Die Mühe mit der Gegenwart ist die Mühe mit der Vergangenheit ist die Mühe mit der Zukunft. Über die Mühe der Schweiz mit sich selber.

Die Mühe mit der Gegenwart

ist die Mühe mit der Vergangenheit

ist die Mühe mit der Zukunft.

Über die Mühe der Schweiz mit sich selber.

 

Seit bald einem Jahr verstrickt sich die Schweiz in den Engpässen einer nationalen Krise. Maja Wicki versucht, die Hintergrunddiskussion auf den Punkt zu bringen.

Vor einigen Tagen sass ich mit einer Frauengruppe zusammen, deren wichtigstes Gesprächsthema um die Frage kreiste, warum die Schweiz so grosse Mühe habe, erstens ihre Vergangenheit anzuschauen, zweitens in der Gegenwart – resp. in der aktuellen Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie in wichtigen innen- und aussenpolitischen Belangen – anders zu handeln als in der Vergangenheit. Wird sich verhindern lassen, dass sich in der Zukunft in Bezug auf die heutige Gegenwart wieder die gleichen Fragen der Vergangenheits”bewältigung” stellen werden?

Es ist das Klagelied aller Rechtschaffenen heute, auch jener, die im Juni 1999 anlässlich einer Lesung antisemitischer Briefe den Saal des Neumarkt-Theaters in Zürich bis zum letzten Stehplatz gefüllt hatten und Jean Ziegler, der auf dem Podium sass, nach jedem seiner heftigen Angriffe auf den heutigen Bundesrat, der die Kollaboration und Bereicherungssucht von damals schütze, mit einem ebenso heftigen Applaus belohnten. Die “Claque” und die Forderung nach “Bewältigung” wurden immer lauter. Ich muss gestehen, dass mich dabei eine wachsende Beklemmung erfasste und dass diese nicht weichen kann.

Warum? Es sind nicht zuletzt diese massiven Appelle an die “Betroffenheit”, an das “richtige Bewusstsein” (von “beiden” Seiten her, als gäbe es deren nur zwei), die ich fürchte. Sie gehen einher mit der Gründung von immer neuen privaten und offiziellen Stiftungen, Kommissionen und Fonds sowie der Publikation von pathetischen Manifesten pauschaler nationaler Anklage, der Schuld- oder der Unschuldselbstbezichtigung, und diese wiederum halten Schritt mit den lautstarken antisemitischen Angriffen Blochers, seiner Gefolgleute und jener, die ihn mit der Schweizerfahne in der Hand rechts überholen, wie mit der peinlichen offiziellen Kleinkrämerei um die längst fällige Rückzahlung von jüdischen Vermögenswerten und die Leistung von schweizerischen Reparaturleistungen. Es ist ein Gesinnungskrieg um das “richtige Bewusstsein” im Gang, und dieses misst sich an der Art der “Bewältigung”, resp. an der Einstellung zu den Juden, an der “Judenfrage”. Was wiederholt sich, was ist anders als “damals”?

Wie “damals” hat die “Judenfrage” nichts mit den Juden zu tun, sondern mit denjenigen, die diese “Frage” in den Vordergrund rücken, mit den Nicht-Juden; sie hat mit verstecktem oder offenem Antisemitismus zu tun, mit dahinter sich verbergenden dumpfen Frustrationen und anderen diffusen, manchmal hassbesetzten Emotionen. Für diese Emotionen sind die Juden nicht die Ursache, sondern die Projektionsobjekte oder die Sündenböcke.

Im Unterschied zu “damals” ist heute jedoch nicht mehr möglich, die Verunglimpfungen und Drohungen einfach beiseite zu schieben, in der Hoffnung, es könne doch wohl nicht so schlimm gemeint sein, wie es töne. Die Geschichte hat gezeigt, dass den bösen Worten auch böse Taten folgen, resp. dass die gleiche Menschenverachtung sich im Sprechen wie im Handeln äussert. Die antisemitischen Drohungen von heute knüpfen zumeist offen an die Nazizeit an und fordern, dass “die Arbeit, die Hitler begann, endlich gründlich und definitiv getan werde” (wie es in einer antisemitischen Zuschrift heisst). Ein alter Bekannter, der seit dem Kriegsende in der Schweiz lebt, nachdem er als Kind wie durch ein Wunder trotz Verfolgung und Deportation mit dem Leben davonkam, während Eltern und Grosseltern getötet wurden, bemerkte neulich, dass er seit Monaten wieder von Ängsten verfolgt werde. Da habe ihm ein Bekannter, von dem er meinte, er sei ihm gutgesinnt, klar ins Gesicht gesagt, “wenn es wieder so weit sei, solle er nicht damit rechnen, dass er ihm helfen werde. Im übrigen solle er wissen, dass es in der Schweiz Tausende seien, welche die Faust im Sack machen würden.” All dies ist in der Tat ängstigend.

Nicht “Bewältigung” der Vergangenheit braucht es, sondern Aufarbeitung. Aber wo beginnen? Ich schrieb im MOMA 9.96 vom schweizerischen Antisemitismus als von den “verschwiegenen Peinlichkeiten der Familiengeschichte”, welche der Grossteil der Bevölkerung zu schützen versucht. Doch wenn der Antisemititsmus von damals und die damit verbundene teilweise Kollaboration mit den Nazis – sowohl in der Flüchtlingspoltik wie in der Wirtschaft – das dunkle “Familiengeheimnis” der offiziellen Schweiz und vieler Schweizer ist, mag damit vielleicht teilweise die Heftigkeit der heutigen – wiederum sehr gehässigen antisemitischen – Reaktion erklärt sein, weil Abwehr entsteht, wenn an die dunklen Stellen offen gerührt wird. Es gibt nicht nur ein Trauma der Opfer durch die nicht heilende, sondern sich fortsetzende Erfahrung von Verrat und Zynismus, vom gewaltsamen Verlust lieber Angehöriger, von Heimat, Hab und Gut; es gibt auch ein Trauma der Schuld. Dieses kann so stark sein, dass die Vergangenheit nicht “angeschaut” werden kann, dass sie verdrängt werden muss.

Nicht nur in der individuellen, auch in der kollektiven Geschichte sind die verdrängten Traumata der Opfer und der Schuldigen ein Hindernis, angstfrei die Zukunft ins Auge zu fassen. Die Frage stellt sich zu Recht, warum die Schweiz so lange mit dieser Verdrängung “leben” konnte, warum weder die Regierung noch die führenden Kreise der Bevölkerung auf einer Aufarbeitung bestanden, warum die Forschungsergebnisse einiger HistorikerInnen zwar erschienen, aber ausser in Fachkreisen kaum gelesen wurden und daher kein Echo auslösten, warum auch heute nur bröckchenweise das Eingeständnis von – zum Teil schwerwiegendem – menschlichem Versagen und von politischen Fehlern zugelassen wird. Warum, zum Beispiel, weckt die Einsicht in die Kehrseite der Neutralität, dieser scheinbar unanfechtbaren Staatsmaxime, dank welcher “die Schweiz vom Krieg verschont blieb”, wie der Bundesrat auch heute noch nicht müde wird zu betonen, so viel Widerstand? – nämlich die Einsicht in die Tatsache, dass in der Vorkriegszeit und Kriegszeit Neutralität darin bestand, Koalitionen mit den Starken zu Lasten und auf Kosten der Schwachen, der Opfer, abzuschliessen, wozu der Antisemitismus die weltanschauliche Hintergrundfolie bot, sowohl in der Flüchtlingspolitik wie in der Wirtschaftspolitik? Ist es ausschliesslich jene starke Autoritätsgläubigkeit der Schweizer Bevölkerung, dank welcher der Regierung ein Glaubwürdigkeitsbonus entgegengebracht wird, der kaum in Frage gestellt wird? Oder kommt der Widerstand aus der Tatsache der Summierung von Problemen, etwa der gleichzeitigen Rezession und zunehmenden Erwerbslosigkeit, der allmählich bedrohlichen Isolation in Europa, der vielfältigen politischen und technologischen, wirtschaftlichen und ökologischen Zukunftsängste?

Was für den einzelnen Menschen gilt, trifft auch für ein Kollektiv zu – für einen Staat, für ein Volk: dass die Abwehr, die eigene Geschichte unverschönt anzuschauen und anzunehmen, wie sie war, nicht nur zur zwanghaften Wiederholung von Fehlentscheiden führt, auf besonders erschreckende Weise in der Flüchtlings- und Asylpolitik (etwa im Beschluss der pauschalen Rückschaffung der bosnischen kriegsvertriebenen Menschen, der zur gleichen Zeit publiziert wurde wie jener der Gründung einer Solidaritätsstiftung), in der Aussenpolitik (etwa im mit Milosevic ausgehandelten Abkommen über die Rückschaffung der in die Schweiz geflohenen Kosovo-Albaner und -Albanerinnen etc.), sondern jegliche Fortsetzung der Geschichte, d.h. Gegenwart und Zukunft, mit Ängsten belegt.

Die diffusen Emotionen, die sich im heutigen Antisemitismus äussern, haben nicht nur nichts mit den Juden zu tun, sondern eventuell auch wenig mit der zur Aufgabe gestellten Aufarbeitung der schweizerischen Vergangenheit. In deren Abwehr mag sich die Abwehr der Zukunft konkretisieren, in der Animosität dem gegenüber, was zwar allmählich zur Genüge bekannt und “gewusst” ist, jedoch nicht angeschaut werden will, die Ängste vor dem, was nicht angeschaut werden kann, was mit der bedrohlichen Globalisierung der Produktion oder mit der ebenso bedrohlichen Jahrtausendwende, d.h. mit allen politischen, technologischen und ökologischen Unabwägbarkeiten bevorsteht, und was eine politische Öffnung der Schweiz für neue Formen des Zusammenlebens in Europa, ja in der Welt nötig machen würde. Für alles können die Juden – oder die Albaner oder die „Schwarzen“ oder andere “Fremde” – als Sündenböcke benutzt werden, leider, wenn nicht auch in kollektiven Zusammenhängen gelernt wird, Schwächen und Fehlentscheide nicht als Makel, sondern als Kehrseite der Freiheit zu verstehen. Freiheit dient nicht zuletzt dazu, die Folgen der Fehlentscheide aufzufangen und dadurch zu korrigieren sowie Neuorientierungen zu ermöglichen.

 

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