Kindheit – dunkler Erdteil

Kindheit – dunkler Erdteil

 

Kinder “kommen zur Welt”. Der Ausdruck ist schön,  beinah biblisch. Aber “Welt” bedeutet dabei nicht Himmel und Erde, nicht Seen und Wälder, nicht Küsten und Meere, sondern ein winziger Bruchteil Platz im sogenannten “Elternhaus”,  das heute in den wenigsten Fällen ein Haus ist. Meistens ist es – in unserer Weltgegend – eine “Eltern”wohnung,  selten weiträumig, eher eng, häufig auch nur ein Zimmer, manchmal nur ein “Mutter”zimmer,  aus dem der Vater sich schon davongemacht hat, obwohl es ja unbestrittenermassen Vater und Mutter braucht, damit ein Kind zur Welt kommt.

Das Kind wird nicht gefragt, ob es zur Welt kommen will oder nicht. Psychologinnen und Psychologen sind jedoch überzeugt, dass es schon im Mutterleib spürt, ob es will- kommen ist oder nicht. Wie auch immer, es muss vorlieb nehmen mit den Verhältnis- sen, in die es hinein geboren wird, mit den materiellen ebenso wie mit den geistigen. Eltern können dem Kind keine andere Realität bieten als die eigene, und diese ist zu- meist geprägt von Ängsten, Verunsicherungen und Verletzungen, kurz vom – häufig verdrängten – Leiden der eigenen Kindheit.  Ob dieses in materieller oder in seelischer Not bestand, in Hunger und Zank, in erlebter Kälte, Verlogenheit oder Gewalt, in mangelnder Anerkennung oder in vermisster Förderung, ·so oder so hing für die meisten Erwachsenen, die nun Vater und Mutter sind, immer wieder dumpfe Traurigkeit über den eigenen Kindertagen und -nächten.

Kindheit ist ein dunkler Erdteil, über den wir wenig wissen, obwohl wir ihn, als wir Kinder waren, alle durchquerten, obwohl eine grosse Anzahl Fachleute aus Psychologie und Psychoanalyse, aus Pädagogik und Medizin, aus allen Sparten der Sozialwissenschaften sich damit befassen, obwohl es kaum Dichterinnen oder Dichter gibt, die nicht versucht haben, ihre eigene Kindheit darzustellen. Aber wie diese ersten Welt- und Selbsterfahrungen wirklich sind, diejenigen des Wohlbefindens ebenso wie diejenigen der Angst oder der Auflehnung, können wir nur im Ungefähren nachvollziehen, durch spätere Erinnerungen, durch Erzählungen von Familienangehörigen oder durch Beobachtung anderer Kinder. Wir wissen nicht mehr, wie das war, als die “Erziehung”  einsetzte, schon in der Wiege; als unser Wille gebrochen wurde durch stete, zumeist “aus Liebe” angewendete “Elterngewalt”  (wie es im Gesetz heisst) oder Elternlist, die später durch diejenige der Pädagoginnen und Pädagogen noch vervielfacht wurde;  als wir spürten,  dass wir nicht wirklich ernstgenommen wurden, dass wir auf unsere Fragen keine. wahren Antworten bekamen, dass wir “bloss”  Kinder waren.

Bedürfnisse der Kindheit, die ungestillt bleiben, Grundbedürfnisse (nicht Launen oder Festtagswünsche) wie dasjenige nach Nahrung, nach Geborgenheit, nach Liebe, nach Wissen, nach Respekt, nach Selbstentfaltung  (das zugleich das Bedürfnis nach Sicherheit wie dasjenige nach Freiheit einschliesst) wirken fordernd oder hemmend weiter und werden im Erwachsenenalter  häufig  auf verhängnisvolle Weise kompensiert, wie dies die Kindheitsforscherin Alice Miller in ihren Studien nachweist.  Nur wenn das Leiden,  das aus dem Mangel oder aus der Vernachlässigung,  aber auch aus der Überfütterung und Überbetreuung  erwachsen ist, in den Zusammenhängen  erkannt und verziehen werden kann, wird es nicht anderen Menschen,  zum Beispiel dem eigenen Kind, weiter auferlegt. Denn die Aufarbeitung  der längst vergangenen Kindheitsbedingungen  allein reicht nicht aus, um das Leiden zu heilen,  ob dieses gross oder klein war. Dass Groll und Wut sich Ausdruck zu schaffen vermögen,  dass die Anklage nicht mehr diffus,  sondern begründet formuliert werden kann, befähigt noch nicht zu einem Neubeginn,  im Gegenteil.  Solange es bei Anklage und Wut bleibt, können Aufmerksamkeit und Verständnis  für die Bedürfnisse des eigenen Kindes nicht zustandekommen,  nicht anders,  als wenn erlebte Verletzungen verdrängt  werden.  Nur Versöhnung  macht liebesfähig.

Versöhnung hat nichts mit schulterklopfender Gestik zu tun. Damit ist nichts Äusserli­ches gemeint, sondern eine seelische Bereitschaft,  die über die Erkenntnis  der ver­ strickten Zusammenhänge hinausgeht,  in denen Täter oder Täterinnen  immer auch Opfer sind: die Bereitschaft,  diejenigen Menschen,  die uns weh getan haben ­ häufig in Unkenntnis ihrer weittragenden  Verantwortung  ­ aus der Anklage zu entlassen,  sie “von den Folgen ihres Handelns zu entbinden”,  wie dies die Philosophin Hannah Arendt formuliert.  Hannah Arendt führt weiter aus, dass das Heilmittel  gegen das Unwiderrufliche,  das heisst gegen die Tatsache,  dass nichts,  was getan wurde, rückgängig gemacht werden kann, allein in der.Fähigkeit zu verzeihen  liegt. Weil damit ein neuer Anfang gesetzt werden kann, ist diese Fähigkeit  zutiefst Ausdruck von Freiheit.  Verzeihen kann daher weder gefordert noch erwartet werden: .es erfolgt aus der verstehenden  Bereitschaft,  der Freiheit eine Chance zu geben,  das heisst, zukünftiges  ­ eigenes ­ Handeln von den Schatten vergangenen  ­ fremden ­ Handelns zu befreien.

Wenn das Aufwachsen allerdings  schwerelos und heiter war, durch liebevolle und si­chere Hände geleitet ­ was einzelnen  zweifellos gewährt wurde und wird,  genügt es als Vorbild und Basis fürs Erwachsenwerden,  letztlich auch fürs Kinder­-in-­die­-Welt­ Stellen. Das klingt theoretisch,  ist aber nichts anderes als das, was für ein Kind das “Milieu” ausmacht,  in das es hineingeboren  wird und von dem es selbst wieder geprägt wird. Es ist der “Erfahrungsvorsprung”  von Männern und Frauen,  die plötzlich Väter und Mütter sind und die damit eigentlich auch wieder am Anfang  stehen. Wie schwer ist es aber, diese Situation angstfrei, als Raum der Freiheit   und   der Verantwortung, anzunehmen und zu nützen,  als Raum, in dem Zukunft Tag für Tag gelebt werden kann. Immer wieder frage ich mich, Warum die meisten von uns, trotz eines aufgeklärten Bewusstseins und einer ­ vielleicht ­ unkonventionellen  Lebensführung, in Erziehungsmuster  zurückfallen, unter denen wir selbst gelitten haben?. ­ warum auch wir das Fragen  und Träumen  des Kindes ersticken,  vielleicht  durch zu viele · Erklärungen?  ­ warum wir immer mehr Spielsachen kaufen,  statt mehr mit dem Kind zu spielen? ­ warum wir unsere Zeit haushälterisch  einteilen, statt so viel Zeit wie möglich darauf zu verwenden,  das Kind zu lehren,  mit Händen,  Augen und Gaumen, mit der Nase im Wind und mit dem Ohr auf der Erde die “Welt”,  in die es gekommen ist, mit ihren Düften und ihrem Geschmack,  mit den weichen und trockenen,  nassen und harten Elementen,  mit den Pflanzen und Tieren zu erkunden,  selbst wenn dies schmutzige Schuhe nach sich zieht oder ein paar Schrammen am Knie, selbst wenn Eseleien dabei unvermeidlich  sind? ­ warum auch wir unnötige Verbote und Gebote aufstellen,  statt zu überlegen,  was wirklich das Kind gefährdet,  und was es daher nicht tun sollte? ­ warum wir auf das Kind unsere eigenen Ängste übertragen?  ­ warum wir es “behandeln”,  wie einen Gegenstand, wie einen Besitz, wie ein Werk, über das wir verfügen  können? ­ warum wir es nicht von allem Anfang an als Subjekt respektieren,  wie wir respektiert  sein  wollen? ­ warum wir Theorien an ihm ausprobieren?  ­ warum wir leichtfertig mit ihm umgehen,  statt mit grosser Auf­ merksamkeit?  ­ warum das Kind nicht unser ernstestes und wichtigstes Engagement ist,  aus dem wir erst entlassen werden,  durch das Kind selbst, wenn dieses stark ge­ nug ist, allein die Welt zu durchqueren?

Nicht nur Kindheit ist ein dunkler Erdteil. Das Leben, das wir als Erwachsene leben, wurzelt weiter darin, und was wir tun und was wir zu tun unterlassen,  auch den Kindern gegenüber,  die wir in die Welt gestellt haben,  trägt lange an den frühen Schatten,  die wir nicht aufzulösen vermögen.  Diesen fügen sich Schatten an, die wir, handelnd oder unterlassend,  durch Schuld auf uns laden, leichte und schwerere,  aus der wir uns selbst nicht entlassen können,  von der wir nur wieder entbunden werden können durch das Verzeihen,  das ­ zum Beispiel ein Kind ­ uns einmal gewähren wird.

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