Philosophie der Skepsis und Skepsis im Judentum oder: Von der Leidenschaft des philosophischen Nichtwissens

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Philosophie der Skepsis  und Skepsis im Judentum

oder

Von der Leidenschaft des philosophischen Nichtwissens

 

  1. I. Definitorische Präliminarien

 

Skepsis  (skepesthai:  spähend  umherblicken,   betrachten,   untersuchen):  Grundhaltung  des  an seiner Befähigung zu  erkennen  –  überhaupt  zu  erkennen,   Wahres  zu  erkennen   –  zutiefst zweifelnden Menschen,   woraus die  Infragestellung  aller  scheinbar gesicherten   Erkenntnisse folgt, sowohl der eigenen wie fremder, ob diese die Aussenwelt  betreffen, das sog. “Fremdpsychische”  oder  metaphysische, transzendente  Inhalte.  Daraus  wiederum  folgt  die ethische resp. moralische Vereinzelung des sich seiner prinzipiellen Begrenztheit und ausschliesslich   subjektiven   Verantwortung  bewussten   Menschen    in  allen   Bereichen    des Urteilens und Handelns.

In  kognitiver Hinsicht  liegt der  Skepsis  das  Wissen um  die  Unmöglichkeit  oder  zumindest Vorläufigkeit,   Relativität,   Unabschliessbarkeit   und   Unvollkommenheit   allen   Erkennens zugrunde, damit das Wissen um die Unmöglichkeit jeglichen Urteils. Daraus  folgt die Infragestellung  aller  autoritär begründeten Lehren,  die  einen  absoluten Richtigkeitsanspruch behaupten  und verteidigen.  Die  Skepsis  ist  die Gegenhaltung zum Glauben und zum  Wissen. Sie begründet die Philosophie  als Lehre  und Geschichte des Nichtwissens,  des Fragens  und Zweifelns.

In  ethischer  Hinsicht  ist  die  Skepsis  die  Grundhaltung  der  Freiheit,  resp.   die  Ablehnung autoritär   begründeter   normativer    Handlungsanweisungen,   wiederum   eine   Haltung    der bewussten Inkaufnahme  des  persönlichen   Irrens,  aber  auch  der Eigenverantwortung  für  die Folgen,  ev. für die Korrektur des Handelns. Die  Skepsis wird dadurch  zur Gegenhaltung des blinden Gehorsams.

Der  Alltagsgebrauch von  “skeptisch”  und  “Skepsis” unterscheidet sich vom  philosophischen Gebrauch.  Wenn  Sie  zum Beispiel  den  meteorologischen  Nachrichten gegenüber “skeptisch” sind, oder wenn mein Sohn den Plan seiner Schwester, ein altes Haus  selbst zu renovieren, “mit Skepsis” aufnimmt, bedeutet dies, dass Sie und dass er sich dem Gehörten gegenüber  “kritisch” zeigen. Ein kritisches Verhalten und ein skeptisches Verhalten wird im Alltagsgebrauch gleichgesetzt,  die Bedeutung  der  beiden  Begriffe ist  tatsächlich  auch  nah  verwandt.  In  der Philosophie   jedoch   werden   sie  unterschiedlich  verwendet  und  bezeichnen  unterschiedliche Inhalte (Strömungen, Schulen etc.). Darauf werden  wir nun eingehen.

 

  1. II. Der Geist, wie ein entsprungener Hengst”

Das Bild, das den skeptischen Geist einem “entsprungene Hengst” gleichstellt,  habe ich Michel de Montaigne entliehen. Das Bild ist mangelhaft, aber es gefällt mir. Ich stelle mir vor, wie der Hengst den Kopf aufwirft, wie er sich von Zügel und Reiter ( oder Reiterin) befreit, wie er sich aufbäumt, die Zäune überspringt,  die Gehege hinter sich lässt und in die Wildnis  hinausstürmt. Das Bild steht für etwas, wovon wir träumen: eine Befreiung aus der gewohnten Unterordnung und Abhängigkeit, ev. gar der Unterdrückung, etwas Ungewöhnliches, das den immer gleichen Trott  oder Trab unterbricht,  das dem Leiden,  eingesperrt zu sein,  gelenkt und gezüchtigt  zu werden,  aufkündigt, das der Sicherheit valet sagt,  um das Wagnis der Unsicherheit einzugehen, das Wagnis der Freiheit,  wo fortan  kein Herr und Meister mehr für den Unterhalt,  für Wasser und Brot, für die Zukunft und wofür immer zuständig ist, wo Existenz sich nur noch nach den eigenen Kräften misst.  Ist Hochmut  dabei?  Überheblichkeit?  Oder im  Gegenteil eine Haltung des Verzichts und  der  Selbstbescheidung?  Auch Michel  de Montaigne hatte  sich  die Frage gestellt.  Ich gehe später  auf ihn  ein.  Auf jeden Fall war für Montaigne  der Entscheid  für die Skepsis ein Entscheid für die Freiheit und ein Bekenntnis zu sich selbst.

Das 16. Jahrhundert, als Michel de Montaigne lebte (1533 – 1592) – Sohn einer marranischen Mutter  und eines  katholischen,  aber höchst  autoritätskritischen  Vaters  -, war  eine Zeit  des Umbruchs, eine Zeit der grossen Krise.  In der jüdischen  Geschichte ist es die Zeit nach der Vertreibung  aus Spanien, durch welche die jüdische Präsenz  in  Westeuropa  enorm dezimiert wurde und das jüdische  Leben,  damit die jüdische Gelehrtheit sich nach Osten zu verlagern begann.  Obwohl im damaligen Europa  so viele Vertreibungen vorausgegangen  waren – 1182 erstmals  aus  Frankreich,   1290  aus  England,   1306  wiedernm  aus  dem schon  grösseren Königreich Frankreich und 1394  erneut, sodann im Lauf des 14.  und 15.  Jahrhunderts aus den meisten mitteleropäischen Städten – trotz all diesen Vertreibungen wurde diejenige aus Spanien im Jahre  1492 als Weltenwende  verstanden. Ein Jahr später wurden  die Juden auch aus den spanischen Besitzungen Sizilien und Sardinien verjagt,  und im selben Jahr wurde in den damals spanisch  regierten Niederlanden  für Juden  ein strenges  Niederlassungsverbot  erlassen.  Und damit  war  es  noch  nicht getan:   1497  befahl  der  portugiesische  König  Emanuel  I.  die Zwangstaufe  aller  portugiesischen  sowie aller  aus Spanien  geflüchteten Juden und setzte dies mit grosser  Brutalität  durch,  1498  wurden  die Juden  aus  dem damals  noch  unabhängigen Königtum Navarra  vertrieben,  1501  aus der Provence  mit ihren bedeutenden  Gemeinden in Nimes,  Lunel  und  Montpellier,   1510  aus  dem  Königtum  Neapel  und praktisch  aus  ganz Süditalien, wo insbesondere die Gemeinde von Bari hohes Ansehen genoss.

Joseph Hayim  Yerushalmi, der als Historiker dem “Exil Jerusalems in Spanien” (galut Yerushalayim asher bi-Sefarad) und dessen Ende,  sowie den daraus sich entwicklenden Folgen, sein ganzes Forschungsinteresse  widmet,  vermutet,  dass das Bewusstsein  der Weltenwende mit dem entsetzlichen, nicht  mehr verstehbaren  Paradigmenwechsel  zu  tun  hatte:  mit  dem Verlust des Exils als Domizil,  mit dem Sturz  aus der höchsten Blüte  der religiösen und der weltlichen  Akzeptanz   in  die Heimatlosigkeit. Viele zeitgenössische  Berichte  dokumentieren das Entsetzen, etwa jene von Isaac Abravanel oder jene von Abraham Zacuto,  einem Halacha- Chronisten, oder, vielleicht am ergreifendsten, die an Hiobs Klage erinnernde “Consolacäo   äs tribulacöes  de  Israel”   des  ehemaligen  Marranen  Samuel   Usque:   Europa, welches  mich verschlang  mit  seinem  verderblichen  Mund,   erbricht  mich  111111    wieder  ...  Ach, Europa, Europa,  du meine Hölle auf Erden!  (Pots Europa,  Europa,  mi inferno na terra)”.  Yerushalmi vergleicht die Zeit nach der Vertreibung  aus “Sefarad”  mit  unserer Zeit nach der Shoa:  eine Zeit der Entwurzelung und der Verzweiflung.

Auch  die nicht-jüdische Geschichte  des  16.  Jahrhunderts war von  aufwühlenden  Krisen und Umbrüchen  geprägt.  Martin  Luther   (1483  –  1546)  rief zum  Kampf gegen  Papsttum  und Priesterschaft  auf und leitete  damit  die  Reformation  ein,  durch  welche   er  die  Lehre  vom unbekannten Willen in Gott, über den keine menschlichen  Autoritäten, sondern  allein die Bibel und  der  Glaube auszusagen vermögen, verkündete,  worauf die  katholische Kirche mit ihrer jesuitischen  Kampftruppe die Gegenreformation in Gang  setzte. Während  die reformatorische Bewegung der religiösen Skepsis menschlicher Autorität gegenüber  eine Art Anerkennung verschaffte,  dabei  aber  der Bibel  und  dem  Glauben  umso  grössere Autorität  zubilligte,  führte die Krise im katholischen  Bereich zu einer Verstärkung der autoritären Tendenzen.

Im Judentum  bewirkten  die traumatisierenden  Ereignisse,  die zum Verlust von Hab  und  Gut, von sozialer  Stellung und Heimat, ja häufig zum Verlust  des Lebens führte  zu einer – ebenfalls auf persönliche,  auf  rabbinische   Autoritäten,   die   “Acharonim”   abgestützten  –  religiösen Neuorientierung.  Diese Neuorientierung  ging zuerst  von  Safed  in  Galiläa  aus und  wirkte  von dort  aus aufs  askenasische Judentum.  Den  Anfang  machte  der  mit  seinen  Eltern  aus  Toledo vertriebene  Joseph  ben  Ephraim Caro   (1488-1576),   der  nach  längerem  Aufenthalt  in  der heutigen  Türkei,  in  Konstantinopel (Istanbul),    Adrianopel  (Edirne)und  Nikopolis  (Prevesa), schliesslich  in  Safed  eine  Jeschiwa  gründete,  ein  bedeutender Talmudgelehrter,  der  zugleich ein  Mystiker   der  Kabbala  wie  ein  religiöser  Lehrer  war,   dessen   “Schulchan   Aruch”,   das erstmals  in Venedig  erschien  und ungezählte  Neuauflagen erfuhr, nicht  nur im  sephardischen, sondern  auch im  askenasischen  Judentum  eine begeisterte  Aufnahme fand, vor allem dank der Vermittlung  durch Moses  ben Israel  – Isserles  – gen.  Ram0 aus Krakau,  der von  1525 bis 1572 lebte.

Rabbinischer  Autorität und  kabbalistischer Mystik,  die  ebenfalls von  Safed  ausstrahlte   – zu erwähnen sind insbesondere Jakob  Cordovero (1522 –  1570) und  Isaak  Luria (1534  1572) – gelang es, die durch die Verfolgungen und Vertreibungen   bewirkten  Verunsicherungen aufzufangen.  Wo und wie  hätte  da eine Philosophie  der Skepsis  sich etablieren  können?  Nein, das  Gegenteil   war   gefragt,  eine  von  Autoritäten  vorgelebte  Stärkung   des  Glaubens  war gefragt, und  der  “Schulchan  Aruch”  führte auch zu einer Fixierung, wenn  nicht  gar zu einer “Versteinerung”  der  jüdischen.   Cordovero,  den  Gershom   Scholem  als  den  “tiefsinnigsten jüdischen Mystiker”  bezeichnet,  vermochte allerdings,  philosophisch  erstaunliche  Erkenntnisse zu formulieren, die, hundert  Jahre vor Baruch  de Spinoza (1632  – 1677; ich verweise auf den Vortrag von Daniel Strassberg nächste Woche),  den zentralen Widerspruch der religiösen Spekulation  zusammenfassen,  nämlich,  dass  “Gott alles  Wirkliche,  aber nicht alles Wirkliche Gott ist”.  Doch  bei Cordovero wie bei Luria  wie später  beim Messianismus  des Sabbatai  Zwi oder des Nathan  von Gaza wie bei der ganzen daraus folgenden sabbatianischen  Bewegung ist nicht Skepsis die Grundhaltung, sondern  ein überzeugter, ja sogar  ein fanatischer Glaube. Nun jedoch   ist  nicht   diese   zeitweise  überaus   breite,   aber  gar   nicht  einheitliche  Entwicklung Gegenstand   unserer   Vortragsreihe,  sondern  die  spärlichen,  vereinzelten,  ganz  persönlichen Ansätze einer prinzipiellen Orientierung am Eingeständnis des Nichtwissens oder an der Unmöglichkeit eines sicheren Urteils.

Auch diese Ansätze  – etwa bei Michel  de Montaigne  und Etienne  de la Boetie,  bei Descartes, bei Spinoza und bei weiteren Denkern  – finden sich im  gleichen  16.  Jahrhundert, in  dieser Zeit der Krise und des Umbruchs.  Sie stützten  sich auf antike Vorbilder, die damals übersetzt und gelesen   wurden:   auf Pyrrhon  von   Elis   (360   –  270),   den  Begründer  der   dritten   nach- aristotelischen  Schule,  der  39  Jahre  alt war,  als  Sokrates  durch  den  Giftbecher  starb  (469  – 399) und auf dessen bedeutendste Schüler,  den römischen Denker  und Politiker  Marcus Tullius Cicero  (106  – 43)   und  auf den  in  Alexandria  und Athen  wirkende  griechischen  Arzt    und Philosophen  Sextus Empiricus  (200  – 250),  deren Werke  im Mittelalter,  besonders  aber in  der Renaissance zum  klassischen Bildungsgut gehörten.  Cicero  wie  Sextus Empiricus griffen auf heute  verschollene   griechische  Quellen  der  griechischen   Skepsis  zurück.  (In Alexandria  –  a propos – kam  in  der  Gestalt  und  im  Werk  von Philon,  um 25 vor – 50 nach  Chr.,  der Philo Judeaus  genannt  wurde,  eine erstaunliche  Synthese von griechischer  Philosophie  und jüdischer Tradition  zustande,  in dessen Fortsetzung Mose ben Maimon – Maimonides – und dessen Werk zu verstehen  ist,  das ebenfalls in Nordägypten,  in Fustat,  Alt-Kairo,  geschrieben  wurde und das insbesondere  mit  dem  “M6reh  Nebükim”,  dem  “Führer  der  Unschlüssigen”,   die  Verbindung von  Glaubenslehre  und  Aristotelismus  wieder   aufnahm  und  vervollkommnete).   Allerdings waren   weder   Philon    noch   Maimonides    Skeptiker;    sie   versuchten,    im    Gegenteil,    die Glaubensinhalte  mit einer   rationalen  Begründung in Einklang  zu bringen,  weswegen   sie von den – rein – religiösen Autoritäten wiederum  angegriffen und angefeindet wurden.

Was aber war die Lehre  der eigentlichen Begründers der Skepsis? Pyrrhon  von Elis (360 – 270) war  der Überzeugung, dass sich die Wirklichkeit der menschlichen  Erkentnis entziehe. Daher könne  von nichts  gesagt  werden,  es sei schön  oder  nicht-schön,  und  von  keinem Tun,  es sei gerecht oder  ungerecht. Jedes  Urteil werde  dadurch  hinfällig,  da alles,  was sich der sinnlichen oder    der    intellektuellen  Wahrnehmung   anbiete,    “adiaphoron”    d.h.    ununterschieden   I gleichgültig,  sei.  Wenn  von  irgend etwas  bestimmte  Eigenschaften  behauptet würden,    so beruhe   dies   auf  reiner   Willkür,   resp.   sei  nichts   wie   eine   menschliche   Setzung,   eine Konstruktion. Der  Weise unterscheide sich von  den gewöhnlichen Menschen,   indem er  sich jeden   Urteils   enthalte  und   gegenüber    allem,   was   sich zeige  und   was   ihm  widerfahre, unerschütterlich  sei.  Auch   bezüglich  des Handelns  seien feste Kategorien von  Gut und Böse nicht zulässig  (was  in ethischer Hinsicht  einen Relativismus nach sich zieht,  der wiederum  in moralischer Hinsicht  sich  als  überaus  entlastend   oder  als  belastend  auswirkt, je  nach dem. Diesbezüglich finden sich bei Kierkegaard gewisse Anleihen,  stärkere  bei Nietzsche). Höchste Tugend des/der  skeptischen Weisen  ist,  nach  Pyrrhon,   Unerschütterlichkeit,  resp. “Unverwirrtheit”  (ataraxia).

(Ob  eventuell  Salomon  der  erste    Skeptiker  war,  so  dass  auch  diese  Linie,  die  Linie  der Skepsis,  im Judentum   begonnen  hätte?  Der  Überlieferung nach  soll  er  einen  Ring getragen haben, der ihn glücklich machen  sollte,  wenn  er traurig war,  und umgekehrt,  und  auf den eine Inschrift ingraviert gewesen  sein soll: “Auch dieses wird vorübergehen”),

Pyrrhons Lehre blieb nicht direkt erhalten, auch nicht in Fragmenten, wie andere Werke vorsokratischer Denker.   So  wie  Sokrates   Lehre   auch  nur  indirekt  über   die  platonischen Dialoge   vermittelt  wurde,  wurde   die   pyrrhonische  Philosophie   nur  dank   dem   –  schon erwähnten – griechischen Arzt und Denker aus Alexandria, Sextus Empiricus (220 – 250 ) und dessen Schrift “Pyrrhonische Grundzüge” übermittelt, sodann dank der Schriften eines anderen griechischen  Denkers,  Änesidemos,  der  mehr  als  zweihundet  Jahre  vor  Sextus  Empiricus ebenfalls  in Alexandria lebte und wirkte.  Bei  Änesidemos finden sich die sog.  “10  Tropen” (Gründe, resp. “trope” griech. Wende, Umkehr, Wendpunkt),  welche die Zögernden  zu einer “Wende”  zum Skeptizismus bewegen sollten,  d. h. zu einer grundsätzlichen Infragestellung aller Wahrnehmungen der Aussenwelt.  Als “Gründe”  führt  Änesidemos  an:  (!) die Verschiedenheit der Lebewesen (2) die Verschiedenheit der Menschen voneinandr (3) die Verschiedenheit der Sinnesorgane   der  Menschen   (4)  die  Verschiedenheit  der  Zustände   im  einzelnen  Menschen selbst  (5) die Tatsache der unterschiedlichen Lagen, Entfernungen und Orte (6) die Unabgetrenntheit resp. die Verbindung oder Vermischung des Objekts der Wahrnehmung mit anderen Objekten  (7) die Verschiedenheit  der Art und Weisen,  in  denen das Objekt  erscheint, je nach der Verschiedenheit  der Verbindungen (8) die Relativität überhaupt,  resp. der Einfluss aller  äusseren  und  inneren  Bedingungen auf eine  Wahrnehmung   (9)  die  Abhängigkeit  der Wahrnehmung  von der Anzahl resp.  Widerholung  der Wahrnehmungen (10)  die Abhängigkeit und Beeinflussbarkeit der Wahrnehmung von Bildung,  von Sitten,  Gebräuchen  und  Gesetzen sowie von religiösen und philosophischen Lehren.

Der wohl bedeutendste Skeptiker der Antike war Karneades von Kyrene  (Nordafrika),  der etwa zwei Generationen nach Pyrrhon  lebte (214 bis 129 v. Chr.), der die Leitung der dritten Akademie übernahm, später in Rom als griechischer  Gesandter wirkte und dort auch Philosophie lehrte.  Seine Theorien wurden durch Cicero überliefert. Karneades  bezweifelte jegliche Möglichkeit, Wahrheit zu erkennen. Höchstens Wahrscheinlichkeit liess er zu, wobei alles Wahrscheinliche sich ebenso auch als nicht-wahrscheinlich erweisen konnte.  Insbesondere griff er die Gottesbilder und Gottesbeweise der Stoiker an,  die er mit unerbittlicher Logik dekonstruierte.  Dabei berief er sich auf Protagoras aus Abdera, der mehr als zweihundert Jahre vor ilun jegliches Wissen um die Götter  in Frage gestellt hatte,  worauf er als 70jähriger Mann aus Athen verjagt wurde und auf der Flucht starb (410 v.Chr.). Im Fragment  4, das von Protagoras erhalten blieb, heisst es:  Ober die tter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen, weder dass sie sind,  noch dass sie nicht sind, noch wie sie etwa an Gestalt sind. Denn vieles gibt es,  was das Wissen hindert: die Nichtwahrnehmbarkeit und dass das Leben  des Menschen kurz ist” (Diels, Fragmente,  Bd.II, S.265). Karneades  stellt fest,  dass es weder  eine Übereinstimmung unter den Völkern  in Bezug  auf Gott gebe, noch verweise die Welt, wie sie sei, noch die menschliche  Vernunft  auf eine göttliche Fürsorge.  Selbst der Begriff der Gottheit, wie er vertreten werde,  sei dermassen  widersprüchlich,  dass man besser davon absehe, überhaupt von Gott zu sprechen.  Auch brauche es weder für die Erklärung der Weltbildung noch für die Erschaffung der Materie noch für jene des Menschen  einen Gott.  ‘Angenommen, es hätten sich am Anfang Keime  von allem gebildet,  indem die Natur sich selbst befruchtete, wozu braucht man dann Gott als Schöpfer? ...  Der Mensch und jedes lebende  Wesen,  das geboren wird,  erhält Leben  und Wachstum infolge willkürlicher Verbindung der Elemente,  in die jeder Mensch und jedes  Tier sich wieder scheiden, auflösen,  verflüchtigen....  Der Blitz schlägt da und dort ein...  ohne  Wahl trifft er heilige und unheilige Ort,  bald erschlägt er schuldige,  bald fromme Menschen....  Wenn die  Welt durch eine göttliche Vorsehung regiert würde, so hätten Phalaris und Dionysios niemals  einen Thron...   Sokrates nie den Giftbecher verdient.  Entweder wird die dunkle  Wahrheit uns verborgen und verhehlt oder,  was eher zu glauben ist,  es herrscht, frei von jedem Gesetz,  in wechselvollem und schwankendem Spiel der Zufall (Cic.  nat.  deor.  II  10, 24 f). Anderswo  hielt Karneades  fest:  “Es gibt keinen grösseren Gegensatz zu einer ursächlichen Gesetzlichkeit als den Zufall,  so dass meines Erachtens nicht einmal ein Gott wissen  könnte,  was zufällig oder von ungefähr geschehen wird. Denn  Zufall ist das,  was sich so ereignet,  dass es auch anders hätte ausfallen können. Seine Skepsis dehnte Karneades  auch auf die Ethik  aus, wiederum  im Rekurs aufProtagoras,  der in Fragment 6a festhielt:  “Über jede Sache gibt es zwei einander entgegengesetzte Aussagen” (Diels, II, S.266). Entsprechend handelte Karneades  in zwei Vorträgen in Rom die Frage der Gerechtigkeit ab. Am ersten Tag führte er aus, weshalb Rom, um gerecht zu handeln, alle Eroberungen an die früheren Besitzer  zurückerstatten müsse;  am zweiten Tag, weshalb Rom, gemäss dem Recht  des Stärkeren, seine Imperium behalten könne.  Cicero berichete in seiner Schrift “De republica”  wie Karneades’ akrobatische Widersprüche  ernsthafte  Männer,  wie etwa Cato, vor den Kopf stiessen. Vom Standpunkt der Skepsis aus aber war sein Verhalten folgerichtig.

Karneades’   Philosophie  erregte   umso  grösseres   Aufsehen,  als  sie ja  aus  der  platonischen idealistischen Akademie herausgewachsen war, in welcher die Wahrheitsfrage eigentlich positiv gelöst wurde. Eine bestimmte Ausgestaltung der Skepsis findet sich bei Platon  höchstens  in der Auseindersetzung um Sein und Nicht-Sein, wie sie in den Dialogen “Theaitetos” (das Sein) und “Sophistes”  (das  Nicht-Sein) dokumentiert  ist.  Platon  (427  bis  347  v.Chr.),  dessen  ganzes Denken  um  das  Sein  kreist,  stellt fest, dass  das  Nicht-Seiende  nicht  nur die Negation  des Seienden  ist, sondern  dass es für alle Vorstellungen gilt,  die keine Realität haben  oder  haben können:  Schein, Wahn,  Täuschung,  Trug  und Irrtum. Mit anderen  Worten:  dass etwas nicht- seiend  ist,  bedeutet,   dass  etwas   nicht  das  wahrhaft   Seiende  ist und  dass  es  zugleich  die Existenz  des  Nicht-Seins  hat,  resp.  Schein  oder  Trug  ist.  Das  Nicht-Seiende  hat  somit  für Platon   die  Bedeutung  des  ganz  anderen.  Das  ganz  andere   aber  betrifft  den  Bereich  der trügerischen Sophisten,  die er zutiefst ablehnt.

Dass  ausserhalb  von Platons  Idealismus  Seiendes  und  Nicht-Seiendes  miteinander  verwoben sind, und dass daher  die Urteilsbildung unsicher  ist,   gehört zu den skeptischen  “Tropen” des Änesidemus.  So sind zum Beispiel Licht und Dunkel  miteinander  verwoben,  wobei  das Dunkel im Verhältnis  zum Licht sowohl das Nicht-Licht  ist  wie  etwas  ganz  anderes  (oder  das ganz andere  als das Licht).  Das  Beispiel wird von einem gelehrten,  streckenweise  auch  konfusen schwedischen   Theologen,  Thorleif  Boman,   als Kommentar  zur  platonischen Auseinandersetzung benutzt. Boman  hatte  Anfang der fünfziger Jahre  ein Buch  veröffentlicht “Das  hebräische  Denken   im  Vergleich  mit  dem  griechischen”,   das  in  den siebziger  Jahren nochmals  aufgelegt  wurde,   das   nun  vergriffen  ist  und   das   gerade   in  Hinblick   auf die Abgrenzung  des Nicht-Seienden vom  Seienden interessante Stellen aufweist. Boman  macht  es sich zur Aufgabe, Parallelen und Unterschiede im Verständnis und in der Bedeutung wichtiger griechischer   und  hebräischer  Begriffe   herauszuarbeiten.   Er   hebt   etwa   hervor,   dass   im Griechischen unter  “to  on” (dem  Seienden)  etwas  Ruhendes,   im Hebräischen unter   “dabar” etwas  Dynamisches,  Bewegendes verstanden   wurde.  Er  führt  auch  aus,  dass  der  Begriff “dabar”,  der alle Realitäten  bezeichnet – Wort, Tat,  Sache-,  in der Negation  “lo  dabar”  sowohl die Nicht-Realität,  das Nicht-Seiende bedeutet, als auch zugleich  das ganz  andere  als “dabar”, das eine eigene Existenz  hat, etwa Lippenworte, Lügenworte. Daher, führt Boman  aus, ist “lo dabar”  allen Begriffen,  die  etwas  Nichtiges  bezeichnen,  von  der  Bedeutung her nahe,  etwa “kazab”  (Lüge)  oder  “habal”  (Hauch,  aber  auch  Täuschung,   Wahn)  oder  auch  “tohu”.  Zur Verstärkung seiner These führt er aus den Psalmen  die Verse  62.10  an:  “Ja,  ein Hauch (habal) sind die Menschenkinder,  eine  Lüge  (kazab)  die Menschen;  werden  sie  auf die  Waage gehoben,  so sind sie allzumal leichter als ein Hauch.”   Selbst  das, was als  “Chaos”  übersetzt wird  (ob  “tohu”  allein  oder  in Verbindung  mit  “bohu”)  bedeutet vor allem das Nichtige,  das was der Realität entbehrt.  Allein durch die Begriffe wird  somit klar,  dass der Gott Israels nicht lügen kann, dass aber die Götzenbilder Lüge sind. Das göttliche Wort “dabar”  ist jeder  Skepsis entzogen.   Vielleicht   liegt   hierin   der   tiefste   Grund,    weshalb  auch   nach   den   grössten Erschütterungen,   wie   etwa   nach   den   Vertreibungen   Ende   des   15.  Jahrhunderts,   eine grundlegende   Skepsis,   die  auch  eine  Erschütterung  des  Glaubens  bedeutet   hätte,  nicht aufkommen konnte,  ausser bei  einzelnen wenigen,  nicht aber als Bewegung.    Selbst grosse Enttäuschungen in Fragen des Glaubens, etwa als der in den Jahren 1665  und 1666  als Messias gefeierte Sabbatai  Zwi,  der  die  Menschen  überall  in  einen  unvorstellbaren  messianischen Taumel hineingerissen hatte,  vom Judentum abfiel und sich zum Islam  bekannte, führten nicht zu einer Skepsis dem Glauben überhaupt gegenüber,  sondern höchstens dem – so von Sabbatai Zwi vertretenen  – jüdischen  Glauben gegenüber  und es erfolgten massenweise Übertritte zu einem anderen Glauben,  zum Islam oder zum Christentum.

Nun aber wieder zurück zum 16.  Jahrhundert und zurück zu Montaigne. Michel  de Montaigne, 1533  auf dem väterlichen  Schloss in  der Nähe  von Bordeau  geboren,  verstärkte  sogar  die sokratische Skepsis,  indem er Sokrates’ klare Aussage  “Ich weiss, dass ich nichts weiss” der apodiktischen Form  entledigte und den Ausdruck  des Nichtwissens  zur Frage  machte:   Que sais-je?Was weiss  ich?  Was  kann ich überhaupt  wissen? Montaigne  stellte  fest,  dass die Welt,  die ihn umgab, aus Verstellung, Doppelzüngigkeit Täuschung und Betrug bestand.  Was wir heute Wahrheit nennen,  ist nicht,  was wahr ist,  sondern was man anderen  einreden kann(aus  Bd.  II).  Montaigne,  der  selbst  über  eine blendende Rhetorik  und  damit  über  die sprachlichen   Mittel   der   möglichen   Täuschung   verfügte,   der   auch  wichtige   öffentliche Funktionen wahrnahm  – er hatte zum Beispiel einen Parlamentssitz – verpflichtete sich früh, entgegen dem Trend  der Zeit,  Aufrichtigkeit  und Wahrhaftigkeit  zu üben. In  dieser Haltung fühlt er sich nicht allein,  sondern in  Übereinstimmung  mit  Etienne de la  Boetie,  mit  dem ihn eine  tiefe Freundschaft  verband.   1563,  im  Alter von 32  Jahren,  starb jedoch  der Freund  an einer damals nicht heilbaren Dysenterie.  War es dieser Verlust,  den er zeitlebens nie überwand, die Befassung  mit  den Schriften  des  Freundes,   einer  scharfen  Analyse  der  knechtischen Korrumpierbarkeit der Menschen, deren Publikation er 1570/71  realisierte (Contr’un  ou de Ja Servitude volontaire),  war es das  zunehmende Studium  der antiken Denker,  insbsondere jener der späteren Stoa und Skepsis – Seneca, Marc Aurel,  Cicero, Sextus Empiricus u.a.m.  – das Montaigne’s inuner klarere Distanzierung von der Welt, wie sie war,  erklärt?  Unter unseren gewöhnlichen  Handlungen  ist nicht  eine unter tausend, die uns selbst angehe (...).  Wer gibt nicht gerne Gesundheit,  Ruhe und Leben hin für Ehr und Ruhm,  so unniitz,  leicht und falsch die  eingetauschte Münze  auch sein mag?heisst im Kapitel  “Von  der Einsamkeit” im  Band I der “Essais”.  Auf jeden  Fall  entschloss  sich Montaigne  an  seinem  38.  Geburtstag,  am 28. Februar 1571,  sich in der Bibliothek im Turmzimmer seines  Schlosses einen Ort des Rückzugs, der Reflexion  und der Selbstprüfung  zu schaffen,  einen  01i,  wo er das  tun konnte, was  “ihn selbst anging,  wo er sich selbst finden konnte,  alme dass er sich deswegen völlig von der Welt zurückgezogen  hätte.  Pflichten, die ihm auferlegt wurden, nahm er weiterhin wahr,  etwa als Schiedsrichter in  öffentlichen  Angelegenheiten.  Ab 1572  aber begann  er,  in  Texten,  die  er “Essais”  nannte,  seiner  grundlegenden  Skepsis  in Bezug  auf die Welt,  auf die  scheinbaren Autoritäten  und  “Götzen”,  aber  auch  in  Bezug  auf sein  eigenes  Innenleben wie  auf sein äusseres Verhalten Ausdruck zu geben.

Montaigne’s ganzes Bemühen richtete sich auf ein Ziel  aus: jene “ataraxia”  zu gewinnen,  die es ihm  erlauben würde,  die Furcht  vor  dem Tod  zu verlieren und angesichts  der  Abwesenheit Gottes  und  der  Nichtigkeit  des  eigenen Ich  nicht  der  Verzweiflung  zu  verfallen.   “Warum fürchtest du deinen letzten Tag? Er trägt nicht mehr zu deinem  Tode bei als jeder andere.  Der letzte Schritt macht nicht die Müdigkeit:  er tut sie nur kund.   Alle  Tage gehen zum  Tod,  der letzte fangt an” (I,xx). Und, aus dem gleichen Essai:  Er (der Tod)  betrifft euch weder als Tote noch als Lebende:  als Lebende,  weil ihr seid; als Tote,  weil ihr nicht mehr seid...  Weder das, was ihm vorausgeht,  noch das,  was auf ihn folgt,  (gehört)  zum Wesen des  Todes  (I,xx).  Ein paar Zeilen  später:  Man  muss sowohl den Dingen  wie den Menschen  die Maske  abnehmen: ist sie abgenommen,  so finden wir dahinter nur eben diesen  Tod,  den letzthin ein Hausknecht oder eine einfältige Kammerfrau ohne Furcht trugen” (I,xx).  Sokrates ist Beispiel. Der Tod ist für Montaigne  zugleich  das ganz andere und nicht das ganz andere,  da jeder  Tod dem Leben gleicht,  das vorausgegangen  ist und wie es vorausgegangen ist.  Wir werden nicht anders,  um zu sterben. Ich deute  immer den  Tod aus dem Leben”,  hält Montaigne fest.  Im Angesicht des Todes werden somit  das Ich und das so nichtige Leben wiederum  bedeutungsvoll,  die strenge Antinomie von Sein  und Schein,  von Maske und Antlitz wird  gemildert,  auch wenn sie  nicht ganz wegfällt.  Wir  wachen schlafend,  und wachend schlafen wir,  hält Montaigne fest.  Ich sehe nicht so hell im Schlafe;  aber das Wachen finde  ich niemals rein und wolkenlos genug. Der Schlaf in seiner Tiefe schläfert wenigstens manchmal die  Träume ein. Aber unser Wachen ist  nie  so  wach,   dass  es gänzlich  die  Hirngespinste   vertriebe  und  zerstreute, welche  die Tume  den  Wachenden  sind,  und schlimmer  als die  Träume  (II, xii).  Die  Skepsis  bleibt jedoch gemindert  durch das Zugeständnis an die notwendige Akzeptanz des Gemischten, Widersprüchlichen und Unvollkommenen.

Um über Montaigne  zu sprechen, bräuchten wir  viel mehr Zeit,  als uns  zur Verfügung  steht. Sein umfangreiches Essais-Werk,  aber auch die kleine  Schrift  “Apologie  de Raimond  Sebond” bietet  schier unerschöpfliche Anregungen  für die eigene Auseinandersetzung mit  der Welt und den Menschen,  die  auf und  in  ihr  leben,  für die Auseinandersetzung  mit  sich  selbst,  mit den eigenen Schwächen  und Masken, mit der eigenen Hinfälligkeit und Sterblichkeit,  aber auch mit der  Bedeutung  eines   in   sich  gesicherten Ich,   mit   dem   Göttlichen   und   der   Schöpfung. Montaigne   war  ein  hervorragender  Schriftsteller,  für den  das  Schreiben  nicht  Selbstzweck darstellte,  sondern  Kommunikation  bedeutete.   Das  Wort gehört zur  Hälfte  dem,  welcher spricht,  und zur Hälfte  dem,  welcher hört”  (III,xiii),  auch  dem,  welcher schreibt und  dem, welcher  liest. Der  Einfluss  Montaigne’s wirkte sich auf viele nachfolgende Denker  aus – auf Pascal, Descartes,  Kierkegaard, Bergson,  auf die Vertreter und Vertreterinnen der Existenzphilosophie – eigentlich bis heute.

Auf Rene  Descartes  kurz  einzugehen   ist  nötig.  Ein  Meisterstück  skeptischer Reflexion  ist dessen   erste    “Meditation”    von    1641.    Nicht    dass   Descartes   von    seinem   gesamten philosophischen  Werk her als  Vertreter der  Skepsis  bezeichnet  werden  könnte, im  Gegenteil. Er war Mathematiker,  somit ein erklärter Positivist,  und in der Philosophie  einer der Begründer des  modernen  Rationalismus.  Mit der ersten  seiner sechs  “Meditations metaphysiques”  aber stellt er das ganze Fundament der Belehrungen,  die er in der Jugend  erhalten hatte,  sowie alles Wissens,  das  er  sich  angeeignet   und  aller Meinungen,   die er  sich  gebildet  hatte,  in Frage. “Schon vor einer Reihe  von Jahren habe ich bemerkt,  wieviel Falsches ich in meiner Jugend habe gelten  lassen und wie zweifelhaft alles ist,  was ich hernach darauf aufgebaut,  dass ich daher einmal im Leben  alles von Grund aus umstossen   und von den  ersten Grundlagen an neu beginnen müsse… So habe ich denn heute zur rechten Zeit meine Gedanken aller Sorgen entledigt  (. ..),  und werde  endlich  ernsthaft und unbeschwert zu diesem  allgemeinen  Umsturz meiner Meinungen schreiten”,  beginnt   Descartes seine “Meditation”. Er  stellt fest,  dass  die Sinnenvennittlung   trügerisch   ist,   dass   Wachsein   und   Träumen  niemals   durch  sichere Kennzeichen  unterschieden  werden können”.   So  etwa  kann  es sein,  dass  er tatsächlich  mit dem  Winterrock angetan,  am Kamin sitzt,  das Papier mit den Händen  betastet”  etc,  es kann aber ebenso sein, dass er während der Nachtruhe sich einbildet,  mit dem Rock bekleidet,  vor dem  Kamin  zu  sitzen”  etc.  Nachdem   er  den  Zweifel radikalisiert   hat,  kommt   Descartes allerdings zum  Schluss,  dass  es ein paar  wenige Erkenntnisinhalte gibt,  die  sich dem Zweifel entziehen: so das ganz Einfache der körperhaften Erfahrung – die Ausdehnung  -, auch die Idee Gottes müsse jedem Zweifel überlegen  sein, folgert Descartes, da diese ja nicht eine menschengeschaffene  Idee  sei,  obwohl  er sich gleichzeitig  fragt,  woher  er denn wisse,  ob er (Gott) nicht bewirkt habe,  dass es iiberhaupt keine Erde,  keinen Himmel,  kein ausgedehntes Ding,  keine Gestalt, keine Grösse,  keinen Ort gebe und dass dennoch dies alles genau so,  wie es ihm jetzt  vorkomme,  bloss  da zu sein scheine; ja sogar auch,  wie er  überzeugt sei,  dass andere sich bisweilen in dem irren,  was sie vollkommen zu wissen meinen,  ebenso könnte auch er sich täuschen,  sooft  er 2 und 3 addiere  oder  die Seiten eines Quadrats   zähle,  oder was man sich noch leichteres denken möge.  Descartes  lehnt  es jedoch ab, diesen Zweifel  mit  Gott in Verbindung  zu bringen,  dem  “allgiitigen,  dem  Quell der  Wahrheit”. Eher sei anzunehmen, fährt  er fort,  dass  ein  böser Geist,   der zugleich allmächtig  und verschlagen ist”,  all seinen Fleiss dran gewandt habe,  ihn zu täuschen.

Descartes’   böser  Geist”  muss  nicht  nur  der  grosse   metapysische  Einflüsterer,   mithin  der Gegenpart  Gottes  sein.  Es   liesse   sich  darunter  auch,   im   Sinn   Freuds,   das  Unbewusste verstehen,  oder, im Sinn der kritischen Theorie, die ideologischen und propagandistischen Verführungsmächte.  Auf jeden  Fall steht  fest,  dass  für Descartes  auch  scheinbar  “objektive” Meinungen über die Aussenwelt (er zählt etwa Himmel,  Luft, Erde,  Farben,  Gestalten,  Töne usw.  auf) durch interne oder  externe  Kräfte  beeinflusst werden,  da wir ja nie aus uns und nie aus  der  Welt  heraustreten  können  (-  was  übrigens  auch  ein Kerngedanke  der Wittgenstein’schen Reflexion  ist). Was jedoch  für Descartes unbestreitbar bleibt, ist gerade  die Tatsache  dieses  “Innen”,  resp.  die Tatsache  dass  “ich denke.  Ob ich  richtig  oder falsch denke, ist unwichtig; was zählt, ist,  dass  ich denke, mithin, dass ich bin” (cogito ergo sum). Mit der Affirmation dieser  drei wichtigsten Erkenntnisinhalte – die Aussenwelt (res extensa),  Gott (res divina) und   die  Innenwelt   (cogito   /  res   cogitans)   –  wird   durch  Descartes    die   Skepsis überwunden.

Rund   achtzig  Jahre   nach  den  cartesianischen   “Meditationes”,   1719,   erscheint  anonym  ein Dokument    “Le   Traite   des  trois   imposteurs”,   das   der  durch  Descartes  vorgenommenen rationalen Begründung Gottes auf radikale Weise absagt,  ein Dokument  sowohl  des sog.  neuen pyrrhonischen  Skeptizismus  wie  des  Atheismus.   Dass   es  anonym  erschien,   hatte   mit  der Tatsache   der Verfolgungen  zu  tun,  denen  Glaubensdissidenten  ausgesetzt  waren,  etwa  der 1619 als Ketzer  verbrannte Lucilio Vanini,  der übrigens öfters als Verfasser des Buchs  über die drei Betrüger vermutet  wurde,  zu Unrecht,  da er – darin dem Renaissancephilosophen Pietro Pomponazzi  ähnlich  –  seine ideologiekritischen (macht-  und  verführungskritischen) Überlegungen  zu  Religion und  Glauben,  zu  den Wundergeschichten und  zu  den Religionsbegründern  unter  eigenem  Namen   verbreitet  hatte.   Der   “Traktat  über   die  drei Betrüger” erschien erstmals deutsch im Jahre  1787/88 in Berlin, unter dem merkwürdigen Titel “Spinoza II oder  Subiroth  Sopim.  Rom,  bey  der  Wittwe Bona  Spes.  5770  gedruckt”.   Der “Traktat” ist ein merkwürdiges Sammelsurium, ein “aus allen möglichen zeitgenössischen philosophischen  Machwerken  abgeschriebener,   etwas spinozistisch  aufgeputzter  Text,  wie ihn  ein Spinoza-Forscher,  S. von Dunin-Borkowski,  zu Beginn  dieses Jahrhunderts bezeichnet hat. Mit Spinoza’s “Ethik” hat der “Traktat” nichts gemein.  Im Gegensatz  zur  “Ethik”,  in der Spinoza   Gott   als   die   immanente  Ursache    des  raum-zeitlichen   Universum    von   diesem unterscheidet,  wird  im  “Traktat”  Gott   als  das  Aggregat  aller –  materiellen  –  Einzeldinge verstanden.  Damit wird der pantheistische Satz  Tautest Dieu” zugleich zur Begründung eines radikalen Materialismus  und Atheismus.  Die Leugnung  der Weltschöpfung,  der Willensfreihet und der Unsterblichkeit der Seele, d.h. aller supranaturalen Wahrheitsansprüche der drei Offenbarungsreligionen,  ebenso  die Entmythologisierung  der  Wundergeschichten,  schliesslich die Dekonstruktion der drei Religionsbegründer – Mose, Jesus  und Mohammed   – machen  den “Traktat”  zwar zu einem  populären,  ev.  gar populistischen Vorläuferdokument des sich im  19. und 20.  Jahrhundert wissenschaftlich  etablierenden  atheistischen  Materialismus,  jedoch  kaum zu  einem  Dokument wissenschaftlicher  Skepsis,  da  diese  nicht  die  atheistische  Gegenthese, sondern das Nichtwissen um Gott propagieren würde.

Es  bleibt  nicht  genug  Zeit,  um  die  skeptischen   Ansätze   in  der Philosophie  der  Aufklärung aufzuarbeiten,  insbesondere  die  durch diese  geleistete  Vorurteilskritik,  in  England  etwa  bei Francis  Bacon,   bei   Hobbes,   Locke   und   Hume,   in   Frankreich   bei   den  Enzykopädisten d’Alembert,  Diderot, Holbach,   Voltaire  etc.,  in  Deutschland  bei Lessing,  Mendelssohn  und Kant,    Ansätze,  die  sich allerdings  weniger  als Philosophie  des Nichtwissens  denn  als Kritik dogmatischen  Glaubens,  Wissens oder Machtanspruchs entwickelt  haben.  Auch Marx’s  Kritik an den ökonomischen Verhältnissen,  die ihn zu seiner Entfremdungstheorie führte,  oder Freuds Kritik  am ausschliesslich  naturwissenschaftlichen, neurologischen  Zugang  zu den psychischen Störungen und Leiden  der Menschen,  die  ihn zur Entdeckung des Unbewussten führte,  oder die ideologie- und herrschaftskritische Arbeit der sog. Frankfurter Schule (Theodor W.Adorno, Herbert Marcuse, Max  Horkheimer,  auch  Walter  Benjamin), die Herrschaftskritik der Frauenbewegung seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts wie auch die länderübergreifende antiimperialistische  Friedensbewegung  der Frauen,  d.h.  die Kritik  an  Aufrüstung,  Rassismus und Krieg – all  diese bedeutenden Theorien  und Bewegungen enthalten  skeptische  Elemente, jedoch weniger im Sinn der philosophischen Definition von Skepsis als im Sinn der Alltagsverwendung  des  Begriffs,  die,  wie  ich eingangs  erwähnte,  jener   von  “Kritik”  nahe kommt.  (Die  Entwicklungslinie  der  kritischen Philosophie zu  verfolgen,  auch  im  Judentum, wäre ein weiteres  College-Thema).  Ich  möchte jedoch,  bevor  ich  zum Schluss  komme,  noch ein Beispiel  neuzeitlicher skeptischer Philosophie vorlegen,  die,  meiner Meinung  nach,  dem sokratischen  Vorbild  überaus   nahe  kommt,  die  sich  auch  mit Michel  de  Montaigne’s  Werk messen kamt  Es handelt sich um Ludwig Wittgenstein.

Ludwig  Wittgenstein   kam   1889   als   achtes   und  jüngstes   Kind   einer   der  wohlhabendsten Familien Wiens  zur  Welt,  einer  Familie,  die  sich  scheinbar  rückhaltlos  assimiliert  hatte,  seit Ludwigs Grossvater Hermann  zum Protestantismus übergetreten und den Vornamen  Christian angenommen   hatte,  ein erfolgreicher  Wollhändler,   der   1838   Fanny  Figdor,   Tochter   einer bedeutenden jüdischen  Familie Wiens  heiratete,  die sich ebenfalls  taufen  liess.  Um  1850  liess sich  die Familie  in  Wien  nieder. Berühmtheiten  wie  Grillparzer  und  Brahms  gehörten  zum Freundeskreis.    Den   Familiennamen  Wittgenstein    hatte   der   Urgrossvater   Moses    Meier erworben,   der  als  Gutsverwalter  beim   Grafen  Sayn-Wittgenstein   angestellt   gewesen   war. Hermann  Christian trieb die Assimilation so weit,  dass er seinen acht Töchtern und drei  Söhnen strikte  verbot, Juden  resp.  Jüdinnen  zu heiraten.  Die meisten unterwarfen sich  seinem  Willen. Eine  Ausnahme  bildete Karl  (der  spätere  Vater  des Philosophen),  der ein Rebell  war,  von der Schule verwiesen  wurde,  weil  er die Unsterblichkeit  der Seele  geleugnet  hatte, von  zu Hause ausriess und nach New  York floh, wo er sich während  zwei Jahren als Geiger und Kellner über Wasser  hielt,   1867,  als  er  nach  Wien  zurückkehrte,  durchsetzte,  dass  er  Ingenieur  werden durfte und  schliesslich  als Zeichner  in  einem  Walzwerk   in  Böhmen,   das  dem  Bruder   seines Schwager gehörte,  zu arbeiten begann.  Nach fünf Jahren war er leitender Direktor,  nach zehn Jahren    einer    der  geschicktesten    und   reichsten    Industriellen    des   kaiserlich-königlichen Österreichs.   Seine  Ehefrau  war  Leopoldine Kalmus,  deren  Vater  jüdisch  und  deren  Mutter katholisch war. Die acht Kinder, darunter  Ludwig,  wurden getauft  und katholisch erzogen. Die Familie lebte im  Stil  der Aristokratie, verfügte  über  schier  unbegrenzte  Mittel,  und das “Palais Wittgenstein”  an der heutigen Argentinerstrasse war ein Zentrum  der Musikkultur,  der Kultur überhaupt,    auch    wenn    Karl    Wittgenstein     den   modernen,    materialistisch    denkenden, kapitalistisch  aggressiven  Unternehmer  repäsentierte.  Seine Kinder  liess  er  von  Hauslehrern nach  seinen  Vorstellungen  erziehen,  von  seinen  Söhnen  verlangte  er, dass  sie  ihm  in  seinen Spuren folgten.  Ausser Kurt,  der sich dem Vater beugte  und Firmendirektor wurde,  im Ersten Weltkrieg   auch   Offizier   und  Truppenkommandant,    sich  jedoch   gegen   Ende   des Kriegs erschoss,  als    seine  Truppen gegen  ihn  meuterten,  folgte  keiner  der  Söhne  dem  väterlichen Diktat.  Hans,  ein musikalisches  Wunderkind,   emigrierte  nach  den  USA,  sprang   1902  in  der Chesapeak Bay von einem Boot und ertränkte  sich.  Rudolf,  ebenfalls künstlerisch hoch begabt, zog  nach Berlin,  wo  er  1904  seinem  Leben  mit  Zyankali  ein  Ende   bereitete.  Nach  diesen entsetzlichen Verlusten  wurde der Vater einsichtiger,  er liess  die  beiden jüngsten   Söhne Paul und  Ludwig  ein öffentliches  Gymnasium  besuchen  und  ihre  Laufbahn   selber  wählen.  Paul wählte die Musik,  während Ludwig nicht recht wusste,  was er tun sollte.  Da er technisch  nicht unbegabt war,  wurde  er  in  Linz  am Realgymnasium  eingeschrieben  (zwei  Jahre  unter  ihm besuchte Adolf Hitler die gleiche Schule, wurde jedoch  wegen ungenügender Noten entlassen). In  Linz  fühlte    sich  Wittgenstein  völlig  unglücklich  und begann,  an  allem zu  zweifeln.  Den stärksten   Einfluss   übte  auf  ihn   seine   älteste   Schwester  Margarete   –   Grell   –   aus,   die Intellektuelle  der Familie,  die bei Freud  eine  Analyse machte,  sich mit Freud  auch befreundete und diesem 1938, nach dem Anschluss,  in letzter Minute zur Flucht  nach London  verhalf.  Über Gretl wurde  Wittgenstein auch mit den Schriften von Karl Kraus  bekannt,  las dessen  satirische Zeitschrift  “Die Fackel”,  kannte  wohl  auch  dessen  antizionistisches Traktat “Eine Krone  für Zion”,  worin Kraus  Herz! als reaktionär verhöhnte, überzeugt,  dass die Juden  sich nur durch bedingungslose   Assimilation   und   durch   eine   mutige   sozialistische   Parteinalune   befreien konnten.  In derselben Zeit  wurde  auch Otto  Weininger zur Kultfigur.  1902 hatte er sein von Selbsthass und  Frauenhass geprägtes Buch  “Geschlecht und  Charakter”   veröffentlicht,  1903 beging er Selbstmord.  Weiniger übte auf Ludwig Wittgenstein  einen enormen Einfluss aus.

Es   wäre   faszinierend,   Wittgensteins   Biographie   weiter    zu   erzählen,  bietet sie doch bedeutungsvolle Erklärungen an für den zwischen Zustimmung und Ablehnung hin- und hergerissenen  Intellekt  und   für die  ebenso   hin-  und  hergerissene,   zerrissene  Psyche   des Denkers. Die Skepsis, die das Fundament  des ganzen Wittgenstein’schen Werks bildet, hat hier, nehme ich an, ihren Ursprung.  Nur noch ein paar Hinweise: Wittgenstein wurde Flugzeugbauingenieur,  nahm als Freiwilliger  am Ersten  Weltkrieg teil, schrieb in Galizien hinter der Front seinen  “Tractatus”,  war  als Kriegsgefangener in  Italien  interniert, von wo  aus  er verzweifelt einen Verleger  suchte, trat mit Gottlob Frege und Bertrand  Russell in Briefkontakt, wurde  Volksschullehrer  in  einem  armen  kleinen  Dorf – Trattenbach – in  Nieder-Österreich, versagte  in  dieser  Tätigkeit  aber völlig und brach  das Experiment  ab, verzichtete  auf sein gesamtes  Vermögen zu Gunsten  seiner Schwestern, zog für zwei Jahre nach Berlin, dann nach Manchester, vordergründig beide Male  wegen  des Flugzeugbaus,  tatsächlich  aber  wegen  der immer  stärkeren   Neigung   zur Philosophie, der  er  schliesslich  nachgab  und  bei  Russell  in Cambridge  mathematische Logik studierte,  bis dieser seinem “Schüler”  nicht mehr beibringen konnte.  Cambridge  wurde zu Wittgensteins Wohn-  und Wirkungssort,  bis zu  dessen  Tod  im Jahre  1951,  mit Unterbrüchen  in Norwegen  und  in Wien  oder  auf dem  Wittgenstein’schen Sommergut in Tirol,  auch zum Ort des prekären Exils während  der Zeit der Naziherrschaft und der Bedrohung Englands.

Wittgensteins Leben  war  während  Jahrzehnten legendenumwoben.  Wie konnte  man  sich ihm nähern, dem  kryptischen Sprachphilosophen, Skeptiker, Asketen,  Homosexuellen, Dichter?  Er selbst hatte  nur den  “Tractatus”  veröffentlicht.  In  den letzten Jahrzehnten  erschien  nun  eine wachsende   Anzahl  von Wittgenstein’schen Manuskripten,  Gesprächen  und  Aufzeichnungen seiner   Vorlesungen   durch   seine  Schüler,    schliesslich   Tagebücher    und    einzelne   gute Monographien,  so  auch  die  hervorragende Biographie  von  Ray  Mank   “Wittgenstein.  Das Handwerk  des Genies”.

 

Ich sagte schon,  dass ich Wittgenstein als den modernen  Vertreter der Skepsis einschätze. Der letzte Satz im “Tractatus”  von 1918  (1921 publiziert)  lautet  Wovon man nicht sprechen  kann, darüber  muss man schweigen”.  Von hier aus geht ein grosser Bogen,  nicht ein einheitlicher, sondern ein häufig unterbrochener  und durch Widenufungen  und Widersprüche  gezeichneter Bogen  durch Wittgensteins ganzes Lebenswerk.  Was  im ganzen  Werk  bleibt,  ist,  dass  der Sprache  gegenüber  immer  äusserste Skepsis  geboten  ist.  Im “Tractatus”,  einige Paragraphen vor dem Schlusssatz,  stellt Wittgenstein fest:  Zu einer Antwort,  die man  nicht aussprechen kann,  kann  man auch  die Frage nicht  aussprechen  (6.5).” Wittgenstein erscheint selbst der Skeptizismus als Theorie resp. als Grundhaltung noch als zu affirmativ:  Skeptizismus ist nicht unwiderleglich, sondern offenbar unsinnig, wenn er bezweifeln will,  wo nicht  gefragt  werden kann.  Denn  Zweifel kann  nur  bestehen,  wo  eine Frage  besteht;  eine  Frage   nur,  wo  eine Antwort besteht,  und diese nur, wo etwas gesagt werden kann” (6.51).

Über sorgfältige  logische  Schritte  und Ableitungen  versucht Wittgenstein,  Fragen  zu stellen, um Antworten formulieren zu können, die er in der Folge wieder als ungenügend verwirft.  Die Zweifel betreffen sowohl die Begriffe selbst,  sie betreffen deren Bedeutung, wie das das,  wofür die Bedeutung  steht:  die Dinge  der Aussenwelt,  das eigene Denken,  die Vorstellungen und deren eventuelle Entsprechung  in der Welt, Gott, das Leben.  Mit  den letzten  Aufzeichnungen, die bis kurz vor  dem Tode  erfolgten und unter dem Titel  “Über Gewissheit”  1969  erstmals deutsch/englisch erschienen,  1989 in einer von den Herausgebern  nochmals  durchgesehenen Ausgabe verdichtet Wittgenstein die Skepsis schonungslos. So heisst es (§§ 249 – 253):  Man macht sich ein falsches Bild  vom Zweifel.  – Dass ich zwei Hände  habe,  ist unter normalen Umständen  so sicher wie irgend etwas,  was ich als Evidenz  dafür anführen  könnte.  Ich bin darum ausserstande,  den Anblick meiner Hand  als Evidenz dafür aufzufassen.  Heisst das nicht:  ich werde  unbedingt nach  diesem  Glauben  handeln  und mich  durch  nichts  beirren lassen? – Aber  es ist doch nicht nur,  dass ich in dieser  Weise  glaube,  dass ich zwei Hände habe,  sondern dass jeder Vernimftige  das tut.  – Am  Grunde  des  begründeten  Glaubens  liegt der unbegründete Glaube”.

Was  “Glauben”  und  “Wissen”  bedeuten,  wird  immer unklarer.  Jede  subjektive  Annahme ist hinfällig.  “Unser  Wissen bildet ein grosses System.  Und nur in diesem System hat das Einzelne den Wert, den wir ihm beilegen” (20.3), sodann  (415):  “Ja,  ist nicht der Gebrauch des  Wortes Wissen,   als  eines ausgezeichneten  philosophischen   Wortes,   überhaupt  ganz falsch?   Wenn ‘wissen’ dieses Interesse hat, warum nicht ‘sicher sein’?  Offenbar,  weil es zu subjektiv wäre. Aber  ist  ‘wissen’  nicht  ebenso  subjektiv?   Ist   man   nicht   durch   die   grammatische Eigentümlichkeit getäuscht,  dass aus  ‘ich weiss p’ (auch)  ‘p folgt?   ‘Ich glaube  es zu wissen’ müsste keinen minderen Grad der Gewissheit ausdrücken. – Ja, aber man will nicht subjektive Sicherheit ausdriicken, auch nicht die  grösste,  sondern  dies,  dass gewisse Sätze  am Grunde aller Fragen und alles Denkens zu liegen scheinen. “

Die Grundhaltung  entspricht  dem sokratischen  “Ich  weiss,  dass ich nichts weiss.  Selbst mit der letzten Aufzeichnung  (§ 676), die Wittgenstein  am Tag,  bevor er ins  Koma fiel,  machte, nimmt der Zweifel  kein Ende,  obwohl er kurz vorher  schreibt,  dass  “ein  Zweifel  ohne Ende nicht einmal ein Zweifel  ist”.  Das Ende  des Zweifels  wird allein durch das Handeln gesetzt, durch die Praxis.  “Das Kind lernt nicht,  dass es Bücher gibt,  dass es Sessel gibt,  etc.  etc., sondern  es  lernt  Bücher   holen,   sich  auf  Sessel  setzen  etc. ”  Ray  Monk,   Wittgenstein interpretierend,  hält fest,  dass letztlich  auch das Zweifeln  eine  spezielle Art der Praxis  sei, die man  allerdings erst  erlernen  könne,  wenn  man viel  Selbstverständliches  beherrsche. Doch Wittgentein  geht  noch  weiter.  Ist  nicht  alles  Selbstverständliche,  was  wir  zu  beherrschen meinen, eventuell  nur geträumt?  “Aber wenn ich mich auch in solchen Fällen nicht irren kann (einer sagt, er sitze jetzt am Tisch und schreibe) – ist es nicht möglich,  dass ich in der Narkose bin? Weil ich es bin,  und wenn die Narkose mir das Bewusstsein raubt,  dann rede  und denke ich jetzt nicht wirklich.  Ich  kann nicht im Ernst annehmen,  ich träume jetzt.  Wer  träumend sagt,  ‘ich träume’,  auch wenn er dabei hörbar redete,  hat so wenig recht,  wie wenn er im Traum sagt “es regnet”,  während es tatsächlich regnet.  Auch wenn sein Traum  wirklich mit dem Geräusch des Regens zusammenhängt”.

Was Wittgenstein  mit  seiner  Haltung  der Skepsis  erreicht,  ist  Furchtlosigkeit  vor  dem Tod. Schon als ganz junger Mann, angesichts  des Tötens und Sterbens auf den Kriegsschauplätzen, hielt er im  “Tractatus” fest (§ 6.4311)  “Der Tod ist kein Ereignis des Lebens.  Den Tod erlebt man nicht.   Wenn  man unter Ewigkeit  nicht  unendliche  Zeitdauer,   sondern   Unzeitlichkeit versteht,  dann lebt der  ewig,  der  in der Gegenwart lebt.” Wenige Tage vor  seinem  eigenen Tod besuchte ihn  ein Freund  in  Cambridge,  dem er – entsprechend der weit zurückliegenden Überlegung – sagte:  Es  ist seltsam  – obwohl ich weiss, dass ich nicht mehr lange zu leben habe,  denke  ich nie an ein ‘künftiges Leben’.  Alle  meine Interressen sind nach wie vor mit diesem Leben und mit dem verbunden,  was ich noch schreiben kann” (Ray Monk,  S.613).  Und als ihm am Tag,  bevor er das Bewusstsein verlor,  die Frau seines  Arztes, die bei ihm  gewacht hatte,  erklärte,  dass am nächsten Tag seine engsten Freunde ihn  besuchen würden,  nickte er und bat sie “Sagen Sie ihnen,  dass ich ein wundervolles Leben hatte”.

Die Praxis  des Lebens,  die gelernt werden  muss,  um dem Zweifeln  ein Ende  zu setzen, ist zugleich die Praxis des Sterbens.  Was in der Skepsis mag diese Furchlosigkeit vor  dem Tod bewirken,  die nicht nur Wittgenstein,  sondern auch Sokrates und Montaigne an den Tag gelegt haben? Sind feste Meinungen, Glaubensinhalte,  sogenannte  “Sicherheiten”  mit Besitztümern vergleichbar,  um deren möglichen Verlust man voller Unruhe bangt? Führt  der Verzicht auf alle diese Sicherheiten  letztlich  zu jener Freiheit und Gelassenheit  – zur  “ataraxia”  -, die das wahre Ziel der antiken  Skepsis  war? Könnten  Sie  sich vorstellen,  dass  diese Haltung  auch heute noch angestrebt und befolgt werden könnte?

 

Vielleicht finden sie ein Antwort auf diese Fragen. Zürich, im November  1996

 

Wichtige Literatur:

Friedrich Battenberg. Ds europäische  zeitalter  der Juden.  Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990

Etienne de la Boetie.  Von der freiwilligen Knechtschaft. Europäische  Verlagsanstalt, Frankfurt a.M.  1980

Thorleif  Boman.  Das  hebräische   Denken  im  Verlgeich  mit  dem  griechischen.   Vandenhocck  & Ruprecht, Göttingen  1977

René Descartes. Les Meditations  metaphysiqucs.  Presses univcrsitaires  de France, Paris  1963

Hermann  Diels / Walther Kranz.  Die Fragmente  der Vorsokratiker.  2 Bde.  Verlag Weidmann,  o.O. 1974

Hermann   Greive.  Die  Juden.   Grundzüge   ihrer  Geschichte  im  mittelalterlichen  und  neuzeitlichen Europa. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt  1980

Thedor     Grundmann  /  Karl  Stüber.  Philosophie   der  Skepsis.   UIB   für  wisscnschaft,Verlag     Schöningh, Paderborn-München- Wien-Züruch 1996

Julius Guttmann. Philosophies  ofJudaism.  Schocken Books, New York 1976

Mose ben Mainton. Führer  der Unschlüssigen.  3 Bde. Felix Meiner Verlag, Hamburg  1972

Michel de Montaigne. Essais. 3  Bde. Union generale d’editions, Paris  1964

Wilhelm Nestle.  Griechische  Geistesgeschichte.  Alfred Kröncr Verlag,  Stuttgart  1944

Platon.  Sämtliche  Werke,  Bd.4  (u.a.  Theaitetos,   Sophistes).  Übersetzung  von Fr.  Schleiennacher. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg  1960

Richard H.Popkin. The History of Scepticism.  Unversity of California Press, Berkely-Los  Angeles-London 1979

Gershom Scholem.  Die jüdische  Mystik in ihren Hauptströmungen. Suhrkamp Verlag, Frnakfurt a.M.  1967

Jean Starobinski.  Montaigne.  Denken  und Existenz.  Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt  1986

YosefHahim  Yerushalmi.  Ein  Feld  in  Anatol.  Versuche über jüdiche  Geschichte.  Wagenbach  Verlag, Berlin 1993

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