“Ich habe die Sprache gewählt” – zu Kristin T. Schnider – Ich wollte töten. Verlag Ricco Bilger, Zürich 1994

“Ich habe die Sprache gewählt”- zu Kristin T. Schnider. Ich wollte töten. Verlag Ricco Bilger, Zürich 1994

 

“Als Worttier, das nichts frisst, ohne es in Worte gefasst gehört oder gelesen zu haben, bin ich hilflos. Höre nur mit den Ohren. Sehe nur Unübersehbares”, schreibt sie im Text “Fremde Schwestern[1]. Das Worttier hört mit den Ohren nach Innen und nach Aussen, sieht mit den Augen das unübersehbar Verborgene und das Manifeste, gibt Sprache dem Verschwiegenen und dem sinnlich Wahrnehmbaren, findet sich im Finstern zurecht und in der durchschaubaren Syntax. “Ich habe die Sprache gewählt, den Umgang mit ihr zum Beruf gemacht”, erklärt Kristin T. Schnieder im gleichen Text. Dies muss genügen. Genügt es?

Ist sprachliche Professionalität ein ausreichender Grund dafür, dass Texte gelesen werden müssen? Eventuell ist es so. Die Frage muss geprüft werden. Ich neige dazu, Professionalität als immer rarere Eigenschaft einzuschätzen, als Eigenschaft, die im Zeitalter der fliegenden Jobwechsel, der Marketingzersetzung der Wörter und der Entwertung sinnmachender Aussagen, überhaupt des ganzen Überlebensblendungsbluffs, dessen Ergebnis taub- und blind- und blödmachende Effizienz ist,  zum Erkennungszeichen der Denkenden wird – der denkenden Schreibenden, der denkenden Sprechenden und Handelnden, der denkenden Liebenden, auch der denkenden Effizienzverweigernden. Professionalität verlangt Sorgfalt und Aufmerksamkeit für jedes Detail in der – eventuell – verwirrend unfassbaren Vielheit sprachlich möglicher Realitäten, sie macht grosse Genauigkeit in der Wahrnehmung ebenso unabdingbar wie Langsamkeit in der Unterscheidung und Verdichtung des Wahrgenommenen sowie bei dessen Verwandlung in Wörter. Doch gerade diese Verpflichtung zur Genauigkeit ist gnadenlos. Letztlich ist Sprache für diejenigen, die den Umgang mit ihr zum Beruf gemacht haben, die beklemmende Erfahrung des nie wettzumachenden Ungenügens angesichts der Tatsache der Welt. Diese Tatsache ist überwältigend, und keine Sprache ist ihr gewachsen. “Sehen und sehen. Nichts mehr sehen. Aber alles ist da. Millionen von Dingen, von Menschen sind da. Alles ist hier. Das Gegenteil von Leere, nicht wahr”, schliesst Kristin T. Schnider ihren jüngsten, hier vorliegenden Text.

“Ich habe das Unmögliche versucht: den Himmel zu beschreiben”, sagte sie mir, nachdem sie beschlossen hatte, “NYSky” aus der Hand zu geben. Zur Professionalität gehört auch das Eingeständnis der Abschliessbarkeit eines Textes, trotz dessen prinzipieller Unabschliessbarkeit. Dieses Eingeständnis relativiert einerseits das Werk, denn die Veröffentlichung macht aus dem Text eines der Millionen von Dingen, die wahrgenommen werden können oder deren Wahrnehmung verweigert werden kann; andererseits aber bedarf es der Freisetzung des Textes, damit er zum Buch wird, damit er, wie Kafka in einem Brief an Oskar Pollak schreibt, “uns mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt”. Professionalität, wie ich sie bei Kristin T. Schnider erkenne, bedarf dieser Freisetzung und wirkt daher – buchstäblich – emanzipatorisch. Unerbittlich legt sie den Lesenden auf, was sie sich als Schreibende selbst vornimmt und, indem sie ihren Anspruch an Professionalität einlöst, als mögliche neue Realität vorlegt: die Verweigerung aller Clichés, die Ablehnung aller vorgefertigten Bilder, die befreiende Selbstbescheidung, zu “sehen und zu sehen” oder “nichts mehr zu sehen”, wie es auch sei. Um “den Himmel zu beschreiben“, wählte sie nicht das sterneglitzernde Firmament über menschenleeren Firnen, sondern den instrumentalisierten, verschmutzten, weltähnlich übernutzten Himmel, der uns Grossstadtmenschen im Zeitalter der globalen Technologisierung aller Dimensionen, selbst jener der Vorstellung, als Dach über dem Kopf übrigbleibt. Dabei stellte ich lesend fest, dass in diesem Text, wie in früheren Texten Kristin T. Schniders, sich nach wenigen Zeilen eine seltene Faszination des Lesens einstellt, als ob das sprachgewordene genaue Sehen der Autorin zur Restitution der Unschuld verhelfe. Wie denn?  Ich weiss nur, dass der denaturierte Megapolis-Himmel in der Wahrnehmung von gleichzeitiger Ferne und Nähe, nicht anders als der dämmerhaft konturlose Körper in seiner Entrückung im Schlaf und in seiner Vertrautheit, als wie zum erstenmal erscheint.

 

[1] Fremde Schwestern, in: Ich wollte töten. Verlag Ricco Bilger, Zürich 1994

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