Fluchtgeschwindigkeit – Paul Virilio’s neueste Zivilisationskritik

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Fluchtgeschwindigkeit

Paul Virilio’s neueste Zivilisationskritik

 

Seit Informationen mit Lichtgeschwindigkeit übertragen werden, herrschen die Tyrannei der Echtzeit und der Zwang zur Bewegungslosigkeit. Die “Globalisierung” zieht unabsehbare Folgen nach sich.

 

“Wir sind die erste Generation in der Geschichte, die neben der Eroberung des Weltraums und besonders derjenigen der Echtzeit der Unmittelbarkeit auch die Entdeckung einer letzten Energieform erlebt, der kinematischen Energie, einer Energie in “Bildform” oder, wenn man es vorzieht, in “Informationsform”, die somit noch zur potentiellen und kinetischen Energie hinzukommt”. Die Maximierung des technologischen Fortschritts, wie er sich in den mit Lichtgeschwindigkeit übertragenen Informationen, in der vieldimensionalen Simulation von Realität sowie in der extremen Miniaturisierung  von Prothesen, von Kollektoren,  Sensoren und anderen hoch empfindlichen Geräten zeigt, bedeutet für Virilio  das Ende des Fortschritts, ja das Ende der Humanität.

 

Entgrenzung im Stillstand

Virilio zeichnet ein düsteres Bild einer Menschheit, die den Sinn für die Entfernungen und Weiten der Welt und damit gleichzeitig den Sinn für die Nähe verliert; die vor lauter Beschleunigung zum Stillstand, zur immobilen “Empfangsstation” verurteilt wird, bei der alles “ankommt”, ohne dass sie sich selbst auf die Reise machen müsste; die den Sinn für die Tiefenwirkung der Zeit verliert, da die alles beherrschende Echtzeit die Relevanz der geschichtsgenerierenden Lokalzeit aufhebt und zur Tyrannei der immerwährenden Gegenwart, damit zur “Kultur des Vergessens” wird.

Akribisch sammelt Virilio die Merkmale einer entgrenzten, globalisierten  Masslosigkeit und einer über Simulation erzeugten Ersatzrealität, die in allen Bereichen, selbst in der körperlichen Liebe,  die direkt erlebbare Realität ersetzt, und er warnt vor dem unausweichlichen “alllgemeinen Unfall”. Er fordert mit Insistenz eine “graue Ökologie”, welche die durch die Teletechnologien geschaffenenRaumzeitschäden, d. h. die Schäden im Bereich der  Relativität, analysiert und korrigiert. Und er fordert eine neue “Ethik des Sehens” sowie eine verantwortliche Regulierung der Codes, nach denen die Körper im Cyberspace dargestellt werden.

 

Prophetischer Gestus

“Was nützt es dem Menschen, das Universum zu gewinnen, wenn er seine Seele verliert”, zitiert Virilio die Bibel. Zunehmend entpuppt sich dieser scharfsinnige französische Zivilisationsanalytiker als “moraliste” in der Fortsetzung von Montaigne und La Rochefoucault. Unerbittlich, wie schon in seinen früheren Werken, legt er den Finger auf die prometheische Selbst- gefährdung der Menschheit. Dass er dabei die Negativfolgen hypostasiert, dass er die durch “Überbelichtung” zu erwartende “Verwüstung” der Welt als unausweichlich schildert, hat mit dem prophetischen Gestus des Aufklärers zu tun, der um die Nutzlosigkeit weiss, die Menschheit zur Skepsis dem eigenen Tun und Lassen gegenüber zu verpflichten.

 

Paul Virilio. Fluchtgeschwindigkeit. Essay. Aus dem

Französischen von Bernd Wilczek. Edition Akzente.

Carl Hanser Verlag, München / Wien 1996, 204 S.  Fr. 34.10

 

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