“Versucht eine Frau zu dichten, so gilt sie gleich als unverschämt” – Über die Produktionsbedingungen weiblicher Kreativität heute
Artikel erschienen in der DAZ vom 23. März 1992
“Versucht eine Frau zu dichten, so gilt sie gleich als unverschämt”
Über die Produktionsbedingungen weiblicher Kreativität heute
Wie arbeiten Frauen als Schriftstellerinnen und Künstlerinnen? Warum ist es für die meisten so mühsam, ein Werk zu schaffen und dafür Anerkennung zu finden? Mit welchen Erschwernissen müssen sie fertig werden, zusätzlich zu den materiellen Alltagserfordernissen und Nöten, die sie mit schöpferisch tätigen Männern teilen? Es ist lohnend, den Gründen der Bedingungen auf die Spur zu kommen.
Vor mehr als dreihundert Jahren schrieb die 1661 geborene Lady Winchilsea Verse voller Ratlosigkeit.
“Meine Verse verlacht und mein Tun verachtet, als eitles Trachten, von Hochmut umnachtet”.
Die ständige Unterdrückung ihres schöpferischen Wunsches erfüllte sie mit Schwermut:
“Versucht eine Frau zu dichten,
so gilt sie gleich als unverschämt;
den Fehltritt kann keine Tugend schlichten.
Es heisst, wir verrieten unser Geschlecht.”
Empörung über die Verachtung, die ihrem “infamen Geschlecht” entgegengebracht wurde, diktierte auch gut hundert Jahre später, im Jahre 1793, Rahel Levin Varnhagens Ausruf: “Kann ein Frauenzimmer (etwas) dafür, wenn es auch ein Mensch ist?” Die Frage versuchte sie mit ihrer sprühenden Begabung zu beantworten. Ihrer Schwester Rose schrieb sie 1819: “Es ist Menschenunkunde, wenn sich die Leute einbilden, unser Geist sei anders und zu anderen Bedürfnissen konstituiert, und wir könnten zum Beispiel ganz von des Mannes oder des Sohnes Existenz mitzehren. Dann wäre jede Ehe, schon bloss als solche, der höchste menschliche Zustand. So aber ist es nicht. Erfüllen, erholen, utis ausruhen zu fernerer Tätigkeit und Tragen können die uns nicht, oder auf unser ganzes Leben hinaus stärken und kräftigen.” Ein paar Jahre früher hatte sie in einem Brief an den Jugendfreund David Veit noch festgehalten: “Ich habe die-gewaltige Kraft, mich zu verdoppeln, ohne mich zu verwirren. Ich bin so einzig, als(wie) die grösste Erscheinung dieser Erde. Der grösste Künstler, Philosoph oder Dichter ist nicht über mir. Wir sind vom selben Element. .. Und wer den anderen ausschliessen wollte, schliesst nur sich aus.” Der Schmerz, ausgeschlossen zu sein – nicht von bestimmten Ereignissen, sondern von · einer unangefochtenen existentiellen Selbstverständlichkeit in der Welt – nahm bei Rahel Levin Varnhagen jedoch mit zunehmendem Alter überhand und erstickte alle Funken ihres trotzigen Übermuts.
Für Virginia Woolf, wieder gut hundert Jahre später, waren die Voraussetzungen für weibliche Kreativität noch ebenso desolat, solange die Frauen nicht alles daran setzten, “ein Zimmer für sich allein” zu haben, das heisst, Geld zu verdienen und ihre künstlerische Fähigkeit nicht zu verleugnen. Denn diese Fähigkeit, hielt sie 1928 in ihrem kleinen Buch mit dem Titel “Ein Zimmer für sich allein” fest, sei ebenso gleichmässig über die Geschlechter verteilt wie die kartesianische Vernunft. Sie forderte die Frauen auf, nicht das Kindergebären und -aufziehen als eine der Auszeichnungen weiblichen Lebens geringzuschätzen, aber trotzdem einen eigenwilligen, schöpferischen Umgang mit der Wirklichkeit zu wagen, ein Zimmer für sich allein zu erkämpfen und Kunstwerke zu schaffen. Denn “das ist es, was übrigbleibt, wenn die Hülle des Tages in die Hecke geworfen worden ist”, schrieb sie. “Die Welt scheint von ihren Hüllen entblösst, und es ist ihr intensiveres Leben eingegeben.”
Und heute? Wie ist es heute? Die “Netzwerk”-Liste enthält rund 110 Namen von Frauen, die sich als Schriftstellerinnen, Dichterinnen, Journalistinnen, Übersetzerinnen, als Verfasserinnen von Film-, Video- oder Theaterwerken, kurz als “schreibende Frauen” bezeichnen. Analog zur Organisation FiT (Frauen im Theater) hat sich das Netzwerk als eine kulturelle Selbsthilfeorganisation der Frauen konstituiert, als eine Lobby der geistig und künstlerisch tätigen Frauen für Frauen, im Unterschied etwa zum Schweizerischen Schriftsteller- und Schriftstellerinnenverband, zur Gruppe Ollen, zum Schweizerischen Verband der Filmgestalter und – gestalterinnen oder zur GSMBA (Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten), die männliche und weibliche Mitglieder zählen. Dabei sind die Frauen in allen gemischten Verbänden deutlich in der Minderzahl, ja in der GSAMBA, die seit 1865 besteht, erhielten sie überhaupt erst nach der Einführung des – Frauenstimmrechts die Mitgliedschaft.
Nach einer Befragung, die Pro Helvetia im vergangenen Jahr unter Schriftstellerinnen und Küstlerinnen machte, ist die Untervertretung der Frauen in den Berufs- und Interessenverbänden (und vor allem in deren Vorstandgremien) nur ein Abbild des Geschlechterverhältnisses in allen kulturschaffenden Bereichen, das heisst überall dort, wo schöpferische Tätigkeit mit öffentlichem Ansehen und Einfluss verbunden ist, mit öffentlicher Anerkennung, mit Geld und Macht. Dass tatsächlich nicht weniger Frauen als Männer künstlerisch begabt sind, war schon für Rahel Levin Varnhagen oder für Virgina Woolf unbestritten. Warum sollte es heute anders sein? An Kunstschulen, Akademien oder beim Literaturstudium schreiben sich sogar mehr weibliche als männliche Studierende ein. Trotzdem erscheinen immer noch weniger – Bücher von Frauen als von Männern, es werden seltener Bildwerke und Malereien von Frauen als solche von Männern öffentlich ausgestellt oder prämiert, es gibt kaum Theaterdirektorinnen in der Schweiz und ebenso werden kaum je Theaterwerke von Frauen aufgeführt. Selbst bei der journalistischen Tätigkeit gibt es nach einer Untersuchung der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen vom Jahr 1990 ein Geschlechterungleichgewicht im Kulturbereich, und zwar weniger bei der Kulturberichterstattung als bei der redaktionellen Stellenbesetzung. Bei den 100 untersuchten Redaktionen macht der Frauenanteil in den Kulturressorts nur gerade 11 Prozent aus (im Bereich Sport dagegen 16 Prozent, in Wirtschaftsressorts 20 Prozent, in Ausland- und Inlandredaktionen 25 und 26 Prozent, in den Bereichen Alltag, Lebensstil und Konsumberatung dagegen rund 40 Prozent).
Diese Zahlen widerspiegeln die gesellschaftlichen Verhältnisse bei uns, wie sie noch immer als Regel gelten und wie sie sich nur zäh und träge verändern, nicht nur im Bereich der Kultur, sondern ebenso in Forschung und Wissenschaft, in Politik und Wirtschaft. Noch immer gelingt es Frauen nur in Ausnahmefällen, ihre intellektuelle, schöpferische, erfinderische oder organisatorische Kompetenz ausserhalb des privaten Rahmens oder ausserhalb des Erziehungs- und Sozialwesens, die traditionsgemäss zur Frauendomäne erklärt wurden, öffentlichkeitswirksam zum Tragen zu bringen. Der Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und Sprache aber entspricht demjenigen von Freiheit und Macht.
So ist es, seit unsere kulturbestimmenden Mythologien und Religionen ein ausschliesslich männliches Schöpferbild prägten und lehrten, vom jüdisch-christlichen Gott über Zeus und Prometheus zu Faust und Pygmalion, unabhängig davon, ob diese Schöpfer als Götter oder als Frevler verehrt wurden. Seit die griechische Polis die Agora wie die Akademie den Männern vorbehielt und Frauen, Sklaven und Kindern als “sprachlosen” Wesen den Bereich des Hauses zuwies. Seit das gelehrte Mittelalter die – bis in die Neuzeit nachhallende – Frage stellte, ob die Frau (was für das männliche Geschlecht nie angezweifelt wurde) überhaupt eine “anima”, eine schöpferische und auf Unsterblichkeit ausgerichtete Seele, habe. Seit die bürgerlichen Revolutionen Menschenrechte ausschliesslich als Männerrechte deklarierten und damit die Grundlage für die scheinbar “aufgeklärte” Männerherrschaft der bürgerlich- liberalen Gesellschaft schufen, die sich bei uns seither institutionalisiert und ständig zementiert hat. Erneut wurden die Frauen auf diese Weise – trotz Aufklärung und Revolutionen, trotz weiblicher Avantgardeleistungen seit Hunderten von Jahren – ins gut gepolsterte “Laufgitter” verwiesen, das Platz für Ehe, Haushalt, Kindererziehung, Wohltätigkeit, Kirche und ein bisschen Bildung liess, aber nur gerade soviel, dass aus Frauen nicht selbständig urteilende politische Wesen wurden. Jene, die aus dem “Laufgitter” ausbrachen, taten dies, nach bürgerlicher Redensart, “zum eigenen Schaden”. Für den Schritt hatten sie schwer zu zahlen – vor allem ‘mit dem Verlust von Sicherheit, wobei der Verlust der materiellen Sicherheit noch leichter gewogen haben mag als der Verlust der inneren Sicherheit, die darin bestand, dem Frauenbild der Männergesellschaft zu entsprechen, mithin “geliebt” und “moralisch konform” zu sein.
Aber eben, wie ist es heute? Mit der vor zwei Jahrzehnten bei uns zögerlich gewährten politischen Rechtsgleichheit wurde das von Generation zu Generation tradierte und institutionalisierte Freiheitsdefizit der Frauen noch lange nicht aufgehoben oder gar wettgemacht. Es wirkt weiter, kollektiv und einzeln. Es stellt eine der erschwerendsten Bedingungen für die schöpferische Arbeit der Frauen dar. Ob sie schreiben oder sich für ihr Werk anderer Mittel bedienen, ständig stossen sie an hemmende innere und äussere Schwierigkeiten, weil schöpferische Arbeit zutiefst mit Freiheit zu tun hat. Freiheit bedeutet Befähigung zum Subjektsein im umfassenden Sinn: Befähigung zum eigenen existentiellen Ausdruck, das heisst zur Formgebung existentieller Erfahrung – der gegenwärtigen, der erinnerten, der vorgestellten oder verdrängten – , zur Deutung und zur Sinngebung der subjektiv erlebten Realität, auch zur Fiktion und zum utopischen Entwurf. Ästhetische Formgebung aber ist – wie politisches Handeln – letztlich nur für sich selbst verantwortbar. Wie aber sollen Frauen sich diese schöpferische Fähigkeit zutrauen, nachdem sie ihnen traditionsgemäss abgesprochen wurde? Wie sollen sie für sich in Anspruch nehmen, was ihnen ihre Väter und Lehrer verwehrt haben und was ihnen ihre Mütter nicht vorleben konnten?
Es ist ein Wagnis, heute noch. Es ist ein Bruch mit der vermittelten bürgerlichen Moral. Es setzt einen Willen voraus, der der Verführung zum bequemen Weg – dem der Anpassung und des Verzichts auf den unsicheren eigenen .Weg – widerstehen kann, der die fortgesetzte Anstrengung nicht scheut, immer wieder einen Anfang zu setzen. Aber gerade darin tut sich die Freiheit kund – und das Glück der Freiheit.
Obwohl diese Überlegungen seit Lady Winchilsea’ s Klage immer wieder von Frauen ausformuliert wurden, sind sie heute, angesichts der reaktionären Entwicklung unserer Gesellschaft, von neuer Dringlichkeit. Das “Netzwerke” sieht seine wichtigste Aufgabe darin; dieser Dringlichkeit zu begegnen: durch eine gegenseitigen Stärkung der Frauen im Mut, den Anpassungs- und Unterwerfungsnormen der patriarchalen Moral eigene Masstäbe des Handelns entgegenzusetzen, nämlich: für sich zu sein, ohne gegen andere zu sein. Das heisst, dass sie die eigenen Begabungen und Bedürfnisse ernst nehmen und nicht an deren Berechtigung zweifeln, dass sie ein Werk schaffen und damit an die Öffentlichkeit treten, ohne zu fürchten, deswegen zu Rabenmüttern oder zu gefühlskalten Egozentrikerinnen zu verkommen, wie die tradierten Weiblichkeitsbilder es suggerieren. Das “Netzwerk” ist nötig, weil diese zugleich lebenspraktische und moralische Anforderung Angst macht, zumal sie nicht ein für allemal, sondern immer wieder neu bestanden werden muss. Die Angst aber, diese erschwerendste Folge der lange vorenthaltenen Freiheit, kann nur allmählich durch die Zustimmung zu den eigenen Fähigkeiten, nur durch das künstlerische Schaffen und die darin sich bewährende Freiheit überwunden werden.
Referat, gehalten am 21. März 1992 an der Jahresversammlung des “Netzwerks schreibender Frauen”.
und hier:
lies auch: “Hautprobleme oder was trennt Schwarz von Weiss – Zum neuen Erzählband von Irena Brezná” Rezension erschienen am 24. Februar 1992 im Tages-Anzeiger