Flucht in den helvetischen Panzer – Über Machthunger und Gloablisierungsangst, über Zukunftsleere und Vergangenheitsucht
Flucht in den helvetischen Panzer
Über Machthunger und Gloablisierungsangst, über Zukunftsleere und Vergangenheitsucht
Als ich vor einigen Wochen an einem Abend durch das Quartier spazierte, in welchem ich wohne, prallte im Schaufenster einer Galerie ein Bild auf mich: ein Schweizerkreuz, dessen vier weisse Teile auf dem glühend roten Grund mit ungleich vielen dunkeln, fast schwarzen Flecken besetzt waren, Flecken wie Knoten, wie Pickel oder wie ausgebrannte Löcher. Um alle vier Teile herum war ein breiter Rand gemalt, wie eine finstere Abgrenzung.
Das Bild beschäftigte mich während Tagen, obwohl ich es kein zweites Mal mehr betrachten konnte; es war aus dem Schaufenster verschwunden. Ich empfand es als merkwürdig genaue Übersetzung des inneren Bildes der Schweiz, in welcher ich widersprüchliche Verdichtungen wahrnehme, ein dunkleres Rot, ein breiteres Weiss, aber überall schmerzhafte, verletzte Flecken und Löcher. Was meine ich damit? Einerseits sind kulturelle Verstärkungen festzustellen, darunter Neubelebungen regionaler Dialekte, religiöser Sitten und traditioneller jahreszeitlicher Feste, wie leuchtend helle Brücken zwischen Süden und Norden, Osten und Westen – das Bild des Kreuzes. Andererseits lässt sich ein politischer Rückzug der Schweiz ins nationalistische Rot hinein spüren, mit Abstimmungsresultaten, mit Wahl- und Gesetzesfolgen, ein von Rechtsaussen vorangetriebener, immer dunklerer Rückzug, in welchen sich auch jungen Menschen einhaken. Dieser nationalistische Helvetismus führt zu den Löchern und Brandwunden, die das Bild, das ich im Schaufenster sah, vom brennenden Rot auf die hellen, ineinander übergehenen Linien auswirken lässt, in meiner Wahrnehmung schwerwiegende, leidvolle Konsequenzen des fanatischen Helvetismusrückzugs für zahllose Menschen, die als nicht-schweizerisch, als „fremd“ herabgesetzt, geplagt und abgeschoben werden. Im staatsrechtlichen Bereich äussert sich dieser Helvetismusrückzug in der wiederholten, deutlichen Ablehnung aussenpolitischer Mitverantwortung (mit Ausnahme militärischer und wirtschaftlicher Interessen), im arbeitsrechtlichen Bereich in einer sich verschärfenden innenpolitischen Beeinträchtigung von Menschen, die über keinen Schweizer Pass verfügen (von Frauen noch diskriminierender zu erleben als von Männern), und im asylrechtlichen Bereich in einer immer härteren Erschwerung und Herabsetzung von Asylsuchenden, auch einer menschenrechtlich anklagbaren Ausschaffungsgewalt gegenüber wehrlosen Männern, Frauen und Kindern. Es findet sich im anwachsenden nationalistischen Helvetismus eine immer krassere Diskrepanz zwischen Menschen, die in materieller, kultureller und rechtlicher Hinsicht ihren Schweizer Pass mit dem weissen Kreuz wie einen breiten, eigenen Sessel benutzen, den sie allein benutzen dürfen, und die sich nicht um das brennende Rot scheren, das an Menschen, die sich an diesem Kreuz zu halten versuchen – häufig mit kraftlosen, geschwächten oder schon schwer verletzten Händen -, kaum heilbare, eventuell gar tödliche Verbrennungen verursacht. So füllen sich die breiten, weissen Linien mit dunkeln, eventuell zerstörten Teilen an, mit psychischen (teilweise auch körperlichen) Verletzungen, die nicht unsichtbar bleiben können und die ein Erschrecken bewirken.
Die Frage stellt sich, wie der zunehmende „Helvetismus“ zu erklären ist, auch wie es zu dieser Diskrepanz kommt, insbesondere wie sich der helvetische Nationalismus begründet.
„Helvetismus“ gründet von der Wortsymbolik her auf der pompösen Gestalt der „Helvetia“, auf dieser Mutterfigur, die seit Jahrhunderten als mächtige Beschützerin der Helvetier dargestellt wird, beruft sich aber zugleich auf die verbissenen Verteidiger des Alpenlandes, die seit Caesars „Bellum gallicum“ und seit Tacitus‘ „Germania“ als harte Kämpfer geschildert werden. Wie sich das Helvetier-Land später zur „Eidgenossenschaft“ freigestramplet hat, wiederum später zur Schweiz, gehört seit Jahrhunderten zur Mythologie. Erstaunlich ist, dass sich die Helvetier offenbar während zweitausend Jahren in ihrem sturen Selbstbehauptungswillen fortsetzten. Dem römischen Caesar erschienen sie in ihrem Verteidigungswillen als auffallend, zugleich als engstirnig-widerständisch, als wenig spielerisch. Heisst das, dass immer sschon Misstrauen, ja sogar Feindseligkeitsgefühle Fremdem gegenüber, d.h. Menschen, die anders sind, die „Helvetier“ gekennzeichnet hat? Interessant ist, dass bis heute allein schon die kantonalen Abgrenzungen in der Schweiz nicht nur mit der Betonung von religiöser und sprachlicher Differenz verknüpft sind, sondern von nicht verwechselbarem kantonalem Eigenwert – Ausdruck dessen, was als „Helvetismus“ auf nationaler Ebene gegenüber anderen Nationen, insbesondere gegenüber Menschen anderer Herkunft mit einem Macht- und Herabsetzungsverhalten gezeigt wird.
Auffallend ist, dass eng definierte Eigenheiten, die offenbar seit Jahrhunderten zur helvetischen Identität gehören, sich heute auf widersprüchliche Weise verstärken, obwohl in wissenschaftlicher und industrieller Hinsicht – d.h. im ganzen technologischen Bereich – Modernität und Fortschritt angestrebt werden, dass zugleich bei einem wachsenden Anteil der Bevölkerung nationale Ängste und wirtschaftlicher Machthunger feststellbar sind, begleitet von Fremdenhass, von Zukunftsleere und Vergangenheitsucht. Nochmals, wie ist all dies zu erklären?
Die Ursachen sind vielfältig. Zwei Hauptstränge bedürfen der Aufmerksamkeit:
Als wichtige Ursache erscheint mir die Durchsetzung von Globalisierungszwecken und von beschleunigten Technologiezwängen in der Wirtschaft, verbunden mit einer rücksichtslosen Desolidarisierung der Arbeitgeberseite mit den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen und, in der Folge, einer zunehmenden Destabilisierung der Arbeitsmarktsituation. Dazu gehört eine wachsende Zahl von beunruhigten, in ihrer Existenzsicherheit in Frage gestellten Männern und Frauen, auch von plötzlicher Arbeitslosigkeit, die häufig nach kurzer Zeit in Erwerbslosigkeit, teilweise in Ausgesteuertheit und Marginalisierung mündet. Zu diesen Opfern wirtschaftlicher Entwicklung gehören sowohl Erwachsene des Arbeiter- und des Mittelstandes, die über eine lange Arbeitserfahrung verfügen, wie junge Menschen, die dringend der stärkenden Erfahrung bedürften. Deren Ausgrenzung aus dem produktiven Teil der Gesellschaft bewirkt Selbstwertverlust, häufig Abhängigkeit von Fürsorge-, Sozial- und IV-Leistungen, bewirkt dadurch immer wieder eine persönlich nicht erträgliche Leere, die bewirkt, dass in Süchten Fluchtmöglichkeiten gesucht wird – in Spielsucht, Alkohol- und Drogenkonsum in anderen, selbst in kriminellen „Sinn“kompensationen.
Die Status- und Besitzwahrungsängste der in ihrem Sicherheits- und Wertebedürfnis verletzten Menschen ist verknüpft mit Wut gegenüber der Regierung und den Arbeitgebern, durch welche sie sich geprellt vorkommen, häufig aber ohne dass sie es wagen, diese anzuklagen. Verhängnisvoll ist, dass dadurch ein latenter, seit Generationen tradierter Sündenbockreflex aktiviert wird, der sich – als mehr oder weniger offener und aggressiver – Rassismus gegenüber Ausländern, Fremden und Juden äussert, insbesondere gegenüber asylsuchenden Menschen, die als „Bedrohung“ der helvetischen Sicherheit bewertet werden.
Eine andere wichtige Ursache findet sich in der langen Verweigerung einer nicht-mythologisierten Wahrnehmung und Aufarbeitung der Geschichte der Schweiz, insbesondere im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs. Durch den Druck, der seit dem Spätherbst 1996 von internationaler Seite her auf die Schweiz ausgeübt wurde, sahen sich die Regierung sowie die Spitzen der Wirtschaft gezwungen, endlich „über die Bücher” zu gehen (nämlich die seit Jahren von jüngeren Historikern und Historikerinnen publizierten Recherchen ernst zu nehmen) und nationales Vergehen auch öffentlich einzugestehen. Dabei geht es sowohl um die antijüdische, zum Teil unmenschliche Flüchtlingspolitik vor und während des Zweiten Weltkriegs wie um die Kollaboration von Regierung, Nationalbank und wichtigen Industrien mit Nazideutschland. Dass die Schweiz sich öffentlich auch bereit erklären muss, damit verknüpfte Schulden zurückzuzahlen, resp. aus der unrechtmässigen Bereicherung durch die Gold- und übrigen Geschäfte mit den Nazis sowie aus den – tatsächlich nachrichtenlosen – Vermögen der Opfer einen Fonds zu äufnen, der bewirkt, dass den noch lebenden, notleidenden Opfern der Naziverfolgung, deren Nachkommen sowie Opfern neuer Verfolgungen zugute kommen soll, der auch bewirkt, dass ein Teil der Bevölkerung darauf störrisch-nationalistisch reagiert und sich weigert anzuerkennen. Die geschichtliche Wahrheit wird als böswillige, anti-helvetische Erfindung gedeutet, mit spürbar antisemitischen und generell rassistischen Betonungen.
Die Frage, warum sich der Helvetismus auf politischer Ebene zuspitzt, muss noch tiefer untersucht werden.
Um in der heutigen Situation klarer zu sehen, ist es hilfreich, sich einer Situation zu erinnern, in welcher erstmals nationalistische Propaganda und Massenaufhetzung, Militarismus, Machtüberschätzung und Leichtfertigkeit im Abbrechen von Verhandlungen zu einem länderübergreifenden Krieg, zum Ersten Weltkrieg, geführt hatten. Etwa sechs Monate nach dessen Beginn schrieb Sigmund Freud zwei kurze Essays[1], mit Hilfe derer er jene Arbeit zu leisten versuchte, die wir heute tun müssen, nämlich zwischen dem Ansturm der Gefühle und der Hinterfragung der Ereignisse zu unterscheiden. Er hielt u.a. fest, dass es längst bekannt sei, „dass wir Unrecht daran tun, unsere Intelligenz als selbständige Macht zu schätzen und ihre Abhängigkeit vom Gefühlsleben zu übersehen. (…) Logische Argumente seien ohnmächtig gegen affektive Interessen, und darum sei das Streiten mit Gründen (…) in der Welt der Interessen so unfruchtbar“. Freud erklärt, dass die psychoanalytische Erfahrung diese Behauptung bestärke, indem sie alle Tage zeige, „dass sich die scharfsinnigsten Menschen plötzlich einsichtslos wie Schwachsinnige benehmen, sobald die verlangte Einsicht einem Gefühlswiderstand bei ihnen begegnet, aber auch alles Verständnis wiedererlangen, wenn dieser Widerstand überwunden ist.“
Bei Freud geht es um eine doppelte Erkenntnis, die ich kurz aufnehmen möchte. Als erste nennt er „die geringe Sittlichkeit der Staaten nach aussen, die sich nach innen als die Wächter der sittlichen Normen gebärden“, und als zweite „die Brutalität im Benehmen der Einzelnen“. Freud fühlt sich mit der Brüchigkeit und Unverlässlichkeit der Kultur konfrontiert, sowohl bei den einzelnen Menschen wie in der Ordnung des Zusammenlebens. Er fragt sich, wie es kommt, dass „die grossen weltbeherrschenden Nationen weisser Rasse, denen die Führung des Menschengeschlechtes zugefallen ist (…), deren Schöpfungen die technischen Fortschritte in der Beherrschung der Natur wie die künstlerischen und wissenschaftlichen Kulturwerte sind“, nicht in der Lage sind, kluge Konfliktregelungen zu finden. Und er fragt sich, warum Staaten, welche hohe sittliche Normen für jeden einzelnen Menschen auf ihrem Staatsgebiet aufstellen und deren Befolgung unter Strafe verlangen, und welche insbesondere Lüge und Betrug, sollte der/die Einzelne sich damit Vorteile schaffen wollen, auf schärfste verurteilen, diese Normen gerade von höchster Staatsebene aus aufs gröbste verletzen. Freud stellt auch fest, dass diese Normenverletzungen nicht nur begangen, sondern mit Hilfe einer Umkehrung der Argumentation als notwendig und als legitim erklärt werden, unter dem Vorwand, es handle sich um die Erfüllung empfindlichster allgemeiner Interessen. Ist es nicht vielmehr so, fragt er sich, dass es sich bei dem, was als „allgemeine Interessen“ ausgegeben wird, um partikuläre Interessen, um narzistische, ökonomische oder andere handelt?
Ich denke, dass die „Umkehrung“ der sittlichen Legitimation von Interessenbefolgung, dadurch die Legitimation von Gewalt („Umkehrung“ ist die eigentliche Wortbedeutung von „Per-version“) genau meint, was damit aufscheint: Die Nichtbefolgung der allgemeinen sittlichen Normen wird zur Norm erklärt. Ist dies der dunkle Teil des Helvetismus? Dass im Rekurs auf die Legitimität kollektiver Perversion infolge der vorgeschobenen (und deklarierten) kollektiven Gefährdung und/oder der Erfüllung übergeordneter kollektiver Interessen – seien diese nationalistische, wirtschaftliche, antisemitische, generell rassistische und xenophobe oder spezifisch ethnizistische -, beim einzelnen Menschen etwas Folgenschweres geschieht, untersucht Freud immer wieder erneut. Das Folgenschwere besteht darin, dass das Gewissen beurlaubt werden kann, da ja „alle tun“, wofür der Einzelne eigentlich Strafe und Ächtung befürchten müsste. So entsteht bei Ungezählten jene Bereitschaft zum Mitläufertum, zur öffentlich durch Uniformierung und Waffengebrauch zur Schau gestellten, mit Anderen schamlos geteilten Triebentfesselung, jene Bereitschaft zu ungehemmter Brutalität, die unter Bedingungen der sozialen Kontrolle sich sonst höchstens in der Phantasie oder in der Heimlichkeit des geschlossenen privaten Raums austobt und die dazu führt, dass die Funktion des Gewissens als hemmende Triebkontrolle aufgehoben wird (etwas Ähnliches wie bei der privaten Perversion, die als Sadismus bekannt ist).
Zum Abschluss möchte ich festhalten, dass die widersprüchliche Doppelbedeutung von Helvetismus nur knapp untersucht werden konnte. Nochmals möchte ich betonen, dass Helvetismus im Sinn der – häufig spielerischen – Wiederbelebung traditioneller Kultur ein Heimat- und Identitätsbedürfnis widergibt, das durch die Überflutung von globalisierten Marktprodukten aus einem kulturellen Hunger heraus geweckt wird. Die Verknüpfung dieses Bedürfnisses mit nationalistischen helvetischen Ideologien bewirkt jedoch eine bedrohliche Starrheit des Denkens und eine Skrupellosigkeit des Handelns, wie Freud dies im Zusammenhang anderer Nationalismen schon 1915 untersucht hat und wie es sich im Lauf des ganzen, eben vergangenen Jahrhunderts immer wieder bestätigt hat.
Helvetismus kann tatsächlich zum Panzer und dadurch zur bedrohlichen Selbst- und Fremdgefährdung werden. Soll Zukunft nicht von leidvollen Flecken und Löchern besetzt sein, sondern angstfrei ins Auge gefasst werden, muss die Vorstellung einer sich in Freiheit konstituierenden gerechteren Gesellschaft für alle gelten, die zusammenleben, unter Berücksichtigung der gleichen grundlegenden Bedürfnisse und Rechte. Die sich kreuzenden Brücken von Süden nach Norden, von Osten nach Westen – wie ich das Schweizer Kreuz verstehe – werden nur dank der federnden Elastizität der ständigen kritischen Potenz halten, dank der ständigen Erwägung der Richtigkeit und Angemessenheit der Handlungsentscheide. Ein mit Helvetismus einhergehender rassistischer Fremdenhass bedeutet im tiefsten Sinn Verlust dieser Potenz, das heisst Verlust der Freiheit, die ermöglichen könnte, unter verschiedenen Optionen des Handelns abzuwägen und auf staatlicher wie auf privater Ebene die menschenrechtlich klügere, den Menschen nicht schädigende und immer wieder korrigierbare zu wählen.
[1] „Die Enttäuschung des Kriegs“ (1915) und „Unser Verhältnis zum Tod“ (1915), in: Sigmund Freud, Studienausgabe Bd. 9, Fragen der Gesellschaft / Ursprünge der Religion, in welchem sich auch „Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), „Die Zukunft einer Illusion“ (1927), „Das Unbehagen in der Kultur“ (1929/30), „Warum Krieg?“ (1932/33, Briefwechsel mit Albert Einstein) u.a. m. finden.