Die grossen Städte

Die grossen Städte

 

Es wird in Zukunft nicht genügen,  den sparsamen Gebrauch der begrenzten Ressourcen der Erde zu fordern.  Es wird nicht genügen, die Dringlichkeit des sorgsamen Umgangs mit Wäldern und Luft,  mit Gewässern und Bodenschätzen immer wieder zu deklarieren und durch eine entsprechende  Gesetzgebung zu reglementieren. Es wird auch nicht genügen,  das Bewusstsein für die Gefährdung  seltener Tierarten  zu schärfen und diese vor der Ausrottung zu schützen.  Es wird nötig sein,  die Städte und das menschliche Leben in den Städten zum Thema ökologischer Sorge zu machen.

 

Orte des politischen und sozialen Fortschritts

Die Städte waren einst Zentren,  in denen sowohl individuelle Freiheit wie Gemeinschaftssinn  sich realisieren sollten. Plätze,  Strassen , Fluss- und Seeufer wurden angelegt,  um kulturelle,  politische und geschäftliche Aktivitäten zu ermöglichen,  in einer zunehmend durchlässigeren  und breiteren Öffentlichkeit.  Die Städte waren Orte der Bildung und des Handels,  Orte des gesellschaftlichen Bewusstseins,  Austauschs und Aufstiegs,  Orte möglicher Partizipation  an den Errungenschaften politischen und sozialen Fortschritts,  um die gerade in den Städten gekämpft worden war. Fortschritt bedeutete,  zum Beispiel, Mitbestimmung  am Geschick der Stadt, bedeutete gesunde, erschwingliche Wohnverhältnisse  nicht nur für die Reichen,  sondern auch für Arbeiterfamilien,  bedeutete sauberes Trinkwasser, Kanalisation und Schutz vor Verbrechen,  Schulen für die Kinder und Spitäler für die Kranken, ohne Unterschied der Herkunft und des Einkommens.  Der Preis,  der für die Vorzüge des Lebens in der Stadt zu zahlen war – Steuern und die Befolgung bestimmter Regeln,  auch der Verlust der Natur-, entsprach zumeist der angestrebten Partizipation  entweder am öffentlichen Leben oder an einer der Formen  besseren Überlebens,  die die Stadt bot. Ich will nicht in Bausch und Bogen idealisieren,  es gab auch in den Städten soziale Ausgrenzung und Kontrolle,  es gab Härte und Ungerechtigkeit,  und trotzdem:  die Städte waren Orte chancenreicheren  Lebens. Deswegen zogen sie Menschen jeden Berufs und jeder Herkunft an, die dazu beitrugen,  dass sich in den Städten ein pulsierendes,  reiches Leben entwickelte,  dass zudem jene architektonischen,  künstlerischen  und wissenschaftlichen  Schöpfungen entstanden,  die wir als kulturelles Erbe bezeichnen.

 

Einseitiges Renditedenken lässt die Städte veröden

Die Städte aber gehen kaputt,  seit Jahrzehnten in schleichendem,  nun in exponentiell gesteigertem Tempo, sowohl die kleineren Städte wie Zürich als auch die grossen Städte in  unseren Nachbarländern  und in anderen Kontinenten.  Aus Zürich werden die Menschen vertrieben und verdrängt, durch aggressive Bodenspekulation  und extreme Verteuerung der gesamten Lebenskosten.  Vielfältige,  chancenreiche Partizipation und politische Mitverantwortung machen Indifferenz und Resignation Platz. Die Stadt wird zu einem glitzernden Schaufenster des Luxus, der ebenso mit Polizeipräsenz bewacht wird wie die Stein- und Betonfestungen der Banken. Wer nicht zu den Grossverdienern zählt, findet kaum mehr eine Wohnung in der Stadt, da Wohnungen in den ausgekernten Stadthäusern unerschwinglich  sind. Nachts sind grosse Teile der Stadt wie ausgestorben.  Plätze, Flussufer und Strassen werden zumeist vom Verkehr beherrscht, die Menschen werden unter den Boden vertrieben,  wie zum Beispiel beim Bahnhofplatz.  Obdachlosigkeit und Verelendung nehmen zu. Wer sich dagegen auflehnt oder darob verzweifelt, hat nur die Möglichkeit wegzuziehen. Die Verhältnisse wären zwar in den überblickbaren Dimensionen einer Stadt wie Zürich noch zu sanieren, wenn Regierung  und Bevölkerung  sich über die Prioritäten der zu treffenden Massnahmen einige wären, um aus der Stadt wieder ein Ort vielfältigen Lebens und nicht allein wirtschaftlicher Rendite zu machen.

 

In den grossen Städten vergebliche Erwartung eines chancenreicheren Lebens

Im Gegensatz zum Problem musealisierender Versteinerung und renditebedingter Menschenvertreibung, das bei uns die Zerstörung der Städte beschleunigt, ersticken die grossen Städte andernorts buchstäblich an den Menschen, die sich dort – und nirgendwo  sonst – eine Chance erhoffen. Die Gründe sind mannigfach, häufig Flucht aus ländlichen Gebieten, wo Besitzlosigkeit,  wirtschaftliche und bildungsmässige Misstände, Kinderreichtum,  ökologische oder kriegerische Katastrophen· kein überleben gestatten.

Die grossen Städte sind buchstäblich  keine “normalen”  Städte mehr.  Sie sprengen alle urbanen Normen .. Im gleichen Mass, in dem sie wachsen, zerstören sie sich selbst. Deren Struktur ist sich bei allen Unterschieden ähnlich. Um einen historischen, funktionierenden Kern mit Geschäftshäusern, Banken und mit den Häusern der Reichen (falls diese die Stadt nicht verlassen haben und in Villenvierteln  ausserhalb leben), reihen sich Quartiere um Quartiere mit Gewerbebetrieben, Fabriken und Miethäusern, die zunehmend grauer und verwahrloster wirken,  bis sie an den äussersten Rändern in Baracken- und Hüttensiedlungen ausfransen.  Schon in Deutschland wuchern die grossen Ballungsgebiete, etwa Frankfurt, Hamburg, Berlin und viele mehr, in bevölkerungsmässig kaum mehr kontrollierbare Agglomerationen des Elends aus. Viele, die sich heir zusammenballen,  konnten sich noch vor wenigen Jahren einigermassen sicher über die Runden bringen, blieben aber auf Grund der steigenden Lebenskosten und der Stagnation in der Wirtschaft auf der Strecke. Dazu kommen monatlich Tausende aus den notleidenden Ländern des Ostens und der Dritten Welt, die vergeblich Unterkunft und Arbeit suchen. Die Zahl der Arbeits- und. Obdachlosen steigt ununterbrochen.  Genaue Zahlen gibt es nicht, nur Schätzungen:  in Berlin rund 20’000, in Hamburg rund 50’000,  in Köln etwa ebensoviele etc. Nach Evaluationen einer Bundesstelle in Bielefeld übertrifft heute die Zahl der Obdachlosen und der in Notschlafstellen Einquartierten  bei weitem die Zustände nach Kriegsende, als etwa 800 ‘000 Menschen unterwegs waren oder in schnell errichteten Barackensiedlungen hausten. Die Sozialhilfestellen sind überfordert, nicht nur finanziell. Was am dringendsten erfordert wäre – Arbeit und menschenwürdige Wohnungen  – kann nicht vermittelt werden.

 

Budgetverteilung zu Ungunsten der Stadtsanierung

Die Verhältnisse gleichen zunehmend denjenigen New Yorks, wo das Elend allmählich selbst in die eleganten Avenues vordringt.  Zwischen 75’000 und 100’000 Menschen aller Altersgruppen und Rassen fristen ihr Leben irgendwie auf der Strasse, unter Brücken, in Häuserruinen  und Kellern,  die meisten von ihnen arbeitslos, krank, drogensüchtig und von Hunger gepeinigt.  Gewalt und Kriminalität nehmen ständig zu. Im vergangenen Jahr starben gegen 3000 Menschen durch Gewaltverbrechen. Wegen ihrer schwer defizitären Finanzlage reduzierte die Sadt die Anzahl der sonst üblichen Müllabfuhr.  die Mittel für den sozialen Wohnungsbau wurden um Milliardenbeträge verringert. Die Misstände wachsen entsprechend an. Nach dem Urteil fachkundiger Urbanisten bräuchte es “nur” ein paar Milliarden Dollar,  um die agonisierende Stadt zu sanieren.  Doch trotz Steuererhöhungen wächst das Defizit – und damit die Verslumung  – der Megalocity. Die Reichen fürchten den Krieg der Armen und bewilligen weiterhin Dutzende von Milliarden für den Ausbau des Verteidigungssystems. Ueberall versagt die öffentliche Hand, weil angesichts der Komplexität der Probleme Gesamtkonzepte der gesellschaftlichen Reorganisation fehlen. Für die Besteuerung, für die Aufstellung öffentlicher Budgets, für die Verteilung der Gelder, der Arbeit und der Wohnanteile bedarf eines neuen, gerechteren  Schlüssels.  Zwar können Massnahmen zur Reurbanisierung verslumter Stadtbezirke in kleinen Schritten durch die Bewohner und Bewohnerinnen selbst realisiert werden, falls ihnen eine minimale Starthilfe von aussen gewährt wird, ob in Form von Know-How oder von Geld. Zwei Beispiele unter vielen möchte ich erwähnen:

 

Private Initiativen können im Kleinen Veränderungen schaffen

In den Elendsquartieren von San Salvador,  die – unter  anderem  – durch zurückkehrende Flüchtlinge aus Honduras ständig wachsen, .hat sich vor rund zwei Jahren eine Organisation gebildet, die sich Procomes nennt. Um dem Analphabetismus und der Arbeitslosigkeit abzuhelfen,  hat sie in einer der Randsiedlungen der Millionenstadt ein Ausbildungszentrum für Männer und Frauen geschaffen,  die als Lehrer und Lehrerinnen eingesetzt werden können. Anderswo hat sie Kurse für Zimmermanns- und Maurerarbeit organisiert, ebenfalls für.Männer und Frauen. Sie sollen befähigt werden, die provisorischen Bretterbehausungen selbst zu restaurieren, um die Familien gegen Nässe, Schmutz und Ungeziefer zu schützen. Als besonders dringend erachtet Procomes den Zugang der ärmsten Bevölkerung zu Krediten, um Werkstätten oder kleine Fabrikationsbetriebe aufbauen zu können. In einigen der Slumgemeinden hat die Organisation nun eine Art selbstverwalteter Kreditinstitute eingerichtet.  Das nötige Kapital versucht sie über ausländische Hilfswerke zu gewinnen.  Das schweizerische Arbeiterhilfswerk unterstützt dieses Projekt. Eine vergleichbare  Initiative ist aus Bangladesch bekannt, einem der ärmsten und menschenreichsten Länder der Welt.  Die Bevölkerung wächst jährlich um 2,6 Prozent,  das Bruttosozialprodukt  dagegen nur um 1  Prozent.  Etwa 80 Prozent der erwachsenen Männer und Frauen können weder lesen noch schreiben.  Mehr als 17 Millionen Menschen sind arbeitslos,  und jährlich  versuchen zusätzliche  1,3  Millionen Menschen,  sich auf dem Arbeitsmarkt  zu behaupten.  Angesichts dieser erdrückenden Misere kam ein einheimischer Wirtschaftswissenschafter,  Mohammend  Yunus, zur Einsicht,  dass nur die Befähigung  der Armen zur Selbsthilfe und zur Eigeninitiative eine positive Veränderung  der Lage bewirken kann. Zu diesem Zweck gründete er vor neun Jahren die Grameen Bank, eine weitgehend unabhängige,  genossenschaftlich organisierte Bank, die den Mittellosen Kredite zur Verfügung stellt. 25 Prozent des Eigenkapitals wurden durch den Staat zur Verfügung gestellt.  Von den über 600’000 Mitgliedern,  die die Bank heute zählt, sind beinah 90 Prozent Frauen.  Überall im Land verteilt befinden sich inzwischen Zweigstellen.  Bei 160 Millionen Dollar,  die bisher als Kredite ausbezahlt wurden  (beim landesüblichen Zinsfuss von 16 Prozent), macht die Rückzahlungsquote 98,3 Prozent aus, mehr als bei jeder anderen Bank in Bangladesch. Die einzelnen Kredite, die gewährt werden,  sind sehr niedrig;  sie reichen gerade aus, um etwas Saatgut zu kaufen oder einen kleinen Handwerksbetrieb aufzubauen.  Die daraus gewonnenen Erträge genügen jedoch,  damit eine ganze Familie die schlimmste Misere überwinden kann. Landflucht,  Entwurzelung  und Verwahrlosung  können dank der “Bank der Armen” nachhaltig gebremst werden. Wenig und zugleich viel, ein Beispiel  für die Kraft der Veränderung,  die von Kleinem ausgehen kann. Die Grameen Bank wurde in Malaysia und in Indonesien,  in Burkina Faso und in Mali,  sogar in Kanada und in den USA ein Vorbild zur konstruktiven Armutsbekämpfung.  Deich  diese Ansätze reichen bei weitem nicht zur Lösung der Probleme,  die die armutsbedingte  Landflucht und die Überforderung  der Städte stellen. Wie diese reorganisiert  und rekultiviert  werden müssen, damit sie wieder Orte der Partizipation  aller Bewohner und Bewohnerinnen werden,  damit deren nahrungsmässige, hygienische und medizinische Versorgung,  deren Bildung und Beschäftigung,  aber auch deren Zusammenleben  im Sinn des sozialen Friedens gewährleistet ist, muss als eine der dringlichsten Aufgaben der Oekologie – der Lehre des kollektiven  “Haushalts”  – gewertet werden. Die Regierungen der Städte sollten daher aus den tüchtigsten und mutigsten Männern und Frauen aus Architektur, Ingenieurwesen,  Wirtschafts-  und Steuerkunde,  Soziologie und anderen realitätsnahen, planerischen Bereichen gebildet werden,  die sich nicht des Prestiges,  sondern vor allem der Sozialpflichtigkeit  ihrer Arbeit und ihres Amtes bewusst wären.  Und die verfügbaren  Budgets müssten im Sinn dieser ökosozialen Priorität eingesetzt werden.

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