Philosophie der Skepsis und Skepsis im Judentum oder: Von der Leidenschaft des philosophischen Nichtwissens
Philosophie der Skepsis und Skepsis im Judentum
oder
Von der Leidenschaft des philosophischen Nichtwissens
- I. Definitorische Präliminarien
Skepsis (skepesthai: spähend umherblicken, betrachten, untersuchen): Grundhaltung des an seiner Befähigung zu erkennen – überhaupt zu erkennen, Wahres zu erkennen – zutiefst zweifelnden Menschen, woraus die Infragestellung aller scheinbar gesicherten Erkenntnisse folgt, sowohl der eigenen wie fremder, ob diese die Aussenwelt betreffen, das sog. “Fremdpsychische” oder metaphysische, transzendente Inhalte. Daraus wiederum folgt die ethische resp. moralische Vereinzelung des sich seiner prinzipiellen Begrenztheit und ausschliesslich subjektiven Verantwortung bewussten Menschen in allen Bereichen des Urteilens und Handelns.
In kognitiver Hinsicht liegt der Skepsis das Wissen um die Unmöglichkeit oder zumindest Vorläufigkeit, Relativität, Unabschliessbarkeit und Unvollkommenheit allen Erkennens zugrunde, damit das Wissen um die Unmöglichkeit jeglichen Urteils. Daraus folgt die Infragestellung aller autoritär begründeten Lehren, die einen absoluten Richtigkeitsanspruch behaupten und verteidigen. Die Skepsis ist die Gegenhaltung zum Glauben und zum Wissen. Sie begründet die Philosophie als Lehre und Geschichte des Nichtwissens, des Fragens und Zweifelns.
In ethischer Hinsicht ist die Skepsis die Grundhaltung der Freiheit, resp. die Ablehnung autoritär begründeter normativer Handlungsanweisungen, wiederum eine Haltung der bewussten Inkaufnahme des persönlichen Irrens, aber auch der Eigenverantwortung für die Folgen, ev. für die Korrektur des Handelns. Die Skepsis wird dadurch zur Gegenhaltung des blinden Gehorsams.
Der Alltagsgebrauch von “skeptisch” und “Skepsis” unterscheidet sich vom philosophischen Gebrauch. Wenn Sie zum Beispiel den meteorologischen Nachrichten gegenüber “skeptisch” sind, oder wenn mein Sohn den Plan seiner Schwester, ein altes Haus selbst zu renovieren, “mit Skepsis” aufnimmt, bedeutet dies, dass Sie und dass er sich dem Gehörten gegenüber “kritisch” zeigen. Ein kritisches Verhalten und ein skeptisches Verhalten wird im Alltagsgebrauch gleichgesetzt, die Bedeutung der beiden Begriffe ist tatsächlich auch nah verwandt. In der Philosophie jedoch werden sie unterschiedlich verwendet und bezeichnen unterschiedliche Inhalte (Strömungen, Schulen etc.). Darauf werden wir nun eingehen.
- II. “Der Geist, wie ein entsprungener Hengst”
Das Bild, das den skeptischen Geist einem “entsprungene Hengst” gleichstellt, habe ich Michel de Montaigne entliehen. Das Bild ist mangelhaft, aber es gefällt mir. Ich stelle mir vor, wie der Hengst den Kopf aufwirft, wie er sich von Zügel und Reiter ( oder Reiterin) befreit, wie er sich aufbäumt, die Zäune überspringt, die Gehege hinter sich lässt und in die Wildnis hinausstürmt. Das Bild steht für etwas, wovon wir träumen: eine Befreiung aus der gewohnten Unterordnung und Abhängigkeit, ev. gar der Unterdrückung, etwas Ungewöhnliches, das den immer gleichen Trott oder Trab unterbricht, das dem Leiden, eingesperrt zu sein, gelenkt und gezüchtigt zu werden, aufkündigt, das der Sicherheit valet sagt, um das Wagnis der Unsicherheit einzugehen, das Wagnis der Freiheit, wo fortan kein Herr und Meister mehr für den Unterhalt, für Wasser und Brot, für die Zukunft und wofür immer zuständig ist, wo Existenz sich nur noch nach den eigenen Kräften misst. Ist Hochmut dabei? Überheblichkeit? Oder im Gegenteil eine Haltung des Verzichts und der Selbstbescheidung? Auch Michel de Montaigne hatte sich die Frage gestellt. Ich gehe später auf ihn ein. Auf jeden Fall war für Montaigne der Entscheid für die Skepsis ein Entscheid für die Freiheit und ein Bekenntnis zu sich selbst.
Das 16. Jahrhundert, als Michel de Montaigne lebte (1533 – 1592) – Sohn einer marranischen Mutter und eines katholischen, aber höchst autoritätskritischen Vaters -, war eine Zeit des Umbruchs, eine Zeit der grossen Krise. In der jüdischen Geschichte ist es die Zeit nach der Vertreibung aus Spanien, durch welche die jüdische Präsenz in Westeuropa enorm dezimiert wurde und das jüdische Leben, damit die jüdische Gelehrtheit sich nach Osten zu verlagern begann. Obwohl im damaligen Europa so viele Vertreibungen vorausgegangen waren – 1182 erstmals aus Frankreich, 1290 aus England, 1306 wiedernm aus dem schon grösseren Königreich Frankreich und 1394 erneut, sodann im Lauf des 14. und 15. Jahrhunderts aus den meisten mitteleropäischen Städten – trotz all diesen Vertreibungen wurde diejenige aus Spanien im Jahre 1492 als Weltenwende verstanden. Ein Jahr später wurden die Juden auch aus den spanischen Besitzungen Sizilien und Sardinien verjagt, und im selben Jahr wurde in den damals spanisch regierten Niederlanden für Juden ein strenges Niederlassungsverbot erlassen. Und damit war es noch nicht getan: 1497 befahl der portugiesische König Emanuel I. die Zwangstaufe aller portugiesischen sowie aller aus Spanien geflüchteten Juden und setzte dies mit grosser Brutalität durch, 1498 wurden die Juden aus dem damals noch unabhängigen Königtum Navarra vertrieben, 1501 aus der Provence mit ihren bedeutenden Gemeinden in Nimes, Lunel und Montpellier, 1510 aus dem Königtum Neapel und praktisch aus ganz Süditalien, wo insbesondere die Gemeinde von Bari hohes Ansehen genoss.
Joseph Hayim Yerushalmi, der als Historiker dem “Exil Jerusalems in Spanien” (galut Yerushalayim asher bi-Sefarad) und dessen Ende, sowie den daraus sich entwicklenden Folgen, sein ganzes Forschungsinteresse widmet, vermutet, dass das Bewusstsein der Weltenwende mit dem entsetzlichen, nicht mehr verstehbaren Paradigmenwechsel zu tun hatte: mit dem Verlust des Exils als Domizil, mit dem Sturz aus der höchsten Blüte der religiösen und der weltlichen Akzeptanz in die Heimatlosigkeit. Viele zeitgenössische Berichte dokumentieren das Entsetzen, etwa jene von Isaac Abravanel oder jene von Abraham Zacuto, einem Halacha- Chronisten, oder, vielleicht am ergreifendsten, die an Hiobs Klage erinnernde “Consolacäo äs tribulacöes de Israel” des ehemaligen Marranen Samuel Usque: “Europa, welches mich verschlang mit seinem verderblichen Mund, erbricht mich 111111 wieder ... Ach, Europa, Europa, du meine Hölle auf Erden! (Pots Europa, Europa, mi inferno na terra)”. Yerushalmi vergleicht die Zeit nach der Vertreibung aus “Sefarad” mit unserer Zeit nach der Shoa: eine Zeit der Entwurzelung und der Verzweiflung.
Auch die nicht-jüdische Geschichte des 16. Jahrhunderts war von aufwühlenden Krisen und Umbrüchen geprägt. Martin Luther (1483 – 1546) rief zum Kampf gegen Papsttum und Priesterschaft auf und leitete damit die Reformation ein, durch welche er die Lehre vom unbekannten Willen in Gott, über den keine menschlichen Autoritäten, sondern allein die Bibel und der Glaube auszusagen vermögen, verkündete, worauf die katholische Kirche mit ihrer jesuitischen Kampftruppe die Gegenreformation in Gang setzte. Während die reformatorische Bewegung der religiösen Skepsis menschlicher Autorität gegenüber eine Art Anerkennung verschaffte, dabei aber der Bibel und dem Glauben umso grössere Autorität zubilligte, führte die Krise im katholischen Bereich zu einer Verstärkung der autoritären Tendenzen.
Im Judentum bewirkten die traumatisierenden Ereignisse, die zum Verlust von Hab und Gut, von sozialer Stellung und Heimat, ja häufig zum Verlust des Lebens führte zu einer – ebenfalls auf persönliche, auf rabbinische Autoritäten, die “Acharonim” abgestützten – religiösen Neuorientierung. Diese Neuorientierung ging zuerst von Safed in Galiläa aus und wirkte von dort aus aufs askenasische Judentum. Den Anfang machte der mit seinen Eltern aus Toledo vertriebene Joseph ben Ephraim Caro (1488-1576), der nach längerem Aufenthalt in der heutigen Türkei, in Konstantinopel (Istanbul), Adrianopel (Edirne)und Nikopolis (Prevesa), schliesslich in Safed eine Jeschiwa gründete, ein bedeutender Talmudgelehrter, der zugleich ein Mystiker der Kabbala wie ein religiöser Lehrer war, dessen “Schulchan Aruch”, das erstmals in Venedig erschien und ungezählte Neuauflagen erfuhr, nicht nur im sephardischen, sondern auch im askenasischen Judentum eine begeisterte Aufnahme fand, vor allem dank der Vermittlung durch Moses ben Israel – Isserles – gen. Ram0 aus Krakau, der von 1525 bis 1572 lebte.
Rabbinischer Autorität und kabbalistischer Mystik, die ebenfalls von Safed ausstrahlte – zu erwähnen sind insbesondere Jakob Cordovero (1522 – 1570) und Isaak Luria (1534 1572) – gelang es, die durch die Verfolgungen und Vertreibungen bewirkten Verunsicherungen aufzufangen. Wo und wie hätte da eine Philosophie der Skepsis sich etablieren können? Nein, das Gegenteil war gefragt, eine von Autoritäten vorgelebte Stärkung des Glaubens war gefragt, und der “Schulchan Aruch” führte auch zu einer Fixierung, wenn nicht gar zu einer “Versteinerung” der jüdischen. Cordovero, den Gershom Scholem als den “tiefsinnigsten jüdischen Mystiker” bezeichnet, vermochte allerdings, philosophisch erstaunliche Erkenntnisse zu formulieren, die, hundert Jahre vor Baruch de Spinoza (1632 – 1677; ich verweise auf den Vortrag von Daniel Strassberg nächste Woche), den zentralen Widerspruch der religiösen Spekulation zusammenfassen, nämlich, dass “Gott alles Wirkliche, aber nicht alles Wirkliche Gott ist”. Doch bei Cordovero wie bei Luria wie später beim Messianismus des Sabbatai Zwi oder des Nathan von Gaza wie bei der ganzen daraus folgenden sabbatianischen Bewegung ist nicht Skepsis die Grundhaltung, sondern ein überzeugter, ja sogar ein fanatischer Glaube. Nun jedoch ist nicht diese zeitweise überaus breite, aber gar nicht einheitliche Entwicklung Gegenstand unserer Vortragsreihe, sondern die spärlichen, vereinzelten, ganz persönlichen Ansätze einer prinzipiellen Orientierung am Eingeständnis des Nichtwissens oder an der Unmöglichkeit eines sicheren Urteils.
Auch diese Ansätze – etwa bei Michel de Montaigne und Etienne de la Boetie, bei Descartes, bei Spinoza und bei weiteren Denkern – finden sich im gleichen 16. Jahrhundert, in dieser Zeit der Krise und des Umbruchs. Sie stützten sich auf antike Vorbilder, die damals übersetzt und gelesen wurden: auf Pyrrhon von Elis (360 – 270), den Begründer der dritten nach- aristotelischen Schule, der 39 Jahre alt war, als Sokrates durch den Giftbecher starb (469 – 399) und auf dessen bedeutendste Schüler, den römischen Denker und Politiker Marcus Tullius Cicero (106 – 43) und auf den in Alexandria und Athen wirkende griechischen Arzt und Philosophen Sextus Empiricus (200 – 250), deren Werke im Mittelalter, besonders aber in der Renaissance zum klassischen Bildungsgut gehörten. Cicero wie Sextus Empiricus griffen auf heute verschollene griechische Quellen der griechischen Skepsis zurück. (In Alexandria – a propos – kam in der Gestalt und im Werk von Philon, um 25 vor – 50 nach Chr., der Philo Judeaus genannt wurde, eine erstaunliche Synthese von griechischer Philosophie und jüdischer Tradition zustande, in dessen Fortsetzung Mose ben Maimon – Maimonides – und dessen Werk zu verstehen ist, das ebenfalls in Nordägypten, in Fustat, Alt-Kairo, geschrieben wurde und das insbesondere mit dem “M6reh Nebükim”, dem “Führer der Unschlüssigen”, die Verbindung von Glaubenslehre und Aristotelismus wieder aufnahm und vervollkommnete). Allerdings waren weder Philon noch Maimonides Skeptiker; sie versuchten, im Gegenteil, die Glaubensinhalte mit einer rationalen Begründung in Einklang zu bringen, weswegen sie von den – rein – religiösen Autoritäten wiederum angegriffen und angefeindet wurden.
Was aber war die Lehre der eigentlichen Begründers der Skepsis? Pyrrhon von Elis (360 – 270) war der Überzeugung, dass sich die Wirklichkeit der menschlichen Erkentnis entziehe. Daher könne von nichts gesagt werden, es sei schön oder nicht-schön, und von keinem Tun, es sei gerecht oder ungerecht. Jedes Urteil werde dadurch hinfällig, da alles, was sich der sinnlichen oder der intellektuellen Wahrnehmung anbiete, “adiaphoron” d.h. ununterschieden I gleichgültig, sei. Wenn von irgend etwas bestimmte Eigenschaften behauptet würden, so beruhe dies auf reiner Willkür, resp. sei nichts wie eine menschliche Setzung, eine Konstruktion. Der Weise unterscheide sich von den gewöhnlichen Menschen, indem er sich jeden Urteils enthalte und gegenüber allem, was sich zeige und was ihm widerfahre, unerschütterlich sei. Auch bezüglich des Handelns seien feste Kategorien von Gut und Böse nicht zulässig (was in ethischer Hinsicht einen Relativismus nach sich zieht, der wiederum in moralischer Hinsicht sich als überaus entlastend oder als belastend auswirkt, je nach dem. Diesbezüglich finden sich bei Kierkegaard gewisse Anleihen, stärkere bei Nietzsche). Höchste Tugend des/der skeptischen Weisen ist, nach Pyrrhon, Unerschütterlichkeit, resp. “Unverwirrtheit” (ataraxia).
(Ob eventuell Salomon der erste Skeptiker war, so dass auch diese Linie, die Linie der Skepsis, im Judentum begonnen hätte? Der Überlieferung nach soll er einen Ring getragen haben, der ihn glücklich machen sollte, wenn er traurig war, und umgekehrt, und auf den eine Inschrift ingraviert gewesen sein soll: “Auch dieses wird vorübergehen”),
Pyrrhons Lehre blieb nicht direkt erhalten, auch nicht in Fragmenten, wie andere Werke vorsokratischer Denker. So wie Sokrates Lehre auch nur indirekt über die platonischen Dialoge vermittelt wurde, wurde die pyrrhonische Philosophie nur dank dem – schon erwähnten – griechischen Arzt und Denker aus Alexandria, Sextus Empiricus (220 – 250 ) und dessen Schrift “Pyrrhonische Grundzüge” übermittelt, sodann dank der Schriften eines anderen griechischen Denkers, Änesidemos, der mehr als zweihundet Jahre vor Sextus Empiricus ebenfalls in Alexandria lebte und wirkte. Bei Änesidemos finden sich die sog. “10 Tropen” (Gründe, resp. “trope” griech. Wende, Umkehr, Wendpunkt), welche die Zögernden zu einer “Wende” zum Skeptizismus bewegen sollten, d. h. zu einer grundsätzlichen Infragestellung aller Wahrnehmungen der Aussenwelt. Als “Gründe” führt Änesidemos an: (!) die Verschiedenheit der Lebewesen (2) die Verschiedenheit der Menschen voneinandr (3) die Verschiedenheit der Sinnesorgane der Menschen (4) die Verschiedenheit der Zustände im einzelnen Menschen selbst (5) die Tatsache der unterschiedlichen Lagen, Entfernungen und Orte (6) die Unabgetrenntheit resp. die Verbindung oder Vermischung des Objekts der Wahrnehmung mit anderen Objekten (7) die Verschiedenheit der Art und Weisen, in denen das Objekt erscheint, je nach der Verschiedenheit der Verbindungen (8) die Relativität überhaupt, resp. der Einfluss aller äusseren und inneren Bedingungen auf eine Wahrnehmung (9) die Abhängigkeit der Wahrnehmung von der Anzahl resp. Widerholung der Wahrnehmungen (10) die Abhängigkeit und Beeinflussbarkeit der Wahrnehmung von Bildung, von Sitten, Gebräuchen und Gesetzen sowie von religiösen und philosophischen Lehren.
Der wohl bedeutendste Skeptiker der Antike war Karneades von Kyrene (Nordafrika), der etwa zwei Generationen nach Pyrrhon lebte (214 bis 129 v. Chr.), der die Leitung der dritten Akademie übernahm, später in Rom als griechischer Gesandter wirkte und dort auch Philosophie lehrte. Seine Theorien wurden durch Cicero überliefert. Karneades bezweifelte jegliche Möglichkeit, Wahrheit zu erkennen. Höchstens Wahrscheinlichkeit liess er zu, wobei alles Wahrscheinliche sich ebenso auch als nicht-wahrscheinlich erweisen konnte. Insbesondere griff er die Gottesbilder und Gottesbeweise der Stoiker an, die er mit unerbittlicher Logik dekonstruierte. Dabei berief er sich auf Protagoras aus Abdera, der mehr als zweihundert Jahre vor ilun jegliches Wissen um die Götter in Frage gestellt hatte, worauf er als 70jähriger Mann aus Athen verjagt wurde und auf der Flucht starb (410 v.Chr.). Im Fragment 4, das von Protagoras erhalten blieb, heisst es: “Ober die Götter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen, weder dass sie sind, noch dass sie nicht sind, noch wie sie etwa an Gestalt sind. Denn vieles gibt es, was das Wissen hindert: die Nichtwahrnehmbarkeit und dass das Leben des Menschen kurz ist” (Diels, Fragmente, Bd.II, S.265). Karneades stellt fest, dass es weder eine Übereinstimmung unter den Völkern in Bezug auf Gott gebe, noch verweise die Welt, wie sie sei, noch die menschliche Vernunft auf eine göttliche Fürsorge. Selbst der Begriff der Gottheit, wie er vertreten werde, sei dermassen widersprüchlich, dass man besser davon absehe, überhaupt von Gott zu sprechen. Auch brauche es weder für die Erklärung der Weltbildung noch für die Erschaffung der Materie noch für jene des Menschen einen Gott. ‘‘Angenommen, es hätten sich am Anfang Keime von allem gebildet, indem die Natur sich selbst befruchtete, wozu braucht man dann Gott als Schöpfer? ... Der Mensch und jedes lebende Wesen, das geboren wird, erhält Leben und Wachstum infolge willkürlicher Verbindung der Elemente, in die jeder Mensch und jedes Tier sich wieder scheiden, auflösen, verflüchtigen.... Der Blitz schlägt da und dort ein... ohne Wahl trifft er heilige und unheilige Ort, bald erschlägt er schuldige, bald fromme Menschen.... Wenn die Welt durch eine göttliche Vorsehung regiert würde, so hätten Phalaris und Dionysios niemals einen Thron... Sokrates nie den Giftbecher verdient. Entweder wird die dunkle Wahrheit uns verborgen und verhehlt oder, was eher zu glauben ist, es herrscht, frei von jedem Gesetz, in wechselvollem und schwankendem Spiel der Zufall“ (Cic. nat. deor. II 10, 24 f). Anderswo hielt Karneades fest: “Es gibt keinen grösseren Gegensatz zu einer ursächlichen Gesetzlichkeit als den Zufall, so dass meines Erachtens nicht einmal ein Gott wissen könnte, was zufällig oder von ungefähr geschehen wird. Denn Zufall ist das, was sich so ereignet, dass es auch anders hätte ausfallen können.“ Seine Skepsis dehnte Karneades auch auf die Ethik aus, wiederum im Rekurs aufProtagoras, der in Fragment 6a festhielt: “Über jede Sache gibt es zwei einander entgegengesetzte Aussagen” (Diels, II, S.266). Entsprechend handelte Karneades in zwei Vorträgen in Rom die Frage der Gerechtigkeit ab. Am ersten Tag führte er aus, weshalb Rom, um gerecht zu handeln, alle Eroberungen an die früheren Besitzer zurückerstatten müsse; am zweiten Tag, weshalb Rom, gemäss dem Recht des Stärkeren, seine Imperium behalten könne. Cicero berichete in seiner Schrift “De republica” wie Karneades’ akrobatische Widersprüche ernsthafte Männer, wie etwa Cato, vor den Kopf stiessen. Vom Standpunkt der Skepsis aus aber war sein Verhalten folgerichtig.
Karneades’ Philosophie erregte umso grösseres Aufsehen, als sie ja aus der platonischen idealistischen Akademie herausgewachsen war, in welcher die Wahrheitsfrage eigentlich positiv gelöst wurde. Eine bestimmte Ausgestaltung der Skepsis findet sich bei Platon höchstens in der Auseindersetzung um Sein und Nicht-Sein, wie sie in den Dialogen “Theaitetos” (das Sein) und “Sophistes” (das Nicht-Sein) dokumentiert ist. Platon (427 bis 347 v.Chr.), dessen ganzes Denken um das Sein kreist, stellt fest, dass das Nicht-Seiende nicht nur die Negation des Seienden ist, sondern dass es für alle Vorstellungen gilt, die keine Realität haben oder haben können: Schein, Wahn, Täuschung, Trug und Irrtum. Mit anderen Worten: dass etwas nicht- seiend ist, bedeutet, dass etwas nicht das wahrhaft Seiende ist und dass es zugleich die Existenz des Nicht-Seins hat, resp. Schein oder Trug ist. Das Nicht-Seiende hat somit für Platon die Bedeutung des ganz anderen. Das ganz andere aber betrifft den Bereich der trügerischen Sophisten, die er zutiefst ablehnt.
Dass ausserhalb von Platons Idealismus Seiendes und Nicht-Seiendes miteinander verwoben sind, und dass daher die Urteilsbildung unsicher ist, gehört zu den skeptischen “Tropen” des Änesidemus. So sind zum Beispiel Licht und Dunkel miteinander verwoben, wobei das Dunkel im Verhältnis zum Licht sowohl das Nicht-Licht ist wie etwas ganz anderes (oder das ganz andere als das Licht). Das Beispiel wird von einem gelehrten, streckenweise auch konfusen schwedischen Theologen, Thorleif Boman, als Kommentar zur platonischen Auseinandersetzung benutzt. Boman hatte Anfang der fünfziger Jahre ein Buch veröffentlicht “Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen”, das in den siebziger Jahren nochmals aufgelegt wurde, das nun vergriffen ist und das gerade in Hinblick auf die Abgrenzung des Nicht-Seienden vom Seienden interessante Stellen aufweist. Boman macht es sich zur Aufgabe, Parallelen und Unterschiede im Verständnis und in der Bedeutung wichtiger griechischer und hebräischer Begriffe herauszuarbeiten. Er hebt etwa hervor, dass im Griechischen unter “to on” (dem Seienden) etwas Ruhendes, im Hebräischen unter “dabar” etwas Dynamisches, Bewegendes verstanden wurde. Er führt auch aus, dass der Begriff “dabar”, der alle Realitäten bezeichnet – Wort, Tat, Sache-, in der Negation “lo dabar” sowohl die Nicht-Realität, das Nicht-Seiende bedeutet, als auch zugleich das ganz andere als “dabar”, das eine eigene Existenz hat, etwa Lippenworte, Lügenworte. Daher, führt Boman aus, ist “lo dabar” allen Begriffen, die etwas Nichtiges bezeichnen, von der Bedeutung her nahe, etwa “kazab” (Lüge) oder “habal” (Hauch, aber auch Täuschung, Wahn) oder auch “tohu”. Zur Verstärkung seiner These führt er aus den Psalmen die Verse 62.10 an: “Ja, ein Hauch (habal) sind die Menschenkinder, eine Lüge (kazab) die Menschen; werden sie auf die Waage gehoben, so sind sie allzumal leichter als ein Hauch.” Selbst das, was als “Chaos” übersetzt wird (ob “tohu” allein oder in Verbindung mit “bohu”) bedeutet vor allem das Nichtige, das was der Realität entbehrt. Allein durch die Begriffe wird somit klar, dass der Gott Israels nicht lügen kann, dass aber die Götzenbilder Lüge sind. Das göttliche Wort “dabar” ist jeder Skepsis entzogen. Vielleicht liegt hierin der tiefste Grund, weshalb auch nach den grössten Erschütterungen, wie etwa nach den Vertreibungen Ende des 15. Jahrhunderts, eine grundlegende Skepsis, die auch eine Erschütterung des Glaubens bedeutet hätte, nicht aufkommen konnte, ausser bei einzelnen wenigen, nicht aber als Bewegung. Selbst grosse Enttäuschungen in Fragen des Glaubens, etwa als der in den Jahren 1665 und 1666 als Messias gefeierte Sabbatai Zwi, der die Menschen überall in einen unvorstellbaren messianischen Taumel hineingerissen hatte, vom Judentum abfiel und sich zum Islam bekannte, führten nicht zu einer Skepsis dem Glauben überhaupt gegenüber, sondern höchstens dem – so von Sabbatai Zwi vertretenen – jüdischen Glauben gegenüber und es erfolgten massenweise Übertritte zu einem anderen Glauben, zum Islam oder zum Christentum.
Nun aber wieder zurück zum 16. Jahrhundert und zurück zu Montaigne. Michel de Montaigne, 1533 auf dem väterlichen Schloss in der Nähe von Bordeau geboren, verstärkte sogar die sokratische Skepsis, indem er Sokrates’ klare Aussage “Ich weiss, dass ich nichts weiss” der apodiktischen Form entledigte und den Ausdruck des Nichtwissens zur Frage machte: “Que sais-je?” Was weiss ich? Was kann ich überhaupt wissen? Montaigne stellte fest, dass die Welt, die ihn umgab, aus Verstellung, Doppelzüngigkeit Täuschung und Betrug bestand. “Was wir heute Wahrheit nennen, ist nicht, was wahr ist, sondern was man anderen einreden kann” (aus Bd. II). Montaigne, der selbst über eine blendende Rhetorik und damit über die sprachlichen Mittel der möglichen Täuschung verfügte, der auch wichtige öffentliche Funktionen wahrnahm – er hatte zum Beispiel einen Parlamentssitz – verpflichtete sich früh, entgegen dem Trend der Zeit, Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit zu üben. In dieser Haltung fühlt er sich nicht allein, sondern in Übereinstimmung mit Etienne de la Boetie, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband. 1563, im Alter von 32 Jahren, starb jedoch der Freund an einer damals nicht heilbaren Dysenterie. War es dieser Verlust, den er zeitlebens nie überwand, die Befassung mit den Schriften des Freundes, einer scharfen Analyse der knechtischen Korrumpierbarkeit der Menschen, deren Publikation er 1570/71 realisierte (Contr’un ou de Ja Servitude volontaire), war es das zunehmende Studium der antiken Denker, insbsondere jener der späteren Stoa und Skepsis – Seneca, Marc Aurel, Cicero, Sextus Empiricus u.a.m. – das Montaigne’s inuner klarere Distanzierung von der Welt, wie sie war, erklärt? “Unter unseren gewöhnlichen Handlungen ist nicht eine unter tausend, die uns selbst angehe (...). Wer gibt nicht gerne Gesundheit, Ruhe und Leben hin für Ehr und Ruhm, so unniitz, leicht und falsch die eingetauschte Münze auch sein mag?” heisst im Kapitel “Von der Einsamkeit” im Band I der “Essais”. Auf jeden Fall entschloss sich Montaigne an seinem 38. Geburtstag, am 28. Februar 1571, sich in der Bibliothek im Turmzimmer seines Schlosses einen Ort des Rückzugs, der Reflexion und der Selbstprüfung zu schaffen, einen 01i, wo er das tun konnte, was “ihn selbst anging“, wo er sich selbst finden konnte, alme dass er sich deswegen völlig von der Welt zurückgezogen hätte. Pflichten, die ihm auferlegt wurden, nahm er weiterhin wahr, etwa als Schiedsrichter in öffentlichen Angelegenheiten. Ab 1572 aber begann er, in Texten, die er “Essais” nannte, seiner grundlegenden Skepsis in Bezug auf die Welt, auf die scheinbaren Autoritäten und “Götzen”, aber auch in Bezug auf sein eigenes Innenleben wie auf sein äusseres Verhalten Ausdruck zu geben.
Montaigne’s ganzes Bemühen richtete sich auf ein Ziel aus: jene “ataraxia” zu gewinnen, die es ihm erlauben würde, die Furcht vor dem Tod zu verlieren und angesichts der Abwesenheit Gottes und der Nichtigkeit des eigenen Ich nicht der Verzweiflung zu verfallen. “Warum fürchtest du deinen letzten Tag? Er trägt nicht mehr zu deinem Tode bei als jeder andere. Der letzte Schritt macht nicht die Müdigkeit: er tut sie nur kund. Alle Tage gehen zum Tod, der letzte fangt an” (I,xx). Und, aus dem gleichen Essai: “Er (der Tod) betrifft euch weder als Tote noch als Lebende: als Lebende, weil ihr seid; als Tote, weil ihr nicht mehr seid... Weder das, was ihm vorausgeht, noch das, was auf ihn folgt, (gehört) zum Wesen des Todes“ (I,xx). Ein paar Zeilen später: “Man muss sowohl den Dingen wie den Menschen die Maske abnehmen: ist sie abgenommen, so finden wir dahinter nur eben diesen Tod, den letzthin ein Hausknecht oder eine einfältige Kammerfrau ohne Furcht trugen” (I,xx). Sokrates ist Beispiel. Der Tod ist für Montaigne zugleich das ganz andere und nicht das ganz andere, da jeder Tod dem Leben gleicht, das vorausgegangen ist und wie es vorausgegangen ist. “Wir werden nicht anders, um zu sterben. Ich deute immer den Tod aus dem Leben”, hält Montaigne fest. Im Angesicht des Todes werden somit das Ich und das so nichtige Leben wiederum bedeutungsvoll, die strenge Antinomie von Sein und Schein, von Maske und Antlitz wird gemildert, auch wenn sie nicht ganz wegfällt. “Wir wachen schlafend, und wachend schlafen wir“, hält Montaigne fest. “Ich sehe nicht so hell im Schlafe; aber das Wachen finde ich niemals rein und wolkenlos genug. Der Schlaf in seiner Tiefe schläfert wenigstens manchmal die Träume ein. Aber unser Wachen ist nie so wach, dass es gänzlich die Hirngespinste vertriebe und zerstreute, welche die Träume den Wachenden sind, und schlimmer als die Träume“ (II, xii). Die Skepsis bleibt jedoch gemindert durch das Zugeständnis an die notwendige Akzeptanz des Gemischten, Widersprüchlichen und Unvollkommenen.
Um über Montaigne zu sprechen, bräuchten wir viel mehr Zeit, als uns zur Verfügung steht. Sein umfangreiches Essais-Werk, aber auch die kleine Schrift “Apologie de Raimond Sebond” bietet schier unerschöpfliche Anregungen für die eigene Auseinandersetzung mit der Welt und den Menschen, die auf und in ihr leben, für die Auseinandersetzung mit sich selbst, mit den eigenen Schwächen und Masken, mit der eigenen Hinfälligkeit und Sterblichkeit, aber auch mit der Bedeutung eines in sich gesicherten Ich, mit dem Göttlichen und der Schöpfung. Montaigne war ein hervorragender Schriftsteller, für den das Schreiben nicht Selbstzweck darstellte, sondern Kommunikation bedeutete. “Das Wort gehört zur Hälfte dem, welcher spricht, und zur Hälfte dem, welcher hört” (III,xiii), auch dem, welcher schreibt und dem, welcher liest. Der Einfluss Montaigne’s wirkte sich auf viele nachfolgende Denker aus – auf Pascal, Descartes, Kierkegaard, Bergson, auf die Vertreter und Vertreterinnen der Existenzphilosophie – eigentlich bis heute.
Auf Rene Descartes kurz einzugehen ist nötig. Ein Meisterstück skeptischer Reflexion ist dessen erste “Meditation” von 1641. Nicht dass Descartes von seinem gesamten philosophischen Werk her als Vertreter der Skepsis bezeichnet werden könnte, im Gegenteil. Er war Mathematiker, somit ein erklärter Positivist, und in der Philosophie einer der Begründer des modernen Rationalismus. Mit der ersten seiner sechs “Meditations metaphysiques” aber stellt er das ganze Fundament der Belehrungen, die er in der Jugend erhalten hatte, sowie alles Wissens, das er sich angeeignet und aller Meinungen, die er sich gebildet hatte, in Frage. “Schon vor einer Reihe von Jahren habe ich bemerkt, wieviel Falsches ich in meiner Jugend habe gelten lassen und wie zweifelhaft alles ist, was ich hernach darauf aufgebaut, dass ich daher einmal im Leben alles von Grund aus umstossen und von den ersten Grundlagen an neu beginnen müsse… So habe ich denn heute zur rechten Zeit meine Gedanken aller Sorgen entledigt (. ..), und werde endlich ernsthaft und unbeschwert zu diesem allgemeinen Umsturz meiner Meinungen schreiten”, beginnt Descartes seine “Meditation”. Er stellt fest, dass die Sinnenvennittlung trügerisch ist, dass “Wachsein und Träumen niemals durch sichere Kennzeichen unterschieden werden können”. So etwa kann es sein, dass er tatsächlich “mit dem Winterrock angetan, am Kamin sitzt, das Papier mit den Händen betastet” etc, es kann aber ebenso sein, dass er “während der Nachtruhe sich einbildet, mit dem Rock bekleidet, vor dem Kamin zu sitzen” etc. Nachdem er den Zweifel radikalisiert hat, kommt Descartes allerdings zum Schluss, dass es ein paar wenige Erkenntnisinhalte gibt, die sich dem Zweifel entziehen: so das ganz Einfache der körperhaften Erfahrung – die Ausdehnung -, auch die Idee Gottes müsse jedem Zweifel überlegen sein, folgert Descartes, da diese ja nicht eine menschengeschaffene Idee sei, obwohl er sich gleichzeitig fragt, woher er denn wisse, ob er (Gott) nicht bewirkt habe, dass es iiberhaupt keine Erde, keinen Himmel, kein ausgedehntes Ding, keine Gestalt, keine Grösse, keinen Ort gebe und dass dennoch dies alles genau so, wie es ihm jetzt vorkomme, bloss da zu sein scheine; ja sogar auch, wie er überzeugt sei, dass andere sich bisweilen in dem irren, was sie vollkommen zu wissen meinen, ebenso könnte auch er sich täuschen, sooft er 2 und 3 addiere oder die Seiten eines Quadrats zähle, oder was man sich noch leichteres denken möge. Descartes lehnt es jedoch ab, diesen Zweifel mit Gott in Verbindung zu bringen, dem “allgiitigen‘‘, dem “Quell der Wahrheit”. Eher sei anzunehmen, fährt er fort, dass “ein böser Geist, der zugleich allmächtig und verschlagen ist”, all seinen Fleiss dran gewandt habe, ihn zu täuschen.
Descartes’ “böser Geist” muss nicht nur der grosse metapysische Einflüsterer, mithin der Gegenpart Gottes sein. Es liesse sich darunter auch, im Sinn Freuds, das Unbewusste verstehen, oder, im Sinn der kritischen Theorie, die ideologischen und propagandistischen Verführungsmächte. Auf jeden Fall steht fest, dass für Descartes auch scheinbar “objektive” Meinungen über die Aussenwelt (er zählt etwa “Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne usw. ” auf) durch interne oder externe Kräfte beeinflusst werden, da wir ja nie aus uns und nie aus der Welt heraustreten können (- was übrigens auch ein Kerngedanke der Wittgenstein’schen Reflexion ist). Was jedoch für Descartes unbestreitbar bleibt, ist gerade die Tatsache dieses “Innen”, resp. die Tatsache dass “ich denke“. Ob ich richtig oder falsch denke, ist unwichtig; was zählt, ist, dass “ich denke, mithin, dass ich bin” (cogito ergo sum). Mit der Affirmation dieser drei wichtigsten Erkenntnisinhalte – die Aussenwelt (res extensa), Gott (res divina) und die Innenwelt (cogito / res cogitans) – wird durch Descartes die Skepsis überwunden.
Rund achtzig Jahre nach den cartesianischen “Meditationes”, 1719, erscheint anonym ein Dokument “Le Traite des trois imposteurs”, das der durch Descartes vorgenommenen rationalen Begründung Gottes auf radikale Weise absagt, ein Dokument sowohl des sog. neuen pyrrhonischen Skeptizismus wie des Atheismus. Dass es anonym erschien, hatte mit der Tatsache der Verfolgungen zu tun, denen Glaubensdissidenten ausgesetzt waren, etwa der 1619 als Ketzer verbrannte Lucilio Vanini, der übrigens öfters als Verfasser des Buchs über die drei Betrüger vermutet wurde, zu Unrecht, da er – darin dem Renaissancephilosophen Pietro Pomponazzi ähnlich – seine ideologiekritischen (macht- und verführungskritischen) Überlegungen zu Religion und Glauben, zu den Wundergeschichten und zu den Religionsbegründern unter eigenem Namen verbreitet hatte. Der “Traktat über die drei Betrüger” erschien erstmals deutsch im Jahre 1787/88 in Berlin, unter dem merkwürdigen Titel “Spinoza II oder Subiroth Sopim. Rom, bey der Wittwe Bona Spes. 5770 gedruckt”. Der “Traktat” ist ein merkwürdiges Sammelsurium, ein “aus allen möglichen zeitgenössischen philosophischen Machwerken abgeschriebener, etwas spinozistisch aufgeputzter“ Text, wie ihn ein Spinoza-Forscher, S. von Dunin-Borkowski, zu Beginn dieses Jahrhunderts bezeichnet hat. Mit Spinoza’s “Ethik” hat der “Traktat” nichts gemein. Im Gegensatz zur “Ethik”, in der Spinoza Gott als die immanente Ursache des raum-zeitlichen Universum von diesem unterscheidet, wird im “Traktat” Gott als das Aggregat aller – materiellen – Einzeldinge verstanden. Damit wird der pantheistische Satz “Tautest Dieu” zugleich zur Begründung eines radikalen Materialismus und Atheismus. Die Leugnung der Weltschöpfung, der Willensfreihet und der Unsterblichkeit der Seele, d.h. aller supranaturalen Wahrheitsansprüche der drei Offenbarungsreligionen, ebenso die Entmythologisierung der Wundergeschichten, schliesslich die Dekonstruktion der drei Religionsbegründer – Mose, Jesus und Mohammed – machen den “Traktat” zwar zu einem populären, ev. gar populistischen Vorläuferdokument des sich im 19. und 20. Jahrhundert wissenschaftlich etablierenden atheistischen Materialismus, jedoch kaum zu einem Dokument wissenschaftlicher Skepsis, da diese nicht die atheistische Gegenthese, sondern das Nichtwissen um Gott propagieren würde.
Es bleibt nicht genug Zeit, um die skeptischen Ansätze in der Philosophie der Aufklärung aufzuarbeiten, insbesondere die durch diese geleistete Vorurteilskritik, in England etwa bei Francis Bacon, bei Hobbes, Locke und Hume, in Frankreich bei den Enzykopädisten d’Alembert, Diderot, Holbach, Voltaire etc., in Deutschland bei Lessing, Mendelssohn und Kant, Ansätze, die sich allerdings weniger als Philosophie des Nichtwissens denn als Kritik dogmatischen Glaubens, Wissens oder Machtanspruchs entwickelt haben. Auch Marx’s Kritik an den ökonomischen Verhältnissen, die ihn zu seiner Entfremdungstheorie führte, oder Freuds Kritik am ausschliesslich naturwissenschaftlichen, neurologischen Zugang zu den psychischen Störungen und Leiden der Menschen, die ihn zur Entdeckung des Unbewussten führte, oder die ideologie- und herrschaftskritische Arbeit der sog. Frankfurter Schule (Theodor W.Adorno, Herbert Marcuse, Max Horkheimer, auch Walter Benjamin), die Herrschaftskritik der Frauenbewegung seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts wie auch die länderübergreifende antiimperialistische Friedensbewegung der Frauen, d.h. die Kritik an Aufrüstung, Rassismus und Krieg – all diese bedeutenden Theorien und Bewegungen enthalten skeptische Elemente, jedoch weniger im Sinn der philosophischen Definition von Skepsis als im Sinn der Alltagsverwendung des Begriffs, die, wie ich eingangs erwähnte, jener von “Kritik” nahe kommt. (Die Entwicklungslinie der kritischen Philosophie zu verfolgen, auch im Judentum, wäre ein weiteres College-Thema). Ich möchte jedoch, bevor ich zum Schluss komme, noch ein Beispiel neuzeitlicher skeptischer Philosophie vorlegen, die, meiner Meinung nach, dem sokratischen Vorbild überaus nahe kommt, die sich auch mit Michel de Montaigne’s Werk messen kamt Es handelt sich um Ludwig Wittgenstein.
Ludwig Wittgenstein kam 1889 als achtes und jüngstes Kind einer der wohlhabendsten Familien Wiens zur Welt, einer Familie, die sich scheinbar rückhaltlos assimiliert hatte, seit Ludwigs Grossvater Hermann zum Protestantismus übergetreten und den Vornamen Christian angenommen hatte, ein erfolgreicher Wollhändler, der 1838 Fanny Figdor, Tochter einer bedeutenden jüdischen Familie Wiens heiratete, die sich ebenfalls taufen liess. Um 1850 liess sich die Familie in Wien nieder. Berühmtheiten wie Grillparzer und Brahms gehörten zum Freundeskreis. Den Familiennamen Wittgenstein hatte der Urgrossvater Moses Meier erworben, der als Gutsverwalter beim Grafen Sayn-Wittgenstein angestellt gewesen war. Hermann Christian trieb die Assimilation so weit, dass er seinen acht Töchtern und drei Söhnen strikte verbot, Juden resp. Jüdinnen zu heiraten. Die meisten unterwarfen sich seinem Willen. Eine Ausnahme bildete Karl (der spätere Vater des Philosophen), der ein Rebell war, von der Schule verwiesen wurde, weil er die Unsterblichkeit der Seele geleugnet hatte, von zu Hause ausriess und nach New York floh, wo er sich während zwei Jahren als Geiger und Kellner über Wasser hielt, 1867, als er nach Wien zurückkehrte, durchsetzte, dass er Ingenieur werden durfte und schliesslich als Zeichner in einem Walzwerk in Böhmen, das dem Bruder seines Schwager gehörte, zu arbeiten begann. Nach fünf Jahren war er leitender Direktor, nach zehn Jahren einer der geschicktesten und reichsten Industriellen des kaiserlich-königlichen Österreichs. Seine Ehefrau war Leopoldine Kalmus, deren Vater jüdisch und deren Mutter katholisch war. Die acht Kinder, darunter Ludwig, wurden getauft und katholisch erzogen. Die Familie lebte im Stil der Aristokratie, verfügte über schier unbegrenzte Mittel, und das “Palais Wittgenstein” an der heutigen Argentinerstrasse war ein Zentrum der Musikkultur, der Kultur überhaupt, auch wenn Karl Wittgenstein den modernen, materialistisch denkenden, kapitalistisch aggressiven Unternehmer repäsentierte. Seine Kinder liess er von Hauslehrern nach seinen Vorstellungen erziehen, von seinen Söhnen verlangte er, dass sie ihm in seinen Spuren folgten. Ausser Kurt, der sich dem Vater beugte und Firmendirektor wurde, im Ersten Weltkrieg auch Offizier und Truppenkommandant, sich jedoch gegen Ende des Kriegs erschoss, als seine Truppen gegen ihn meuterten, folgte keiner der Söhne dem väterlichen Diktat. Hans, ein musikalisches Wunderkind, emigrierte nach den USA, sprang 1902 in der Chesapeak Bay von einem Boot und ertränkte sich. Rudolf, ebenfalls künstlerisch hoch begabt, zog nach Berlin, wo er 1904 seinem Leben mit Zyankali ein Ende bereitete. Nach diesen entsetzlichen Verlusten wurde der Vater einsichtiger, er liess die beiden jüngsten Söhne Paul und Ludwig ein öffentliches Gymnasium besuchen und ihre Laufbahn selber wählen. Paul wählte die Musik, während Ludwig nicht recht wusste, was er tun sollte. Da er technisch nicht unbegabt war, wurde er in Linz am Realgymnasium eingeschrieben (zwei Jahre unter ihm besuchte Adolf Hitler die gleiche Schule, wurde jedoch wegen ungenügender Noten entlassen). In Linz fühlte sich Wittgenstein völlig unglücklich und begann, an allem zu zweifeln. Den stärksten Einfluss übte auf ihn seine älteste Schwester Margarete – Grell – aus, die Intellektuelle der Familie, die bei Freud eine Analyse machte, sich mit Freud auch befreundete und diesem 1938, nach dem Anschluss, in letzter Minute zur Flucht nach London verhalf. Über Gretl wurde Wittgenstein auch mit den Schriften von Karl Kraus bekannt, las dessen satirische Zeitschrift “Die Fackel”, kannte wohl auch dessen antizionistisches Traktat “Eine Krone für Zion”, worin Kraus Herz! als reaktionär verhöhnte, überzeugt, dass die Juden sich nur durch bedingungslose Assimilation und durch eine mutige sozialistische Parteinalune befreien konnten. In derselben Zeit wurde auch Otto Weininger zur Kultfigur. 1902 hatte er sein von Selbsthass und Frauenhass geprägtes Buch “Geschlecht und Charakter” veröffentlicht, 1903 beging er Selbstmord. Weiniger übte auf Ludwig Wittgenstein einen enormen Einfluss aus.
Es wäre faszinierend, Wittgensteins Biographie weiter zu erzählen, bietet sie doch bedeutungsvolle Erklärungen an für den zwischen Zustimmung und Ablehnung hin- und hergerissenen Intellekt und für die ebenso hin- und hergerissene, zerrissene Psyche des Denkers. Die Skepsis, die das Fundament des ganzen Wittgenstein’schen Werks bildet, hat hier, nehme ich an, ihren Ursprung. Nur noch ein paar Hinweise: Wittgenstein wurde Flugzeugbauingenieur, nahm als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil, schrieb in Galizien hinter der Front seinen “Tractatus”, war als Kriegsgefangener in Italien interniert, von wo aus er verzweifelt einen Verleger suchte, trat mit Gottlob Frege und Bertrand Russell in Briefkontakt, wurde Volksschullehrer in einem armen kleinen Dorf – Trattenbach – in Nieder-Österreich, versagte in dieser Tätigkeit aber völlig und brach das Experiment ab, verzichtete auf sein gesamtes Vermögen zu Gunsten seiner Schwestern, zog für zwei Jahre nach Berlin, dann nach Manchester, vordergründig beide Male wegen des Flugzeugbaus, tatsächlich aber wegen der immer stärkeren Neigung zur Philosophie, der er schliesslich nachgab und bei Russell in Cambridge mathematische Logik studierte, bis dieser seinem “Schüler” nicht mehr beibringen konnte. Cambridge wurde zu Wittgensteins Wohn- und Wirkungssort, bis zu dessen Tod im Jahre 1951, mit Unterbrüchen in Norwegen und in Wien oder auf dem Wittgenstein’schen Sommergut in Tirol, auch zum Ort des prekären Exils während der Zeit der Naziherrschaft und der Bedrohung Englands.
Wittgensteins Leben war während Jahrzehnten legendenumwoben. Wie konnte man sich ihm nähern, dem kryptischen Sprachphilosophen, Skeptiker, Asketen, Homosexuellen, Dichter? Er selbst hatte nur den “Tractatus” veröffentlicht. In den letzten Jahrzehnten erschien nun eine wachsende Anzahl von Wittgenstein’schen Manuskripten, Gesprächen und Aufzeichnungen seiner Vorlesungen durch seine Schüler, schliesslich Tagebücher und einzelne gute Monographien, so auch die hervorragende Biographie von Ray Mank “Wittgenstein. Das Handwerk des Genies”.
Ich sagte schon, dass ich Wittgenstein als den modernen Vertreter der Skepsis einschätze. Der letzte Satz im “Tractatus” von 1918 (1921 publiziert) lautet “Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen”. Von hier aus geht ein grosser Bogen, nicht ein einheitlicher, sondern ein häufig unterbrochener und durch Widenufungen und Widersprüche gezeichneter Bogen durch Wittgensteins ganzes Lebenswerk. Was im ganzen Werk bleibt, ist, dass der Sprache gegenüber immer äusserste Skepsis geboten ist. Im “Tractatus”, einige Paragraphen vor dem Schlusssatz, stellt Wittgenstein fest: “Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen (6.5).” Wittgenstein erscheint selbst der Skeptizismus als Theorie resp. als Grundhaltung noch als zu affirmativ: “Skeptizismus ist nicht unwiderleglich, sondern offenbar unsinnig, wenn er bezweifeln will, wo nicht gefragt werden kann. Denn Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann” (6.51).
Über sorgfältige logische Schritte und Ableitungen versucht Wittgenstein, Fragen zu stellen, um Antworten formulieren zu können, die er in der Folge wieder als ungenügend verwirft. Die Zweifel betreffen sowohl die Begriffe selbst, sie betreffen deren Bedeutung, wie das das, wofür die Bedeutung steht: die Dinge der Aussenwelt, das eigene Denken, die Vorstellungen und deren eventuelle Entsprechung in der Welt, Gott, das Leben. Mit den letzten Aufzeichnungen, die bis kurz vor dem Tode erfolgten und unter dem Titel “Über Gewissheit” 1969 erstmals deutsch/englisch erschienen, 1989 in einer von den Herausgebern nochmals durchgesehenen Ausgabe verdichtet Wittgenstein die Skepsis schonungslos. So heisst es (§§ 249 – 253): “Man macht sich ein falsches Bild vom Zweifel. – Dass ich zwei Hände habe, ist unter normalen Umständen so sicher wie irgend etwas, was ich als Evidenz dafür anführen könnte. Ich bin darum ausserstande, den Anblick meiner Hand als Evidenz dafür aufzufassen. Heisst das nicht: ich werde unbedingt nach diesem Glauben handeln und mich durch nichts beirren lassen? – Aber es ist doch nicht nur, dass ich in dieser Weise glaube, dass ich zwei Hände habe, sondern dass jeder Vernimftige das tut. – Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube”.
Was “Glauben” und “Wissen” bedeuten, wird immer unklarer. Jede subjektive Annahme ist hinfällig. “Unser Wissen bildet ein grosses System. Und nur in diesem System hat das Einzelne den Wert, den wir ihm beilegen” (20.3), sodann (415): “Ja, ist nicht der Gebrauch des Wortes Wissen, als eines ausgezeichneten philosophischen Wortes, überhaupt ganz falsch? Wenn ‘wissen’ dieses Interesse hat, warum nicht ‘sicher sein’? Offenbar, weil es zu subjektiv wäre. Aber ist ‘wissen’ nicht ebenso subjektiv? Ist man nicht durch die grammatische Eigentümlichkeit getäuscht, dass aus ‘ich weiss p’ (auch) ‘p‘ folgt? ‘Ich glaube es zu wissen’ müsste keinen minderen Grad der Gewissheit ausdrücken. – Ja, aber man will nicht subjektive Sicherheit ausdriicken, auch nicht die grösste, sondern dies, dass gewisse Sätze am Grunde aller Fragen und alles Denkens zu liegen scheinen. “
Die Grundhaltung entspricht dem sokratischen “Ich weiss, dass ich nichts weiss“. Selbst mit der letzten Aufzeichnung (§ 676), die Wittgenstein am Tag, bevor er ins Koma fiel, machte, nimmt der Zweifel kein Ende, obwohl er kurz vorher schreibt, dass “ein Zweifel ohne Ende nicht einmal ein Zweifel ist”. Das Ende des Zweifels wird allein durch das Handeln gesetzt, durch die Praxis. “Das Kind lernt nicht, dass es Bücher gibt, dass es Sessel gibt, etc. etc., sondern es lernt Bücher holen, sich auf Sessel setzen etc. ” Ray Monk, Wittgenstein interpretierend, hält fest, dass letztlich auch das Zweifeln eine spezielle Art der Praxis sei, die man allerdings erst erlernen könne, wenn man viel Selbstverständliches beherrsche. Doch Wittgentein geht noch weiter. Ist nicht alles Selbstverständliche, was wir zu beherrschen meinen, eventuell nur geträumt? “Aber wenn ich mich auch in solchen Fällen nicht irren kann (einer sagt, er sitze jetzt am Tisch und schreibe) – ist es nicht möglich, dass ich in der Narkose bin? Weil ich es bin, und wenn die Narkose mir das Bewusstsein raubt, dann rede und denke ich jetzt nicht wirklich. Ich kann nicht im Ernst annehmen, ich träume jetzt. Wer träumend sagt, ‘ich träume’, auch wenn er dabei hörbar redete, hat so wenig recht, wie wenn er im Traum sagt “es regnet”, während es tatsächlich regnet. Auch wenn sein Traum wirklich mit dem Geräusch des Regens zusammenhängt”.
Was Wittgenstein mit seiner Haltung der Skepsis erreicht, ist Furchtlosigkeit vor dem Tod. Schon als ganz junger Mann, angesichts des Tötens und Sterbens auf den Kriegsschauplätzen, hielt er im “Tractatus” fest (§ 6.4311) “Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht. Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.” Wenige Tage vor seinem eigenen Tod besuchte ihn ein Freund in Cambridge, dem er – entsprechend der weit zurückliegenden Überlegung – sagte: “Es ist seltsam – obwohl ich weiss, dass ich nicht mehr lange zu leben habe, denke ich nie an ein ‘künftiges Leben’. Alle meine Interressen sind nach wie vor mit diesem Leben und mit dem verbunden, was ich noch schreiben kann” (Ray Monk, S.613). Und als ihm am Tag, bevor er das Bewusstsein verlor, die Frau seines Arztes, die bei ihm gewacht hatte, erklärte, dass am nächsten Tag seine engsten Freunde ihn besuchen würden, nickte er und bat sie “Sagen Sie ihnen, dass ich ein wundervolles Leben hatte”.
Die Praxis des Lebens, die gelernt werden muss, um dem Zweifeln ein Ende zu setzen, ist zugleich die Praxis des Sterbens. Was in der Skepsis mag diese Furchlosigkeit vor dem Tod bewirken, die nicht nur Wittgenstein, sondern auch Sokrates und Montaigne an den Tag gelegt haben? Sind feste Meinungen, Glaubensinhalte, sogenannte “Sicherheiten” mit Besitztümern vergleichbar, um deren möglichen Verlust man voller Unruhe bangt? Führt der Verzicht auf alle diese Sicherheiten letztlich zu jener Freiheit und Gelassenheit – zur “ataraxia” -, die das wahre Ziel der antiken Skepsis war? Könnten Sie sich vorstellen, dass diese Haltung auch heute noch angestrebt und befolgt werden könnte?
Vielleicht finden sie ein Antwort auf diese Fragen. Zürich, im November 1996
Wichtige Literatur:
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Hermann Diels / Walther Kranz. Die Fragmente der Vorsokratiker. 2 Bde. Verlag Weidmann, o.O. 1974
Hermann Greive. Die Juden. Grundzüge ihrer Geschichte im mittelalterlichen und neuzeitlichen Europa. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1980
Thedor Grundmann / Karl Stüber. Philosophie der Skepsis. UIB für wisscnschaft,Verlag Schöningh, Paderborn-München- Wien-Züruch 1996
Julius Guttmann. Philosophies ofJudaism. Schocken Books, New York 1976
Mose ben Mainton. Führer der Unschlüssigen. 3 Bde. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1972
Michel de Montaigne. Essais. 3 Bde. Union generale d’editions, Paris 1964
Wilhelm Nestle. Griechische Geistesgeschichte. Alfred Kröncr Verlag, Stuttgart 1944
Platon. Sämtliche Werke, Bd.4 (u.a. Theaitetos, Sophistes). Übersetzung von Fr. Schleiennacher. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg 1960
Richard H.Popkin. The History of Scepticism. Unversity of California Press, Berkely-Los Angeles-London 1979
Gershom Scholem. Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Suhrkamp Verlag, Frnakfurt a.M. 1967
Jean Starobinski. Montaigne. Denken und Existenz. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1986
YosefHahim Yerushalmi. Ein Feld in Anatol. Versuche über jüdiche Geschichte. Wagenbach Verlag, Berlin 1993