlstand erlaubte.

In diesem Ambiente wuchs Hannah Arendt auf. Sie erzählte noch in späten Jahren mit Vergnügen, wie sie als Kind die Cohn’schen Warenhäuser besuchte und mit Marzipan verwöhnt wurde. Martha Arendt, wie ihre Mutter Fanny Cohn-Spiro, war warmherzig und von kluger Lebensart. Hannah Arendt sorgte für sie während der schwierigen Jahre der Emigration und blieb mit ihr auch später verbunden, wobei das Zusammenleben in New York sehr schwierig wurde, einerseits wegen der Nichtübereinstimmung ihrer Mutter und ihrem Ehemann Heinrich Blücher auf engem Raum, andererseits wegen der Zeitzusammenhänge .

Hannah Arendts Grossvater väterlicherseits, Max Arendt, gehörte zum Vorstand der Jüdischen Gemeinde von Königsberg und war Mitglied des “Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens”. Er war ein Studienkollege von Kurt Blumenfeld, dem späteren Präsidenten der Deutschen Zionistenorganisation, dessen Haltung er nicht teilte, von dem er andererseits auch keine Kritik wegen seines “Deutschtums” ertrug. Trotz heftiger Meinungsverschiedenheiten bezüglich der “Judenfrage” waren die beiden Männer befreundet, und Hannah Arent lernte Kurt Blumenfeld, der sie später – nicht nur  in ihrer Studienzeit in Fragen des Zionismus, sondern auch als erwachsene kritische Denkerin – massgeblich beeinflussen wird, schon im grosselterlichen Haus kennen. Der Grossvater starb, als Hannah Arendt sieben Jahre alt war, nur sechs Monate, bevor sie  auch ihren Vater, Paul Arendt, verlor.

Hannah Arendts Vater war Ingenieur gewesen, eine Art Privatgelehrter, der die griechischen und lateinischen Klassiker nicht bloss in seiner Bibliothek stehen hatte, sondern gut kannte. Sowohl er wie Martha Arendt, Hannahs Mutter, waren schon vor den zwanziger Jahren in die sozialistische Partei eingetreten, als diese in Deutschland noch verboten war. Paul Arendt hatte sich in jungen Jahren mit Syphilis infiziert. Martha Cohn war über die Infektion im Bild gewesen, als sie sich entschloss, Paul Arendt zu heiraten, und beide waren auch überzeugt, dass die Syphilis geheilt werden konnte. Doch die Symptome traten nach wenigen Jahren wieder auf. Als Hannah Arendt fünf Jahre alt war, musste ihr Vater in die psychiatrische Klinik eingeliefert werden, und zwei Jahre später starb er.

Hannah Arendts Eltern waren nicht religiöse, schickten aber ihre Tochter mit den Grosseltern Arendt in die Synagoge. Auch waren sie mit Rabbi Vogelstein befreundet, einem sozialistischen Genossen, der Hannah Arendt in der Zeit der Grundschule Relitionsunterricht erteilte. Daneben besuchte sie die christliche Sonntagsschule, wie dies auch für die jüdischen Kinder obligatorisch war. Als Hannah Arendt als Gymnasistin Rabbi Vogelstein gestand, dass sie nicht mehr an Gott glaube, fragte er sie, wer denn das von ihr verlange. Er war überzeugt, dass Zweifel, Glaubenskrisen, ja selbst Ungläubigkeit die Zugehörigkeit zum Judentuzm nicht verändern können. Eine entsprechende aufgeklärte Haltung vertrat der ganze Freundes- und Freundinnenkreis der Arendts, auch viele selbstbewusste Frauen, die Musikerinnen oder Schriftstellerinnen waren oder die Kindergärten und Schulen gründeten und leiteten.

Unter Antisemitismus hatte Hannah Arendt selber als Kind nicht zu leiden. Sie erlebte jedoch, wie einzelne Lehrer arme ostjüdische Mitschülerinnen mit despektierlichen Bemerkungen verletzten. Nach einer Weisung ihrer Mutter pflegte Hannah Arendt dann jedesmal aufzustehen und die Schule zu verlassen. Martha Arendt schrieb einen geharnischten Brief an die Schulleitung, und damit war für Hannah Arendt die Sache erledigt.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, weilten Martha und Hannah Arendt an der Ostsee. Mit Hunderten anderer Königsberger Familien flohen sie im August 1914 nach Berlin. Hannah Arendt besuchte während ein paar Wochen eine Schule in Charlottenburg, bis sie mit ihrer Mutter wieder nach Königsberg zurückkehrte. Diese tat sich schwer mit dem Tod von Paul Arendt. Hannah Arendt selbst war häufig krank. Es war eine schwierige Zeit, auch wenn die wachsende materielle Knappheit sie wenig berührte. In einer autobiographischen Skizze”Die Schatten”, die sie als Studentin im Zusammenhang der geheimen Liebesgeschichte mit Martin Heidegger schrieb, sprach Hannah Arendt von ihrer “hilflosen, verratenen, vaterlosen Jugend”. Ihre Mutter aktivierte in jener Zeit ihre politischen Interessen und Kontakte. Sie war eine glühende Verehrerin Rosa Luxemburgs. Als Anfang Januar 1919 in Königsberg bekannt wurde, dass in Berlin ein Aufstand losbrach, nahm Martha Arendt ihre dreizehnjährige Tochter Hannah an der Hand und sagte ihr immer wieder, das sei ein historischer Augenblick. Wenige Tage später, am 15. Januar 1919, wurden Rosa Luxemburg und Karl Liegknecht umgebracht. Viele Jahre später wird Hannah Arendt alle Details dieses Verbechens erfahren – durch Heinrich Blücher, ihren Mann, der als Anhänger des Spartakus-Bundes in vorderster Linie unter den Aufständischen gewesen war.

Das Abitur machte Hannah Arendt 1924, nach einer Gymnasialzeit voller Unterbüche und Störungen, dies nicht zuletzt wegen ihrer Eigenwilligkeit. Sie wurde zum Beispiel von der Schule gewiesen, weil sie den Unterricht eines jungen Lehrers boykottierte, der sie beleidigt hatte, worauf sie nach Berlin zog und dort in einzelnen Fächern, in denen sie Abiturprüfungen ablegen musste, Vorlesungen besuchte, auch Theologie bei Romano Guardini, über den sie Kierkegaard zu lesen begann und der sie so stark beeinflusste, dass sie beschloss, als erstes Fach Theologie – christliche Theologie – zu studieren. Damals hatte sie schon Kants “Kritik der reinen Vernunft” gelesen, hatte Karl Jaspers “Psychologie der Weltanschauungen”, die 1919 erschienen waren, durchgearbeitet, interessierte sich für die Philosophie Martin Heideggers, sie schrieb Gedichte und hatte einen Kreis wissenshungriger Freunde und Freundinnen um sich, darunter Anne Mendelssohn, mit der sie bis an ihr Lebensende befreundet blieb.

Die Gedichte jener Zeit sind Ausdruck ihrer Frage nach ihrer eigenen Identität. Sie ging dieser Frage nach, indem sie stellvertretend die “innere Biographie” Rahel Varnhagens zu verstehen und nachzuzeichnen versuchte, die “Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik”, ursprünglich als Habilitation an der Universität Marburg (bei Karl Jaspers) geplant, doch erst in New York abgeschlossen. Es geht um die Untersuchung einer Erfahrung, die sie selber kannte: des Nirgendwo-Dazugehörens, der Zerrissenheit zwischen Welten, die scheinbar vereinbar sind, in denen aber auf unmissverständliche Weise Gesetze der Anpassung und Unterordnung gelten, in denen Differenz “bestraft” wird. Mit der Schilderung dieser wachen, erkenntnis- und schmerzfähigen, glückshungrigen Frauengestalt, die in Tausenden von Briefen das Fremdsein einer Frau aus Berlin wiedergab, die sich nicht – männergenehmen – Clichés beugen wollte, gleichzeitig einer Jüdin, die sich nicht mehr in der traditionellen religiösen und kulturellen Einbettung wohlfühlte, die aber auch den Preis der Assimilation zu hoch fand, versuchte Hannah Arendt, die Bedingungen und allmählich den Zwiespalt auch des eigenen Lebens in Deutschland – im Deutschland der Zwischenkriegszeit – zu ergründen und zu reflektieren.

Hannah Arendt‘s Buch ist eine präzise Studie über die Doppelgesichtigkeit der Assimilation, die einerseits Türen öffente und Freiheiten versprach, diese zum Teil auch einlöste, andererseits eine Heimatlosigkeit nach sich zog. Es ist die Schilderung eines Teils der modernen Gesellschaft, deren Mitglieder zwischen “Paria” und “Parvenu” einen Weg finden mussten, aber nur in wenigen Ausnahmen die Mitte fanden. Die Begriffe “Paria” und “Parvenu” wurden für Hannah Arendt Schlüsselbegriffe in der Analyse jüdisch-assimilierten Verhaltens, das, selbst im günstigsten Fall, wie sie feststellte, noch die Notwendigkeit einschloss, sich immer legitimieren zu müssen – eine Notwendigkeit, die entweder das geistige Rückgrat bricht oder die Rebellen und Rebellinnen entstehen lässt, oft im Bereich der sozialen Ethik wie Rosa Luxemburg, wie Simone Weil, wie – ein Jahrhundert früher – Rahel Varnhagen, die sich ständig gegen scheinbar unumstössliche gesellschaftliche Regeln aufbäumte. Zwar lernte sie mit der Zeit, wie Hannah Arendt feststellte, “ihre eigene Fremdheit sachlich zu sehen, einzuordnen in die Wüste und Leere einer Stadt, die gleichsam zu arm und zu inhaltslos ist, um die Kraft zu haben, sie anzusaugen, sie zu assimilieren. Ihre Verzweiflung ist nicht mehr ihre Privatsache, sondern nur das Widerspiel einer dem Untergang geweihten Welt” (R.V. S. 159).

Das Buch war bis auf die letzten zwei Kapitel fertiggestellt, als Hannah Arendt 1933 Deutschland verlassen musste. Sie trug das Manuskript mit sich in die Emigration, über Prag und Genf nach Paris, dann nach New York. Mit der Unterstützung der Leo Baeck-Stiftung konnte es endlich 1958, also fünfundzwanzig Jahre später, erscheinen: ein Dokument ihres Bedürfnisses, den nicht aufhebbaren Widerspruch auch ihrer eigenen Existenz weder zur Besonderheit zu erklären noch ihn zu beschönigen.

Dieser Widerspruch, der seit der Kindheit zu ihrem Alltag gehörte, prägte auf vielfältige Weise auch ihre Studienzeit in Deutschland. In Marburg studierte sie Theologie bei Rudolf Bultmann und Philosophie bei Martin Heidegger. Dass sich zwischen ihr und Heidegger eine Liebesbeziehung entwicklete, die über ein Jahr dauerte, wusste selbst in ihrem engsten Kreis kaum jemand. Im kleinen Buch “Die Schatten”, in Gedichten, aber auch in der Studie über Rahel Varnhagen versuchte Hannah Arend diese Geschichte der Anziehung und der Fremdheit selber besser zu verstehen.

Nach dem Marburger Jahr studierte Hannah Arendt bei Edmund Husserl in Freiburg weiter, dann bei Karl Jaspers in Heidelberg, bei dem sie doktorierte, der ihr zum Gesprächspartner und väterlichen Freund fürs ganze Leben wurde. Zu ihrem Marburger Kreis gehörten bedeutende Gleichaltrige, darunter Hans Jonas, Karl Löwith und Günther Stern, der sich später in seinen Publikationen Günther Anders nannte. 1929, nach dem Abbruch der Liebesbeziehung mit Martin Heidegger, begegneten Hannah Arendt und Günther Stern einander wieder in Berlin und heirateten. Für ein Jahr lebten und arbeiteten sie in Frankfurt, 1930 zogen sie wieder nach Berlin. Er und Hannah Arendt, obwohl vieles sie verband – geschwisterlich verband -, waren sich im Leidenschaftlichen fremd. Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendts Biographin, sagt, dass sie wohl die Tage teilten, aber nicht die Nächte, nicht ihre Nachtseiten, weder die geheimen, sehnsuchtsgenährten Antriebe ihres Handelns noch die Hintergründe ihrer Vorstellungen, auch nicht bezüglich des Judentums oder des Zionismus. Günther Stern floh noch vor dem Reichtstagsbrand nach Paris, Hannah Arendt erst später, doch war in Paris ihre Trennung schon eine beschlossene Sache. Allerdings blieben während des ganzen Lebens Begegnung, Gespräche und wechselseitiges, freundschaftliches Interesse selbstverständlich.

Noch in Heidelberg, 1926, begegnete Hannah Arendt auch Kurt Blumenfeld wieder, dem Freund ihres Grossvaters, den sie schon als kleines Mädchen in Königsberg gekannt hatte. Ihre Auseinandersetzung mit dem Judentum, nicht nur mit dem Zionismus und der Idee der Staatsgründung Israels, sondern auch mit den immer stärker bedrängten, in die Enge getriebenen jüdischen Menschen in Deutschland, wurden durch den Gedankenaustausch mit Blumenfeld genährt und erweitert. Immer deutlicher machte sich nach einer kurzen Zeit relativer Stabilität, die die Weimarer Republik gerade in Hannah Arendts Studienzeit – zwischen 1924 und 1929 – geprägt hatte, wirtschaftliche Rezession und politische Destabilisierung in einem Ausmass breit, die der antisemitischen und anti-kommunistischen Aufhetzung, schliesslich dem Nationalsozialismus einen breiten Nährboden bot. Hannah ARendt reiste quer durch Deutschland, hielt Vorträge, leitete Diskussionen, versuchte aufzuklären, zu warnen und Vorurteile abzubauen. In Berlin in der “Maison française” arbeitete damals der Soziologe Raymond Aron (dessen spätere Frau, Suzanne Gauchon, während der Studienzeit eine enge Vertraute Simone Weil’s war), mit dem Hannah Arendt sich in politischer Hinsicht nicht einigen konnte, für den sie aber Zeit ihres Lebens grossen Respekt empfand.

Hannah Arendt selbst schloss sich in Berlin den zionistischen Verbänden an, ohne Mitglied zu werden. Sie übte Kritik an der Tatsache, dass diese zwar die Idee der Staatsgründung eines eigenen jüdischen Staats vorantrieben, dass sie diesbezüglich Jugendarbeit leisteten, dass sie Fluchtmöglichkeiten organisierten, dass sie es aber unterliessen, in Deutschland als politische Kraft aktiv zu werden. Im Frühling 1933 beschäftigte sie sich – auf Bitte Kurt Blumenfelds -, eine Sammlung antisemitischer Äusserungen “auf der unteren Ebene” (in Fachzeitschriften, Zeitungen von Berufsverbänden etc.) anzulegen. Zu diesem Zweck recherchierte sie wochenlang in der Preussischen Staatsbibliothek. Eines Morgens, als sie eben mit ihrer Mutter frühstückte, wurden beide Frauen von der Gestapo verhaftet, dann aber getrennt inhaftiert und befragt. Dass beide nach einer Woche freikamen, war wohl Hannah Arendts Charme und Klugheit und einer grossen Portion Glück zu verdanken.

Doch die zwei Frauen wussten nun, dass es Zeit war, Deuschland zu verlassen. Ohne Reisepapiere gelangten sie nach Prag, wo sie mit Papieren ausgerüstet wurden, dann nach Genf, wo Hannah Arendt beim Völkerbund, dann in der Zentrale der Jüdischen Vertretung eine Anstellung fand. Doch sie wollte nach Paris gelangen. Seit dem Reichstagsbrand in Berlin mit den darauf folgenden Verfolgungen jüdischer Menschen überall in Deutschland, den Folterverhören in den Gestapokellern, den beginnenden Abtransporten in die Konzentrationslager hatte sich ihr Verantwortungsgefühl geschärft. Dass sie persönlich Angst ausstand, scheint nicht der Fall gewesen zu sein. Ihrer Einschätzung nach lag die grösste Gefahr für Gleichschaltung mit den Nazis bei den jüdischen Intellektuellen, welche die Bedrohung auf ein quasi abstraktes Niveau hievten und damit handlungsunfähig wurden. Wie sie später in einem Brief an Jaspers festhielt, war Adorno für sie ein trauriges Beispiel anpasserischen Bestrebens, wofür sie den Grund in einem kläglich akademischen Feigheitssyndrom ausmachte. Hannah Arendt wollte für sich diese Gefahr bannen, indem sie sich zum Handeln entschloss.

So wurde die Zeit, da Hannah Arendt staatenlos war – von der Flucht aus Berlin 1933 bis zur Erlangung der amerikanischen Staatsbürgerschaft im Jahre 1951 – ihre politisch aktivste Zeit. In Paris fand sie sich in einer Gruppe Gleichgesinnter wieder, darunter Anne Mendelssohn, Walter Benjamin, die Cohn-Bendits und Heinrich Blücher, ein nicht-jüdischer Spartakist, kein Akademiker, sondern ein Mann des Handelns, der ihr Partner fürs Leben wurde. Von Günther Stern trennte sie sich definitiv 1936, als Stern nach New York abreiste. In verschiedenen jüdischen Flüchtlingshilfsorganisationen fand sie in Paris eine Tätigkeit. Gleichzeitig begann sie Notizen anzulegen, die bereits das grosse Werk vorbereiteten, das sie mit Unterstützung Heinrich Blüchers nach Kriegsende in New York fertigstellte: “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft”. Eine massgebliche Einsicht, die sich nach der Zäsur von 1933 einstellte, brachte sie im Vorwort zum Ausdruck, das sie 1950 schrieb: “Alle Versuche, dem Grauen der Gegenwart durch die Sehnsucht nach einer unbelasteten Vergangenheit oder durch die antizipierte Tröstung einer besseren Zukunft zu entfliehen, sind zum Scheitern verurteilt”. Das einzige, was nicht zum Scheitern verurteilt sein konnte, war das Aushalten der Widersprüche in einer bewussten Gegenwärtigkeit.

Dank der Erfahrungen Heinrich Blüchers in der Arbeiterbewegung, in den Soldatenräten, beim Spartakusbund und anschliessend in der KPD erfasste sie, dass jede politische Führung ihre Legitimation und damit ihre Macht verliert, wenn sie den Boden, auf dem sie steht, aus den Augen verliert. Diese Erkenntnis verband sie während des Kriegs mit ihrer Kritik an den massgeblichen Verantwortlichen in den jüdischen Organisationen, nach dem Krieg richtete sich diesen kritischen Blick auf die führenden Gestalten im Nachkriegseuropa, in Israel und schliesslich in ihrer Wahlheimat Amerika.

Durch ihre Arbeit im Büro der Jugend-Aliya in Paris hatte Hannah Arendt 1935 Gelegenheit, eine Gruppe von Lehrlingen ins damalige Palästina zu begleiten. So kam sie das erstemal nach Haifa. Auf dem Weg dorthin machte das Schiff Halt in Sizilien, wo sie die griechischen Tempel bewunderte; auf einem Ausflug ins jordanische Petra hatte sie Gelegenheit, den berühmten römischen Tempel, der dort erhalten blieb, zu sehen. Sie war zutiefst beeindruckt von der Bedeutung der griechischen und römischen kulturellen Tradition, die sich in diesen Bauwerken äusserte. Die Kibbuzim, die sie besuchte, stimmten sie eher kritisch. Später, in einem Brief an Mary McCarthy vom 7. Oktober 1967, fasste sie diesen Eindruck zusammen: “Ich dachte: eine neue Aristokratie. Ich wusste schon damals, dass man dort nicht leben konnte. ‘Herrsche über deine Nachbarn’, darauf läuft es natürlich letztlich hinaus. Dennoch, wenn man ehrlich an Gleichheit glaubt, ist Israel sehr eindrucksvoll”. Die widersprüchliche, vor allem kritische Haltung, die sich in diesem ersten Eindruck zeigte, begleitete Hannah Arendt Israel gegenüber das ganze Leben. Sie erkannte, dass ihr Volk einen Ort brauchte, wo es leben konnte, dass aber die Tatsache, dass es in Europa verfolgt wurde, nicht mit einer religiös-nationalistischen, staatspolitischen Legitimation vermischt werden durfte. Gleichzeitig “wusste” sie, wie sie im gleichen Brief schrieb, “dass mich jede wirkliche Katastrophe in Israel tiefer treffen würde als fast alles andere.”

Auch in Paris spitzte sich die Lage der etwa 15’000 Flüchtlinge zu. Im Januar 1941 wurden die Büros der Jugend-Aliya in die WIZO-Zentrale nach London verlegt. Im April traf auch Martha Beerwald-Arendt in Paris ein, Heinrich Blücher wurde interniert, kam weniger Monate später wieder frei, kurz bevor Hannah Arendt im Vélodrome d’Hiver interniert und nach Gurs ins Internierungslager abtransportiert wurde. In der kurzen Zwischenzeit  hatten Arendt und Blücher auf einem Pariser Standesamt geheiratet, um überhaupt die Möglichkeit zu haben, dank der Hilfe von Günther Stern Notvisa für die Ausreise nach Amerika zu erhalten. Im Frühjahr 1941, als Frankreich sich in einem unvorstellbaren Chaos befand, gelang es Hannah Arendt, sich Entlassungspapiere zu beschaffen und sich aus Gurs abzusetzen. Im Städtchen Montauban traf sie eines Tages völlig unerwartet mit Blücher zusammen, der sich nach Südfrankreich aufgemacht hatte, um seine Frau zu suchen, und miteinander gelang es ihnen, über Marseille nach Lissabon und von dort im Mai 1941 nach Amerika zu gelangen.  Hannah Arendt’s Mutter folgte wenige Wochen später nach. In Marseille hatten die Blüchers noch Walter Benjamin getroffen, der ihnen ein Packet Manuskripte anvertraut hatte. Benjamin hatte zwar ein spanisches Transitvisum, aber keine Ausreisepapiere aus Frankreich. Nachdem er auf beschwerlichem Weg unter der Führung von Lisa Fittko die Pyrenäen überquert hatte, nahm er sich das Leben, als er erfuhr, dass Spanien die Transitvisa nicht anerkannte.

In New York fand Hannah Arendt bald eine Stelle in der Redaktion des deutsch-jüdischen Magazins “Aufbau”; Heinrich Blücher hatte Mühe, überhaupt Englisch zu lernen. Den “Aufbau” benutzte Hannah Arendt, um die Idee einer jüdischen Armee gegen Hitler zu verbreiten. Sie war überzeugt, dass die Juden als ein “europäisches Volk” in den Kampf gegen Hitler einzutreten hatten, dass dies ihnen ermöglichen würde, später einmal an den Friedenskonferenzen der Allierten teilzunehmen und sich innerhalb einer nach dem Krieg zu schaffenden europäischen Föderation einen Platz zu schaffen. Palästina sollte nicht zu einem nationalen Ziel der jüdischen Emigration werden, sondern lediglich als Symbol kultureller Sammlung dienen. Die europäischen Juden waren, davon war sie überzeugt, in erster Linie Europäer, die ihre Wurzeln ebenso in allen europäischen Kulturen wie in der eigenen jüdischen Kultur haben. Den Anspruch und die Idee der “Auserwähltheit” lehnte sie kategorisch ab, da diese Vorstellung einen Determinismus enthalte, der sowohl zur Passivität wie zur fatalistischen Illusion verführen könne, das jüdische Volk überlebe alle Katastrophen. Sie war der Auffassung, dass die Juden auch nach dem Krieg sich in der Gola in kämpferischer Auflehnung gegen Unterdrückung und Antisemitismus bewähren sollten. Die von Herzl vertretene Idee war für sie unannehmbar, dass der Antisemitismus eine historische Notwendigkeit sei, die –  auf propagandistische Weise – für zionistische Zwecke genutzt werden sollte. Für sie war jede Art von “Arrangement” unannehmbar.

Als 1942 im New Yorker Hotel Biltmore die grosse internationale zionistische Konferenz abgehalten wurde, konnte Ben Gurion die Mehrheit der Teilnehmenden für die Idee eines jüdischen Palästina gewinnen. Zwei Modelle standen zur Diskussion: einerseits die Errichtung eines jüdischen Commonwealth, was bedeutet hätte, dass die arabische Mehrheit durch Umsiedlungen zu einer Minderheit hätte reduziert werden sollen, andererseits die Idee eines bi-nationalen Staates, in dem die jüdische Bevölkerung einen Minderheitsstatus gehabt hätte.

In drei Aufsätzen im “Aufbau” lehnte Hannah Arendt beide Versionen ab: die erste, weil sie die Rechte der arabischen Bevölkerung zutiefst verletzte, die zweite, weil sie in der Geschichte bestätigt fand, dass Föderationen nur dann funktionieren, wenn sie ohne Minderheiten- und Mehrheitsstatus auskommen. Sie vertrat die Forderung, dass der Antisemitismus als Verbrechen gegen die Menschheit geächtet werden solle, dass Palästina in den britischen Commonwaelth aufgenommen und dass für jüdische Einwanderer eine Aufnahmegarantie geschaffen werden sollte. Darauf erhielt sie im “Aufbau” ein Schreibverbot. 1944 zog sie sich definitiv vom Zionismus zurück.

Mit ihrer Abkehr vom Zionismus verband sie jedoch nicht eine Abkehr vom jüdischen Engagement. Bald nach Kriegsende wurde sie Mitglied, dann Forschungsleiterin der “Conference on Jewish Relations”, die sich später “Conference of Jewish Social Studies” nannte und in deren Rahmen Hannah Arendt im Winter 1949/50 das erstemal wieder nach Europa kam, um eine Liste der noch vorhandenen jüdischen Kulturgüter zu erstellen. Etwa um die gleiche Zeit, Anfang der fünfziger Jahre, übernahm sie beim jüdischen Verlag Schocken Books die Stelle der Herausgeberin.

Die besonders schmerzliche Auseinandersetzung mit Deutschland bei dieser ersten Rückkehr, bei welcher sie auch den Kontakt mit Martin Heidegger in Freiburg im Breisgau und mit Karl Jaspers in Basel wieder aufnahm, findet sich in Briefen an Heinrich Blücher, an Mary McCarthy u.a. wie auch und in verschiedenen Texten wieder. Spürbar ist immer wieder Hannah Arendt’s Bewusstsein der eigenen Doppelzugehörigkeit zum Judentum resp. zu ihrer jüdischen Herkunft wie auch zu Deutschland resp. zur deutschen Sprache, eine Doppelzugehörigkeit, die sie durch ihre klare Zusage zur teilweise widersprüchlichen, jedoch mit ihrer Identität übereinstimmenden Kontingenz immer wieder verteidigte, die ihr aber von jüdischer Seite häufig als Verrat vorgeworfen wurde.

Als 1961 Adolf Eichmann in Israel vor Gericht gebracht wurde, entschloss sich Hannah Arendt, damals schon Professorin, bekannte Publizistin und Empfängerin des Lessingpreises, am Prozess als Berichterstatterin für die Zeitung “The New Yorker” teilzunehmen. Durch diese Berichterstattung, vor allem durch die damit verbundene Reflexion über das bedenkenlose Tun des Bösen – die “Banalität des Bösen” – ganz am Rande auch über den Einbezug der sogenannten “Judenräte” an der Vernichtung ihres Volkes – begab sie sich in eine noch grössere Nicht-Übereinstimmung mit der Mehrheit ihrer jüdischen Zeitgenossen und -genossinnen als durch ihre Warnung vor der Gründung eines jüdischen Nationalstaates. Als 1963 ihr Bericht in Buchform erschien, entwickelte sich eine Art Krieg gegen sie, in welchem nur noch die wenigsten alten Freunde und Freundinnen zu ihr hielten.

Hannah Arendt konnte nicht anders als zu den Überlegungen und Erkenntnissen stehen, die sie selber als richtig erachtete, unbesehen der Anfeindungen und der so schmerzlichen Isolation. Der stärkendste Halt bedeutete in dieser Zeit ohne Zweifel Heinrich Blücher. Für sie galt, was sie in ihrem Prozessbericht als Aufgabe der Urteilskraft bezeichnete: “… dass Menschen auch dann noch Recht und Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts anderes mehr zurückgreifen können als auf ihr eigenes Urteil, das zudem unter solchen Umständen in schreiendem Gegensatz steht zu dem, was sie für die einhellige Meinung ihrer Umgebung halten müssen”. Für Hannah Arendt stand fest, dass alle Menschen immer zugleich Handelnde und Zuschauende sind, dass somit niemand sich der Verantwortung entziehen kann, die ihm auf Grund seiner Urteilskraft (oder seines Gewissens) zukommt, dass somit Menschen, die auf höheren Befehl und aus Gehorsam (und nicht aus eigener verbrecherischer Absicht) handeln, nie entlastet sind, auch wenn dieser “höhere Befehl” der allgemeinen Meinung – dem “consensus omnium” – entsprechen würde.

Hannah Arendt starb am 4. Dezember 1975 an einem Herzschlag, still, ohne vorangehende Krankheit, als sie sich in Gesellschaft eines befreundeten Paares eben zum Kaffee setzen wollte. Fünf Jahre früher war Heinrich Blücher gestorben. Sein Tod war der grosse Riss in ihrem Leben gewesen, der eine Leere schuf, die keine Freundschaft und keine Arbeit mehr zu füllen vermochte. Über zwanzig Buchtitel, etwa zweihundert Artikel, Zeitschriftenbeiträge, bedeutende Kolumnen und Reflexionen – ein grosses, bedeutendes Werk, das zum Teil noch kaum gründlich rezipiert worden ist, bleiben zurück. Von den drei Denkerinnen allein bei Hannah Arendt ein abgeschlossenens Werk, da allein sie das Glück eines langen Lebens kannte.

Hans Jonas, der Freund aus der Studienzeit in Deutschland, der sich von ihr nach dem Erscheinen des Eichmann-Buches distanziert, sich später aber wieder mit ihr versöhnt hatte, sagte an ihrem Grab: “Bei Hannah Arendt war eine Intensität, eine innere Zielrichtung, eine Gespür für Qualität, eine Suche nach dem Wesentlichen, ein Bohren nach Tiefe, die ihr etwas Magisches gaben. Man spürte absolute Entschlossenheit, sich selbst zu sein, gepaart mit dem zähen Willen, auch angesichts grosser Verletzlichkeit daran festzuhalten”. Ihr letzter Assistent an der New School fpr Social Research in New York, an der sie während so vielen Jahren gelehrt hatte, fasste zusammen, was sie ihren Studentinnen und Studenten bedeutet hatte: “Sie war eine der grossen Lehrerinnen unserer Zeit”, sagte er. “Ihr Wisen war ungeheur, und dankbar gab sie es weiter. Und dem fügte ihr Verleger in Amerika, William Jovanovich, hinzu: “Sie war leidenschaftlich wie es jemand, der an Gerechtigkeit glaubt, nur sein kann, und wer an die Barmherzigkeit glaubt, bleiben muss (…). Sie ging, wohin immer die ernste Forschung sie führte, und wenn sie sich Feinde machte, dann niemals aus Furcht”.

Gelebter Widerspruch aus dem “Glauben an die Gerechtigkeit” und aus dem “Glauben an die Barmherzigkeit”, gelebter Widerspruch aus der Notwendigkeit, der Freiheit im Erkennen, Urteilen und Handeln den ersten Platz einzuräumen, dafür auch Anfeindung und  Ausgrenzung  in Kauf zu nehmen und nie opportunistischer Anpassung zuzustimmen – dieser gelebte Widerspruch ist auf vielfache Weise im Leben und Werk von Rosa Luxemburg, von Simone Weil und Hannah Arendt nicht blosse Theorie, sondern schwierige, schmerzliche Wirklichkeit. Die Parallelen in der Existenz der drei Denkerinnen finden sich in der für alle drei notwendigen, wenngleich verschiedenen  Auseinandersetzung mit ihrer Zugehörigkeit zum Judentum, in ihrer philosophischen und politischen Verantwortung in einer von totalitärer Menschenverachtung, von Freiheitsunterdrückung und Lüge gekennzeichneten Welt, in ihrem Willen, den Respekt vor dem immer gleichen Menschsein aller Menschen nicht nur zur wichtigsten moralischen Maxime zu erklären, sondern vorzuleben. Dabei achteten alle drei weder auf das, was als “Erfolg” noch auf das, was als “Scheitern” galt und gilt. Unbeirrbar durch Kritik oder durch eventuelle Unterstützung entschieden sie allein nach ihrem Gewissen, wo sie zustimmten und wozu sie sich in Distanz setzten. In dieser Unbeirrbarkeit nahmen sie auch die Brüche in Kauf, die vielleicht heute, in der Wahrnehmung ihrer Existenz und ihres Werks, selbst als Widersprüche erscheinen mögen. Doch zeigt sich nicht gerade hierin die Bedeutung des gelebten Widerspruchs: dass er wohl die wahrhaftigste Verwirklichung von Freiheit ist?

Write a Reply or Comment