Ein “überflüssiges Buch”? – Über Aharon Megged und über “Das fliegende Kamel mit den goldenen Höckern”
Ein “überflüssiges Buch”? – Über Aharon Megged und über “Das fliegende Kamel mit den goldenen Höckern”
Unter den achtzehn Büchern, die Aharon Megged seit 1950 in Israel publiziert hat, wurde ausgerechnet der 1982 in Tel Aviv erschienene Roman “Das fliegende Kamel mit den goldenen Höckern” ins Deutsche übersetzt, vom dem der Autor schreibt, es sei ein “überflüssiges Buch”. Die Übersetzung wurde von Barbara Linner so meisterhaft besorgt, wie es sich für ein überflüssiges Buch allerdings nie lohnen würde, und es stellt sich beim Lesen von den ersten Seiten an eine Vergnügtheit ein, die dem abschätzigen Attribut, mit dem der Autor sein Werk von Anfang an versieht, ebenfalls zu widersprechen scheint. Warum schreibt er überhaupt, das Buch sei überflüssig? Aus blosser Ziererei? Aus dem Wunsch, das Gegenteil bestätigt zu bekommen?
Reicht nicht “die Süssigkeit der Produktion”?
Neben der Vergnügtheit hält daher von Seite zu Seite auch eine Mischung von Gereiztheit und Ungeduld an, eine Art Unglaubwürdigkeitsverdacht dem Autor gegenüber. Zwar sucht er selbst im Vorwort zum Buch die Motive des – überflüssigen – Schreibens zu ergründen, “diesen Trieb im Menschen, der ihn dazu drängt, Ereignisse, die inder vollen Pracht ihrer Blüte stehen, mitten aus dem Leben zu reissen und sie aufs Papier zu bannen, horizontal, in geraden Zeilen; sie zu pflücken und sie zwischen zwei Buchbände zu pressen, bis sie vertrocknet und verschrumpelt sind wie Dörrobst; sie in Sätzen, Wörtern und· Buchstaben – Dingen, die jeglicher Wirklichkeit entbehren – breitzutreten und sich dabei auch noch der Illusion herzugeben, neues, erhabeneres, edleres Leben in etwas zu hauchen, das die Natur ohne Überheblichkeit und Anmassung schuf, sozusagen, als ob man die rohe Materie in reines Gold verwandeln würde”. Selbst wenn es sich also nur um die Befriedigung des “Schreibtriebs” handelte, um die “Süssigkeit der Produktion, die über den absoluten Wert hinwegtäuscht”, wie Franz Kafirn im Tagebuch von 1911 Stauffer-Bern zitiert, wäre das Buch dann überflüssig? Könnte es nicht allein deswegen schon dem Anspruch “schöpferischer Subjektivität” genügen, die Georg Lucacs in der “Theorie des Romans” als “inhaltlich deutlich gewordene Ethik” bezeichnet?
Doch mit der Reflexion über das Schreiben fällt mein Unmut noch nicht weg. Er hat auch damit zu tun, dass ich als Leserin selbst entscheiden will, ob ein Buch überflüssig sei – je nachdem nämlich, ob sich zwischen dem Text und mir eine Beziehung herstellt, ob sich diese zunehmend verdichtet, ob eine vielleicht flüchtige Beziehung wieder abbricht oder ob überhaupt keine Beziehung entsteht. Irgendwann muss ich mich ins Buch einhaken können, und ob dies geschieht oder nicht, hängt davon ab, ob der Erzähler – Aharon Megged – es versteht, meine Aufmerksamkeit für seine Gestalten und die Umstände deren Geschichte, die er erzählen und entwicklen will, zu gewinnen. Irgendwann, aber möglichst schnell, sollte ich in den Text einsteigen und, lesend, Teil davon werden können, in einem Dialog, aus dem ich erst am Ende des Buches wieder aussteige, zufrieden, vielleicht gar aufgewühlt, auf jeden Fall ein wenig benommen wie nach einer Reise. Wenn das geschieht, ist das Buch mit Sicherheit nicht überflüssig, aber darüber entscheidet nicht der Autor, darüber entscheide ich als Leserin.
Was hat es mit der Erwähnung Bialiks auf sich?
Aharon Megged macht es mir ein weiteres Mal nicht leicht. – Er beginnt mit einer Treppenhausgeschichte in einem mehrstöckigen Tel Aviver Wohnhaus, und er stellt in Aussicht, dass das Buch allein von den Beziehungen zwischen den Bewohnern und Bewohnerinnen dieses Hauses handeln werde. Also ein Trivialroman der klatschhaftesten Sorte, frage ich mich. Habe ich überhaupt Lust einzusteigen?
Doch die Neugier ist der stärkere Impuls. Das erzählende Subjekt des Romans, Kalman Keren, 1940 in Czernowitz geboren und aus dem damaligen Rumänien nach Israel eingewandert, ist Schriftsteller, der sich die Hälfte des Tages mit der Übersetzung Rabelais’ ins Hebräische abmüht, die andere Hälfte an einem grossen Romanwerk arbeitet, das den Sederabend und die Tischordnung der zweiundzwanzig geladenen Gäste zu einer tausendseitigen Allegorie verdichten möchte, der aber bei der zweiundzwanzigsten Seite stecken bleibt und nicht weiter kommt, weil eben mit der Begegnung im Treppenhaus sich eine Störung ankündet, die dramatische Ausmasse annimmt: der Einzug des Kritikers Naphtali Schatz und dessen Frau Naomi in die über Kalman Keren gelegene Wohnung, eben jenes Kritikers, der Kerens kürzlich erschienenen Roman “Das fliegende Kamel mit den goldenen Höckern” mit boshaftestem Schweigen übergangen hat.
Hier macht es zum erstenmal Klick: Der Roman mit dem gleichen Titel, den ich in Händen halte, ist also gar nicht der Roman, um den es sich handelt? respektive der Schriftsteller Aharon Megged, 1920 in Wloclawek geboren und aus Polen nach Israel eingewandert, bedient sich des Romans seines Geschöpfs, des Schriftstellers Kalman Keren, um seinem eigenen Roman einen Rahmen zu geben? Ein Literaturspiel kündet sich an, denke ich, die Vergnügtheit wächst, und nun verschwindet auch aller Unmut. Dann schafft es Aharon Megged auf Seite 52 vollends, mich am Ärmel zu nehmen: Er zitiert Chaim Nachman Bialik, um den Unterschied nicht nur zwischen Dichter und Prosaisten, sondern zwischen Schriftsteller und Kritiker deutlich zu machen. “Kein Wort enthält die vollständige Negierung irgendeiner Frage, was enthält es also? deren Verhüllung”, heisst es bei Bialik, und Aharon Megged fährt fort, dass der Schriftsteller, je mehr er sich verhülle, je mehr er sich verstecke, verkleide, verschiedene Masken aufsetze und sich andere Gestalten zulege, desto mehr offenbare er von sich selbst. Der Kritiker dagegen, der ständig enthülle, nämlich anderer Leute Bücher enthülle, verstecke sich selbst dabei. Eine flüchtige Marginalie als Leserezept? frage ich mich. Aber warum gerade der Rekurs auf Bialik?
Die Stufenleiter des Lesens
Die Frage lässt mich nicht mehr los, während ich den Roman zu Ende lese, diese Mischung von turbulenter Komödie (die Verwicklungen mit der liebes- und rachehungrigen Victoria Azolai vom zweiten Stock), von Chronik (die erzählte Geschichte von Kalman Kerens Familie, die Geschichte seiner früheren Ehe oder die Geschichte der immer traurigen Chedva Porat, ebenfalls aus dem zweiten Stock, und ihres Sohns), von Märchendeutung (was es mit dem “fliegenden Kamel” und mit den “goldenen Höckern” auf sich hat), von gelehrter Glossierung (die Talmud- und Maimoni- deserläuterungen des stillen Herrn Menachem Ben Ze’ ev aus dem ersten Stock), von literaturwissenschaftlichem Diskurs (die . Erläuterungen zu Rabelais und zur Übersetzung ins Hebräische von “Gargantua und Pantagruel”, dann die Verweise auf Bialik, Mendele Mocher Seforim, auf Agnon, auf Voltaire.Tlaubert, Dickens, Dostojewski, Proust und weitere “Grosse” der Literatur); von Parabel (die Exkurse über die Hasen, die auf dem Dach des Hauses eine zweite friedliche Wohngemeinschaft bilden), schliesslich von innerlich sich verdichtender und dramatisch sich zuspitzender Liebesgeschichte zwischen Keren Kalman und Naomi Schatz (die zugleich das Ende des Kritikers Naphtali Schatz und das Ende der Hausgemeinschaft bedeutet). Wahrlich eine vielschichtige und gar nicht triviale Romanarchitektur, die einerseits – au premier plan – eine unterhaltende Lektüre zulässt, die keiner weiteren Erklärungen bedarf, andererseits aber eine Stufenleiter des Lesens anbietet, die – au second plan – plötzliche Verstehenssprünge erlaubt, mitten hinein in die von Bialik genannten “Verhüllungen”. Am Schluss des Buches vermute ich plötzlich, dass Aharon Meggeds Buch auch eine Art Schlüsselroman sein könnte und und dass sich der Einstieg zur zweiten Stufe des Lesens, sozusagen die Leiter zur versteckten Stufe, im dritten Kapitel befindet, das “In memoriam Dr. Klausner” überschrieben ist. Denn Klausner hiess nicht nur der seit einiger Zeit verstorbene Nachbar Kalman Kerens, dieser weise Apotheker, der den Schriftsteller in die dunklen und geheimnisvollen Seiten des Lebens einweiht und in dessen leerstehende Wohnung eben Naphtali und Naomi Schatz einziehen, Klausner hiess auch der Freund und Zeitgenosse Bialiks.
Die zionistische Utopie
Nun bedarf es einen kurzen Exkurses in die Anfänge des Zionismus, um auf Meggeds Bemerkung, sein “Fliegendes Kamel mit den goldenen Höckern” sei ein überflüssiges Buch, abschliessend zurückzukommen. Chaim Nachman Bialik, der 1873 in Radi, einem kleinen polnischen Dorf, zur Welt gekommen war und in grosser Armut während seiner Jugend sich nur dem Studium der Thora und des Talmud gewidmet hatte, kam als knapp Dreissigjähriger nach Odessa, um bei Ascher Ginzberg, der sich Achad Harn (einer aus dem Volk) nannte, zu lernen und zu schreiben. Achad Harn, aus alter chassidischer Familie, war. vom aufkommenden Zionismus begeistert, missbilligte jedoch den zionistischen Aktivismus und strebte an dessen Stelle eine sittliche Erneuerung an, eine Bildung der Herzen. Seiner Meinung nach sollte Palästina nicht eine Antwort auf die – äussere – “Not der Judenheit” sein, sondern sollte ein geistiges und kulturelles Zentrum werden, um der – inneren – “Not des Judentums” abzuhelfen. In Achad Harns Nähe und dank seiner Ermutigung begann Bialik, seine Gedichte nicht mehr in Jiddisch, sondern in Neuhebräisch zu schreiben; er wurde, neben Mendele Mocher Seforim, zum eigentlichen Begründer der neuhebräischen Literatur. Von 1905 an gab er, zusammen mit JosefKlausner, die von Achad Harn gegründete hebräische Monatsschrift “Haschiloach” heraus. 1908 besuchte Bialik das damalige Palästina und wurde dort, wie sein Biograph Ernst Müller 1921 schrieb, begrüsst und gefeiert, wie ein Volk seinen Dichter zu feiern pflege: Die Kolonistensöhne und jungen Arbeiter eines jüdischen Dorfes hätten, schreibt Müller, vom Felde kommend, eilends einen Kranz wilder Blumen geflochten, als sie von der Nachricht von Bialiks Ankunft überrascht worden seien. So habe er Siedlung um Siedlung besucht, in Judäa, in Galiläa, und da, wo er öffentlich gesprochen habe, hätten “Ergriffenheit, aber auch Zorn” sich zu einem “mächtigen Ausdruck” verbunden.
Damit genug des Exkurses. Mit den “wilden Blumen”, die Bialik entgegengebracht wurden, finde ich zurück zu Aharon Meggeds Roman, zum Ende des Romans. Kalman Keren hat Naomi, “seine” wilde Blume, die in Ein Charod, einem der ältesten Kibbuzim zur Welt gekommen war, aufs Land entführt, nach Zichron Ya’ akov, aufs Weingut Nuriels, seines Stiefvaters, der hier geboren wurde und hier sein ganzes Leben im Frieden mit den Arabern, die auf dem gleichen Grundstück leben, zugebracht hat. Was bedeutet es, dass nicht mehr das moderne Tel Aviv Schauplatz ist, sondern ein friedlicher Ort, der an die zionistischen Anfänge erinnert. Nostalgie? Sehnsucht nach der verlorenen Utopie?
Wie sollen die grossen Fragen beantwortet werden?
Erinnern wir uns, dass das Buch 1982 erschien, dass im Jahr zuvor, als Aharon Megged es schrieb, Israel in schwere innere und äussere Auseinandersetzungen verwickelt war, dass zum Beispiel im Juni 1981 die israelische Luftwaffe das irakische Atomzentrum bei Tammuz in der Nähe von Bagdad zerstörte, dass im Oktober der ägyptische Präsident Saddat ermordet wurde und dass durch diesen Mord der mit Begin ausgehandelte Friede zusätzlich gefährdet war, dass am 14. Dezember des gleichen Jahres die seit 1967 besetzten Golan-Höhen an der Grenze zu Syrien durch Regierungsbeschluss annektiert wurden, dass im März 1982 die arabischen Bürgermeister von al-Bireh, von Nablus und Ramallah abgesetzt wurden und dass damit die Spannungen in den besetzten Gebieten noch mehr wuchsen, dass im April die israelische Luftwaffe Angriffe auf palästinensichce Stellungen bei Beirut durchführte und wenige Tage später den letzten Teil der Sinaihalbinsel an Ägypten zurückgab, dass Anfang Juni Israel im Libanon einmarschierte und am 15. Juni die Städte Tyrus und Saida eroberte, dass in dieser ganzen Zeit der Golfkrieg zwischen Iran und Irak tobte und Präsident Reagan dem Bau der Neutronenbombe zustimmte – dass aber von all diesen Prüfungen und Erschütterungen in Aharon Meggeds Buch keine Spur zu finden ist (ausser der flüchtigen Erwähnung, dass Chedva Porats Sohn bei einem Armee-Unfall starb). Alles, was die politische Realität des Landes ausmacht, ist ausgeblendet und verhüllt, und diese Verhüllung wird lediglich indirekt, im Sinn einer um sieben Ecken herum angedeuteten Kritik der politischen Realität, durch die Hinweise auf Bialik und Klausner oder durch den friedlichen Schauplatz von Zichron Ya’ akov am Ende des Buchs durchbrochen. Doch der Spekulation, dass sich hier vielleicht die “Moral der Geschichte” finde, schiebt Aharon Megged schnell einen Riegel vor. In einer Anweisung “An den Leser” (die Leserin vergisst er) warnt er davor, aus den vorangegangenen Kapiteln zu schliessen, dass der Autor eine Lektion erteilen wolle. Alle didaktischen Absichten lägen ihm fern. Es sei nicht einmal gewiss, ob das Happy End in der Geschichte von Kaiman Keren und Naomi Schatz tatsächlich eine glückliche Fügung sei, da die Vergnügungen der Liebe den Schriftsteller ja von seinem eigentlichen Lebensinhalt, dem Schreiben, ablenken würden – zum hämischen Triumph der Kritiker. Wie sollten da erst die grossen Fragen, etwa die Frage der Gerechtigkeit, beantwortet werden?
Also doch ein überflüssiges Buch? Aber warum sollte gerade dieser
Roman, der so vielstufig, so vernetzt und voller Andeutungen ist, unbedingt ein eindeutiges Ende haben? Wer kann überhaupt sagen, wann eine Entwicklung abgeschlossen, wann eine Gespräch oder eine Analyse fertig, wann ein Roman beendet ist? Die Frage nach dem Sinn kann zwar “generell” gestellt, aber nur subjektiv beantwortet werden. Sie bleibt für “Das fliegende Kamel mit den goldenen Höckern” offen, auf halb schmuntzelnde, halb hintergründige Weise, als eine – die Kritikerin desavouierende und alle Kritik als überflüssig deklarierende – Aufforderung, das Buch “einfach” zu lesen.
Der Text wurde am 4. November im Theater am Neumarkt anlässlich der Vorstellung Aharon Meggeds und seines Buchs “Das fliegende Kamel mit den goldenen Höckern. Carl Hanser Verlag, München/Wien (338 Seiten, Fr. 37.10) vorgetragen.
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