Vor-analytisch und dörflich: Wo Traumhaftes und Wirkliches zugleich wahr sind – “Ein russischer Roman” von Meir Shalev
Vor-analytisch und dörflich: Wo Traumhaftes und Wirkliches zugleich wahr sind – “Ein russischer Roman” von Meir Shalev*)
An einem gewöhnlichen Dienstag, um sechs Uhr in der Früh, begann ich, Meir Shalevs “Russischen Roman” zu lesen. Ich sass im Schnellzug von Zürich nach Genf, las während der dreistündigen Fahrt, ohne einmal aufzublicken, las auf der Rückreise am selben Abend wieder drei Stunden, las nach der Rückkehr nach Hause weiter, bis die vor Lesen entzündeten Augen sich für den Rest der Nacht schlossen, las nach kurzer Erholung weiter, die fünfhundertsechs Seiten dieses prallen, schwebenden, umgarnenden, präzisen, verrückten, ergreifenden, fährten- und listenreichen Erzählwerks, bis auch die letzten Zeilen ausgelesen und ausgekostet waren. Dann legte ich das Buch aus der Hand und fragte mich, warum diese Art des Erzählens so rar geworden ist.
Bevor ich auf die Gründe komme, will ich erst deutlich machen, wodurch Shalevs Art des Erzählens sich auszeichnet.
Der Beginn des Romans ist nicht zugleich der Beginn der Geschichte. Die Chronologie der in sich vernetzten Geschehnisse, die das Leben und Lieben, das Schaffen und Sterben von drei Generationen in einem kleinen. Moschaw in der Jesreelebene zum Thema haben, wird erst im zweiten Drittel des Romans deutlich, nachdem in Erinnerungssprüngen und Assoziationen eine Fülle von Geschichten erzählt wurden, die durch die vielen darin enthaltenen Andeutungen, Namen und Details erst ratlos machen. Lesend werden wir in die Lage des Kindes versetzt, das ständig fragt “warum?”, “und dann?” und wieder “warum?”. Denn die Zusammenhänge werden nicht vorweg geschildert; die Erklärungen werden aufgeschoben, so als könnte deren Kenntnis vorausgesetzt werden, wie bei Geschichten, die in den Familien immer wieder erzählt werden. Weil gerade diese Kunst des Aufschubs eine von Meir Shalevs literarischen Eigentümlichkeiten ist, weil es ihm so gelingt, eine besondere Intimität zu schaffen, in die er auch die Lesenden einbezieht, eine beobachtende und mitwissende Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft, zu dieser zusammengewachsenen Gruppe anarchischer, – selbstgesetzlicher, sehnsüchtiger, liebeshungriger, verletzter, verrückter, racheerfüllter Menschen, und nicht nur zu ihnen, sondern auch zu den Pflanzen und zu den Tieren im Dorf, die ebenfalls beseelt, selbstgesetzlich, sehnsüchtig und racheerfüllt sind, wäre es falsch, mich hier an eine Zusammenfassung des Romans zu machen. Lediglich ein paar Hinweise will ich geben, bevor ich die Frage zu beantworten versuche; weshalb diese Art des Erzählens so rar geworden ist:
Der Erzähler der Geschichten, deren kunstvolle Verschachtelung die Struktur des Romans ausmacht, ist Baruch Schenhar, ein merkwürdiger Einzelgänger, unförmig gross, unmässig stark, dabei kindlich und keusch, ein “tumper Tor”, der seit der Kindheit an den Wänden lauscht, der die alten Männer begleitet – seinen Grossvater sowie den Lehrer und Insektenforscher Pines -,der Geschichten sammelt und der die verstorbenen Alten im Baumgarten des Grossvaters begräbt. Baruch, vom zweiten Lebensjahr an Waise, ist der Enkel von Jakob Mirkin (der ihn auch grosszog), einem der Gründer des Dorfes, der mit seinen Freunden Elieser Lieberson, Zirkin Madolina und hundertausend anderen Männern und Frauen in der Zweiten Alija (zwischen 1904 und 1914) aus Russland nach Israel kam, um gemäss sozialistischer, genossenschaftlicher Ideale Sümpfe trockenzulegen und die so gewonnene fruchtbare Erde zu bebauen. Schifris, der nicht das Schiff in Odessa bestieg, sondern zu Fuss Israel erreichen wollte, wird im Dorf über alle drei Generationen zu dem, dessen Ankunft ständig erwartet wird, zu einer Art säkularen Messias. Baruchs Grossmutter Feige, die mit ihrem Bruder Schlomo Lewin ebenfalls mit der Zweiten Alija ins Land kam, stirbt an verweigerter Liebe, an gebrochenem Herzen. Efraim, ihr jüngster Sohn, verlässt das Dorf, nachdem er mit verunstaltetem Gesicht aus dem Krieg zurückkehrt und das Dorf sich schreckerfüllt von ihm abwendet.
Aufbauarbeit und Schuld sind von allem Anfang an miteinander verknüpft, und das Verhängnis geht einher mit der Fruchtbarkeit und mit dem wachsenden Reichtum: Keine heile Welt, die Shalev zeichnet, allen Gründungsmythen zum Trotz, auch allem Phantastischen zum Trotz, dem Unheimlichen und dem Zauberischen, dem unter der Erde Brodelnden und dem ätherisch Traumhaften, das alles nicht weniger wirklich ist wie der Alltag der eigenbrödlerischen Pflanzer, Imker und Viehzüchter und deren Frauen, Söhne und Töchter im kleinen Moschav in der Jesreelebene.
Meir Shalev, selbst Enkel von Pionieren und Pionierinnen, kam 1948 in einem der frühen Moschavim zur Welt, im – ebenfalls in der Jesreelebene gelegenen; 1921 gegründeten – Nahalal. Seine Grosseltern mütterlicherseits waren mit der Zweiten Alija aus Russland eingewanderte Bauern, jüdische Sozialisten, Idealisten ohne religiöse Bindung, wie sie im “Russischen Roman” mit einer Genauigkeit gezeichnet werden, die sowohl ins Komische wie an die Schmerzgrenze reicht, eine Genauigkeit, die nur durch hautnahe Vertrautheit zustandekommen kann. Nicht w e i l Meir Shalev Psychologe ist, sondern unbeschadet der Tatsache, dass er Psychologe ist, gelingt ihm diese Schilderung merkwürdiger menschlicher Lebenswege in der Normalität dörflicher Verstrickungen, die in Israel das Buch zum Bestseller und Shalev, der vorher drei Kinderbücher und einen Essayband veröffentlicht hatte, zum Preisträger des (von Levi Eshkol gegründeten) Ministerpräsidentenpreises 1990 werden liess.
Warum “unbeschadet” der Tatsache, dass er Psychologe ist und im psychologischen Institut der Hebräischen Universität Ratten züchtete und beobachtete? Das hängt mit den Gründen zusammen, warum die Art des.Erzählens, wie wir sie im “Russsischen Roman” wiederfinden, so rar geworden ist. Ich vermute nämlich, dass einer der Hauptgründe bei der Psychologie und bei der Psychoanalyse zu suchen ist, die die Unschuld des Erzählens, das “naive”, das “intakte” Erzählen gebrochen haben: Ich – würde Shalevs Roman daher – in anerkennendem Sinn – einen vor-freudianischen, einen vor-analytischen Roman nennen, einen, der an die – noch ungebrochene – Erzähltradition und Erzähllust des 19. Jahrhunderts anknüpft, wo der vielarmige, zugleich wirblige und träge Fluss der geschilderten Geschehnisse, der äusseren und der inneren, nicht durch analytische Besserwisserei des Autors kanalisiert, gefiltert und durchleuchtet wird. Dass Shalev dies gelingt, ist seinem ungewöhnlichen Talent zuzuschreiben, das sich die beobachtende Unvoreingenommenheit, die Präzision der Wahrnehmung und die schier unbegrenzte Phantasie der Kindheit erhalten hat, und das uns, die das Buch lesen, das rezeptive Pendant des gleichen Talents zukommen lässt, jenes zeitvergessene Lesen, jene Versenkung und teilhabende Vergnügtheit oder Irritation, die in die ersten grossen Leseerfahrungen der Kinderzeit zurückversetzt (nicht zuletzt auch dank Ruth Achlamas hervorragender Übersetzung).
Ein zweiter Grund, weshalb Shalevs Erzählstil im “Russischen Roman” als ungewöhnlich auffällt, hängt – denke ich – mit einem zweiten Bruch, mit einem zweiten Verlust zusammen, der die Literatur unserer Zeit prägt und hinter den Shalev, der ja ein Kind dieser Zeit ist, mühelos zurückgeht. Ich meine den Verlust der Dörfer und der Dorftradition. Als es noch Dörfer gab, die aus wenigen Familien und aus den Nachkommen dieser Familien bestanden, komplette Dörfer mit Bauern, mit einem Lehrer für die Kinder und einem Markt oder einem Laden für die Bedürfnisse von Küche und Tisch, die nicht durch eigenes Pflanzen und Ernten gedeckt werden konnten, mit Tieren, die das Leben der Menschen teilten, mit Kindern, die in denselben Häusern zur Welt kamen, in denen die Alten vom Tod ereilt wurden, mit Festen und mit Trauertagen, an denen alle teilhatten, da gab es eine Fülle von Geschichten, die aus dem alltäglichen Klatsch, aus Andeutungen und Vermutungen entstanden, weiterwuchsen und weiterwanderten, von Haus zu Haus, von Mund zu Mund, und die dabei immer reicher und bunter wurden, bis-irgendwer sie aufschrieb und festhielt. Das eben gelang Shalev. Er macht mit seinem “Russischen Roman” deutlich, dass es keiner aussergewöhnlicher Helden, Heldinnen oder heldenhafter Taten bedarf, damit Geschichten erzählenswert sind, dass das vielfältige, erinnerte Dorfleben, wie es zu Beginn des Jahrhunderts mit den Auswanderern aus den europäischen Dörfern und Stedtls auch in Israel entstand, genügt. Denn in der Abgeschlossenheit der Dörfer waren die Menschen nicht nur gegenseitig aufeinander angewiesen, sie waren auch allesamt interessant: Sie waren unverwechselbare Individuen, die im Lauf der Zeit fast ausnahmslos zu Sonderlingen wurden, ob durch die gegenseitigeBeobachtung, ob durch die Notwendigkeit, sich gegen den Konformitätsdruck des Dorfes zu behaupten, ob durch den Schutz, den die Intimität des Dorfes seinen Bewohnern und Bewohnerinnen gewährte – aus welchem Grund auch immer. Mit der allmählichen Verstädterung aber, die sich innerhalb weniger Jahrzehnte aus der Technisierung der Arbeit und aus dem Anwachsen der Bevölkerung ergab, verschwanden die Geschichten. Sie verschwanden mit der Intimität des Zusammenlebens von Tieren und Menschen .und mit den so selbstverständlichen Indiskretionen, die aus der Enge der Verhältnisse im Liebevollen und Hilfreichen wie im Bösen erwuchsen.
Kein Wunder, dass Meir Shalevs Roman, der sich aus dem wuchernden und zugleich kunstvollen Geflecht dieser Geschichten aufbaut, anmutet wie ein Dokument aus vergangener Zeit. Gerade hierin mag, unausgesprochenerweise, eine zeitkritische Absicht die Dimension des Werkes durchdringen. Doch allein der Autor weiss, ob dies tatsächlich seine Absicht war oder nicht. Für uns Lesende, scheint mir, mag für einmal das Vergnügen genügen, den Geschichten zu folgen, bis sie sich am Schluss des Romans zur grossen Geschichte runden.
*)Diogenes Verlag, Zürich 1991