Festung Europa – Interkulturelles Europa – Symposium über zwei Wege europäischer Entwicklung
Festung Europa – Interkulturelles Europa
Symposium über zwei Wege europäischer Entwicklung
Zug, 4. April 1993
Symposium über zwei Wege europäischer Entwicklung: Festung Europa – Interkulturelles Europa Gesprächsteilnehmerinnen und -nehmer:
– Leider ist Cinar Dilek, in Wien lebende türkische Politikwissenschaftlerin, erkrankt. Sie musste ihre Zusage zurücknehmen. An ihrer Stelle hat sich Navide Fröhlich, in Zürich lebende Iranerin, die aus vielfältiger persönlicher und beruflicher Erfahrung viel über die Zusammenhänge und Probleme von Frauenflüchtlingen weiss, bereit erklärt, am Podium teilzunehmen.
– Nina Mladenka Colder, in Zürich lebende Bosnierin.
– György Dalos, ein ungarischer dissidenter politischer Schriftsteller.
– Thomas Schmid, in Frankfurt lebend, langjähriger Redaktor und Lektor, heute frei arbeitender Schriftsteller, Mitautor (zusammen mit Daniel Cohn-Bendit) des im Verlag Hoffmann und Campe 1992 erschienenen Buchs “Heimat Babylon. Das Wagnis der multikulturellen Demokratie”.
– Maja Wicki, Philosophin und Journalistin, arbeitet gegenwärtig für die Schweizerische Flüchtlingshilfe
Einleitung
Es ist noch nicht lange her, knappe vier Jahre, da entwarf Michail Gorbatschow das Bild des “europäischen Hauses”. Er suggerierte damit ein Europa der offenen Türen und offenen Fenster, mit vielen Räumen, grossen und kleinen, alle unter einem Dach. Das Dach sollte die gemeinsame politische und wirtschaftliche – marktwirtschaftliche – Verantwortung für eine friedliche und demokratische Zukunft nach dem Ende der sowjetischen Diktatur und nach dem Ende der Ost-West-Spaltung sein. Eine gemeinsame soziale Verantwortung wurde nichts ins Auge gefasst. Der “freie Markt” würde die Fragen des Wohlergehens von selbst entscheiden. Die Vorstellung erwies sich als Traum. Inzwischen haben in Mittel-und Osteuropa nationalistische Ambitionen und populistische Aufhetzung kulturelle Zerstörung und menschliches Leid in furchtbarem Ausmass geschaffen: Krieg, Bürgerkrieg und schier unlösbare Minoritätenprobleme. Millionen von Menschen sind auf der Flucht, 3 Millionen allein aus dem ehemaligen Jugoslawien (etwa 5000 von ihnen wurden von der Schweiz aufgenommen). In allen Ländern hat sich die Versorgungslage der Bevölkerung auf dramatische Weise zugespitzt. Damit einhergehen Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Verelendung grosser Massen, während eine dünne Schicht Erfolgreicher vom Wandel profitiert.
Aber nicht nur im ehemaligen “Osten”, auch im “Westen” breiten sich Rassismus, Antisemitismus und Demokratieverdossenheit aus, eine sich steigernde gewalttätige Ungeduld langsamen Prozessen gegenüber, die die entmutigende Gegenwart zu einer für alle lebbaren Zukunft verändern könnten: Auch hier wachsen rechtsradikale Parteien an, blähen sich auf, kanalisieren die Ratlosigkeit und Wut der wirtschaftlich Benachteiligten auf rassistische und nationalistische Einspurigkeit, beeinflussen damit auf massgebliche Weise Abstimmungen und Wahlen, in unseren Nachbarländern ebenso wie bei uns in der Schweiz – kurz, eine Destabilisierung gefährdet Europa, wie sie seit der unmittelbaren Nachkriegsperiode nie mehr registriert wurde. Die jüngsten Entwicklungen in Russland machen erneut deutlich, wie schnell die prekäre Hausordnung endgültig in Brüche gehen könnte.
Gleichzeitig sind Millionen von Menschen ausserhalb von Europa in Bewegung: eine Völkerwanderung der Vertriebenen, Flüchtenden und Elenden, die in den europäischen Staaten, auch in der Schweiz, grosse Ängste weckt. In der letzten Märzwoche kam in Genf eine internationale Konferenz zusammen, auf der die Probleme der Migration in Vorbereitung einer UNO-Konferenz über Bevölkerung, die 1994 in Kairo stattfinden soll, ausgebreitet wurden. Dabei wurde die Zahl von 60 Millionen Menschen, genannt, die aus Afrika sowie aus Osteuropa in den nächsten Jahren auf Europa zuströmen könnten. Nach Evaluationen der UNO muss weltweit mit einer Milliarde Menschen gerechnet werden, die ihren Hunger nicht stillen können.
Schauen wir uns nochmals Europa an: Während im Osten eine ungeduldig begrüsste, aber schnell in sich zusammenfallende Öffnung Hoffnungen auf ein Ende der Blockspaltungen, auf Wohlstand und Freiheit (zuerst einmal Reise- und Konsumfreiheit) weckte, begann das um die EG zentrierte Europa mit seinen zugewandten Staaten – inklusive der Schweiz – , festungsmässige Vertragswälle gegen den befürchteten Zustrom von Armen und Vertriebenen aufzubauen. Diese Architektur der Einigelung richtet sich zugleich gegen potentielle Menschenströme aus dem Osten wie gegen diejenigen aus dem Süden, gegen diejenigen aus der – wie es bezeichnenderweise heisst -, “Zweiten” und “Dritten”, der “zweitrangigen” und der “drittrangigen” Welt.
Schon 1985 hatte die EG-Kommission beschlossen, gemeinsame europäische “Verwaltungsmassnahmen” im Asylbereich festzulegen. Im gleichen Jahr unterschrieben die Benelux-Staaten, Frankreich und die Bundesrepublik das “Erste Schengener Abkommen”, das den schrittweisen Abbau der innerstaatlichen Grenzkontrollen und die Harmonisierung und Verschärfung der Aussengrenzen beinhaltete. Fortan sollte nur noch ein Vertragsstaat für die Bearbeitung eines Asylgesuchs zuständig sein. Ausweichmöglichkeiten für abgewiesene Asylsuchende sollten zunehmend reduziert werden, zumal beschlossen wurde, nicht nur Informationen über Verfahrensfragen, sondern auch über personenbezogene Daten auszutauschen. Die Einführung eines einheitlichen Visums wurde angestrebt. Die Schere wurde zunehmend enger, als 1990 auch Spanien, Portugal und Italien dem Schengener Abkommen beitraten. Spanien zum Beispiel führte die Visumpflicht für nordafrikanische Asylsuchende ein. Hunderte. wenn nicht Tausende ertranken beim Versuch, mit Fischerbooten illegal vom Meer her Spanien zu erreichen. Griechenland erwägt seinen Beitritt zum Abkommen, Dänemark führt entsprechende Verhandlungen. England hat im Sommer 1991 erklärt, seine Einreisebestimmungen nach Massgabe der Schengener Bestimmungen zu verschärfen. Diese wurden 1990 im sogenannten zweiten “Schengener” und im “Dubliner” Abkommen ausgeweitet.
Mitte Februar dieses Jahres haben sich in Budapest an einer Ministerkonferenz, an der 35 europäische Staaten teilgenommen haben, die meisten Delegationen, darunter auch Bundesrat Arnold Koller, für verschärfte koordinierte Massnahmen gegen die “illegale Zuwanderung” und das damit verbundene Schlepperwesen ausgesprochen. Nur so gelänge es, “die Probleme der Migration in den Griff zu bekommen”.
Es stellt sich mit zunehmender Deutlichkeit heraus, dass für die europäischen Staaten, inklusive für die Schweiz, Menschen, die Aufnahme suchen, als innerstaaliches Problem erfasst werden, das es gilt, “in den Griff zu bekommen”. Das heisst, dass nicht in erster Linie die zu Flucht und Migration zwingenden Bedingungen in den Herkunftsländern als das massgebliche Problem der Asyl- und Arbeit- und Subsistenzsuchenden erkannt werden, das zu beheben dringend notwendig wäre. Um das “Problem in den Griff zu bekommen”, denken sich – scheinbar – ernstzunehmende Profis Lösungen aus, die nachdenklich stimmen: So schlägt etwa der Nobelpreisträger für Ökonomie von 1992, Gary S. Becker, vor, dass der Markt die Immigration regeln solle. Einwanderungsrechte sollten wie andere Güter nach dem Gebot von Angebot und Nachfrage gehandelt werden. Die Preise für Visa sollten in jährlichen Versteigerungen ermittelt werden, sodass diejenigen, die schliesslich einwandern könnten, dafür schwer bezahlt hätten. Diese Einwanderer, meint Becker, wären dann auch motiviert, sich entsprechend dem Eintrittspreis nützlich zu machen, sich anzupassen und eben nicht als “Schmarotzer” zu gelten.
Bei all diesen Vertragswerken und Lösungsvorschlägen wird eine wichtige Tatsache wie unter den Tisch gewischt: dass Europa, dass alle europäischen Länder sich längst zu ethnisch und kulturell vielfältig gemischten Gesellschaften entwickelt haben, zu jener “Heimat Babylon”, wie Thomas Schmid sie nennt, die nicht mehr entwirrt werden kann, in der und mit der besser zu leben – gut zu leben – wir lernen müssen, wofür wir unsere ganze kreative Vernunft einsetzen müssen.
Die politischen Tendenzen, wie sie sich gegenwärtig abzeichnen, zwingen uns, eine Reihe von Fragen zu stellen. Sie haben – in einer grossen Einteilung – mit drei Bereichen zu tun:
( 1) Die Entwicklung im Innern Europas:
– Ist es gutzuheissen, dass die herkömmlichen Nationalstaaten sich zu einem politischen und wirtschaftlichen europäischen Grossraum zusammenschliessen, der sich so den Charakter eines Meg-Nationalstaates ohne innere Grenzen gibt?
Was geschieht dabei mit den nicht-staatlichen Nationen? Bedarf es nicht einer paritätische Integration der nicht-staatlichen Nationen – der bosnischen, kurdischen, baskischen, schottischen, bretonischen und vieler mehr-, um zu verhindern, dass Nationalitätenkonflikte sich ständig zu Kriegen um Staatsgrenzen entwickeln?
Wie könnte diese paritätische Integration geschehen und abgesichert werden?
(2) Die Entwicklung gegen Aussen:
– Ist die zunehmende Abschottung Europas, dieser durch internationale Abkommen immer fester gezimmerte, von Ängsten und Feindbildern durchwehte europäische Grossraum der einzige vertretbare Weg ist? – Hat er eventuell “Notwehrcharakter” und ist zum Überleben Europas erfordert?
– Oder gibt es eine andere Option: ein Europa, das sich als Teil der Welt erklärt und in
dieser Weltteilhaftigkeit bereit ist, auf seine privilegierte wirtschaftliche Sonderstellung zu verzichten? – das auch bereit ist, seinen eigenen Minderheiten – den nicht-staatlichen Nationen) in erster Linie, in zweiter Linie aber auch anderen Menschen und anderen Kulturen einen gleichberechtigten Platz einzuräumen?
– Kann die Schweiz für Europa als Modell dienen? (Auch in anderen Teilen Europas war diese Option tatsächlich gelebte Realität – in Sofia etwa, der bulgarischen Hauptstadt, stehen auf dem grössten Platz der Stadt drei an Pracht und Grösse ebenbürtige Gebäude in Rufnähe zueinander: eine Synagoge, eine Moschee und eine Kathedrale. Doch auch wenn diese drei Kulturen und Religionen tatsächlich gleichberechtigt nebeneinander sich entfalten konnten, blieben andere Minderheiten unterdrückt, etwa die Sinti und Roma).
(3) Die Frage der Multikulturalität:
– Was braucht es, um die Option der”multikulturellen” Gesellschaft zu verwirklichen, das heisst die gleichberechtigte Existenz verschiedener Kulturen nebeneinander, auch derjenigen von Minderheiten? – einerseits in den Köpfen der Menschen, andererseits auf politischer Ebene?
– Wird sich diese Frage auf der wirtschaftlichen Ebene entscheiden?
– Bedarf es überhaupt des Begriffs “Multikulturalität”? Genügt nicht der Begriff “Kultur”? Ist damit nicht schon das gleichzeitige Zulassen und die gleichzeitige Pflege verschiedener Traditionen, Wertsysteme und gesellschaftlicher Innovationsvorstellungen zu verstehen?
– Was braucht es, damit verschiedene Kulturen sich innerhalb einer Gesellschaft integrieren können, damit nicht Assimilation und damit ein diffuser Einheitsbrei nach dem Diktat der stärksten Gruppe das Endprodukt kulturellen Zusammenlebens ist?
– Was braucht es, damit in einer Gesellschaft kulturelle Konflikte integriert werden können? – damit sie nicht in Gewalt und Unterdrückung ausarten?
– Wie müssen Pflichten und Rechte im Zusammenleben von Mehrheiten und Minderheiten geregelt sein?
– Welche kulturellen Werte werden – zum Beispiel in der Schweiz – verteidigt, wenn die Rede von der “kulturellen Überfremdung” ist? Welche Werte sind in besonderem Mass kulturell unterschiedlich bestimmt?
– Was braucht es, damit die Loyalität der Minderheiten einer Mehrheitskultgegenüber sowie die Loyalität neu Eingewanderten der Einwanderungsgesellschaft gegenüber nicht in Zweifel gezogen wird, bei Wahrung der kulturellen Differenz?
– Warum wird die eigene Kultur einerseits als überlegen, andererseits als gefährdet (und damit als schwach) verstanden?
– Kann die eigene Kultur überhaupt unabhängig von fremden Kulturen definiert werden?
– das heisst: braucht die eigene Kultur nicht Begegnung und Austausch mit fremden Kulturen, um als Wert überhaupt erkannt zu werden?
– Sind nationale oder übernationale – europäische – Abschottung und Kultur im umfasasenden Sinn vereinbar?
– Braucht es politische und gesetzliche Absicherungen, damit Kultur ihrem Anspruch gerecht werden kann, ein kreatives, friedliches, innovatives und zugleich wertgestütztes Zusammenleben verschiedenster Menschen und Gruppen zu ermöglichen? Oder braucht es, damit verschiedene Kulturen in einem politischen Verband koexistieren können, eines überkulturellen Konsens? Müssen, zum Beispiel, die Menschenrechte als überkultureller Konsens angenommen werden?
– Könnte Europa, die europäische Einheit, eine echte – auch kulturelle – Chance gegen die heute sich verstärkenden segretionistischen Nationalismen und Patriotismen sein, etwa indem ein europäischer “Verfassungspatriotismus” im Sinn von Habermas sich entwickeln könnte?
– Wie können irrationale Strömungen in einer Gesellschaft wie der unseren, heutigen, im Sinn der Demokratie beeinflusst – nicht gesteuert – werden?
– Genügt die Demokratie, um den enormen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aufgaben gerecht zu werden?
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