Kommentar für FriZ

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Menschen – Frauen, Männer, insbesondere Kinder – begeben sich nicht freiwillig in die Fremde, in die Staatenlosigkeit und Rechtlosigkeit, in psychische  und materielle Entwurzelung. Menschen werden zu Vertriebenen und Flüchtlingen gemacht. Dieser Vorgang ist zutiefst traumatisierend: er bewirkt eine – nur schwer wieder heilbare – Verletzung der seelischen Integrität. Die Verantwortlichen für diese – weltweit millionenfach zugefügten –  Traumatisierungen sind sowohl in den kriegführenden Ländern benennbar wie in der nichtkriegführenden Staatengemeinschaft, zu der auch die Schweiz gehört, welche mit wirtschaftlichen und politischen Massnahmen die kriegführenden Machthabenden gestützt haben und mit denen sie weiterhin Koalitionen aufrechterhalten – gegen die Opfer.

Die Mitverantwortung an der Verursachung des Flüchtlingsschicksals muss ihre Entsprechung in der Asylgewährung haben. Die Erkenntnis dieser doppelten Verantwortung, die schon für die Dreissiger- und Vierzigerjahre galt und die sich heute für damals allmählich im Bewusstsein einer grösseren Öffntlichkeit herauskristallisiert, führte 1952 zur Genfer Flüchtlingskonvention, die auch von der Schweiz ratifiziert wurde. Diese internationale, je national verbindliche Konvention beinhaltet die Verpflichtung der Aufnahmestaaten, Menschen nicht in Herkunftsgebiete auszuweisen, in denen ihr Leben, ihre Sicherheit und ihre Freiheit, ihre Würde weiterhin bedroht sind.

Zwangsausweisungen widersprechen dieser Konvention. Rückkehr darf nicht anders denn mit der vollen Zustimmung der Menschen erfolgen, um die es geht. Deren Widerstände und Ängste sind Ausdruck der erlebten Gewalt und müssen in der Asylpraxis ernstgenommen werden, damit das Asylrecht nicht zum Unrecht verkommt. Die gewählten und mit der Durchführung beauftragten Behörden eines Landes wie der Schweiz, das sich seiner „humanitären Tradition“ rühmt, sind in erster Linie angehalten, die Genfer Konvention umzusetzen und ihre Verantwortung in der Flüchtlingspolitik wahrzunehmen, unabhängig von populistisch interpretierten Ausländerstatistiken und durch entsprechende Medienkampagnen geschürte Ängste. Die heutige Abschreckungspolitik und Rückschaffungspraxis widersprechen dem Geist der Genfer Konvention. Die schuldhafte Vergangenheit, die gegenwärtig wie ein dunkles Familienerbe die Schweiz belastet, kann nicht aufgearbeitet werden, solange in der Gegenwart in derselben Weise gehandelt wird und die Staatsraison zur Legitimation einer menschenverachtenden Abschiebepolitik gebraucht wird.

Dass Zwangsrückschaffungen ein Unrecht sind, beweist nicht zuletzt der erbitterte Widerstand so vieler betroffener Menschen, die vor der Ausweisung stehen, Tausende von Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Bosnien wie aus Kosova, aber auch aus Algerien, aus Sri Lanka, aus Türkisch-Kurdistan, aus Zaire und aus vielen anderen Ländern, in denen menschenbedrohende Gewalt ein Leben in “Sicherheit und Würde” verunmöglichen. Das Unrecht besteht auf der politischen Ebene in der Nichteinhaltung der Genfer Konvention, auf der menschlichen Ebene, die uns zutiefst bewegt, in der Zufügung schwerwiegender Retraumtisierungen, d.h. schwerwiegenden, kaum heilbaren Leidens, das insbesondere die Entwicklung der Kinder auf nachhaltig verhängnisvolle Weise verstört.

Ich wünsche den Frauen und Männern in den verantwortlichen Institutionen – Bundesrat, eidgenössischem Parlament und kantonalen Parlamenten, Bundesamt für Flüchtlinge und Asylrekurskommission, kantonalen Regierungen und Fremdenpolizeien – eine wache und empfindliche Vorstellungskraft, die sie befähigt, das Leiden, die Ängste, aber auch die Lebens- und Glücksbedürfnisse kriegsgeschädigter, kriegsvertriebener Menschen zu verstehen, damit sie durch ihre Urteile und Entscheide eine Veränderung in unserer Asylpolitik bewirken – im Sinne der Genfer Konvention.

Zürich, 16. März 1999

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