Bleibt Hoffnung in dieser angsterfüllten Welt? – Erziehung zur kreativen Vernunft – 1918 – 1993: 75 Jahre Höhere Fachschule für Sozialarbeit Luzern

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Bleibt Hoffnung in dieser angsterfüllten Welt? – Erziehung zur kreativen Vernunft

1918 – 1993: 75 Jahre Höhere Fachschule für Sozialarbeit Luzern

(ursprünglich: Sozial-charitative Frauenschule Luzern dann: Schule für Sozialarbeit Luzern)

 

Der Erste Weltkrieg ging dem Ende zu, als 1918 die “Sozialcharitative Frauenschule Luzern” gegründet wurde. Vier Jahre lang  hatte sich das “methodische, organisierte, riesenhafte Morden”, wie Rosa Luxemburg in der Junius-Broschüre schrieb, über ganz Europa ausgebreitet und, infolge der kolonialen Herrschaftsvernetzung, über die ganze Welt. Als Anfang November 1918 zwischen den kriegführenden Mächten ein Waffenstillstand beschlossen wurde, der im folgenden Jahr zum Vertrag von Versailles führte, war das Ausmass an Schuld und Leiden, das Ausmass an Toten, an Waisen und Heimatlosen, das Ausmass an moralischer, politischer und materieller Zerstörung so gross, dass die Voraussetzungen zum Frieden fehlten. Dem Kriegsende folgten Hunger und Verelendung, innenpolitische Krisen sonder Zahl, Aufstände und Revolutionen, sofort wieder einsetzende Aufrüstung und weiter schwelender Hass. “Eines ist sicher”, hielt Rosa Luxemburg in der Junius-Broschüre fest, “der Weltkrieg ist eine Weltenwende.”

Wir wissen es heute: Mit dem Krieg von 1914-1918 war der erste weltweite Beweis erbracht, dass mit gezielter nationalistischer Hetzpropaganda  Millionen von Menschen zu gefügigen Werkzeugen gemacht werden konnten, dass Millionen von Menschen sich – entgegen aller anerzogenen religiösen Gebote und moralischen Normen – in den Dienst der Machtphantasien skrupelloser Staatschefs und Generäle sowie der nicht weniger skrupellosen Bereicherungsinteressen einzelner “Rüstungsbarone” einspannen liessen, dass sie sich zum erbärmlichen Töten und Getötetwerden buchstäblich berauschen liessen. “Zum systematischen Morden muss bei normal veranlagten Menschen erst der entsprechende Rausch erzeugt werden”, stellte Rosa Luxemburg im gleichen Text fest. “Der Bestialität der Praxis muss die Bestialität der Gedanken und Gesinnung entsprechen, diese muss jene vorbereiten und begleiten.”

Nicht die Tatsache der Bereitschaft zur moralischen Verführung -der Verführung zum Hassen und Töten – und zur politischen Überlistung waren neu; nur weil dies immer schon so war, gelang überhaupt die “Gesinnungsvorbereitung” , von der Rosa Luxemburg spricht. Zur “Weltenwende” wurde der Erste Weltkrieg, weil er den Kodex der Angst zum weltweiten Instrument der Repression werden liess. Weil er die Grammatik der Entwertung des einzelnen Menschenlebens und, in der Konsequenz, die Entwertung millionenfachen Menschenlebens länderübergreifend, kontinenteübergreifend – sowohl durch die Mittel der elektronischen Propaganda wie jener mächtiger Waffensysteme – zum Zweck staatlicher Machtinteressen quasi programmatisch für die weitere Zukunft festlegte. Weil damit Sprachlosigkeit und Gewalt als – quasi legitime –  ultima ratio sich durchsetzten, nicht einmal mit dem Vorwand der Regelung von Konflikten, sondern in der Durchsetzung von Interessen. (Die mit dem Kriegsende einsetzende Trauergeschichte des Völkerbundes erbringt dafür den Beweis). Der Erste Weltkrieg wurde zur “Weltenwende”, weil er die  philosophische Errungenschaft der Aufklärung – den Anspruch des einzelnen Menschen auf Subjektwürde, auch dann, wenn er Objekt ist -, weil er diese Errungenschaft, die die bürgerlichen Revolutionen in Amerika und in Frankreich, die auch den Kampf gegen das Sklaventum beflügelt hatte, defintiv zur Farce werden liess. Seither ist es schwer, gegen die millionenfach erwiesene Tatsache der Heteronomie, ja der Bereitschaft der einzelnen Menschen zur Entmündigung den Beweis für die unverzichtbare Würde selbstverantwortlichen Handelns anzutreten.

“Bleibt Hoffnung in dieser angsterfüllten Welt?” fragte Theodor W. Adorno Jahrzehnte später, nachdem der Zweite Weltkrieg alle Erfahrungen des Grauens und der Entmenschlichung des Ersten Weltkriegs in einem nicht mehr vorstellbaren, nicht mehr beschreibbaren Ausmass hinter sich gelassen hatte. Als selbst die Tatsache von Abermillionen von Ermordeten und von Abermillionen von gequälten Überlebenden, von elternlosen Kindern, von Verstümmelten und Vertriebenen die Frage der Verantwortung und damit der Sühne höchstens auf der Stufe der Helfershelfer, der instrumentalisierten Willfährigen, stellte, weil die Machthabenden und deren Nachfolger in den alten Konfigurationen konstruierter Feindschemata schon wieder neue Kriege führten, weil auch diese geführt und nicht durch die Aufarbeitung früherer Kriege verhindert werden wollten, in Korea, in Afrika, in Vietnam, in Iran und Irak – Hunderte von Kriegen seit dem Zweiten Weltkrieg, Kriege zwischen Nationen, zwischen Grossmächten und kleineren Staaten, im Innern von Nationen gegen Minderheiten – bis nun zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien, dessen Zeugen und Zeuginnen wir mit Entsetzen und Ohmacht oder mit wachsender Indifferenz sind.

Ich muss nochmals auf die Gründung der “Sozialcharitativen Frauenschule Luzern” zurückkommen. Die Gründung war das Werk von Frauen. Schon vor Ausbruch des Kriegs hatten sich Frauen aus allen Ländern Europas, unter Einschluss der Frauenbewegungen Englands und Amerikas, ja selbst Brasiliens, Australiens, Britisch-Indiens und Japans zusammengeschlossen, um gegen die Aufrüstung und gegen die Kriegsvorbereitungen öffentlich Widerstand zu leisten. Am 15. Mai 1899 fand in Den Haag die erste Internationale Friedensdemonstration der Frauen statt; am gleichen Tag veranstalteten überall in der Welt Frauenorganisationen Kundgebungen gegen den Krieg. Besonders stark war die feministische Friedensbewegung in Russland, obwohl nach Erlassen der zaristischen Polizei öffentliche politische Versammlungen nicht gestattet waren, schon gar nicht solche von Frauen. In Spanien und in Japan gingen die Frauen an diesem Tag überhaupt das erstemal organisiert mit einem politischen Anliegen auf die Strasse. In Amerika schlossen sich 1’250’000 Frauen den Kundgebungen an.

Der Bericht, den die deutsche Pazifistin Margarete Lenore Selenka für die Erste Internationale Friedenskonferenz in Den Haag verfasste, liest sich heute mit Staunen. Er ist ein Dokument für die Effizienz jener Kraft, die Frauen in allen Ländern bewog, nicht nur gegen die Kolonialkriege – zum Beispiel die Burenkriege – und gegen das Wettrüsten in Europa aufzustehen, sondern gegen jede Art der Verachtung und Minderachtung menschlichen Lebens – ihres eigenen Frauenlebens, für das sie die gleichen beruflichen und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten und die gleichen politischen Rechte forderten wie die Männer sie selbstverständlich für sich beanspruchten,  des Lebens von Kindern, für welche sie Gesetze gegen Ausbeutung und für das allgemeine Recht auf Schulung und Bildung durchsetzten, des Lebens von Arbeitern und Arbeiterinnen, für die sie für gesetzlich geregelte Arbeitszeit, für Schutzbestimmungen am Arbeisplatz und für  Arbeitslosengelder kämpften. Sie protestierten, gingen auf die Strasse, organisierten Versammlungen, hielten Reden und schrieben Manifeste, Briefe und Bücher, sie kämpften gegen Gewalt und Prostitution, gegen Verwahrlosung, Alkoholismus und Tuberkulose, sie gründeten und leiteten Schulen, Waisenhäuser, Kinderbetreuungsheime, Frauenbildungsstätten, Parteihochschulen und vieles mehr. Sie kamen aus allen Schichten der Gesellschaft, waren religiös oder nicht religiös, katholisch, protestantisch oder jüdisch, waren Sozialistinnen, Kommunistinnen oder Parteilose, verheiratete Frauen oder unverheiratete. Feministinnen waren sie alle. Sie hiessen – um nur einige Namen jener Generation zu nennen, zum Teil berühmte, zum Teil vergessene – Anita Augspurg, Rosa Bloch-Bollag, Josephine Butler, Verena Conzett-Knecht, Hedwig Dohm, Caroline Farner, Margarethe Faas-Hardegger, Emmy Freundlich, Marie Goegg-Pouchoulin, Claire Goll, Gertrude Guillaume-von Schack, Lida Gustava Heymann, Marie Humbert-Müller, Käthe Kollwitz, Alexandra Kollontai, Selma Lagerlöf, Berta Lask, Rosa Luxemburg, Rosa Mayreder, Helene von Mülinen, Frida Perlen, Emma Pieczynska-Reichenbach, Adelheid Popp, Meta von Salis-Marschlins, Olive Emilie Albertina Schreiner, Margarethe Lenore Selenka, Toni Sender, Helen Stöcker, Bertha von Suttner, Gertrud Johanna Woker, Mathilde Wurm, Clara Zetkin – und Maria Croenlein.

Maria Croenlein gründete 1918 die “sozial-charitative Frauenschule Luzern”.

Auf die wechselvolle Geschichte der Schule brauche ich nicht einzugehen. Es ist anzunehmen, dass alle, die hier sind, damit vertraut sind. Wer sie nicht kennt, kann sie in der kleinen Publikation nachlesen, die vor fünf Jahren, zum siebzigjährigen Bestehen, verfasst wurde. Auch auf die Bedeutung der Schule brauche ich nicht einzugehen. Fände diese nicht eine so breite Anerkennung, würde die heutige Feier nicht stattfinden.

Ich möchte jedoch auf die besonderen Ressourcen eingehen, aus denen Frauen wie Maria Croenlein schöpften, um die sozialen und politischen  Initiativen zu ergreifen, von denen wir heute noch profitieren, und um diese Initiativen gegen grosse Widerstände durchzusetzen.

Die Kraft, aus der sie schöpften, die sie beflügelte und stützte, ist – behaupte ich –  die kreative Vernunft.

Sie wenden vielleicht ein, dass es doch eher ihr Gewissen war, oder ihr Zorn gegen erlebtes und miterlebtes Unrecht, oder eine kluge Weitsicht, oder ein besonders aktives Talent, oder Nächstenliebe und Mut. Ich widerspreche Ihnen nicht. Es geht in der Tat um alle diese Kräfte und Eigenschaften. Doch diese könnten nicht aktiv werden ohne die kreative Vernunft.

Was ist darunter zu verstehen?

Kants Vernunftbegriff steht Pate. Es geht um das Vermögen, dank dem jede Erfahrung und jede Erkenntnis zur Voraussetzung neuer Erkenntnis und neuen Handelns wird: nicht im Sinn kausaler Weil-Deshalb- oder konditionaler Wenn-Dann-Muster, nicht im Sinn eines autoritären und regelgebundenen Entweder-Oder, nicht aus der Nötigung durch unverfügbare Gegebenheiten heraus, sondern in Freiheit. Der Freiheitsbegriff wurde allerdings so oft zweckgebunden und damit missbräuchlich definiert, dass es schwer ist, sich (die eigene Vorstellung) – und ihn (den Begriff) – von all den irreführenden Definitionen zu lösen. Freiheit muss, gestützt auf Kant, als die ganz und gar offene, transzendentale Befähigung verstanden werden, die in jedem einzelnen Menschen – nicht auf Grund seiner individuellen Anlagen, sondern auf Grund seines Menschseins – angelegt ist: als Bedingung der Möglichkeit, selbständig, sinnvoll, selbstverantwortlich zu handeln.

So ist die kreative Vernunft die Befähigung, gegen den Zwang der inneren und äusseren Verhältnisse, gegen den Druck der Gesellschaft, gegen Erziehung, Machtstrukturen und Profitkalkül, kurz gegen den Trend und gegen den Strom das eigene Handeln zu bestimmen. Die kreative Vernunft macht den tätigen Widerstand möglich, nicht in fixierter Alternative, sondern im Durchbruch zu ungewöhnlichen, überraschenden Optionen des Handelns. Sie ist die Kraft, sich gegen die Gewohnheit, sich nicht nach Massgabe des kleineren Übels zu entscheiden. Sie ist die Gegenkraft zur Angst und dadurch die Gegenkraft zur Gewalt. Denn Angst und Gewalt sind immer komplementär. Kreative Vernunft ist die Befähigung zur Sprache und damit zum politischen Handeln, das heisst – im Sinn Hannah Arendts, wie sie es in ihrem gesamten Werk immer wieder betont – zum geordneten Zusammen- und Miteinanderleben in einer Pluralität, zum Zusammenschluss der Verschiedenen, damit im Chaos der Differenzen eine Dynamik der Übereinkunft zur Verwirklichung der Gemeinschaftsinteressen gefunden und realisiert werden kann. Diese Dynamik lässt definitive, totalitäre “Lösungen” nicht zu; sie ist – als Prozess der Freiheit – unabschliessbar, bedarf aber institutioneller Garantien, die den Prozess selbst zulassen. Doch selbst da, wo diese Garantien fehlen – Verfassungs- und Gesetzesgarantien -, kann die kreative Vernunft zum politischen Handeln befähigen, auch wenn dieses Handeln nur im Widerstand gegen Gewalt in Erscheinung treten kann – so wie die Generation der Frauen, zu der Maria Croenlein gehörte, es bewies. Immer gilt, dass politisches Handeln und Gewalt, Sprache und Gewalt, Freiheit und Gewalt sich ausschliessen.

Es erscheint mir wichtig, noch auf eine längere Kontinuität der philosophischen Begründung kreativer Vernunft, hinzuweisen, auch wenn der Begriff neu ist. Zweihundert Jahre vor Kant, im Jahre 1577, erschien in Frankreich eine ungewöhnliche Studie: Der “Discours sur la servitude volontaire” von Etienne de la Boëtie. Diese Untersuchung über die “freiwillige Knechtschaft”  ist heute so modern und so aufwühlend wie damals. “Die erste Ursache der freiwilligen Knechtschaft ist die Gewohnheit”, schreibt Etienne de la Boëtie. “Wohl bestimmt die Natur den Menschen zur Freiheit und verleiht ihm den Willen dazu, aber sein Wesen ist so, dass er die Züge trägt, die die Erziehung ihm aufprägte. Daraus folgt, dass dem Menschen alles, wozu man ihn erzieht und gewöhnt, zur zweiten Natur wird”… “Aber die Zeit”, fährt er fort, “verleiht niemals ein Recht zu Übeltaten, sondern sie vermehrt in der Tat das Unrecht noch”.  Wer sich dagegen nicht ans Unrecht gewöhnt, wer sich auf die ursprüngliche Freiheit beruft, oder, wie es bei Etienne de la Boëtie heisst, “wer kühn ist, scheut keine Mühe; wer jedoch feig und träge ist, vermag weder ein Übel zu ertragen noch das Gute zu erlangen; er bleibt beim Wünschen stecken, seine Feigheit nimmt ihm die Kraft, es zu erstreben, doch die Gier des Habenwollens belässt ihm die Natur”.

Für Etienne de la Boëtie bedarf es einer impliziten, gewohnheitsbedingten Zustimmung der Menschen zum Unverfügbaren, damit dieses seinen Zwang ausüben kann. Das heisst, der Mensch muss in seine “servitude”, in seine “Knechtschaft” einwilligen, damit er zum”Knecht” wird, oder, mit anderen Worten, er hat es selbst in der Hand, sich gegen den schleichenden Missbrauch seiner selbst, sich gegen den Sprachverlust, gegen die Missachtung seiner Freiheit zu wehren. (Davon ausgenommen sind Situationen der unmittelbaren, unausweichlichen Gewalterfahrung. Die Rede von der Mitverantwortung der Opfer bei Gewaltverbrechen ist Ausdruck von Zynismus).

Die Postmoderne – die Nach-Adorno-Aera – hat das Subjekt auch noch dieser Autonomie, der Autonomie des Widerstands entledigt und hat es auf die Teilhabe am Diskurs reduziert. Zwar ist der Diskurs eine letzte, quasi modellhafte Rettung der sprachlichen Kompetenz im Sinn der Freiheit, doch bleibt er auf das philosophsiche Modell beschränkt. Darum herum, in der gelebten pluralen Wirklichkeit, ist jeder und jede in erster Linie Objekt im sprachlosen Handeln und Unterlassen der vielen, im Geschiebe der vielen, im exponentiellen Anwachsen der gewaltbestimmten Komplexität. Was bleibt, ist die Erfahrung individuellen, unaustauschbaren Leidens, die Erfahrung des eigenen, existenzgebundenen Schmerzes, das ohnmächtige Sichaufbäumen gegen den Tod.

Doch gerade damit bleibt mehr:

Im Sichaufbäumen manifestiert sich ein unbeugsamer Einspruch gegen die umgreifende Heteronomie und gegen die umgreifende Gewalt. Zwar lässt die Einsicht in die vielfältigen unentrinnbaren Bedingtheiten und Abhängigkeiten menschlicher Existenz keinerlei Allmachtsphantasie mehr zu, und dies ist mehr wie gut. Könnte diese Einsicht Allgemeingut werden, wäre für den Frieden viel gewonnen. Jedoch wird aller notwendigen Bescheidung zum Trotz im Einspruch klar, dass Autonomie Postulat bleiben muss – Postulat der kreativen Vernunft. Wird auf dieses Postulat verzichtet, so wird jedes Handeln beliebig und artet beliebigerweise in Gewalt aus, so werden Verantwortung und Handlungssinn zu blossen Worthülsen, so wird menschliche Würde – sei der handelnde oder der leidende Mensch gemeint – als moralische Handlungsnorm obsolet.

Wie könnten da der Selbstzerstörung der Menschheit – so wie Kant und Hannah Arendt “Menschheit” verstehen – noch Schranken gesetzt werden? Konkret, für die heutige Situation: Wie kann der Krieg in Europa gestoppt werden? Wie kann inmitten von skrupellosen Machtabsichten, von konstruierten Feindbildern, von rauschhafter, sprachloser Polarisierung, wie kann inmitten einer von Gewalt bestimmten Welt und inmitten der Gewöhnung an Gewalt die Dynamik des friedlichen “Zusammenlebens der Vielen” wieder Platz finden? Wie kann es wieder eingeübt werden? Was lässt sich gegen die alles beherrschende Angst tun,die dem Ausmass an Gewalt entspricht – Angst vor den Fremden, Angst vor absehbaren und zugleich unabsehbaren Migrationsauswirkungen, Angst vor undurchschaubaren Technologien, Angst um die eigene prekäre Existenz?

Wenn “Hoffnung bleiben soll in dieser angsterfüllten Welt”, muss die Rückbesinnung auf die Kraft der kreativen Vernunft einsetzen, muss diese Kraft aktiviert werden. Die kreative Vernunft ist nicht ein philosophisches oder historisches Relikt. Sie ist auch heute die nicht zu tilgende Befähigung, neue Optionen des Handelns zu wählen. Um diese Befähigung zu aktivieren, bedarf es der Erziehung des eigenen trägen und angsterfüllten Ichs.

Der Begriff “Erziehung” mag Sie stutzig machen. Ich gebrauche ihn mit Absicht. Er schliesst ein, dass es nicht von selbst geht, dass mit Widerständen zu rechnen ist, dass Training vonnöten ist, bis die Befähigung zur Fähigkeit wird, bis die Begabung auch in der Bewährung standhält, nicht ein- für allemal, sondern immer wieder, bis die ständig wiederkehrende Erfahrung der Ohnmacht nicht noch mehr lähmt, sondern anspornt, Widerstand zu leisten – Widerstand aus guten Gründen. Die guten Gründe haben damit zu tun, dass Anpassung an die Regeln der Zeit Anpassung an den Kodex der Angst bedeutet, an einen Kodex der Repression und Sprachlosigkeit, des wachsenden Misstrauens und der wachsenden zwischenmenschlichen Gleichgültigkeit. Sie haben damit zu tun, dass Angst nicht durch Anpassung an die ängstigenden Bedingungen überwunden wird, nicht durch Unterwerfung unter die Gewalt, sondern allein durch die Frage nach den Zusammenhängen der geforderten Anpassung und Unterwerfung, sodann durch ein Handeln, das einen Ausweg aus diesen Zusammenhängen weist.

Als zum Beispiel vor einigen Jahren, im Zug einer sich zuspitzenden fremdenfeindlichen Stimmung in der Bevölkerung, die in der Folge eine Verschärfung des schweizerischen Asylverfahrens bewirkte, durch den Berner Arzt Peter Zuber und seine Frau Heidi Zuber die AaA, die Aktion zugunsten abgewiesener Asylsuchender, gegründet wurde, deren Mitglieder sich verpflichten, notfalls Menschen, die bei Rückschaffung in ihr Herkunftsland an Leib und Leben gefährdet sind, zu verstecken, da wussten die Verantwortlichen dieser Aktion, dass sie mit Gefängnisstrafen zu rechnen hatten (und haben). Trotzdem standen (und stehen) sie zu ihrer Überzeugung, dass nicht jedes Gesetz immer Recht bedeutet, auch nicht in einem demokratischen Rechtsstaat, dass andererseits nicht jede Asylverweigerung Unrecht bedeutet, dass es jedoch gilt, bei Unrecht Wirderstand zu leisten und zu handeln. Sie fanden sich zu “Banquets républicains” zusammen, um ihrer Überzeugung eine politische Form zu geben – und sie handelten.

Dazu hätte Etienne de la Boëtie mit seiner vor mehr als vierhundert Jahren verfassten Schrift die Begründung liefern können, sowohl für den Widerstand selbst wie für die Tatsache, dass dieser zugunsten Hilfsbedürftiger auf besonders klare Weise gefordert ist: Altruismus nicht aus religiös motivierter Nächstenliebe, sondern aus Gründen der Freiheit. Zwar sei, heisst es im “Discours sur la servitude volontaire”, “allen Menschen ohne Unterschied die Vernunft in der Seele als Keim angelegt; Unterschiede, die es gebe, seien dazu da, dass die Menschen sich im Sinn der Vernunft betätigen”. Das heisst, dass “die einen Macht haben, Hilfe zu leisten, und die anderen das Bedürfnis nach Hilfe”.

Aus der Wechselseitigkeit der Bedürfnisse könnte sich eine Wechselseitigkeit der Macht ergeben, Austausch statt Abhängigkeit, oder auch, im Eingeständnis der gegenseitigen Abhängigkeit, eine gegenseitige Stärkung der Autonomie.

Ein anderes Beispiel, das beweist, wie kreative Vernunft die scheinbare Ausweglosigkeit in einer heutigen komplexen Konfliktsituation  überwinden kann, ist die arabisch-jüdische (und zugleich christlich-jüdisch-muslimische) Gemeinschaftssiedlung Neve Shalom oder Wahat al-Salam, die, in der Mitte zwischen Ramallah und Tel Aviv auf dem Westufer des Jordan gelegen, 1972 vom Dominikanermönch Bruno Hussar gegründet wurde, und in der seither gleich viele Kinder aus beiden Völkern und aus allen drei Religionen gemeinsam aufwachsen, von gleich vielen Lehrern und Lehrerinnen beider Kulturen vom Kindergarten an in beiden Sprachen unterrichtet werden und gemeinsam die Feste der drei Religionen feiern – dies seit mehr wie zwanzig Jahren. Dem Unterricht für die Kinder der Siedlung folgen auch Kinder aus den umliegenden arabischen Dörfern und jüdischen Siedlungen: mit einem gemeinsamen Schulbus werden sie abgeholt und zurückgebracht. Und zugleich werden seit fünfzehn Jahren in Neve Shalom/Wahat al-Salam eine Art Seminare abgehalten, drei- bis fünf Tage lang, die “Friedensschule” heissen und die gleichviel Jugendlichen und Erwachsenen beider Völker offenstehen.

Seit Bestehen dieser “Friedensschule” haben über zehntausend Jugendliche und mehr als tausend Erwachsene aus beiden Völkern die wechselseitigen Ängste, Vorstellungen und Ärgernisse hier zur Sprache gebracht und diskutiert, sie konnten Vorurteile abbauen und ein friedliches, aller Differenzen bewusstes Umgehen miteinander als die bessere Option kennenlernen und üben. Die Hoffnung des greisen Gründers und der jungen Bewohnerinnen und Bewohner von Neve Shalom/Wahat al-Salam ist, dass der Name der Gemeinschaftssiedlung – Quell des Friedens – sich bewahrheite.

Müsste die Idee der “Friedensschule” nicht überall dort, wo Konflikte in Sprachlosigkeit und Gewalt auszuarten drohen, wo ein stures Entweder-Oder mit entsprechenden Feind- und Sündenbockbildern das Zusammenleben polarisiert, Nachahmung finden? Müssten nicht an allen Bildungsstätten Angebote eingeführt werden, in denen das gewaltfreie Umgehen mit Konflikten, das Leben mit Differenzen und Konflikten, gelernt und geübt werden könnte, im Sinn einer modellhaften und auf die politische, soziale und private Praxis übertragbaren Aktivierung der kreativen Vernunft? Denn allmählich müssten wir wissen, dass sich nur die wenigsten Konflikte lösen lassen, nur die geringsten, sowohl im politischen wie im privaten Zusammenleben. Vor allem müssen wir lernen, die Angst vor Konflikten zu durchschauen, auch die Vorstellung von ausschliesslichen Entweder-Oder-Lösungen zu durchbrechen. Wir müssen lernen, Konflikte und Differenzen als Anforderung an die kreative Vernunft in die Normalität gemeinschaftlichen Lebens – auf welcher Ebene auch immer – einzubauen.

Wenn Glück nicht Illusion sein soll in dieser angsterfüllten Welt – denn Hoffnung ist der Blick der Seele nicht auf unerreichbares, sondern auf mögliches Glück -, dann – vielleicht – durch nicht abbrechende, nicht ermüdende Erziehung zur kreativen Vernunft.

 

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