Menschenrechtsskandal Armut – weder stumm noch unsichtbar

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Menschenrechtsskandal Armut – weder stumm noch unsichtbar

Hochschule für Sozialarbeit Zürich

 

 

Liebe Studierende

Ich will zuerst eine Geschichte erzählen. Sie handelt vom griechischen Weisen Sokrates, der vor mehr wie 2200 Jahren als Lehrer in Griechenland lebte. Mit einem Begleiter spazierte er einmal in Athen über den vor Köstlichkeiten überquellenden Markt, schaute sich um und bemerkte, wie viele Dinge es doch gebe, die er nicht brauche. Und ein anderes Mal, als die Freunde sich beeilten, sich zur Tafel zu setzen, spazierte er weiter durch die Stadt und antwortete auf die Frage, ob er denn nicht essen wolle, er fände es richtig, zuerst den Hunger einzukaufen. Sokrates war es auch, der die vielen Meinungen über die Natur des Eros berichtigte, indem er sagte, weder sei Eros ein Gott noch stamme er von vornehmen Eltern ab, etwa von Aphrodite und Zeus, wie immer erzählt werde. Nein, er sei der Sohn der Penia, der Bedürftigkeit, und des Poros, des göttlichen Wegefinders. Eros sei daher bei weitem nicht fein und schön, wie man so meine, sondern, seiner mütterlichen Herkunft entsprechend, unbeschuht und rauh, ohne Behausung, er schlafe vor den Türen, im Freien, immer der Dürftigkeit Genosse. Zugleich aber gleiche er seinem Vater, strebe nach Einsicht, nach dem Guten und nach dem Schönen, er sei einfallsreich und erfinderisch, doch was er sich schaffe, gehe ihm vorweg immer wieder verloren.

Was soll diese Geschichte, wo es darum geht, Ihre Aufmerksamkeit zu beanspruchen, um deutlich zu machen, dass die zunehmende Armut, vor allem die grosse Armut ein unerträglicher Menschheitsskandal ist, den gewähren und anwachsen zu lassen ein unverantwortliches und folgenschweres Unrecht ist ?

Die Geschichte soll zweierlei deutlich machen: Zum einen, dass Genügsamkeit und Verzicht auf Überfluss ein Ausdruck von Freiheit ist, der voraussetzt, dass nicht Not oder Hunger, dass nicht der Stress der dringenden Bedürfnisstillung und des Überlebens das Handeln bestimmen. Das Fehlen oder der Verlust dieser Freiheit macht das schwerwiegendste Leiden aus, das grosse Armut verursacht. Darauf gehe ich im ersten Teil meiner Ausführungen ein. Zum anderen soll die Geschichte zeigen, dass aus der Armut, selbst aus grosser Armut, eine Kraft erwachsen kann – Eros -, die danach strebt, Einsicht und Wissen zu gewinnen, um nicht mehr – jeder Unbill ausgesetzt und ums Überleben bangend – „vor den Türen zu schlafen“, sondern in teilzuhaben am Austausch der Menschen untereinander,  an jenen Fragen und Entscheiden, die alle betreffen, um teilzuhaben an der Entfaltung der eigenen Freiheit und damit an der Kultur. Darauf möchte ich im zweiten Teil meines Vortrags eingehen, jedoch ebenso sehr auf die damit verbundenen politischen Zusammenhänge in einer Demokratie wie auf die Ausbildungszusammenhänge und Zielsetzungen kluger, engagierter Studierender im Bereich der Sozialarbeit.

Zum ersten: Sie wissen dass die UNO das Jahr 1996 zum Jahr der Überwindung der Armut erklärt hatte und dass mit diesem Jahr den Beginn einer Dekade einsetzte, ein Zehnjahresprogramm, in dessen Rahmen alle Länder der Welt verpflichtet werden sollten, die Ursachen der Armut zu beheben. Vielleicht fragen Sie, ob das nicht eine Art von phantastischem Traum war (oder noch immer ist), eine Utopie? Vielleicht wenden Sie ein, Armut habe es immer gegeben, das gehöre eben zur Gesellschaft, so wie die Nacht zum Tag, dagegen könne man nichts tun?  Aber ist denn Armut ein Naturereignis? frage ich zurück? Ist Armut nicht das Resultat einer bestimmten Verteilung der Möglichkeiten zur – materiellen und immateriellen – Mehrwertschöpfung, d.h. zur Steigerung von Wohlstand und von Macht, jedoch nicht einer zufälligen, quasi naturhaften Verteilung, sondern einer sehr gezielten Ungleichverteilung?  Soll dadurch nicht ständig von neuem jene hierarchische Pyramide geschaffen werden, deren schmale Spitze Überfluss anhäuft und Privilegien verteidigt, Eigentums- und Machtprivilegien, welche durch den Ausschluss der vielen geschaffen werden, durch deren Abdrängen in Abhängigkeit, in Überlebensnöte, in – politisch und ökonomisch – manipulierbare Zwänge? Ist nicht der immer wieder gehörte Satz, jeder (resp. jede) sei seines (ihres) eigenen Glückes Schmied (Schmiedin?) ein Affront, wenn gleichzeitig behauptet  – und nicht nur behauptet, sondern mit aller Effizienz durchgesetzt wird – , Gerechtigkeit und Freiheit seien unvereinbar? Wenn behauptet wird, Gerechtigkeit sei der Freiheit hinderlich, dem freien Markt, der freien Expansion der Stärksten?  Ist dies nicht ein Affront, wenn den einkommensstärksten Schichten der Bevölkerung Steuerprivilegien zugestanden werden und gleichzeitig erwogen oder sogar beschlossen wird, für den Besuch der  Primarschulen wieder Schullgelder zu erheben, resp.selbst vor der obligatorischen Grundschule eine Zugangsbarriere  für die Kinder einkommenschwacher oder gar armer Bevölkerungsschichten zu schaffen?  Es ist tatsächlich ein Affront, und es ist mehr wie ein Affront. Es sind politisch und gesellschaftlich und ökonomisch unverantwortbare Fehlentscheide. Denn das Gegenteil der neoliberalen Behauptung trifft zu: Freiheit bedarf der Gerechtigkeit, damit sie nicht zur Tyrannei weniger über viele wird, und Gerechtigkeit bedarf der Freiheit, damit sie nicht zur totalitären Gleichschaltung wird.

Das mag abstrakt klingen, doch wenn wir unsere heutige Gesellschaft unter dem neoliberalen Marktdiktat näher anschauen, wird klar, warum ich einleitend sagte und nun wiederhole: Armut ist der grosse Menschheitsskandal unserer Zeit. Es gibt heute für die Armut keine  “Standort”-Ausreden mehr wie in der Vergangenheit, wo von sogenannt traditionellen Armutsgebieten und -populationen die Rede war. Heute ist es möglich, in kürzester Zeit grösste Mengen von Gütern – und von Soldaten – aus Marktinteressen zu verschieben, heute ist es auch möglich, in kürzester Zeit jede Art und Menge von Know-how zu verschieben, heute hat die Technologie in jedem Bereich (auch wenn ich nun lediglich den Transport und die Kommunikation erwähne) einen Grad des Fortschritts erreicht, der erlauben würde, dass jede Art von Mangel und jede Art von Ungerechtigkeit behoben sein könnten. Sie sind es nicht, und dies ist der grosse Skandal. Auf Grund der Tatsache, dass die Gerechtigkeit von der Freiheit abgekoppelt wird, dass sie als markthinderlich deklariert wird und ein Grossteil der politischen Verantwortlichen  in den Legislativen und in den Exekutiven beim Marktdiktat mitspielen oder dessen einseitiger Umsetzung zu dienen, werden Strukturen der Unfreiheit und der Existenzangst, der demütigenden Abhängigkeit und des beengenden, krankmachenden Stresses für Zehntausende und Hundertausende von Menschen in der Schweiz geschaffen, für Milliarden von Menschen weltweit.

Ich will mit ein paar Beobachtungen und Erfahrungen verdeutlichen, was ich damit meine: Als ich siebzehn Jahre alt, damals in der sechsten Klasse des Gymnasiums, meldete ich mich während der Sommerferien für einen Pro Juventute-Einsatz. Ich wurde in den Solothurner Jura in ein kleines Dorf geschickt, in eine Familie mit neun Kindern und einem blinden, pflegebedürftigen Grossvater, deren Armut ich während fünf Wochen teilte, wobei ich versuchte, die übermüdete, überanstrengte Hausfrau zu entlasten. Ich bewunderte sie: Sie klagte nie, sie hatte ihre Kinder und ihren Mann gern, sie versuchte, trotz der Enge und Morschheit des Häuschens, wo sie lebten, trotz der entsetzlichen Geldknappheit, trotz der Winterhilfe-Kleider, die kaputt waren, bevor die Kinder sie trugen, trotz des kargen und monotonen Essens, trotz alledem eine herzliche Stimmung zu schaffen. Immer versuchte sie, ihren Stolz zu wahren und etwas davon ihren Kindern mitzugeben.

Als ich erwachsen war, lernte ich die Armut in den Aussenbezirken und in den Schächten der Untergrundbahnen der grossen Städte kennen, in Barcelona zum Beispiel die Armut der arbeitslosen Landarbeiter, die mit ihren Familien aus Andalusien zugezogen waren, als Illegale am Rand der Stadt lebten und gar keine Chance hatten, irgend eine Arbeit zu finden, da sie weder lesen noch schreiben konnten. Oder in den nördlichen Banlieues von Paris die Armut der illegalen Immigranten und Immigrantinnen aus Ländern des Maghreb und des Ostens Europas. Aber auch in der Schweiz konnte ich ihr nicht ausweichen. Ende der achtziger Jahre begann das Schweizerische ArbeiterInnenhilfswerk SAH, Lese- und Schreibkurse für Erwachsenen zu organisieren Überall wurden sie angeboten, in den Städte und auf dem Land. In kurzer Zeit waren alle Kurse ausgebucht, die Nachfrage war enorm.  Ich war damals als Journalistin verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit beim SAH  und machte zahlreiche Interviews mit Frauen und Männern, die sich für diese Kurse angemeldet hatten, funktionale Analphabetinnen und Analphabeten, die von Kindheit an nur auf der Schattenseite der Gesellschaft gestanden hatten, Frauen und Männer meiner Generation, aus diesem Land, deren Biographien nicht anders lauteten als jene, die wir aus Fürsorgechroniken aus dem letzten Jahrhundert kennen, auch kaum anders als jene von Taglöhnerinnen und Taglöhnern aus Brasilien oder aus einem der vielen Armutsländer der Welt.

Was erfuhr ich aus diesen Lebensgeschichten? Da waren zumeist schon sehr beengte bis trostlose elterliche Verhältnisse, Überarbeitung von Vater oder Mutter oder Arbeitslosigkeit, Krankheit, manchmal Alkoholismus, Hilfsarbeit schon im Kindesalter von den frühen Morgenstunden bis in die Nacht hinein, Botengänge, Mitarbeit im Stall oder auf dem Hof, frühe Verantwortung für Geschwister oder fremde Kinder, eine enge Küche, in der die Schularbeiten beim besten Willen nicht gut gemacht werden konnten, Unpünktlichkeit und Unregelmässigkeit des Schulbesuchs, Rückstände, Rügen und Schläge durch den Lehrer, Gespött der übrigen Kinder, Kleider von der Winterhilfe, die zu gross oder zu klein waren, nie neue gute Schuhe, eine ständige Erfahrung der Minderwertigkeit, Abkapselung, Scham, hilflose Wut, häufig Fremdplazierungen, selten zum Guten des Kindes, manchmal schlimmste Ausnützung, selbst sexuelle Ausnützung. Eine Frau, zum Beispiel, lernte ich kennen, die  als Verdingkind mit zwölf – dreizehn Jahren  täglich während des Kirchenbesuchs der Bäuerin durch den Bauern missbraucht wurde, und da war keine Möglichkeit, über Gewalt und Not zu reden, da der Bauer es eingerichtet hatte, dass sein eigener Bruder zum Vormund des Mädchens ernannt wurde, da gab es keine Möglichkeit, Freundschaften zu pflegen, einen Beruf zu erlernen, dagegen wurde sie, wie viele, weitergereicht von einer Hilfsarbeit zur anderen, wurde in fremden Haushalten plaziert, wie viele, die als Mägde bei Bauern, als Hilfsarbeiterinnen in kleinen Fabrikationsbetrieben, als Hilfskräfte im Gastgewerbe, in Wäschereien für einen kleinen Lohn arbeiteten, so wie die Männer als Handlanger auf dem Bau und als Knechte in der Landwirtschaft, dann kam es zumeist zur frühen Heirat im gleichen Milieu, zu frühen und zahlreichem Schwangerschaften, und unversehens ging die bedrängte Jugend über in eine Ehe, die sich kaum von jener der Eltern unterschied, und das Unglück nagte an ihnen, den eigenen Kindern, die sie nun in die Welt stellten, nicht ein besseres Leben bieten zu können, als sie es selbst erfahren hatten. Krankheiten stellten sich ein, Betreibungen und Pfändungen, immer wieder erfolglose Stellensuche, Fürsorgeabhängigkeit, Wut, Kraftlosigkeit, Demütigung um Demütigung. Kein bisschen Schönheit, keine Freude. Dann plötzlich, von irgend jemandem aufgeschnappt, bot sich diese Möglichkeit, noch lesen und schreiben zu lernen, und plötzlich keimte die Hoffnung auf, vielleicht doch noch aus dem immer gleichen Kreis heraustreten zu können, vielleicht doch noch eine Chance zu haben, eine Stelle, eine bessere Stelle finden zu können, sich wehren zu können, geachtet zu sein.

Das hat mich bei all diesen Menschen, die in Armut leben und deren Leben ich kennenlernte, am meisten berührt: der Mangel an Achtung, der Mangel an Anerkennung, der Mangel an Glück, vor allem aber das Leiden über diesen Mangel. Für viele empfand ich grosse Bewunderung. Sie verloren ihre Würde nicht, im Gegenteil, sie schufen sich eine eigene Würde, so wie jene Familie im Solothurner Jura, die ich als Schülerin kennenelernt hatte. Andere aber erschienen mir als gebrochen. Woher sollten sie die Kraft nehmen, ihrem Leben eine positive Wende zu geben? Ihre Auflehnung mündete häufig in Wut, wodurch sie nicht selten in Situationen gerieten, in denen sie straffällig wurden – ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit und eigenen Verletztheit.

Wenn ich sage, Armut sei ein Menschenrechtsskandal, so begründe ich dies mit der Nichterfüllung der Grundbedürfnisse. Menschenrechte, Grundrechte haben ihre Allgemeingültigkeit in der Tatsache der gleichen existentiellen Bedürftigkeit aller Menschen. Diese Bedürftigkeit ist dergestalt, dass sie nur durch die Aufmerksamkeit der anderen Menschen und durch ihre Bereitschaft, sie zu stillen, das heisst durch ihr Handeln, ertragen werden kann, ob es sich um den physischen Hunger handle oder um den geistigen, um das Bedürfnis nach Erhaltung und Förderung des körperlichen Leben oder um das Bedürfnis nach Erkenntnis, nach Bildung, nach Liebe, nach Respekt, nach Partizipation an den Entscheiden, deren Folgen viele betreffen, ein ganzes Dorf oder eine ganze Stadt, nach Partizipation an der politischen und sozialen Verantwortung, ob es sich um das Bedürfnis nach Schönheit, nach Erholung und nach sinnhafter Arbeit handle. Niemand kann diese Bedürfnisse allein stillen, jedes Kind, jede Frau und jeder Mann ist dafür auf andere Menschen angewiesen. Nun ist es so, dass, indem ich die Grundbedürfnisse der anderen anerkenne und zu deren Stillung beitrage, ich mir das Recht erwerbe, dass meine eigenen Bedürfnisse anerkannt und gestillt werden. Da dies für alle Menschen so gilt, da bei allen die gegenseitige und wechselseitige Anerkennung der je gleichen Bedürftigkeit vorausgesetzt ist, wird der Anspruch auf Erfüllung der Gundbedürfnisse zum Menschenrecht. Von “universellen” Menschenrechten kann nur die Rede sein, wenn tatsächlich niemand davon ausgeschlossen ist: wenn der Gesellschaftsvertrag, den jede staatliche Verfassung darstellt, die Erfüllung der Grundbedürfnisse garantiert. Nun ist es jedoch so, dass dieser Anspruch noch in keiner Verfassung garantiert ist, sodass die universelle Menschenrechtserklärung Rethorik bleibt. Und der praktische Anspruch scheint nur für Menschen zu gelten, die “im Lichte stehen“ (wie Berthold Brecht diejenigen bezeichnete, die nicht in Armut leben), die über Mittel, über Geld und Publizität verfügen, damit sie ihre Rechte geltend machen können. Der gleiche Anspruch geht bei den Armen ins Leere. Sie verfügen weder über Publizität noch über andere Druckmittel. Es ist, als seien ihre Stimmen tonlos, obwohl sie einen riesigen Chor darstellen. Sie erfahren Verachtung statt Achtung, abgewendete Blicke statt Aufmerksamkeit, höchstens Fürsorge statt Partizipation. Selbst die Fürsorgeleistungen werden unter neoliberalen Bedingungen zunehmend reduziert.

Wenn die UNO der Überwindung der Armut vor vier Jahren so viel Gewicht beimass, dass sie  diese zur  höchstdringlichen Aufgabe erklärte, so hat dies damit zu tun, dass es sinnlos ist, Menschenrechtsdeklarationen zu verfassen oder Menschenrechtsverletzungen zu ahnden, solange die Menschen ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen können. Die Grundbedürfnsse sind allen Menschen, buchstäblich allen Menschen auf gleiche Weise eigen, unabhängig von Zeit und Herkunft, von Geschlecht oder Kultur. Die Grundbedürfnisse kennzeichnen das Menschsein, resp. die Menschheit in jedem Menschen. Sie haben zu tun mit der Körperlichkeit des Menschen, mit seiner Geistigkeit und Emotionalität sowie mit der gesellschaftlichen und politischen Organisation der Menschen. Dabei geht es beim ersten Bereich sowohl um das Bedürfnis nach gesunder und genügender Nahrung, nach Schutz vor Hitze, Nässe und Kälte, resp. nach hygienischen Wohnverhältnissen, nach genügender medizinischer Hilfe bei Erkrankung und nach nicht-entwürdigender Arbeit; beim zweiten Bereich geht es um das Bedürfnis nach Erkenntnis und Wissen, nach einer Stimme in der Gesellschaft, nach Anerkennung und Respekt der Person, nach Zuwendung und nach frei gewählten Beziehungen, auch nach Schönheit und Erholung; beim dritten Bereich geht um das Bedürfnis, das Zusammenleben im Kleinen wie im Grossen mitzugestalten und mitzubestimmen, ob im privaten Leben oder im öffentlichen, um nicht ein Objekt, sondern ein gesellschaftliches und politisches Subjekt zu sein. Für die Erfüllung dieser Bedürfnisse sind alle Menschen aufeinander angewiesen, ohne Ausnahme. Aus der wechselseitigen Anerkennung dieser vielseitigen wechselseitigen Abhängigkeit erwachsen die Grundrechte. Nicht die Grundrechte sind primär, sondern die Grundbedürfnisse. Armut, insbesondere grosse Armut, kennzeichnet sich durch die Nichterfüllung dieser Grundbedürfnisse. Die Verursachung und Duldung grosser Armut bedeutet letztlich die Aberkennung des gleichen Menscheins. Hierin liegt der Skandal der Armut, der Menschheitsskandal.

Es ist zunehmend dringlicher, dass klar wird, was die Nichterfüllung dieser Grundbedürfnisse für Menschen bedeutet, auch in der Schweiz, was Ursachen und Folgen dieser Nichterfüllung bewirken können. Eine der verhängisvollsten Folgen ist, dass da, wo keine Schönheit ist, wo nur gerade das Überlebensminimum gewährt wird, dass da Gewalt und Verzweiflung und das Bedürfnis nach Kompensation für erlittene Demütigungen in einem Mass anwachsen, das nicht mehr kontrollierbar ist, das zu weiterer Gewalt und Gegengewalt führt, deren Opfer die immer je Schwächeren sind, seien dies die Kinder und Jugendlichen, oder die Ausländerinnen und Ausländer unter den Armen, oder die sogenannten “Illegalen” unter den Ausländern. Die Aberkennung der gleichen Grundbedürfnisse grosser Gruppen von Menschen durch andere Menschen bedeutet einen bedrohlichen Verlust an Kultur, und die Nichterfüllung der Grundbedürfnisse führt nicht nur zu einem erbitterten Abgrenzungs- und Ausgrenzungskampf, sondern kann einen völligen Verlust der Kultur nach sich ziehen. Denn Kultur würde ja bedeuten, dass keine Menschen und keine Gruppen von Menschen gegen andere ausgespielt werden , dass keine zu Gunsten anderer diskriminiert werden, dass der gleiche Respekt vor jeder Besonderheit, vor jeder Differenz einhergeht mit dem Respekt vor dem gleichen Menschsein.

Damit Kultur, so verstanden, eine Chance hat gegen die Tyrannei des Marktes, der mit grosser Geschwindigkeit, allein auf Grund von Wettbewerbskriterien, eine wachsende Zahl von Menschen für unwert, für überflüssig erklärt und ausgrenzt, und damit Kultur eine Chance hat gegen die bedrohliche Entwicklung zu Gewalt  und gesellschaftlicher Auflösung, braucht es eine starke und spürbare Gegenbewegung, eine Bewegung des Widerstandes und zugleich der eigenen Dynamik, eine Bewegung, die ganz andere Ziele anstrebt. Von der Schicht der in Armut lebenden Menschen her, vom ständig wachsenden, scheinbar dunkeln Sockel der Pyramide her, ist es z. B. ATD Vierte Welt, die Ihnen heute vorgestellt wurde, die einen wichtigen Teil dieser Gegenbewegung auslöst. Die sogenannte “VierteWelt” mischt sich ein in die sogenannt “Erste Welt”, nicht mit den Mitteln der Gewalt, sondern mit den Mitteln der Kultur. In politischer Hinsicht ist die möglichst zunehmende Entwicklung linker und mittlerer Organisationen und Prteien, die einen Menschenrechtseinfluss auf die Demokratie-Entwicklung und damit auf Gesetzes- und Regierungsentscheide gewinnen. Und es ist die kluge und stärkende Berufsausbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, die wie Sie sich in in der beruflichen Arbeit einsetzen werden, dass die Grundbedürfnisse der Menschen nicht mehr ausgegrenzt werden, dass Eros nicht mehr “vor den Türen schlafen” muss, sondern dass er/sie in die Entscheidungsräume eintreten und an den kulturellen, an den sozialen und politischen Entscheiden teilhaben kann. Damit dies gelingen kann, braucht es ein Umdenken, braucht es Einsicht und braucht es vor allem einen politischen Willen zur Veränderung im Zugang, in der Verteilung und in der Reinvestition der Güter und des Profits, der gleichen Entwicklungschancen aller Kinder und des Wiederaufbaus zerstörter oder zusammengebrochener Lebensverhältnisse erwachsener oder alter Menschen. Ein Vorschlag unter anderen, die Paulette Bruppacher, die in den dreissiger und vierziger Jahren als Armenärztin in Zürich-Aussersihl wirkte, in ihrem 1952 erschienenen Lebensrückblick geschrieben hatte, war: “Warum soll der Staat, der die Mittel hat, wenn es sich darum handelt, Millionen zur Verbilligung des Weissweines auszugeben, um seinen Konsum und damit auch die Alkoholisierung des Volkes zu begünstigen, warum kann dieser Staat nicht Erholungsheime für überlastete Frauen gründen?”

Was Paulette Bruppacher meinte, betrifft viel mehr als „Erholungsheime“. Diese sind bloss ein Beispiel, das für eine ganze gesellschaftliche Realität mit allen komplizierten Zusammenhängen steht. Diese gesellschaftliche Realität spiegelt die bestehenden Prioritäten in der Verteilung der gesellschaftlichen Mittel. Was es braucht, ist, dass diese Prioritäten nicht von “oben”, nicht von der Spitze der Pyramide, sondern von den Menschen selbst bestimmt werden, im Sinn der Lebensqualität der vielen, die zusammenleben, und nicht der wenigen, die diese allein für sich beanspruchen. Einige dieser Prioritäten, wichtige, wie ich denke, haben Sie im Lauf dieser Woche auf intensive Weise aufgearbeitet.

Alles, was mit Armut, mit menschlicher Herabsetzung und Not zu tun hat, darf weder stumm noch unsichtbar sein. Dass Sie mit Ihrer Ausbildung und mit den damit verbundenen Berufszielen einen wichtigen beruflichen Weg vorbereiten, stützt die Hoffnung, dass es nicht wenige sind, die den Mut zu einer Veränderung der armutsschaffenden Verhältnisse haben, nicht wenige, die diese Veränderung anstreben und die junge und ältere Menschen, deren vielfache Not den Wert des lebendigen Lebens zutiefst beeinträchtigt, beim allmählich stärkenden Wiedergewinn der Menschenrechte, insbesondere des Rechts auf Freiheit unterstützen.

 

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