Zeitverhältnisse
Zeitverhältnisse
- Vorlesung: Gelebte Zeit
In fünf Vorlesungen und Diskussionen werden wir auf die Zeitverhältnisse eingehen, d.h. auf eine Reihe von Fragen, die sich auf die Zeit beziehen. Es wird zu klären sein, warum uns diese Fragen beschäftigen. Warum heute abend die gelebte Zeit? Es wird auch zu klären sein, warum die Erkenntnis der Zeit und die Verarbeitung der Zeitgeschichte aufwühlend ist, warum die Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens, der Kulturen, der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen wie der zahlreichen Kriege als zeitabhängig verstanden wird. Auch werden Ängste aufzuarbeiten sein, die aus der Zeitvergänglichkeit entstehen und Fragen nach deren Verarbeitung. Was überhaupt die Zeit ist, wird uns auf unabschliessbare Weise beschäftigen.
Die Frage nach der Zeit wühlte seit jeher die Menschen auf. Augustinus, zum Beispiel (im Jahr 354 im nordafrikanischen Thagaste geboren, 430 in der Nähe von Karthago gestorben), fragte sich „Was aber ist die Zeit?“ und hielt fest: „Wenn mich niemand danach fragt, weiss ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiss ich es nicht. Aber zuversichtlich behaupte ich zu wissen, dass es vergangene Zeit nicht gäbe, wenn nichts verginge, und nicht künftige Zeit, wenn nichts herankäme, und nicht gegenwärtige Zeit, wenn nichts seiend wäre. Diese beiden Zeiten, Vergangenheit und Zukunft, wie sollten sie seiend sein, da das Vergangene doch nicht mehr ‘ist’, das Zukünftige noch nicht ‘ist’? Die Gegenwart hinwieder, wenn sie stetsfort Gegenwart wäre und nicht in Zukunft überginge, wäre nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit? Wenn also die Gegenwart nur dadurch Zeit ist, dass sie in Vergangenheit übergeht, wie könnten wir dann auch von der Gegenwartszeit sagen, dass sie ist (…)?“
Augustinus Fragen machen die Unabschliessbarkeit der Auseinandersetzung mit der Zeit deutlich, mit jedem Zeitbezug, mit jeder Zeiterfahrung und allen Zeitverhältnissen. Ich werde im Lauf der fünf Vorlesungen nicht nur auf zahlreiche Fragen eingehen, sondern auch auf Theorien, auf wissenschaftliche Erarbeitungen und auf bedeutungsvolle Überlegungen. Dies gilt auch für den heutigen Abend. Ich werde sowohl auf die wissenschaftliche und persönliche Arbeit bei der Klärung der Zeit und der Zeitverhältnisse eingehen wie insbesondere auf die gelebte Zeit.
Welche Fragen gehen dieser Arbeit voraus? Geht es in erster Linie um die Klärung des menschlichen Werts und der persönlichen Bedeutung der Zeit? Interessanterweise verband Immanuel Kant – er lebte von 1724 bis 1804 – im hohen Alter mit drei Fragen, die er in einem Brief schrieb, die Aufgaben, die sich den Menschen in der gelebten Zeit stellen. Sie lauten: „Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir glauben?“ (Auf Kants Zeittheorie werde ich in der nächsten Vorlesung eingehen).
Ich meine, dass die Frage, welche die Unklarheit des in der gelebten Zeit erarbeitbaren „Wissens“ thematisiert, unter vielem anderen mit der Verarbeitung und dem Verstehen der menschlichen Entwicklung verbunden ist, ob diese in weit zurückliegenden oder in nahe stehenden Aufzeichnungen festgehalten werde, ob dadurch wissenschaftliche, literarische oder künstlerische Arbeit zustandekomme, philosophische und psychoanalytische, deren sorgfältige, auch vergleichende und kritische Lektüre bedeutungsvoll ist. Die Frage stellt sich auch bei der häufig schwierigen Aufarbeitung eigener Herkunfts- und Beziehungszusammenhänge, damit eigener Zeiterfahrungen, die sich teilweise der Erinnerung entziehen, sich teilweise aber auf eigenartige Weise im Unbewussten gespeichert haben und die sich häufig in Träumen mitteilen, auf geheimnisvolle oder auf klare Weise.
Jede Art der Erarbeitung des Wissens ermöglicht, der von Kant formulierten Frage nach dem erforderten guten „Tun“, nach dem guten Handeln näherzukommen, die unter den häufig eng einschränkenden familiären Bedingungen oder unter den beängstigenden Zeitverhältnissen unklar ist und die individuell erarbeitet werden muss. Sowohl die familiären Bedingungen wie das eigene Lernvermögen, die damit verbundene Ausbildungsentwicklung, die Erfahrungen von Liebe und Enttäuschung wie alle persönlich erlebten Beziehungen, ebenso die politischen und sozialen Engagements und beruflichen Entwicklungen beeinflussen das menschliche Tun. In all diesen Zusammenhängen stellt sich die Frage, was das Tun bewirkt und bedeutet, wie es die Zeit beeinflusst oder durch Zeitbedingungen begrenzt wird. Diese Aufgabe stellt sich ebenso bei der von Kant formulierten dritten Frage, die sich auf die religiös definierten, häufig bedrängenden Unklarheiten und Bedürfnisse des „Glaubens“ bezieht. Denn zahlreiche Menschen, die unter der begrenzten oder spürbar bedrohten Zeitlichkeit leiden, ordnen sich einer der Religionen ein, die von unterschiedlicher kultureller Bedeutung und Geschichte sind, unter welcher sie aufgewachsen sind oder die sie selber gewählt haben. Auf die dritte von Kant formulierte Frage einzugehen, wird die fünfte Vorlesung und die damit verbundenen Gespräche beeinflussen, während die beiden anderen Fragen durch die vier sich ab heute entwickelnden Abende zum Teil beantwortet werden.
Die Frage nach der gelebten Zeit zu klären, hängt tatsächlich in starkem Mass von Erinnerungen wie vom erarbeitbaren Wissen ab. Doch dabei stellt sich die Frage, ob es beim Nachdenken und Aufarbeiten eventuell um Eitelkeit geht oder um eine weiterführende Verbesserung der gelebten Zeit. Was ist damit gemeint?
Wiederum will ich auf ein Beispiel eingehen. Vor etwas mehr als 350 Jahren hielt der 1632 in Amsterdam geborene Baruch de Spinoza eine Überlegung fest, die eventuell den Bedürfnissen nahe kommt, die Sie bewegen. Spinoza schrieb: „Nachdem mich die Erfahrung belehrt hat, dass alles, was das gewöhnliche Leben häufig bietet, eitel und nichtig ist, und ich gesehen habe, dass alles, was ich fürchtete und was Angst vor mir hatte, Gutes und Böses nur soweit enthält, als es das Gemüt bewegt, so beschloss ich, endlich zu erforschen, ob es ein wahres Gut gibt, das seine Güte für sich allein, ohne Beimischung anderer Dinge, dem Geist mitteilen kann: ja, ob es etwas gibt, durch dessen Auffindung und Erlangung stete und höchste Freude für immer gewonnen werden kann“ (aus: Über die Vervollkommung des Verstandes).
Ich gehe davon aus, dass unsere Denk- und Erkenntnisbedürfnisse Spinozas Entschluss nahe kommen, nämlich die ängstigenden und wohltuenden Zeitgeschehnisse und die eigenen Zeiterfahrungen denkerisch zu untersuchen, zu verarbeiten und weiterzuentwickeln. Sein Ziel war, aus dem erlangten Wissen „stete und höchste Freude“ für das noch bevorstehende Leben zu gewinnen, war doch die von ihm gelebte Zeit, die ich knapp schildern will, aufwühlend.
Der 1632 in Amsterdam geborene Sohn einer aus Spanien geflohenen jüdischen Familie war damals, als er „Über die Vervollkommnung des Verstandes“ schrieb, noch nicht dreissig Jahre alt. Mit vierundvierzig Jahren, am 21. Februar 1677, starb er, nicht zuletzt infolge einer schweren Lungentuberkulose, die er sich schon Jahre vorher durch das Schleifen optischer Gläser zugezogen hatte. Den Handwerksberuf hatte er während der Jugend erlernt, zusätzlich zum Studium aller wichtigen hebräischen und lateinischen Abhandlungen. Die Sprachen zu erlernen gehörte zur Kindheit, wie dies für jüdische Knaben üblich ist, die darauf folgenden Lektüren, Kritiken und Neuentwicklungen philosophischer Werke setzten unmittelbar nachher ein. Er war erst 23 Jahre alt, als er infolge persönlicher Äusserungen zu Glaubensfragen auf härteste Weise aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen wurde. Doch was schmerzend und zutiefst verletzend war, eigentlich kaum erträglich, bewirkte bei Spinoza keine Vereinsamung, beeinträchtigte auch seine innere Freiheit nicht. Sein Denken und Schreiben, in Buchtexten festgehalten, von denen er bloss ein einziges Buch selber veröffentlichte, und in Briefen, führten zu einer zunehmenden philosophischen Bewunderung und Anerkennung, ohne dass er dadurch sein bescheidenes Leben aufs geringste verändert hätte.
Die Überlegungen zu Spinoza mögen ein erster Einstieg sein. Als zweiten Einstieg stelle ich ein paar Auszüge aus Traumaufzeichnungen vor, die dem jungen Albert Einstein, der 1879 zur Welt kam und 1955 starb, während seines Aufenthalts in Bern zugeordnet werden, in einem Buch, das der amerikanische Astrophysiker Alan Lightman auf faszinierende Weise geschrieben und unter dem Titel „Und immer wieder die Zeit“ veröffentlicht hat.
„Ich möchte die Zeit verstehen, um dem ‘Alten’ nahezukommen“ (S. 58), gestand Albert Einstein seinem Freund Michele Besso während eines Spaziergangs durch Bern. Er war noch sehr jung, kaum viel älter als zwanzig, als er sich unablässig mit dem Verhältnis von Raum und Zeit beschäftigte und sein Erkennen vorweg vertiefte. Schon vor dem Gespräch, als Einstein einen seiner Träume überdachte, verstand er, dass „so, wie sich alles in Zukunft wiederholen wird, alles, was jetzt geschieht, zuvor bereits millionenfach geschehen ist“ (S. 16). Immer wieder, in nicht zählbaren Hunderttausenden von Jahren, wird ein Mensch geboren, durchlebt und beendet die eigene Zeit, in nicht erfassbaren, unendlich zahlreichen Lebensgeschichten. Was Einstein träumte, beängstigte ihn nicht. In einem darauf folgenden Traum spürte er eine noch stärkere Zuversicht. Ihm wurde durch die Traumgeschichte bewusst, dass „eine Welt, in der die Zeit absolut ist, eine tröstliche Welt ist. Denn während die Bewegungen der Menschen unvorhersehbar sind, ist die Bewegung der Zeit vorhersehbar. Während man an den Menschen zweifeln kann, ist an der Zeit nicht zu zweifeln. Während die Menschen vor sich hinbrüten, springt die Zeit vorwärts, ohne zurückzublicken“ (S.43).
Ist an der Zeit tatsächlich nicht zu zweifeln? Gilt dies für alle Menschen? Was Albert Einstein seit dem frühen Erwachsenenalter beschäftigte und was er durch seine weitreichende wissenschaftliche Arbeit ständig fortsetzte und vertiefte, auch in den Jahren der Flucht wegen der nationalsozialistischen Lebensbedrohung, werden wir in einem anderen Zusammenhang weiter angehen, um mehr Klarheit zu gewinnen. Wir wollen uns fragen, wie sich die Zeit verstehen lässt, indem wir uns nun mit der individuellen Zeiterfahrung des einzelnen Menschen beschäftigen, mit der gelebten Zeit.
Wie gehen wir voran? Wiederum bedarf es einer – eventuell mäandrischen – Klarstellung des Denkens, um Erkenntnis zu ermöglichen.
Im Jahr 1889 erschien in Frankreich unter dem Titel „Essai sur les données immédiates de la conscience“ ein Buch voller bahnbrechender Erkenntnisse, das 1911 in Deutschland erschien und „Zeit und Freiheit“ hiess. Der Autor des Buchs war der 1859 geborene Henri Bergson, ein Denker von ungewöhnlicher Bedeutung, der erst 1941 in Paris starb, kurz nachdem die deutsche Nazi-Armee nach wenigen Kriegsmonaten gesiegt und begonnen hatte, jedes jüdische Leben zum Zweck der Abschaffung und Tötung zu registrieren, auch ihn, trotz seines hohen Alters. Bergson, der einige wenige Male auch Albert Einstein begegnet war, von dessen Raum-Zeittheorie er nicht viel hielt, hatte im erwähnten Buch den Begriff der gelebten Zeit entwickelt. Dabei hielt er fest, dass die eigentlichen Kriterien für die Messung der zeitlichen Momente und Intervalle des Lebens nicht quantitativer, sondern qualitativer Art sind, nämlich Kriterien der Intensität. Diese wird in Bewusstseinszuständen erlebt, in denen die aktuell erfahrene Zeit mit der vergangenen und der vorweg sich entwickelnden in eine Synthese gebracht wird, die Bergson als das Phaenomen der Dauer erklärt. Die innere Verschiedenheit des unmittelbar Erlebten und des vorher Erlebten offenbart sich in einer spezifischen Erkenntnis, die er Intuition nennt und die er als die eigentliche Methode des Verstehens der gelebten Zeit bezeichnet.
Die Philosophie befasste sich weiterhin mit der Zeit, jedoch selten im Sinn Bergsons mit den beim einzelnen Menschen von der frühen Kindheit an erfahrenen Zeitbedingungen und den verschieden erlebten und zum Teil aufgearbeiteten Zeitzusammenhängen – dem gelebten Leben. Einerseits wurden/werden diese auf bedeutungsvolle Weise literarisch wiedergegeben, andererseits werden sie durch die Psychologie und die Psychoanalyse erarbeitet. Ich beziehe mich in erster Linie auf die durch Sigmund Freud Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert in Wien bis zur nationalsozialistischen Bedrohung seiner selbst – damals alt und krank – erarbeiteten und veröffentlichten Erfahrungen, Untersuchungen und Ueberlegungen. (Er starb 1939 in London, wohin er fliehen konnte, mit 83 Jahren). Freud war nicht der früheste Entdecker der geheimnisvollen psychischen Entwicklungen einzelner Menschen – auch seiner selbst -, aber er war ohne Zweifel der bedeutungsvollste Begründer sorgfältiger und sich weiterentwickelnder psychoanalytischer Arbeit, die noch in seiner Lebenszeit, bis heute, auf unterschiedliche Weise weitergeführt wurde und wird. (Interessant ist, dass auch ein bewegender, später Briefaustausch zwischen Sigmund Freud und Albert Einstein stattfand).
Freud selber besass umfassende Kenntnisse vorausgegangener Literatur, auf die er zum Teil literarisch einging. In der europäischen Denkgeschichte finden sich seit den Vorsokratikern, insbesondere seit Platon (427-347 vor Chr.), in allen Jahrhunderten Aufzeichnungen von Träumen, von persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen des gelebten Lebens, häufig verbunden mit Denkprozessen. Dass sich das Erkennen jedoch nicht in einer ausschliesslichen Abhängigkeit von der Wissenschaftlichkeit entwickelte, wurde eindrücklicherweise auch Albert Einstein klar, der selber Wissenschaftler war. Wiederum schildert Lightman einen Traum, in welchem Einstein bewusst wird, dass „Wissenschaftler in dieser akausalen Welt hilflos sind. Ihre Vorhersagen werden zu nachträglichen Erklärungen. Ihre Gleichungen zu Rechtfertigungen, ihre Logik zu Unlogik. Wissenschaftler sind leichtsinnig und stammeln wie süchtige Spieler“ (S. 48).
Die Frage ist, ob die Philosophie durch den psychoanalytischen Einbezug in ihrer denkspezifischen Weiterentwicklung beeinträchtigt werde, bei der Frage nach der gelebten Zeit wie bei weiteren Aufgaben, die sich der Logik entziehen.
Ich bin der Ansicht, dass dies in keiner Weise zu befürchten ist, auch nicht beim Einbezug literarischer Werke. So wurde zum Beispiel die von Shakespeare geschriebene Klage Hamlets über die Schwierigkeit, die in Verzweiflung versetzende Zeit als Epoche mit der eigenen gelebten Zeit in Übereinstimmung zu bringen, von der Philosophin Hannah Arendt (sie starb 1975 in New York, wohin sie 1941 nach der Besetzung Frankreichs durch Nazi-Deutschland fliehen musste) mehrmals zitiert, um die Bedingungen des von ihr gelebten Lebens, der „Wüstenbedingungen“, wie sie schrieb, verständlich zu machen. „The time is out of joint, the cursed, spite I was born, to set it right“ (Hamlet, I,5). Wie sie in verschiedenen Texten immer wieder festhielt und in der eigenen Lebensgeschichte vorlebte, entwickelt sich das gelebte Leben zwischen „Gebürtlichkeit“ und „Sterblichkeit“ vorweg dank der Freiheit, das heisst dank der wunderbaren Fähigkeit des Menschen, etwas Neues beginnen zu können. (Auf die Freiheit werde ich später noch eingehen, ausführlicher in den nachfolgenden Vorlesungen).
Worauf bezieht sich jedoch die menschliche Lebenserfahrung vor dem Geborenwerden, vor der „Gebürtlichkeit“? Beginnt die Erfahrung der gelebten Zeit schon zur Zeit der kindlichen Verborgenheit im Bauch der Mutter?
Tatsächlich ist die Empfindungsentwicklung des noch ungeborenen Lebens auf geheimnisvolle Weise verknüpft mit der Art und Weise, wie die Mutter während der Schwangerschaft ihre eigene sich verändernde Zeit erlebt, in Bezug auf sich selber, in Bezug auf das Kind, das sie erwartet, wie hinsichtlich der gemeinsamen Lebenszusammenhänge. Neun Monate des sorglosen und friedlichen Lebens wirken sich anders aus als Monate der körperlichen oder seelischen Not, und häufig wird der Unterschied schon beim Geborenwerden des Kindes spürbar, bei dessen „Gebürtlichkeit“, womit die nicht mehr verborgene gelebte Zeit beginnt. Tage und Nächte der Bedürfigkeit, der Abhängigkeit, der sich entwickelnden Wahrnehmungen, eventuell gefährlicher Erkrankungen, des Erfahrens und Erlebens der Lust oder der schwierigen und einschränkenen Bedingungen, in allem, was der Knabe oder das Mädchen zutiefst benötigt, die Brust der Mutter, ihre Hände, ihre Wachheit, ihr Erspüren und Erhören der allmählich sich verändernden kindlichen Bedürfnisse, ihr Verstehen der Entwicklung des kleinen Mädchens oder Knaben, deren sich verändernde Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Wärme der mit ihnen verbundenen Menschen, das Erspüren des Lichts, immer wieder ein schmerzbedingtes Leiden oder ein Glücksgefühl, ein Lächeln, die sich fortsetzende Beziehungsfreude oder die Ängste, die sich vorweg verändernden Bewegungsmöglichkeiten und Mitteilungen.
Auf eigene Weise erlebt das Kind die gelebte Zeit wie einen unbegrenzten weiten Raum, oder als halte sich die Zeit versteckt, ganz anders als Mutter und Vater, die sie im Vergehen erspüren, die sie berechnen und einteilen müssen und daher als schnellen Wind oder als Not empfinden. Die Verschiedenheit des kindlichen und des elterlichen Zeitempfindens kann für das Kind ängstigende Folgen haben, wie dies zum Beispiel ein kluger Erwachsener schilderte, dessen Mutter ihm, als er ein kleiner Knabe war, vor dem Einschlafen täglich „Guten Abend, gute Nacht“ sang, das alte Lied, in dessen Schluss das Wiedererwachen – oder das eventuelle Nichtmehrerwachen – als von Gott abhängig erklingt. Er erinnert sich, dass er etwa vom dritten Lebensjahr an versuchte, nicht einzuschlafen, da das Lied, wie er es verstand, den nächtlichen Schlaf mit der eventuellen, nicht vorhersehbaren Möglichkeit des Todes verband.
Wie aber prägt der Tod das kleine Kind, wenn er die Zeit der ihm nahestehenden Menschen beendet? Wenn das Kind diese verliert? Wenn die Mutter durch den Tod entrissen wird? Oder wenn kein Vater sich um es kümmert? Wenn sich die Fürsorge der Eltern infolge einer schwerwiegenden Entwicklung aufhebt und das Kind in ein Nebengelände abgeschoben wird? Oder wenn tragische politische Ereignisse, Verfolgung, Krieg und Verlust jegliche Sicherheit aufheben und kein Zusammenleben ermöglichen? Wie entwickelt sich die kindliche Psyche infolge schwerer Verluste und Unsicherheitserfahrungen oder infolge ständigen körperlichen Schmerzes? Welche Bedeutung kommt so der gelebten Zeit zu?
Es sind tatsächlich die frühesten Erfahrungen des Kindes und die ihm auferlegten Bedingungen, welche die Erfahrung gelebter Zeit massgeblich prägen. Die psychische Entwicklung des Kindes wirkt sich entsprechend aus, sowohl in den ersten Jahren wie später im vorweg sich entwickelnden Grösserwerden, in der Art und Weise des Lernens, in den Widerständen gegenüber älteren Menschen, im Ertragenmüssen von Verständnislosigkeit und Härte, eventuell gar von Grausamkeit, in verweigerten, stummen oder begeisterten Anpassungen an die Erwachsenen, im verarbeitbaren oder verzweifelten Erleben von Krankheiten, in der Furcht vor dem Erwachsenwerden, in Ablehnung der damit verbundenen Aufgaben, in beruflicher oder in beziehungsmässiger Hinsicht, in der Flucht in verschiedene Bereiche, in denen Süchte, Vereinsamung, Nöte und zunehmende Ängste überhandnehmen oder, eventuell, dank der Überarbeitung und des besseren Wissens der vorangegangenen gelebten Zeit, in eine spürbar gute und psychisch bereichernde Umsetzung der Freiheit.
Immer erklärt sich der unterschiedliche Wert der später gelebten Zeit durch vielfache frühere Geschichten. So lassen sich gute, unterstützende Kindheitserfahrungen auf spannungsreiche und erfüllende Weise weiterentwickeln, etwa durch die Ausbildung und Anwendung von Talenten, durch das Vertrauen in andere Menschen, durch die Erfahrung unterstützender Beziehungen, wenn nötig auch durch die rechtzeitige Verarbeitung schwieriger Erlebnisse oder Erkrankungen. Die gelebte Zeit lässt sich dann wie ein sich fortsetzendes Spiel erzählen, mit Familienfesten und Geschwisterwettkämpfen, mit zunehmenden schulischen Erlebnissen, mit fortdauernden, verlässlichen oder wechselnden Freundschaftsgeschichten, mit dem Erlebnis von Sturm und Gewitter, mit Grenzerfahrungen, mit steilen wegen im Zusammenhang von Ausbildungen und wachsenden Aufgaben, mit verzaubernden Liebesgefühlen, mit Enttäuschungen, mit sich vertiefenden oder enttäuschenden Beziehungen und Bindungen, mit Reisen und neu erlernten Sprachen – mit vielem mehr. Wird die gelebte Zeit durch erwachsene Menschen jedoch als eine vergangene, sich während Jahren fortsetzende mühevolle Qual unter den Tisch gewischt, obwohl sie weiterhin unter kaum erträglichen Abhängigkeiten leiden, unter Verlusten, unter Unwertgefühlen oder unter Langeweile, so wächst zumeist das Bedürfnis, mit Hilfe des Erzählens und Durchschauens die sich fortsetzende und zugleich schwindende Zeit weniger zu fürchten.
Wovon ist jedoch die gute Aufarbeitung abhängig? Wie lässt sich die frühe individuell gelebte Zeit tatsächlich verstehen?
Seit Sigmund Freuds Erkenntnis und Bearbeitung der Träume wurde klar, dass die ersten psychischen Prägungen des Kindes zumeist im Unbewussten gespeichert werden, seien diese durch ein einmaliges plötzliches Erschrecken bewirkt, durch wohltuende Erfahrungen oder durch Not und leidvolle Abhängigkeit von Erwachsenen. Die gelebte Zeit wird durch das Unbewusste beeinflusst, ohne dass das herangewachsene Kind davon Kenntnisse besässe. Ebenfalls wurde klar, dass das Verhältnis der Eltern zum Kind – zu den Kindern – in starkem Mass abhängig ist von den eigenen frühen Erlebnissen, von Herkunft und Erziehung, von der Zeitgeschichte der Eltern der Eltern und deren Grosseltern. Heinrich Heine, einer der faszinierenden Denker des neunzehnten Jahrhunderts, hielt fest: „Mein Vater selbst war sehr einsilbiger Natur, sprach nicht gern, und einst als kleines Bübchen, zur Zeit, wo ich die Werkeltage in der öden Franziskanerklosterschule, jedoch die Sonntage zu Hause verbrachte, nahm ich hier eine Gelegenheit wahr, meinen Vater zu befragen, wer mein Grossvater gewesen sei. Auf diese Frage antwortete er halb lachend, halb unwirsch: ‘Dein Grossvater war ein kleiner Jude und hatte einen grossen Bart’“. Was bedeutete für das “klein”e Bübchen “klein”, was “gross”, wenn es um den Grossvater ging? In einem weiteren Text bezog er sich auf die tiefer zurückführenden Herkunftsgeschichten. „Es herrscht eine Solidarität der Generationen, die aufeinanderfolgen, ja die Völker, die hintereinander in die Arena treten, übernehmen eine solche Solidarität, und die ganze Menschheit liquidiert am Ende die grosse Hinterlassenschaft der Vergangenheit“.
Ob diese „Liquidation“ für die gelebte Zeit einzelner Menschen verhängnisvoll oder im guten Sinn kreativ sei, resp. wie abgerechnet wird, hängt sowohl von der kritischen Prüfung und Veränderung des ganzen Volkes ab wie von den Kenntnissen der persönlichen Geschichte. Die Aufarbeitung der frühen – wie der späteren – Zeiterfahrungen setzt allerdings eine besondere Ruhe voraus, eine besondere Klugheit. Auch das Einbeziehen persönlicher Aufzeichnungen, gezeichneter und gemalter Bilder, das Betrachten von Photos oder die Lektüre kultureller oder politischer Zeitgeschichten, insbesondere das tiefgehende, sorgfältige Deuten der Träume ermöglichen eine Unterstützung sowohl der Aufarbeitung wie der Weiterentwicklung der gelebten Zeit.
Ich möchte im Sinn eines Beispiels auf einen bedeutenden Denker und Schriftsteller verweisen, der sich selber diese Aufgabe gestellt und mit Schreiben erfüllt hat. Fernando Pessoa, der 1888 in Lissabon zur Welt kam und 1935 in derselben Stadt starb, befasste sich mit seiner Vergangenheit und seiner immer wieder aktuellen Zeit während seines ganzen Erwachsenenleben. Ich werde versuchen, den verträumt lebenden, faszinierenden Menschen verständlich zu machen, indem ich auf einen Teil der Aufzeichnungen eingehe, die er im „Buch der Unruhe“ festgehalten hat, für dessen Abfassung er zwanzig Jahre brauchte und das erst 1987, also 47 Jahre nach dem Tod des Schriftstellers, erstmals in Lissabon erschien. Immer ging es ihm um die Aufarbeitung der gelebten Zeit. Unter enorm spannenden Beobachtungen, Erlebnissen und Denkprozessen hielt er entscheidende Früherfahrungen fest: „Ich entsinne mich nicht an meine Mutter“ schrieb er. „Sie starb, als ich ein Jahr alt war. Alles, was in meiner Empfindungsfähigkeit dispers und hart ist, rührt von dem Fehlen dieser Wärme her und von der nutzlosen Sehnsucht nach Küssen, an die ich mich nicht erinnere. Ich bin ein künstliches Wesen. Ich bin immer an fremden Brüsten aufgewacht, erwärmt auf einem Umweg. (…) Mein Vater lebte in der Ferne; er hat sich umgebracht, als ich drei Jahre alt war, und ich habe ihn nie gekannt. Ich weiss noch nicht, weshalb er in der Ferne lebte. Ich habe mich nie darum gekümmert, das zu erfahren“(S.149). In einem weiteren, am 3. 12. 1931 geschriebenen Text, ging er weiter auf die früh gelebte Zeit ein, auf deren gefühlsmässige Folgen, auf die Feststellung der Verlustgefühle wie auf die damit verbundene Einsamkeit. „Ich beweine nicht den Verlust meiner Kindheit; ich weine darüber, dass alles und darunter auch meine Kindheit verlorengeht. Es ist dies die abstrakte Flucht der Zeit – und die Zeit bleibt mein und schmerzt in meinem Gehirn dank der wiederholten, unfreiwilligen Wiederkehr der Tonleitern des Klaviers im oberen Stockwerk, so schrecklich anonym und fern. Es ist das ganze Geheimnis, dass nichts von Dauer ist, das da etwas hämmert und wiederholt, was nicht zu Musik gedeiht, sondern auf dem absurden Untergrund meines Erinnerungsvermögens Sehnsucht bleibt“(S. 150).
Pessoa arbeitete als kaufmännischer Übersetzer in der Lissaboner Unterstadt, in einem Handelshaus, und immer besass er die Möglichkeit, die Zeit selber einzuteilen. Der Besitzer der Firma war ihm auf freundschaftliche Weise verbunden. Eines Tages verliebte sich Pessoa. Es war die einzige starke Liebe, die ihn bewegt hat, auf aufregende und aufwühlende, bezaubernde Weise. Nach Hin- und Herüberlegungen entschied er jedoch, dass die Liebe unerfüllbar sei, nicht wegen des Charakters der jungen Frau, die im gleichen Handelshaus arbeitete wie er, sondern weil er den mit der Liebe verbundenen Einschränkungen und Aufgaben nicht gewachsen zu sein glaubte, vor allem weil er spürte, dass er die Nächte fürs Schreiben brauchte. So trennte er sich von der bescheidenen Geliebten und lebte weiter sein Einzelleben.
Alles, was er in seiner Zeit erlebte, was ihn bedrückte oder sinnlich aufwühlte, auch alles, was er überdachte und durch das Denken beeinflusste, hielt er in knappen Texten fest. Ein Jahr nach der Niederschrift der vorgetragenen Aufzeichnungen, die den frühen Verlust seiner Mutter und die mangelnde Erinnerung an den Vater wiedergeben, hielt er Überlegungen über die Zeit fest: „Ich fühle die Zeit mit einem gewaltigen Schmerz. Immer erfasst mich übertriebene Rührung, wenn ich irgend etwas verlassen muss. (…) Ich weiss nicht, was die Zeit ist. Ich weiss nicht, welches ihr wahres Mass ist, falls sie überhaupt eines hat. Ich weiss, dass die Uhrzeit falsch ist. Sie unterteilt die Zeit räumlich, von aussen. Die gefühlte Zeit, weiss ich, ist ebenfalls falsch. Sie unterteilt nicht die Zeit, sondern unsere Empfindung von der Zeit. Die Zeit der Träume ist gleichfalls falsch. In ihnen streifen wir das eine Mal eine verlängerte, das andere Mal eine verkürzte Zeit, und, was wir erleben, ist übereilig oder langsam infolge irgendeines Vorgangs beim Verfliessen der Zeit, dessen Natur ich nicht kenne. Zuweilen meine ich, alles sei falsch, und die Zeit sei nur ein Rahmen, um das einzufassen, was ihr fremd ist. In der Erinnerung an mein vergangenes Leben sind die Zeiten aus sinnlosen Ebenen angeordnet (…). Ich überlege mir, ob die Bewegungen wirklich synchron sind, die die gleiche Zeit beanspruchen, in denen ich eine Zigarette rauche, diesen Abschnitt niederschreibe und auf dunkle Weise nachdenke“ (S.252, 253, 254).
Erstaunlicherweise betreffen alle Erinnerungen, alle Eindrücke und bedrückenden Unklarheiten, die Pessoa festhielt, die Erfahrung der gelebten Zeit. Deren Sicherheit stellte er immer wieder in Frage. Gleichzeitig bemühte er sich, den Verunsicherungen, die er ständig erneut erlebte, mit Hilfe des Nachdenkens und der Sprache zu begegnen. „Sich bewegen heisst leben, sich aussagen heisst überleben“ hielt er in der letzten, in diesem Buch festgehaltenen Aufzeichnung fest. „Alles ist, was wir sind, und alles wird für diejenigen, die uns in der Mannigfaltigkeit der Zeit nachfolgen werden, so sein, wie wir es uns intensiv vorgestellt haben, das heisst, wie wir es dank unserer Phantasie wahrhaft gewesen sind. Ich glaube nicht, dass die Geschichte mit ihrem grossen farblosen Panorama mehr ist als eine Abfolge von Deutungen, ein verworrener Konsens zerstreuter Zeugen.“ (S. 294).
Was Pessoa sich überlegte und festhielt, ist bedeutungsvoll. Die gelebte Zeit eines Menschen wird von Aussen im phantasiebesetzten Rückblick wahrgenommen, in der Folge von wunscherfüllten Deutungen, von unklaren Erfahrungen und phantasievollen Vorstellungen. Denn häufig, wenngleich nicht immer, sind „das Heimliche und das Unheimliche der Zeit, des Wissens und Nichtwissens eine starke, gegensätzliche, geheimnisvolle und häufig unheimliche Erfahrung des Menschen“, wie Julia Kristeva in ihrem Aufsatz über Freuds Aufsatz „Das Unheimliche“ festhält (in: Fremde sind wir uns selbst. S.199 ff). Häufig kommt es jedoch vor, dass der Blick und das Verstehen der gelebten Zeit das Nachhinein neu beleben und verändern. All dies erscheint mir überaus spannend.
Im Lauf meines langjährigen Denkens wurde mir klar, dass das häufig mangelhafte Wissen der gelebten Zeit mit der immer wieder unterdrückten Freiheit zusammenhängt, ob im Denken und Fühlen, ob in der weiten Veränderbarkeit der Gefühle und in der Selbstgestaltung des Handelns. Die Freiheit gehört zum Atem des Kindes, und sobald es gehen kann, sobald es seine Kraft erproben und die Welt erleben will, wird es von der Freiheit erwärmt. Doch ständig wird aus Erziehungsgründen die Freiheit des Kindes, des kleinen wie des anwachsenden, beschränkt und verhindert, fortlaufend, auf verschiedene Weise, auf kluge oder qualvolle. Die Erziehungsweise stützt sich zumeist auf unterschiedliche Vernunftbegründungen ab, die auf die gelebte Zeit des Vaters oder der Mutter zurückreichen und möglicherweise, wenn die Freiheit sie ängstigt, die gelebte Zeit eines Heranwachsenden und dessen schöpferische Möglichkeiten erschweren oder unterdrücken. Denn der ausschliessliche Bezug auf die Vernunft kann verhängnisvoll sein, wenn Erfolgsvorstellungen und Machtwünsche sich ausschliesslich auf gesellschaftlich definierte Regeln ausrichten und alle Handlungen und Lebensformen sich diesen unterwerfen. Die von blindem Hass erfüllten politischen Entwicklungen unzählbar vieler Menschen bezeichnen ihre Haltung und ihr Handeln, wenn sie befragt werden, zumeist als „vernunftvoll“. Deren Rückblick auf das gelebte Leben wird zur Farce.
Es gibt andere Entwicklungen. Die Vernunft, denke ich, bedarf der sorgfältigen Prüfung, wenn sich Entscheide und Handlungen ständig auf sie abstützten oder dies weiterhin tun. Es ist möglich, dass sich dadurch eine rücksichtsvolle Beachtung der eigenen wie der fremden Lebensbedürfnisse entwickelt, und dass nach der Aufarbeitung der gelebten Zeit die Freiheit nicht durch die Vernunft erstickt wird, sondern dass eine von „Intensität“ und „Intuition“ vorweg inspirierte, erfüllende Weiterentwicklung des Lebens spürbar wird. Dass, wie Hannah Arendt festhielt, „denjenigen, die unter Wüstenbedingungen die Leidenschaft fürs Leben aushalten können, zuzutrauen ist, in sich jenen Mut zu sammeln, der an der Wurzel allen Handelns – all dessen, was dazu führt, dass der Mensch ein handelndes Wesen ist – liegt.“
Clinique Humaine, Zihlschlacht
- 2. 2000
Zeitverhältnisse
- Abend: Gemessene und geregelte Zeit
Wir sind das letzte Mal in Zeiterfahrungen und Zeitfragen eingetreten, die von der frühesten Kindheitsgeschichte an die gelebte Zeit beeinflussen und die dadurch unterschiedliche, zum Teil unvereinbare Zeitgefühle entstehen lassen, Gefühle der Dauer oder der Flüchtigkeit, des Wohlbehagens oder des Leidens an der Zeit, Gefühle der Zeitlosigkeit oder des Zeitgefälles. Zur häufig schwierigen Differenz in den frühen wie in den späteren existentiellen Zeiterfahrungen führen nicht zuletzt die in der Menschheitsgeschichte sich verändernden Zeittheorien, die sich unter anderem durch scheinbar unausweichliche Zeitmessungen und Zeitregelungen ausdrücken, so dass die Zeit, die in den psychischen Empfindungen seit dem Beginn des Lebens auf subjektive, sehr unterschiedliche Weise erlebt wird, zugleich für alle Menschen, die zusammenleben, zur präzis eingeteilten, geregelten Ordnung wird: Jahreszahl, Monats- und Wochenbezeichnungen und Dauer, Stunden- Minuten- und Sekundeneinteilungen für jede Tätigkeit, in den persönlichen Abmachungen wie in den Bildungs- und Verwaltungsinstitutionen, in den Geschäften, im öffentlichen Verkehr, in der Berufsarbeit etc
Was hier in der Schweiz und in weiteren europäischen Ländern gilt, verändert sich, wenn wir uns in andere Weltbereiche verpflanzen, ob in den Norden, in den Süden, den Osten oder Westen, und wir stellen fest, dass die Einteilung und Ordnung der Zeit kulturell bedingt ist und auf vielfältige Weise erfolgt. Zeitrechnungen sind mithin nicht allgemeingültig und unumstösslich, sondern entsprechen einer kulturellen, gesellschaftlichen Absprache.
Die hier in der Schweiz, resp. im mittleren Teil Europas, aktuellen kollektiven Zeitcodices sind noch relativ jung. Der gregorianische Kalender, den wir benutzen, wurde erst vor etwas mehr als 400 Jahren, im Jahr 1582, nach der Revision des julianischen Kalenders durch Papst Gregor XIII festgelegt. Und selbst bei uns ist der gregorianische Kalender einer neben anderen, die gleichzeitig Geltung beanspruchen. So befinden wir uns nach der ebenfalls in unserem Kulturkreis gültigen jüdischen Zeitrechnung nicht im Jahr 2000, sondern im Jahr 5760.
Dazu kommt, dass nicht nur die Kalenderzeit, sondern auch die Uhrzeit eine kurze Geschichte aufweist. Zwar begannen schon im 13. Jahrhundert die Räderuhren die anderen Zeitmesser abzulösen – die schattenwerfende Sonne, den verrinnenden Sand oder das tropfende Wasser -, aber erst 1657 hat Christian Huygens die erste Pendeluhr gebaut und 1674 durch die Erfindung der Spiralfederuhr auf lange nicht mehr überbietbare Weise perfektioniert. Das heisst, dass die Zeitmessung nach Stunden, Minuten und Sekunden, wie wie sie durch die uns geläufigen Chronometer kennen und einhalten, erst seit etwas mehr wie dreihundert Jahren geläufig ist, obwohl die Zeit eine unvorstellbar weit zurückreichende Geschichte aufweist, fünfzehn Milliarden Jahre, wie Albert Einstein als knapp dreiundzwanzigjähriger, beinah träumerischer Denker hier in Bern zu erkennen und anderswo weiterzuentwickeln begann, zuerst in der Allgemeinen Relativitätstheorie, später in der Speziellen Relativitätstheorie, ergänzt durch weiterführende Fragestellungen und Denkprozesse anderer Denker.
Gewiss, dank der Fortschritte in der Physik, dank der erstaunlichen Möglichkeiten der Berechnung des Raum-Zeit-Kontinuums, dank der beinah unbegrenzten Fähigkeit neu entwickelter Rechner, jede noch so kleine Messeinheit der Zeit in noch kleinere Einheiten zu fragmentieren und zugleich unendliche kosmische Distanzen nach Massstäben der Lichtgeschwindigkeit, mithin nach zeitlichen Massstäben zu messen, auch dank der Weltzeituhren, die mit grösster Genauigkeit Synchronizität zwischen weit entlegenen Ereignissen anzeigen, ist die Auseinandersetzung und die Nutzung der Zeit aufs Genaueste und Vielfältigste angewachsen. Aber obwohl dies so ist, wissen wir trotzdem nicht, ob das, was als „Zeit“ bezeichnet wird, etwas ganz anderes ist als das, was wir unter Zeit verstehen.
Was bedeutet dies? Ist die Einteilung und Ordnung der Zeit von merkwürdigem Wirrwar geprägt? – oder von machtbedingten Kontrollen und Unterwerfungen der Menschen, die zusammenleben? – oder von einem tief verwurzelten menschlichen Bedürfnis nach einer scheinbar sicheren Regelung des „ungemein verwickelten Rätsels Zeit“, wie Augustinus im Jahre 397 oder 398 schrieb, nachdem er das schwerlastende Bischofsamt auf sich genommen hatte? Auch Augustins Geschichte ist ein zeitlicher Ablauf, auf den ich kurz eingehen will, als auf ein Beispiel: Er wurde an der römisch-christlichen Zeitenwende geboren, im Jahr 354 im nordafrikanischen Tharaste, dem heutigen Souk-Ahras, am Rand des römischen Weltreichs, als Sohn einer überzeugten Christin mit dem Namen Monica und eines städtischen Beamten und Grundbesitzers, der Sklaven besass und ein ausschweifendes Leben lebte, während der Sohn Augustin mit Hilfe eines Mäzenaten, der Romanian hiess und ein mächtiger Mitbürger war, in Karthago Rhetorik und Recht studierte, in starker Abstützung auf Platon wie auch auf Mani, dem persischen religiösen Lehrer, der rund hundert Jahre früher gelebt und die Lehre des Zarathustra mit babylonisch-chaldäischen, jüdischen und christlichen Elementen verbunden hatte. Auch lebte Augustin während dreizehn Jahren in freier Verbindung mit einer jungen Frau, die ein gemeinsames Kind zur Welt brachte, einen Knaben, der Deodat hiess. Religiöse Fragen in der Auseinandersetzung mit Manichäismus und Christentum, mit einem strengen Sittenkodex, mit dem Gebot grosser Enthaltsamkeit bewegten ich sehr. Er trennte sich von Monica, verliess 382 fluchtartig Kartahgo, reiste nach Rom, wurde dann 385, mit 31 Jahren, in Mailand zum Rhetoriklehrer gewählt. Ein Jahr später wandte er sich von seinem bisherigen Leben ab, nachdem er die Briefe des Pauls gelesen hatte, fuhr im Jahr 388 über Ostia zurück in die Heimat, lebte klösterlich ausserhalb von Thagaste mit Deodat und einige Freunden, wurde Lehrer und Prediger, ein strenger, wurde 396, mit 42 Jahren, zum Bischof von Hippo gewählt, veröffentlichte darau, in den Jahren 397 und 398, seine heute noch berühmen Bücher (die „Bekenntnisse“ wie „De civitate Dei“), erlebte den Einbruch der Westgoten ins Römische Reich, besuchte die Verwundeten und Sterben und starb selber 430, in der Nähe von Karthago, mit 76 Jahren .
In Augustins „Bekenntnissen“ geht es nicht, wie bei Platon, mit dem er sich während des Studiums eingehend bewusste, um die Gegenüberstellung der Idee der Unvergänglichkeit mit dem Werden und Vergehen, sondern da geht es um die “Ewigkeit” Gottes, die – darüber gibt sich Augustin Rechenschaft – eigentlich gar nicht sprachlich abgehandelt werden kann, da alles Sprechen in der Zeit geschieht, die mit der Schöpfung begann, denn „nie gab es eine Zeit, wo keine Zeit war“ hält er fest und gibt sich zugleich Rechenschaft, dass es kein genaues Wissen gibt, was die Zeit ist, da ja die vergangene nicht mehr ist und die zukünftige noch nicht ist und die gegenwärtige „so reissend schnell aus der Zukunft hiinüber in die Vergangenheit fliegt“, sodass sich keine Zeit zur Dauer entwickeln kann. Augustinus gibt sich Rechenschaft darüber , dass es die drei Zeitformen nicht als Zeiten gibt, dass sie aber trotzdem in der Vorstellung und in der Idee, „in der Seele“ erlebbar sind (resp. im Denken und in der Psyche) „als Gegenwart des Vergangenen, als Gegenwart des Gegenwärtigen, als Gegenwart des Zukünftigen“ , oder als Erinnerung, als Anschauung und als Erwartung. Augustinus versteht die Zeit somit als eine subjektive Dimension, obwohl sie für alle Menschen nach einem gleichen Mass gemessen wird (zu seiner Lebenszeit noch mit Sand- und Sonnenuhr), als sei sie nicht etwas unfassbar Vorübergehendes und ein unergründliches Geheimnis , sondern etwas messbar Ausgedehntes. Und noch mehr Aspekte verwirren ihn, etwa die von Gelehrten vertretene Tatsache, dass die Bewegungen der Gestirne die Zeiten sind. Augustinus hält fest, dass dies wohl zutreffe, jedoch nicht genüge, da es unabhängig von den Gestirnen Bewegungen gebe, deren Längen und Intervalle ja auch gmessen würden. „Weh mir Armen“, klagt er „da ich nicht einmal weiss, was ich nicht weiss“. Seine Fragen enden mit der Unterwerfung unter das Geheimnis, letztlich mir einer Haltung der Demut wie schon bei Iob. Und sie machen deutlich, dass schon damals die Unklarheit und Unbeantwortbarkeit tiefgehender Fragen psychische, resp. existentielle Folgen, Folgen in Bezug auf Sinn oder Sinnlosigkeit dieser flüchtigen Frist aufweisen (worauf wir insbesondere am vierten und fünften Abend eingehen werden). Andererseits, denke ich, sind die schon früh einsetzenden “regulativen” Zeiteinteilungen damit verbunden. Schon im Altertum stellte sich die Aufgabe, die entschwindende Zeit einzuteilen, zu kontrollieren und festzuhalten.
Augustins Nachdenken über die Zeit, über die Konflikte mit den unterschiedlichen nicht-übereinstimmenden Zeiterfahrungen und -erkenntnissen, über die Zwänge der regulierten und fremdbestimmten Zeit, über seine Bedürfnisse, diesen Zwängen mit Hilfe der sich vertiefenden Religiosität zu entfliehen war zwar sein persönliches Empfinden, Denken und Dokumentieren. Zugleich war ihm auch bewusst, dass seit den Anfängen der Philosophiegeschichte die Zeit immer wieder untersucht wurde und dass sie unter den zwei massgeblichen Bedingungen, welche die Welthaftigkeit der Menschen prägen – Räumlichkeit und Zeitlichkeit – das rätselhaftere Phaenomen ist. Tatsächlich versuchten schon die ältesten Mythen aller Kulturen, die Zeit im Zusammenhang mit dem Entstehen der Gestirne und der Erde in der Schöpfung zu deuten, resp. als „Einbruch des Sakralen in die Welt, und jeder Mythos erzählt, wie eine Wirklichkeit angefangen hat zu sein (…), sei es der Kosmos oder nur ein Bruchstück davon“, wie Mircea Eliade, der in Frankreich lebende rumänische Mythenforscher, schrieb. Den Zweck der Mythen verstand er als Antwort auf die Frage nach dem Grund der Schöpfung, der in der überbordenden Seinsfülle der oder des Demiurgen (der Schöpfungsgötter oder des Schöpfungsgottes) liege. Neben dem Erzählen der Schöpfungsgeschichten setzte früh schon die Beobachtung der Gestirne ein, insbesondere des Mondes und der Sonne, und dadurch eine Einteilung in Tag und Nacht und in wiederkehrende Perioden. Auch bei dieser Beobachtung stellte sich die Frage nach dem Anfang der Zeit. Als sich zum Beispiel zu Anfang des 3. Jahrtausends v.Chr. verschiedene Völkergruppen mit unterschiedlichen Kulturen – Memphis, Heliopolis, Hermopolis etc. – zu einem einzigen Staat, zum Ägypten der Pharaonen, zusammenfügten, stellte die offizielle Religion eine Verbindung sehr alter sakraler Überlieferungen dar. In Memphis wurde Ptah, auch Ta-tenen genannt, der Erdboden mit allen lebenswichtigen Pflanzen, als Anfang der Schöpfungsgeschichte, als Gott aller Werkstoffe und aller Tätigkeit verstanden, der nach und nach den Himmel aufrichtet, darin Sonne und Mond; in Heliopolis galt die Sonne Re – auch mit den Namen Atum oder Chepri bezeichnet – als der aus sich selbst entstandene Weltschöpfer; in den ältesten Überlieferungen war es Nun, das Urwasser, das als Vater aller Götter verstanden wurde, der mithin schon vor der Schöpfung, mithin seit aller Ewigkeit war, und aus welchem die Inseln, der feste Boden, die Seerosen, verstanden als die Wiege der Schöpfung, und weitere Geschöpfe auftauchten und von dem sich der Horizont und das Himmelsgewölbe abgrenzte. Trotz aller Erklärungsunterschiede wird Schöpfung immer „das Erste Mal“ genannt, d.h. mit der Schöpfung beginnt die Zeit.
Ältesten ägyptischen Vorstellungen zufolge ist jedoch das Chaos durch die Schöpfung nicht ein-für allemal gebannt. Was dank der Schöpfung entsteht, ist ständig bedroht, sei es durch nationale katastrophen wie den Einbruch fremder Mächte, sei es allein schon durch das Sterben der Sonne am abend oder durch jeden Abschluss eines Zeitumlaufs, ob dies ein Monat sei oder ein Jahr. So gilt im ältesten ägyptischen Mythos jeder Morgen, wenn die Dunkelheit der Sonne, die während der Nacht im Nun gebadet und sich regeneriert hat, als neuer Schöpfungmorgen.
Auch im alten Mesopotamien gehen die frühesten Überlieferungen ins zweite Jahrtausend zurück, vermutlich in die Epoche der ersten babylonischen Dynastie, die vom 19. bis zum 17. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung dauerte. Die in den Ausgrabungsstätten Assur, Ninive, Kisch und Sippar gefundenen Fragmente von Keilschrifttafeln gelten als jünger, d.h. sie werden zwischen dem 9. und 2. Jahrhundet v. Chr. datiert. Interessant ist, dass auch in Mesopotamien aus den Überlieferungen der früher im Zweistromland ansässigen Sumer und denjenigen der später dort lebenden Semiten ein theologischer Synkretismus – eine Vermischung – enstand, deren verschiedene Strömungen zum Entstehen einer grossen Weltanfangsgeschichte führte, zum Enuma elish (bedeutet die Anfangsworte „Als droben“). Es geht um die Erzählung, wieMarduk zum ersten und höchsten Gott wird, zum Schöpfergott, nachdem er die Urgottheiten, Tiâmat (das salzige Urwasser, das Weltenmeer) und die begleitenen Ungeheuer, das Chaos, besiegt hat. Von den verschiedenen Tafelfragmenten ist insbesondere Tafel V von grosser Bedeutung, wird doch in ihr geschildert, wie Marduk die zeitliche und kosmische Ordnung – die Ordnung der Weisheit – schafft [1], eine Ordnung jenseits der menschlichen Zufälligkeit und vielfachen Begrenztheit.
Am nahestehendsten und wichtigsten für uns sind die jüdischen Schöpfungstexte, mit denen das Menschsein wie die Zeit und Zeitlichkeit einsetzen. Erst seit etwa hundert Jahren sind sich die Forscher einig, dass der „Anfang“ (wie Martin Buber und Franz Rosenzweig die frühesten in der Tora festgehaltenen Weisungen nennen) resp.die Genesis (wie es hier dank dem griechischen Wort, das Entstehen und Werden bedeutet, abgeleitet aus gignesthai, „entstehen“, „geboren werden“) drei unterschiedliche Erzählungen der Schöpfung und der frühesten Geschichte Israels enthält. Noch vor der Babylonischen Gefangenschaft, das heisst, nach heutigen Rechnungen vor 587 vor Chr., wurde der älteste Bericht verfasst (s. Genesis 2, 4b 25), dann nach dem Exil, d.h. nach 538 vor Chr., die von „Jahwisten“ (Jahwe, der Gott Israels) und „Elohisten“ (Elohim, Gott) ausgehenden Texte, wobei mir scheint, dass die Erschaffung der zeitlichen Ordnung mit der symbolischen Einteilung der Schöpfung in Tage, sowohl in Arbeitstage wie in den heiligen Sabbat sich im dritten Schöpfungsbericht findet, den auch eine besonders klare, ritualisierte Sprache kennzeichnet. Wichtig ist zu erinnern, dass die Geschichte des israelischen Volkes viele Jahrhunderte vor den frühesten Aufzeichnungen begann: Moses (Mosche), zum Beispiel, wird auf den Anfang bis zum Ende des 13. Jahrhunderts vor der christlichen Zeitrechnung zurückgeführt, und die schier unbegrenzte Vielfalt seiner Aussagen wühlt so sehr auf, da in ihnen die sich verändernde Geschichte des Volkes wie die zeitlosen 10 Gebote Gottes wie die Vorhersage der sich auch im Bösen entwickelnden Zukunft finden; oder David und die Geschichte des Königreichs Israel wird auf Ende des 11. Jahrhunderts berechnet, Kohelet, Davids Sohn, dessen Zeittexte auch heute noch zutiefst bewegen, mithin aufs 10. Jahrhundert; die ersten grossen Propheten lebten im 9. Jahrhundert usw. Ein Abschluss der Ordnung der wichtigsten Schriften fand in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts statt.
Es ist aufwühlend festzustellen, dass der Zeitbeginn immer mit dem Anfang der Schöpfung verbunden wird. Ein Beispiel mag der Beginn des Jahwisten-Textes sein: „Zur Zeit, als Jahwe Erde und Himmel schuf, als es auf der Erde noch keine Sträucher auf dem Felde gab und noch keine Pflanzen auf den Fluren gewachsen waren, weil Jahwe noch keinen Regen auf die Erde hatte fallen lassen, und auch noch keine Menschen da waren, um den Ackerboden zu bestellen, liess Jahwe eine Wasserflut aus der Erde aufsteigen und tr$$nkte die ganze Oberfläche des Erdbodens. Da bildete Jahwe den Menschen aus dem Staub der Ackererde und blies ihm den Lebensodem in die Nase; so wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“ Die Lebendigkeit schloss die Eingrenzung in die Zeitlichkeit ein, und so gestaltete sich die Darstellung einzelner Gestalten, die Geschichte Iobs, zum Beispiel, die in der Mitte des 5. Jahrhunderts aufgezeichnet wurde, in welcher die Bitterkeit und Unausweichlichkeit der Zeiterfahrungen eine uns merkwürdig nahestehende Vertiefung erlebt. Kohelets Aufzeichnungen, die ich eben erwähnt habe, gehen auf alle Zeitzuteilungen ein, welche die Menschen bewegen: „Alles hat seine Stunde, und eine Zeit ist bestimmt für jedes Vorhaben unter dem Himmel. Eine Zeit fürs Geborenwerden, und eine Zeit fürs Sterben; eine Zeit fürs Pflanzen, und eine Zeit, das Gepflanzte auszureissen. (…) Eine Zeit zu suchen, und eine Zeit zu verlieren eine zeit aufzubewahren, und eine Zeit wegzuwerfen“….. eine lange, sich fortsetzende Aufzählung alle Abfolgen und Variationen des gelebten Lebens.
Auch in der griechischen Antike finden sich frühe philosophische Quellen einer Philosophie der Zeit, schon bei einzelnen vorsokratischen Denkern, wenn auch nir in Fragmenten. Vermutlich der erste ionische Naturphilosoph war Thales, von welchem jedoch lediglich bekannt ist, dass er infolge der in Ägypten erworbenen Kenntnisse die Sonnenfinsternis vom Jahr 585 vorausgesagt haben soll. Einer seiner Schüler und Nachfolger war Anaximander von Milet (er lebte von 611 bis 545 v. Chr.). Von Anaximanders Schrift „Über die Natur“ sind noch Bruchstücke erhalten, darunter ein berühmter Satz über den Anfang alles Seienden und über das Werden: „Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron (das Unerfahrbare, das grenzenlos Unbestimmbare). „Das Apeiron ist ohne Alter. Das Apeiron ist ohne Tod und ohne Verderben. Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Busse für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.“ Das Entstehen und Sterben, mithin die Zeit als naturhaftes Gesetz alles Kreatürlichen stellt Anaximander der Unsterblichkeit des Apeiron gegenüber. Er ist der erste griechische Philosoph, der die Unvereinbarkeit von Zeit und Ewigkeit erkennt, wobei er die mit der Zeitlichkeit verbundene Begrenztheit als Folge der menschlichen Unvollkommenheit, der Fehler, der Schuldhaftigkeit oder des Unvermögens versteht, anders als Heraklit (544-483 v. Chr.), der, eine Generation nach Anaximander geboren, annimmt, dass das Weltganze weder einen Anfang noch ein Ende hat, sondern immer war und immer sein wird. In Fragment 30 heisst es: „Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immerdar und wird immer sein, ewig lebendiges Feuer, erglimmend nach Massen und erlöschend nach Massen.“ Die mit dem Tod endende menschliche Existenz versteht Heraklit daher wie eine Episode. „Die Lebenszeit ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine setzt: Knabenregiment!“ heisst es in Fragment 52. Die Zeit, wie Heraklit sie versteht, ist zwar ein unausweichliches Gesetz des Vergehens, aber dasselbe Gesetz ist das Gesetz des Entstehens; denn wiederkehrende Harmonie besteht gerade darin, dass nichts ohne dessen Gegenteil ist.
Einer der interessantesten griechischen Texte über die Erschaffung der Zeit findet sich in Platons Dialog “Timaios” (37d ff). Nach einer Erzählung des Kritias über die Erschaffung der Welt, die er als Abbild eines vollkommenen Vorbilds (einer Idee) des Weltschöpfers verteht, folgt die Schilderung der Schöpfung der Zeit. „Da sann er (der Vater, der Weltschöpfer) darauf, ein bewegliches Bild der Unvergänglichkeit zu gestalten und machte, dabei zugleich den Himmel ordnend, dasjenige, dem wir den Namen Zeit beigelegt haben, zu einem in Zahlen fortschreitenden unvergänglichen Bild der in dem einen verharrenden Unendlichkeit. Da es nämlich, bevor der Himmel entstand, keine Tage und Nächte, keine Monate und Tage gab, so liess er damals, indem er den Himmel zusammenfügte, diese mitentstehen. Diese aber sind insgesamt Teile der Zeit, und das ‚war‘ und das ‚wird sein‘ sind gewordene Formen der Zeit.” Darauf geht Platon auf den Unterschied zwischen Vergänglichem und Unvergänglichem ein. Er stellt fest, dass „das ‚war‘ und das ‚wird sein‘ sich nur von dem in der Zeit fortschreitenden Werden zu sagen ziemt, sind dies doch Bewegungen. Dem stets sich selbst gleich und unbeweglich Verharrenden aber kommt es nicht zu, durch die Zeit jünger oder älter zu werden noch irgendeinmal geworden zu sein noch älter zu werden“. An einer anderen Stelle hält er fest, dass die Angaben der Vergangenheit und der Zukunft „Begriffe einer nach Zahlenverhältnissen kreisläufebeschreibenden Zeit“ seien. Die Zeit entsteht als mit dem Himmel und mit den Gestirnen, die in acht Bahnen in kleineren oder grösseren Kreisen ihren Weg gehen, als ein „augenfälliges Mass der gegenseitigen Schnelligkeit und Langsamkeit und daher entuündete Gott in dem von der Erde aus zweiten der Kreisumläufe ein Licht, welches wir eben Sonne nennen, damit es möglichst dem gesamten Himmerl leuchte und damit die lebenden Wesen, deren natur das angemessen erschien, die Zahl besässen, über welche sie der Umschwung des Selben und Gleichförmigen belehrte. So und deshalb ist nun Tag und Nacht entstanden“.
So wird deutlich, dass Platon die Zeit nicht mehr als etwas „frei Schwebendes“ versteht wie Heraklit, sondern als etwas, das an unveränderliche Gesetze gebunden ist und das somit zugleich vergänglich und unvergänglich ist, d.h. fliessend ist bei Platon der Übergang von der Mythologie zur Philosophie, das heisst der Übergang vom Geschichtenerzählen zur theoretischen Reflexion. (Simone Weil hält übrigens 1943, im Exil in England, kurz vor ihrem Tod die gleiche Erkenntnis fest, die Platon erzählerisch formulierte, indem sie schreibt: „Le temps implique l’éternité. Le rapport entre passé et avenir est un rapport éternel; l’écoulement même du temps est éternel“ . Ähnlich versteht auch Maurice Merleau-Ponty (1908 – 1961) die sich durch die Widersprüchlichkeit auszeichnende Zeit. Er hält fest, dass „ce qui ne passe pas dans le temps, c’est le passage même du temps“).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass schon im Altertum innerhalb unterschiedlicher Zeitvorstellungen auch der Entwurf und die Regelung der linearen Zeit geschaffen wurde. Es entstanden die ersten Kalenderstrukturen, die sich zunehmend als Ordnung verfestigten (“calendae” hiessen bei den Römern die ersten Tage jedes Monats, an denen die Schuldner “gerufen” wurden – calare -, die Schulden zu zahlen) und die es erlaubten, den Fluss der Zeit nicht mehr nur über Zyklen, sondern über eine fortlaufende Geschichte zu kontrollieren sowie die Zeit und die Zeitintervalle verbindlich zu machen. Die lineare Zeit kann als Akt menschlicher freiheitlicher Gestaltung verstanden werden, aber auch als Akt der Macht, der Herrschaft, ein Ordnungsakt, der wieder aufgehoben oder korrigiert werden konnte. Die gesellschaftliche Übereinkunft, die aus diesem Ordnungsakt resultierte, hatte letztlich nur eine begrenzte und relative Verbindlichkeit. (So hat z.B. im Lauf der Französischen Revolution der Konvent das Jahr 1792 zum Jahr 1 erklärt, und ab dem Jahr 1794 und der “Abschaffung” des Christentums sollte ein neuer Kalender mit Monaten à je drei Wochen und à je 10 Tagen gelten. Die kulturelle Unterschiedlichkeit der geschichtlichen Zeitrechnungen habe ich schon erwähnt).
Was stellen wir fest? Durch das seit Jahrtausenden von der Kindheit an gelernte und selbstverständlich werdende Vermögen, ständig in “zeitlichen” Formen, das heisst in Vergangenheits-und Vorvergangenheitstrukturen, in Gegenwarts- und Zukunftsformen zu sprechen und auf diese Weise über die Abfolge von Geschehnissen und Erlebnissen zu verständigen, bestätigt sich alles, was Menschen je taten oder zu tun gedenken, innerhalb einer messbaren, benennbaren Zeit. Die verbalen Verfeinerungen bezwecken zu bestätigen, dass nichts, was geschieht, ausserhalb der Zeit geschieht, sondern in der Zeit als einem gegebenen, vieldimensionalen Vorstellungs-, Handlungs- und Kommunikationsmedium, sowohl vor Hunderten oder gar Tausenden von Jahren wie heute. Trotzdem stellen wir immer wieder fest, dass wir Zeitangaben, insbesondere Angaben der erlebten Dauer, auf völlig subjektive, das heisst auf ungleiche Weise ausdrücken, so wie wir sie als unterschiedlich lang oder kurz empfinden und beurteilen. Das heisst, wir übernehmen die Zeitlichkeit in die von uns formulierte Sprache und benutzen diese, als handele es sich um feste und nicht anzweifelbare Dimensionen, obwohl keine dieser Zeitdimensionen wirklich erlebbar ist, nicht einmal die Gegenwart, da diese in ihrer Flüchtigkeit nur immer Übergang zwischen “gewesen” und “noch nicht” ist, da auch die Zukunft, im Wissen um Sterblichkeit und Tod, letztlich unverfügbar ist, auch wenn wir nicht davon absehen können, Projekte und Pläne für die nähere und fernere Zukunft zu entwerfen, auch Versprechen abzulegen, Vereinbarungen und Verpflichtungen für später zu treffen, für eine Zeit, über welche wir nur im Denken, nur in der Vorstellung und nicht in der Realität verfügen können.
Wir stellen fest, dass trotz aller Zeiteinteilungen und Zeitregelungen die Zeitempfindung zweier oder mehrerer, auch einander nahestehender Menschen nie übereinstimmt, dass selbst die eigene Zeitempfindung variiert, je nachdem, ob die gelebte und erlebte Zeit als stimulierend und anregend, oder als belastend, zähflüssig und quälend empfunden wird, wie wir die Zeit in der vergangenen Woche, beim Nachdenken über die „Gelebte Zeit“, zu verstehen versuchten, als “Kurzweil” oder als “Langezeit”, als “Langeweile” etc. Das heisst, die Zeit ist trotz allen verpflichtenden Regelungen eine subjektive Empfindung, oder, wie Kant sagt, eine „Form der inneren Anschaung a priori“: sie befähigt uns, die Abfolge, das Nacheinander und die Dauer von Erfahrungen überhaupt zu erleben und zu bezeichnen.
Abschliessend lässt sich zusammenfassen, dass es seit Platon nicht nur Mythologie und Philosophie, sondern auch Zeittheorien, Zeitregulationen und damit verbundene Geschichtsdokumente gibt (in Timaios geht es um die Geschichte des achttausendjährigen Athen, im Rekurs auf Solon). Seither ist klar, dass die grossen Zeiteinteilungen Menschenwerk sind. Sie sind alles andere als unumstösslich. Weiter ist seither klar, seit der Antike, dass verschiedene Zeitbegriffe unterschieden werden, so zuerst die planetarische, resp. die kosmische Zeit (im Griechischen aion), gleichzeitig die Weltzeit, die jede Zeitrechnung sprengte, die sich jedoch als übergeordnete, nicht menschengemachte Ordnungsstruktur anbot. Aus der Beobachtung der Gestirne entwickelte sich in den alten Hochkulturen in der babylonischen, der altägyptischen etc. die Vorstellung der zyklischen Zeit (in der griechischen Antike mit dem Begriff chronos bezeichnet). Es geht um die Tag- und Nachtrythmen, um das Sonnenjahr, Mondjahr, Venusjahr etc., kurz, um die zyklischen Abläufe (nicht nur das Werden und Vergehen, zurück ins apeiron bei Anaximander, sondern auch, wie schon bei Platon, im Politikos, die Zyklizität der geschichtlichen Epochen, in denen eine jede durch Aufbau, Blütezeit und Verfall gekennzeichnet ist). Zyklisch ist auch die je einzelne biologische Zeit, nicht nur der Menschen, sondern jedes kleinsten Mikroorganismus, jeder Zelle (der aristotelische Begriff hierfür ist metabole).
Daraus ist zu schliessen, dass die verschiedenen Zeitbegriffe verschiedenen Zeitordnungen entsprechen, so dass es verschiedene Ungleichzeitigkeiten gibt, etwa die Ungleichzeitigkeit der geschichtlichen Zeit (Erdzeit, geologische Zeit) und des Zivilisationsprozesses (resp. der „Verkehrszeit“, der gestalteten Zeit, die sich in zunehmender Beschleunigung befindet), oder die Assymetrie zwischen der Zeit als gesellschaftlichem Regulationsfaktor, den Agenden, Fahrplänen, Stundenplänen, der Produktions- und Kommunikationszeit resp. Zivilisationszeit etc und der Bewusstseinszeit. Durch die Digitalisierung der Zeitrechnung wie durch die technologische Beschleunigung ergibt sich heute eine zunehmende Arhythmie zwischen linear geregelter Zeit, Produktionszeit, biologischer Zeit und Bewusstseinszeit.
Auch steht fest, dass die zunehmend feineren und komplizierteren elektronischen und anderen Zeitmessmethoden, die zur Erfassung der Lichtgeschwindigkeit, der Mikroprozesse in der Biologie, Physik und Chemie oder für die Koordination der unterschiedlichen Weltzeiten entwickelt wurden, bezwecken, dass eine Dimension, die “Zeit” genannt wird, in Einheiten eingeteilt wird, und dass die Einheiten oder Intervalle verglichen werden, kurz, dass Vergängliches mit Vergänglichem in einen Bezug, in eine Relation gesetzt wird. Der Vergänglichkeit nicht unterworfen ist allein die Relation als Relation.
Wo stehen wir heute? Es ist spürbar, dass heute, im globalen Informationszeitalter, in einer Zeit der enormen Beschleunigung aller technologischen Innovationen, welche die Lebensbedingungen der nächsten Zukunft auf nicht vorhersehbare Weise definieren werden, das Nachdenken über die Zeit gerade in Hinblick auf die Frage nach dem Wert der Zeit, in Hinblick auf die Sinnfrage eine besondere Relevanz hat. Diese wird durch die immer wieder sich verändernde wirtschaftliche Benutzung (und Ausnutzung) der vielfachen, vorweg feineren Zeitregulierungen noch verstärkt. Wir werden in der nächsten Woche darauf eingehen.
[1] cf. Die Schöpfungsmythen. Ägypter, Sumerer, Hurriter, Hethiter, Kanaaniter und Israeliten. Mit einem Vorwort von Mircea Eliade. Benziger Verlag, Zürich 1991. Übersetzung aus: La naissance du monde. Editions du Seuil, Paris 1959.
Zeitverhältnisse
- Abend
Instrumentalisierte und entfremdete Zeit. Was bedeutet Sozialzeit?
Am vergangenen Montagabend traten wir in die über tausend Jahre und noch weiter zurückführenden Erklärungsversuche von Zeit ein, in die mythologischen Deutungen des Zeitbeginns als Beginn der Schöpfungsgeschichte, die sich in der Abfolge der Ordnung der Gestirne und des Lichts, des Wassers, der Erde und des lebendigen Lebens vervollkommnete und zugleich auf eine sich fortsetzende, aufwühlende Gegensätzlichkeit von Dauer, ja von Ewigkeit und von Flüchtigkeit eröffnete, woraus sich wiederum in allen Zeiten, Kulturen und Sprachen eine unbegrenzte Fülle von philosophischen Zeittheorien weiterentwickelte, bis heute.
Auf ein weiteres Merkmal der Zeitordnung und der Zeiterfahrung wollen wir heute eingehen. Nicht allein in unserer westlichen Zivilisation, aber hier auf dominante Weise, wird die Zeit eingeteilt wie ein knappes, berechenbares Gut, wie eine begrenzte Ressource. “Zeit ist Geld”, heisst es, gerade hier in der Schweiz, und diese Zeitwertung bringt es mit sich, dass wir uns ständig unter “Zeitdruck” fühlen, dass wir gehetzt von Abmachung zu Abmachung eilen und meinen, es sei uns kaum erlaubt, uns “Zeit zu nehmen” für etwas, was nicht in Geld messbar ist. Doch dies ist allerdings nicht bloss eine subjektive Empfindung, sondern es ist tatsächlich so, dass Menschenzeit, sogenannte “Mannstunden” und “Fraustunden”, in Geld bewertet und berechnet werden, dass jedoch nicht jedes Menschen Zeit den gleichen Kurswert hat. Während etwa die Stunde einer ausländischen Hilfsarbeiterin bloss einige wenige Franken “wert” ist, wird die Stunde eines schweizerischen Bankgeneraldirektors oder Chefchirurgen beinah mit Gold gemessen, wobei es bei allen Menschen immer um eine gleiche Stunde Lebenszeit, um eine gleiche Spanne gelebter Existenz geht – eine in ihrer Unmissverständlichkeit kaum erträgliche Ungleichwertung menschlicher Existenz, die uns zu grösstem Widerstand bewegen müsste, ist sie doch, wenngleich in ganz anderen Proportionen und auf der Grundlage einer anderen Ideologie, Ausdruck einer Grundhaltung, die den abscheulichsten Ausgestaltungen von Menschenverachtung zu Grunde lag, der Sklaverei, der Rechtlosigkeit von Menschen, den vielfachen Unterdrückung- und Gewaltstrukturen bis zur
nationalsozialistischen Unterscheidung von “wertem” und “unwertem” Leben mit der skrupellosen Vernichtung derjenigen Menschenleben, die als “unwert” deklariert wurden, wie in vielen weiteren rassistisch und ethnizistisch begründeten Herabsetzungen und Ausgrenzungen, auch hier in der Schweiz.
Die vielfältige Instrumentalisierung der Zeit lässt sich auf besondere Weise in den Arbeits- und Wirtschaftsverhältnissen erkennen, zu denen die Monetarisierung der Zeit und somit der Existenz gehört, resp. die Tatsache, dass über die Kategorie der Arbeitszeit die Existenz des einzelnen Menschen als niedriger oder als hoher Markwert gehandelt wird, die sogar als “wertlos” gilt, wenn sie aus dem kommerzialisierten Arbeitsprozess ausgeschaltet und dadurch arbeitslos wird, wenn sie für den Zweck der Kapitalisierung des Mehrwerts als uninteressant abgeschoben wird.
All dies mag zu den einschränkendsten, menschengemachten Fremdbestimmungen der Zeit gehören, denke ich, dass gerade deshalb die Frage nach Sinngebung der je einzelnen Existenz sowie des Zusammenlebens der Menschen heute, unter den Bedingungen der globalen Zeit- und Existenzmonetarisierung, eine besondere Relevanz erhält. Es handelt sich um die Frage, wie Freiheit und Verantwortung für sich selber sowie Mitverantwortung für andere unter Bedingungen der eventuellen (oder tatsächlich erlebten) Wertlos- und Unnützerklärung von Existenzzeit qua Arbeitszeit, gerade im Zusammenhang mit sogenannten „Restrukturierungen“ von Betrieben, mit Entlassungen und mit lang währender Arbeitslosigkeit noch realisiert werden können. Und damit ist die andere Frage verknüpft, was tatsächlich „Fortschritt“ bedeuten könnte.
Der Forschrittsbegriff war eng mit den Vorstellungen der Nutzung und der Kontrolle der linearen Zeit konnotiert. Gerade dieser Zeitbegriff musste durch weitere Zeitbegriffe erweitert und verändert werden, die ebenfalls überindividuelle Ordnungsfunktionen beanspruchen konnten. In physikalischer Hinsicht, nachdem sich die Eddington’sche Entdeckung, dass die nicht-reversiblen thermodynamischen Prozesse (die „innere Zeit“ der Materie), resp. die Prozesse der Entropie, auf der Zeitlinie verlaufen, überholt hat, wurde Zeit als reine Potentialität erkannt, gewissermassen als reine Zukunft, als masseloses „Photon“ in (Wellen)-Bewegung. Wo sie gebremst wird durch Masse, verlangsamt sie sich, bleibt gewissermassen hinter sich zurück und verwirklicht sich als Raum. Raum ist die Vergangenheit der Zeit. Daraus ergaben sich ungeahnte Möglichkeiten zur Erforschung und Nutzung des Weltraums (Reise durch das Zeitkontinuum). Möglicherweise lässt sich in der modernen Physik eine Antwort auf die Unterscheidung des Aristoteles zwischen Zeit als Bewegung (kinesis) und Zeit als Entstehung und Verfall (metabole) finden, eventuell auch eine moderne Antwort auf das Augustinische Nicht-erklären-können der Zeit. Was zunehmend als ungelöstes Problem die Menschheit belastet, ist tatsächlich die wirtschaftliche „Aneignung“ der Zeit.
Der Siegeszug der industriellen Steigerung des Mehrwerts und dessen Kapitalisierung, zu deren Zweck die Menschen als die billigste Ressource eingesetzt, gebraucht und verbraucht wurden/werden, begann ein knappes Jahrhundert nach der Erfindung der Spiralfederuhr, in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts, als James Watt die Dampfmaschine erfand. Diese gezielte, systematische Instrumentalisierung der Arbeitskraft und Arbeitszeit der Menschen zu einem Zweck ausserhalb ihrer selbst ist das, was – im Anschluss an Karl Marx (1818 in Trier geboren, 1883 in London gestorben) – die systematische “Entfremdung” der Menschen bewirkt.
Was bedeutet „Entfremdung“? Der Begriff stammte ursprünglich von Hegel, der in seinen “Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte” festhielt, dass die menschliche Geschichte zugleich die Geschichte der Entfremdung des Menschen sei. Der Mensch sei nie, was er sein sollte, und er sollte sein, was er sein könnte. Dies ist die knappe Formel, welche Hegels Kritik an der – dem Wesen nie gerecht werdenden – Existenz zusammenfasst. Für den jungen Marx, damals Emigrant in Paris, wurde der Entfremdungsbegriff zum Instrument seiner Gesellschaftskritik, der es ihm erlaubte, die Folgen einer durch ausschliessliches Profitstreben und zunehmende Arbeitsteilung geprägte Entwicklung herauszuarbeiten, resp. die Negativfolgen in der Dialektik des Fortschritts.
Entfremdung bei Marx heisst, gemäss den „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten“ (den sog. „Pariser Fragmenten“) von 1844 Abkoppelung des Menschen vom Produkt seiner Arbeit, damit Entzweiung des Menschen mit sich selbst, Zerstörung seiner Individualität, Versklavung, ja Verdinglichung des Menschen. Marx zielte mit seiner Kritik nicht einfach auf höhere Löhne ab oder auf gleiche Einkommen für alle (das war eine Forderung von Pierre Joseph Proudhon, welche dieser im 1840 erschienen Werk “Qu’est-ce que la propriété?” erhoben hatte), wie er immer wieder falsch interpretiert wurde, er zielte schon gar nicht auf eine Aufhebung der Freiheit ab, wie dies der totalitäre Bolschewismus durchsetzte, im Gegenteil: Marx strebte in diesen frühen Werken nach einer Wiederherstellung sinnhafter Existenz, oder, wie Erich Fromm in einem Kommentar festhielt, nach “einer geistigen Emanzipation des Menschen, nach seiner Befreiung aus den Fesseln der wirtschaftlichen Bestimmtheit, um ihn zur befähigen, zur Einheit und Harmonie mit seinen Mitmenschen und der Natur zu finden”.
Marx erkannte, dass die Sinnentleerung der menschlichen Arbeit die Sinnentleerung der menschlichen Existenz nach sich zieht. Immer wieder betont er, dass das dem arbeitenden Menschen zugestandene dürftige Überleben schliesslich keine Lebensqualität, keine immateriellen Werte zulässt, dass das Bedürfnis nach Geld alles erstickt . “Je weniger du isst, trinkst, Bücher kaufst, ins Theater, auf den Ball, zum Wirtshaus gehst, denkst, liebst, theoretisierst, singst, malst, fichtest etc., um so mehr sparst du, um so grösser wird dein Schatz, den weder Motten noch Staub fressen, dein Kapital. Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äusserst, um so mehr hast du, um so grösser ist dein entäussertes Leben, um so mehr speicherst du auf von deinem entfremdeten Wesen.”
Für Karl Marx steht unmissverständlich die mit dem kapitalistischen Ziel der Profitsteigerung verbundene Überflussproduktion im Zentrum der Kritik, die Verführung des einen Teils der Menschen zur Anhäufung von Überflüssigem und die Instrumentalisierung des anderen Teils zu dessen Herstellung, ein sinnloser Abtausch von Qualität, d.h. von zustimmungsfähiger Nutzung der Existenzzeit, gegen Quantität, sei es in der Akkumulation von Kapital, sei es in der Fliessbandproduktion, die mit der heutigen computergesteuerten „Rationalisierung“ sogar die Menschen nicht mehr benötigt. Was das Ausmass an Entfremdung betrifft, meint Marx, dass diesbezüglich “Verschwendung und Ersparung, Luxus und Entblössung, Reichtum und Armut gleich” seien, resp. die gleichen Entfremdungsfolgen hätten. So oder so sei eine trostlose menschliche Verarmung der Fall. “Und nicht nur deine unmittelbaren Sinne wie Essen etc. musst du absparen, auch Teilnahme mit allgemeinen Interessen, Mitleiden, Vertrauen etc., das alles musst du dir ersparen, wenn du ökonomisch (d.h. durch das kapitalistische System definiert, M.W.) sein willst, wenn du nicht an Illusionen zugrunde gehen willst.” Marx erkannte, dass das sinnentleerte Leben, das seinen eigenen Wert nur nach quantitativen Kriterien, resp. nur in Geldkategorien misst, auch ausschliesslich nach quantitativen Kriterien gemessen wird und dadurch wertlos, ja überflüssig wird.
Die Selbstentfremdung der Menschen durch das mehrwertgesteuerte System, das auch in den staatskapitalistischen Systemen der nun in Europa nicht mehr existierenden sog. sozialistischen Staaten nicht korrigiert wurde, hängt mit einem grundsätzlichen ethischen “Sündenfall” zusammen: mit der Übertretung des “praktischen Imperativs”, den Kant formuliert hatte. Dieser beinhaltet das Verbot, Menschen zu instrumentalisieren, d.h. Menschen zu Mitteln zu machen, um einen bestimmten Zweck zu erreichen, z.B. den der Mehrwertsteigerung des Kapitals, dessen Ertrag eben nicht den arbeitenden Menschen zugute kommt. Die Instrumentalisierung der Menschen ist die Voraussetzung und der Grund für die Ungleichwertung und Entwertung der Existenzzeit als Arbeitszeit, oder mit anderen Worten, für die Monetarisierung und Kommerzialisierung der Zeit, für den Warencharakter der Zeit.
Aus philosophischer Sicht gibt es noch einen weiteren Aspekt zu betrachten. Zugleich mit der Instrumentalisierung der Zeit erfolgte im Lauf der Industrialisierung und zunehmenden technologischen Weiterentwicklung die enorme Beschleunigung der Zeitabläufe in der Produktion und vor allem in der Kommunikation. Die Folge ist ein zunehmendes Auseinanderklaffen zwischen dem Rhythmus der gelebten Zeit, der Existenzzeit, und dem vielfach beschleunigten Rhythmus der Arbeitsabläufe. Bei Kafka, in einem der Brief an Milena, gibt es eine Stelle, die schon damals, in den Zwanzigerjahren, die damit verbundene Gefährdung des Menschen ahnen lässt: “Die Menschheit hat (…), um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten und den natürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden, aber es hilft nicht mehr, es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist viel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon, die Funkentelegraphie.”
Was lässt sich Zusätzliches sagen? Dass seither noch das Fernsehen, der Fernschreiber, die Computertechnik, das Internet, der Cybre Space und die ganze virtuelle Realität erfunden wurde, welche Interaktionen und Kommunikation auf Distanz ermöglicht, unabhängig davon, wie weit derjenige/diejenige, den/die eine Mitteilung erreichen soll, entfernt ist. Die Kommunikationstechnologie hat mit dem Erreichen der Lichtgeschwindigkeit die Beschleunigungsgrenze erreicht – und damit die Dimension der Entfernung, der Distanz, resp. des Wegs aufgehoben. Rund um den Erdball gilt nur noch die Jetzt-Zeit, die Zeit der entschluss-, handlungs- und resultatorientierten Kommunikation, der schnellen Effizienz. Als Beispiel steht dafür die elektronische Börse. Die massive Veränderung der Dimension der Zeit, die Schaffung einer fiktiven Gleichzeitigkeit, lässt im Prinzip alle Ereignisse veralten, bevor sie erzählt werden können, oder antizipiert sie zeitlich in bezug auf den Empfänger/die Empfängerin. War es während Jahrhunderten nötig, dass sich die Menschen zueinander hinbewegten, um sich zu verständigen, oder dass jemand – ein Bote, Postbote etc.- stellvertretend den Weg zurücklegte, so ist dies heute überflüssig geworden. Die Simulationstechniken ersetzen die Realität, Nähe und Distanz, Begegnungen und Widerstände durch eine virtuelle Realität.
Der französische Philosoph Paul Virilio ist von der dramatischen Zuspitzung der zivilisatorischen Störungen durch die extreme Beschleunigung der Zeitabläufe überzeugt, er ist einer der radikalsten Fortschrittskritiker, ohne deswegen ein Modernitätsverweigerer zu sein. Die Entwicklung der digitalen und weiterer Technologien spitzt sich seiner Auffassung noch dahin zu, dass selbst die Menschen überzählig/überflüssig werden – überzählig als Arbeitende in der Produktion, überzählig als Reisende, überzählig – Virilio zufolge – selbst als Zeugende (durch die Möglichkeiten der In-vitro-Befruchtung und der gentechnologischen Manipulation des des ADN), gar als Liebende (durch die Angebote des Cybersex).
Hannah Arendt zufolge ist ein System, das Menschen für überzählig erklärt, totalitär. Ist Resignation angesagt? Wir können ja weder aus der Welt noch aus unserer Epoche aussteigen. Was sollen wir tun?
Es drängt sich auf, dass die Menschen sich auf ein bestimmtes Verständnis von Zeit einigen. Ich schlage vor, Zeit im existenzphilosophischen Sinn zu verstehen: als Möglichkeit, sich in ein Verhältnis zu setzen , resp. die Verhältnishaftigkeit der einzelnen Existenz in einem guten Sinn zu ordnen. Dies betrifft eine vierfache Verhältnishaftigkeit: das Verhältnis zwischen der individuellen Existenz und der Zeit, das Verhältnis zwischen Freiheit und Verantwortung, das Verhältnis zwischen Vereinzelung und Welthaftigkeit, sowie das Verhältnis zwischen Sinngebung und Furchtlosigkeit, respektive zwischen gelebter Zeit und erfüllter Zeit. Hierin liegt auch die Begründung dessen, was als “Sozialzeit” bezeichnet wird.
Sozialzeit ist eventuell die innovative und kreative Möglichkeit, der absurden und so verletzenden Ungleichwertung von Lebenszeit eine Korrektur entgegenzustellen, indem diese Zeit kein Geldäquivalent hat, mithin auch nicht von jener Falle (“piège”) bedroht ist, der die sogenannte “Freizeit” so häufig verfällt, indem selbst diese zur wirtschaftlich relevanten “Konsumzeit” wird. Sodann könnte Sozialzeit gegenüber der gesellschaftlichen Erfordernis einer Verkürzung der Arbeitszeit, die sich angesichts der Verknappung von Arbeit aufdrängt, als ein Sinnäquivalent entwickelt werden.
Ich möchte noch kurz auf die wertbestimmte, unterschiedliche Verhältnishaftigkeit der Zeit eingehen. Das Verhältnis zwischen Existenz und Zeit, zum Beispiel, bedeutet im existenzphilosophischen Sinn das Verhältnis der Existenz zu sich selbst. Existenz ist in erster Linie, auf unerbittliche und unausweichliche Weise, zeitlich bestimmt, durch Beginn und Ende, durch “Gebürtlichkeit” (Hannah Arendt), durch Einmaligkeit und Nichtwiederholbarkeit des Ablaufs der Lebenszeit, der Zukunft, die sich nach Träumen der Zeitlosigkeit wie der Sterblichkeit vorweg entwirft – oder beendet. Hierin liegt die Tragik der Existenz, hierin begründet sich das Leiden der Existenz an sich selbst, denn die Unentrinnbarkeit dieser “condition humaine” kann nicht verdrängt werden, sondern erfüllt und bestimmt mit fortschreitender Lebenszeit das Bewusstsein durch die Erfahrung der Flüchtigkeit auf massgebliche Weise. Zugleich aber ist dieses intimste Verhältnis, nämlich dasjenige der Existenz zur Zeit, das wichtigste, vielleicht auch das spielerischste “Auftragsverhältnis” der Existenz. Dieses “Auftragsverhältnis” bedeutet jenen Prozess, durch den sich Werden, Entfaltung und nicht abbrechendes Lernen erklären lässt, durch den vorweg das, was eben noch Möglichkeit war, zu Wirklichkeit wird.
Der “Motor” in diesem Prozess, das heisst die Befähigung, diesen eigensten existentiellen Auftrag auszuführen, ist die Freiheit. Sie ist auf untrennbare Weise verknüpft mit dem Vermögen zu erkennen und zu urteilen, das heisst mit dem Vermögen, die Art und Weise des Handelns unter Berücksichtigung der Folgen des Handelns zu wählen. Eben diese Verknüpfung bezeichnet das, was das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung meint. Denn Verantwortung bedeutet, Handeln nicht triebhaft, nicht allein nach dem Impuls des Wollens zu bestimmen, sondern unter Berücksichtigung der Folgen des Handelns, sowohl der umittelbaren wie der in die Zukunft weiterreichenden.
Selbst wenn ein Mensch allein auf einer Insel leben würde, bestände dieses Verhältnis von Existenz und Zeit sowie von Freiheit und Verantwortung. Durch die Tatsache aber, dass Menschen zusammenleben, dass sie in einer gegenseitigen und wechselseitigen Abhängigkeit leben, dass jede einzelne Existenz “welthaft” ist, ziehen die beiden ersten Formen der Verhältnishaftigkeit auch Folgen für eine Vielzahl von Menschen nach sich. Das bedeutet einerseits, dass jede Existenz gemäss ihrem existentiellen Auftrag das Leiden an der Zeit allein aushalten muss, dass sie die Zeit gut nutzen sowie Freiheit im Sinn der Verantwortung umsetzen muss, dass sie so in ihrer Vereinzelung gemeint und allein auf sich selbst zurückgeworfen ist. Andererseits aber, dass zugleich jede Existenz welthaft ist und damit verantwortliches Element in einem Geflecht von Menschen, dass sie handelnder und unter den Folgen anderen Handelns leidender Teil von Menschheitsgeschichte und -geschichten ist. Erst das Verhältnis von Vereinzelung und Welthaftigkeit macht die einzelne Existenz daher zu einer sozialen und einer politischen Existenz und gibt ihr Bedeutung über ihre eigene Selbstbestimmung hinaus, nämlich Bedeutung für einzelne andere Menschen und Bedeutung für das Zusammenleben.
Das Bewusstsein und die Erfüllung der vielfältigen Verhältnishaftigkeit (zusätzlich zu den vier besprochenen Verhältnissen lassen sich weitere thematisieren , die ebenso bedeutungsvoll sind, etwa das Verhältnis zwischen Existenz und Transzendenz oder das Verhältnis zwischen Existenz und Natur etc.) befähigt den einzelnen Menschen, das Leiden an der “condition humaine” zu mindern, indem auf diese Weise Sinn geschaffen wird. Existentielle Sinngebung besteht in der Erfüllung der vielfältigen Verhältnishaftigkeit der Existenz. Was in der heutigen Zeit als Sinnkrise, ja als Verzweiflung und Sinnleere in Erscheinung tritt, hat meiner Meinung nach mit einem Bewusstseins- oder Wahrnehmungsverlust der vielfältigen Verhältnishaftigkeit oder mit deren tatsächlichem Verlust zu tun – trotz Internet. Diese Verlustgefühle lassen das Leiden an der Existenz, die ängstigende Fragilität der Existenz, die Tatsache der Sterblichkeit übermächtig werden. Sinngebung dagegen schafft ein Gefühl der Furchtlosigkeit. Ich konnte dies immer wieder feststellen, auch unter Bedingungen grösster – objektiver – Gefährdung, etwa bei den Frauen in Sizilien, Frauen der ärmsten Bevölkerungsschichten, die sich entschlossen, sich der Einschüchterung durch die Mafia nicht mehr zu beugen, sondern an die Öffentlichkeit zu treten und vor Gericht auszusagen. Es war ein grosses Erlebnis festzustellen, wie diese Frauen eine Tradition und Sozialisation der ständigen Demütigung, der Angst und der Erfahrung eigenen “unwerten” Lebens hinter sich liessen, wie sie sich entschlossen, gegen den Missbrauch von Menschen – ihrer Ehemänner, Brüder, Söhne und Enkel und gegen den Missbrauch ihrer selbst als schweigende Dulderinnen des Missbrauchs – aufzustehen, wie sie dadurch ihrem Leben Sinn gaben, wie sie Furchtlosigkeit und Würde gewannen.
Ich möchte zum Abschluss nochmals zwei Aspekte hervorheben:
(1) Sozialzeit ist ein Korrektiv gegen eine allein nach wirtschaftlichen, nach monetären Kriterien bestimmte Zeitdefinition sowie gegen die diskrimierende Ungleichwertung von Lebenszeit. Sie vermag, angesichts der Verknappung von Arbeitszeit und dringender
Arbeitszeitreduktion, eine sinnvolle – nicht als Konsumzeit belegbare – Zeitanwendung zu postulieren.
(2) Indem Sozialzeit als – monetär nicht belangbaren – Einsatz für andere Menschen und für das Allgemeinwohl verstanden wird, wird eine besonders relevante Weise der existentiellen Verhältnishaftigkeit erfüllt, nämlich das Verhältnis des gleichzeitigen In-der-Welt-seins. Indem dieser Einsatz freiwillig und ausserhalb der Arbeitszeit erfolgt, korrigiert er diese und vermag in hohem Mass sinnschaffend zu sein. Das Verhältnis zwischen Existenz und Zeit, zwischen Freiheit und Verantwortung sowie zwischen Vereinzelung und Welthaftigkeit nehmen dadurch Gestalt an. Der Gewinn für diejenigen, die sich der Sozialzeit verpflichten, ob im privaten oder im öffentlichen Zusammenhang des Zusammenlebens, ist grössere Furchtlosigkeit – Furchtlosigkeit gegenüber der eigenen Wert- oder Unwerterfahrung durch die marktbedingte, allein nach Effizienzkriterien berechnete eigene Lebenszeit, doch ebenso gegenüber der Flüchtigkeit der Zeit. Das Modell der Sozialzeit könnte mithin ein überaus kreatives, sinnschaffendes Potential beinhalten, nämlich die Korrektur von Entfremdung, von Existenzentwertung und gesellschaftlicher Desintegration, damit zugleich die Korrektur von Vereinsamung und von Vermassung.
Zeitverhältnisse
4. Abend
Erinnerte Zeit und versiegelte Zeit – Zeit als Geschichte
Was bedeuten Erinnerung und Verdrängung?
Wir traten in der vergangenen Woche in Zeiterfahrungen ein, die sich bei Denkerinnen und Denkern während Jahrhunderten als Zeittheorien wiedergegeben haben. Neben den Zeittheorien gab es/gibt es zugleich Geschichten und Erzählungen des gelebten Lebens, welche, je nach den gegebenen Zeitverhältnissen, persönliche Erfahrungen, Gefühle und Denkprozesse spiegeln wie auch – infolge der Gleichzeitigkeit – die Lebenszusammenhänge unzählbar vieler anderer Menschen ahnen lassen. Die Zeitgeschichten als erinnerte und daher erzählbare Zeit, wie die Zeitgeheimnisse als die versiegelte Zeit (eine von Andrej Tarkowskij geschaffene Bezeichnung) sind das Thema des heutigen Abends.
Was bedeutet Erinnerung? Weckt der Begriff die Vermutung, dass in uns eine unvergängliche Zeit besteht, die allerdings in vielen Zusammenhängen zugedeckt ist? Geht es beim Prozess der Erinnerung um das Wiedererblicken, Wiederhören und Wiederfühlen der unvergänglichen Zeit? Ist Erinnerung eine Bestätigung der Vermutung, dass unsere Seele resp. unsere Psyche eine zeitlose Substanz ist, in welcher die Besonderheit und Entwicklung des Ichs gespeichert sind? Bedeutet Erinnerung die Rückkehr von nicht-aktuellen Lebengeschehnissen und -erfahrungen in die Gegenwart, sodass der Zeit auch in den menschlichen Gefühlen die Vergänglichkeit entschwindet? Bekräftigt sich dadurch eine Ahnung, dass nicht die Zeit, sondern allein die Menschlichkeit vom Beginn der Schwangerschaft und der Geburt an und im Lauf des sich fortsetzenden körperlichen, psychischen und denkerischen Heranwachsen Tag für Tag dem Vergehen ausgeliefert ist? Hat die Erinnerung an ehemalige Geschehnisse und Erlebnisse allein mit den Bedingungen der so abgrundtiefen – und flüchtigen – Menschlichkeit zu tun hat und nicht mit der Zeit, so wie die Planung der Zukunft sich im Grunde genommen nicht auf die fixierten ordentlichen Raster der offiziellen Zeitregulierungen bezieht, sondern auf die sich unbekannterweise entwicklende eigene Existenz?
Warum aber lässt die – (ev.) zeitunabhängige, zeitlose – Psyche nur ein eingeschränktes, teilweises Wiedererwachen des gelebten Lebens zu, das teilweise lange vor dem Erinnerungsprozess, in der Kindheit, in der Jugend oder in späteren Jahren, als Realität erlebt wurde, in geistiger wie in körperlicher Hinsicht, geprägt durch Geschehnisse, durch Erlebnisse und durch Gefühle, die erfahren, wahrgenommen und gespeichert wurden, ob diese das eigene Leben betrafen oder das Leben anderer Menschen, nahestehender, eventuell sogar fremder Menschen, deren Aussagen oder deren Handlung uns berührte, in staunender und wohltuender Weise, oder uns traf und verletzte mit erschreckender, schmerzlicher und ängstigender Wirkung.
Ja, was ist Erinnerung? Ist sie mithin, wie wir es uns überlegt haben, eine ausschliesslich subjektive Präsenz früherer Lebenserfahrungen oder eventuell auch eine kollektive, ist sei ein Wiederfinden oder Wiedererwachen vergangener Zeiterfahrung? Wenn in einer Familie alle Mitglieder und deren Verwandte nach der Lebensgeschichte verstorbener Eltern oder Grosseltern, nach den Beziehungszusammenhängen und den entscheidenden Folgen befragt werden, ist jede Auskunft verschieden, obwohl Herkunft, Zeitgeschehnisse und Abhängigkeit geteilt wurden. Aber die Wahrnehmung, die psychische wie die körperliche, waren je nach Alter, je nach Sicherheitsgefühl, nach Realitätserfahrung und Begründungserklärungen (z.B. durch Kenntnis der gesellschaftlichen oder politischen Einflüsse, der religiösen und geschlechtsspezifischen, der wirtschaftlichen oder kulturellen etc.) unterschiedlich, sodass sich verschiedene Bilder einprägten, wobei die eingeprägten Bilder auch auf unterschiedliche Weise abrufbar oder verdrängt wurden. Alles, was erfreulich ist, was der personalen Entwicklung diente oder mit ihr übereinstimmt, ist schnell abrufbar und stellt sich wieder ein wie eine Gegenwartserfahrung. Was jedoch schmerzte oder mit Scham erfüllte, versinkt schnell ins Dunkel und wird dort aufgehoben. Bilder, die durch Erfahrung entstanden sind, werden durch andere Bilder zugedeckt, durch vielfache Ersatzbilder, oder durch dichte Schatten, auf welche Stummheit oder gar scheinbare Leere folgen – durch eine vielfache und vielschichtige Verdrängung.
Was ist somit der Zweck der Verdrängung? Wozu dient sie? Ist die Unvergänglichkeit der Zeit in der sich vorweg entwickelnden, aber vergänglichen menschlichen Körperhaftigkeit, die das Leben auf unterschiedliche Weise prägt, so schwer zu ertragen, dass nur die guten Erlebnisse präsent bleiben dürfen? Ist Verdrängung eine psychische Schutzvorkehrung der immer wieder gefährdeten Existenz? Bedarf es grosser Anstrengungen, damit sie sich einsetzt und belastende Erlebnisse zudeckt?
Oh nein, keiner bewusster Anstrengungen bedarf es, damit kaum erträgliche Erfahrungen nicht ständig präsent sind, damit sie in die dunkeln Räume des Bewusstseins gleiten und sich dort verstecken, ins Unbewusste, oft während Jahren versteckt bleiben, dadurch aber der bewussten Verarbeitung entzogen sind, obwohl sie in Träumen häufig auftauchen, in alltäglichen oder in merkwürdig unvermittelten Ängsten, sich auch in kaum erträglicher Nervosität oder in nicht erklärbaren körperlichen Schmerzgefühlen – Kopfschmerzen, Nackenschmerzen u.a.m. – melden. Das Unbewusste stellt kein gesichertes Vergessen dar, keine verlässliche Ruhe. Was durch das Bedürfnis zu verdrängen und zu vergessen unmittelbar bewirkt wird, ist das Überleben, ist die Möglichkeit, dass die Folgen schwieriger Erfahrungen das Weiterleben nicht ersticken. Verdrängen und Überleben kann im sich fortsetzenden Leben zu einer komplexen Doppeltheit der Gefühlserfahrungen führen.
Aufarbeitung als ein Erinnerungsweg, durch welchen Zeiten der immer wieder plagenden Leere mit dem gelebten Leben wieder rekonstruiert und dadurch tragfähig gemacht werden, ist auf vielfache Weise möglich. Die Psychoanalyse kann ein – mit Sorgfalt begleiteter – Weg sein, der häufig durch die bildhafte Sprache des Unbewussten, durch die Nacht- oder Tagsprache von Träumen aufwühlend, aufschlussreich und stärkend wirkt. Ein anderer Weg ist das Schreiben. Ich muss gestehen, dass, lange bevor ich mir eine analytische Aufarbeitung meines Lebens zugestand, ich über das Schreiben wichtige Wege zu finden und zu öffnen suchte, so wie dies während Jahrhunderten gepflegt wurde, von Menschen, die zum Teil als Schriftstellerinnen und Schriftstellern bekannt wurden, zum Teil nicht, da die Tage- und Nachtbücher allein Bedeutung für sie selber hatten.
Auf die Bedeutung der geschriebenen Worte will ich noch kurz eingehen; auf den Wert der psychoanalytischen Arbeit als Therapie werden wir eventuell in der Diskussion eingehen; auch meinerseits wurde schon viel publiziert[1]. Der wichtigste Teil des Abends werden die erzählerischen Erinnerungsfragmente sein, die nicht von mir, sondern von Ihnen ausgehen werden.
Was soll ich über die Bedeutung des Schreibens mitteilen, was seit Jahrhunderten ein nie abschliessbares Thema war? Weil das Schreiben seit der Kindheit nicht nur meine, sondern eine generell menschliche tägliche Tätigkeit war? Weil gerade das, was Menschen täglich tun, auf seine Bedeutung hin zu befragen ist? Oder weil die sokratische Tradition, das heisst die Wissensvermittlung über das Fragen und Weiterfragen, über die Erfahrung und über das gesprochene Wort, in unserer Kultur wenig Platz hat, weil sich, insbesondere in den Geisteswissenschaften, eine theoretische und dadurch erfahrungsängstliche Tradition des Bücherwissens verfestigt hat? Oder weil seit der Mitte des 20. Jahrhunderts infolge der elektronischen, bildkonzentrierten Informationsflut selbst die Wissensvermittlung über das gesprochene und geschriebene Wort mehr und mehr ausgeblendet wird?
Das geschriebene Wort steht metonymisch für Sprache, wie zum Beispiel Brot für Nahrung, wie Auschwitz für die Vernichtung von Menschen, deren Leben als unwert erklärt wurde, wie ethnische Säuberung für ein politisches Programm und einen Krieg mit erneuter Vertreibung und Zerstörung von Menschenleben, von Zusammenleben und von Kultur. Die Metonymie ist nicht nur Verkürzung, sondern auch Verdichtung dessen, worum es geht, sie ist die Chiffre, die mehr und Grösseres einschliesst, das unausgesprochen mitverstanden wird. Doch ich nehme an, dass in Ihrem Wunsch an mich nicht die Chiffre gemeint ist, die als “logos” und “verbum” in der Philosophie und in den Religionen unseres Kulturkreises so bedeutungsschwer ist, sondern dasjenige, was mit der Chiffre gemeint ist: die geschriebene Sprache, die Texte, die Bücher und deren darin verborgene, verschlüsselte Bedeutung, die es zu entschlüsseln galt.
Auf die Frage, wie ich dazu kam, eine Schreibende zu werden, will ich kurz eingehen. Ich wuchs mit Büchern auf, mein Vater war ein Sammler von Büchern, er glaubte an die Kraft der Bücher, an die generative Kraft des Geistes, die über die Bücher die Welt zu verändern vermag. Jedes Buch in seinen Händen war etwas Kostbares. Deshalb wurde er, der eigentlich ein Kaufmann war, zum Verleger. Sein Anliegen war, den Schreibenden, den Denkern und Denkerinnen, den Dichtern und Dichterinnen einen Weg aus der privaten Eingeschlossenheit des Schreibens in die Welt des Lesens, und unter die Menschen zu öffnen, ihren Texten jene Wirkkraft zu ermöglichen, an die er glaubte und die nur über die Multiplikation der Werke erfolgen kann, nur über deren Verbreitung in Gestalt von Büchern, die von Hand zu Hand gehen, die gelesen, besprochen und zitiert werden, deren Inhalt damit nicht zu Ende geschrieben ist, sondern durch jede Lektüre weiterwächst und zu einem neuen Text wird, unendlich multiplizierbare Gestaltwerdung von Denken, Zweifeln und Analysieren, von Fragen, Empfinden und Erklären, von Empörung und Begeisterung, von Freiheit, von Liebe, von Verrat, von Tod – Wirkkraft, weil Bücher die Flüchtigkeit und das Verklingen des gesprochenen Wortes zu bannen vermögen, weil sie das Gesetz der Zeitlichkeit – scheinbar – überwinden, weil sie Menschheitserbe bedeuten.
Meine Sozialisation erfolgte also zu einem wichtigen, stärkenden Teil über die Bücher, über das Lesen. Ich war noch ein Kind, als ich ins Gespräch trat mit den grossen Schriftstellern und Schriftstellerinnen – Initiation nicht nur in die Literatur, sondern in die Welt. Dies klingt prahlerisch, ich weiss, aber es war ja nicht die Wahl und Leistung des Kindes, sondern das Geschenk des Lesens, es war die Nahrung, die in den Kriegs- und Nachkriegsjahren in reicherem Mass vorhanden war als Lebensmittel. Landschaften und Städte wurden mir vertraut, die ich später, als ich reisen konnte, wiederentdeckte, als ich versuchte, die Hotels und Strassen wiederzufinden, wo ich lesenderweise Begegnungen, Gesprächen und Abschieden beigewohnt hatte, als ich auf Bahnsteigen oder in Cafés immer wieder stutzte, verwirrt und manchmal erschreckt, wenn ich plötzlich in ein Gesicht blickte, das ich zu erkennen meinte. Wien, Moskau, Prag, Triest, Paris, Deauville, Warschau, Berlin, Florenz hatten die Farbe von Bucheinbänden und den Geruch von Papier und Staub, ich brauchte keinen Pass für die Grenzübergänge, kein Eintrittsbillet in die Trauerspiele und Komödien des Welttheaters. Meine Identität baute sich auf und veränderte sich vorweg durch die wechselnden Identifikationen mit Frauen und Männern aus meiner geheimen, kulturenübergreifenden, zeit- und ortenthobenen Familie, aus Vorbildern, die sich mir nie entzogen, sondern die immer verfügbar waren, nachschlagbar und nachlesbar, die meinen Phantasien standhielten, die mit ihren Fragen und Aussagen, mit ihren bewunderswerten oder schrecklichen Entscheiden, mit ihrem Handeln und ihrer Ohnmacht für mich Massstäbe setzten. Ich weiss noch, wie ein lähmendes Grauen in mir wuchs, als ich das erstemal von den Bücherverbrennungen durch die Nazis erfuhr, dass ich sofort begriff, dass sich diese Gewalt gegen die Wirkkraft des Geistes richtete und gegen diejenigen, die die Bücher geschrieben hatten und ebenso gegen diejenigen, die sie lasen und liebten und hüteten wie etwas Lebendiges. Als ich achtzehn Jahre zählte, schrieb ich meine erste Arbeit – ein Märchen – über die Zeit.
Nochmals die Frage, was ist die Bedeutung des geschriebenen Wortes? Der Vater hielt mich und meine Schwester nicht nur zum Lesen, sondern auch zum Schreiben an, und nicht nur zum Schreiben, auch zum Zeichnen und Malen, kurz zu jeder Art von Formgebung und Gestaltung dessen, was in der Phantasie und im Denken sich abspielte. Er brachte uns zu diesem Zweck aus der Buchdruckerei sog. Blindbände mit, schön gebundene Bücher ohne Text. Die Bezeichnung war rätselhaft. Ich verstand sie auf meine Weise. Blind bedeutete für mich, dass ich nicht nachschauen durfte, dass ich nicht abschreiben durfte. Und ich begriff, dass ein Band nicht nur in die Zöpfe geflochten wurde, sondern auch ein Buch war. Mit dem Schreiben begann die Erfahrung der Vieldeutigkeit der Worte, die Erfahrung der Schwierigkeit mit dem richtigen Ausdruck, eine – wie ich heute weiss – unabschliessbare Erfahrung, die durch die verschiedenen Sprachen, die ich sprechen und schreiben lernte, vervielfacht und zugleich relativiert wurde, da zugleich das Vergnügen an der Variation wie an der Präzision wuchs. Ich liebte es, Briefe zu schreiben, und ich wurde nicht müde, während der langen Wege, die ich zu gehen hatte – Schulwege und andere – fertige Sätze, Argumente, Briefe, Geschichten und andere Texte im Kopf vorzuschreiben. Und wenn ich im Kopf nicht schrieb, beschäftigten mich andere Texte, auswendig gelernte Gedichte, die ich lautlos auch mit Melodien kombinierte, Variationen zu Gedichten und Liedern, Übersetzungssprachspiele, Alliterationen oder Reimübungen. Nie erschien mir ein Weg lang oder langweilig.
Zum zwanzigsten Geburtstag schenkte mir der Vater eine portable Schreibmaschine, eine Hermes Media, die mich fortan auf allen Reisen und auf allen Wohnsitz- und übrigen Lebenswechseln begleitete und auf der ich, bis ich mich vor wenigen Jahren zu einem PC überzeugen liess, alle Texte schrieb. Doch die Gewohnheit, auf meinen Wegen, während der langen Strassenbahnfahrten und Stadtspaziergänge, “im Kopf” Texte vorzuschreiben oder mir Texte in Erinnerung zu rufen, habe ich nie aufgegeben. Ich bin überzeugt, dass Sprache und Schrift Partizipation an der Schöpfung sind, dass sie zudem ebenso sehr Welthaftigkeit bedeuten wie jede bewusste Beziehung, wie die Verbindung zu einem Kind, wie der tägliche Landbau, der Städtebau oder der Handel mit lebenswichtigen Gütern, das heisst wie all jenes, was der aufbauenden und fortdauernden Beziehungshaftigkeit der Menschen dient, letztlich was sich der Destruktivität entgegenstellt. Über das Schreiben entstand und entsteht vorweg eine Textualität der Welt und der darin lebenden Menschen, die Beweis ist für das stärkere, Gewalt und Tod überdauernde Leben des Geistes. Ich bin daher überzeugt, dass diejenigen, die sich über das Schreiben einmischen in die fortdauernde Gestaltgebung der Welt, eine besondere Verantwortung tragen. Ob es sich um Wissenschaft oder um Fiction handle, um Versuche der möglichst exakten Wirklichkeitswiedergabe oder -analyse, um ganz subjektive Welt- und Lebensdeutungen, um welche Texte auch immer – das Scheinhafte, das Vorgegebene von Worten sollte ausgeschlossen und das Streben nach Sorgfalt in der Übereinstimmung von Denken und Empfinden, von Erleben und Beurteilen sollte zum inneren Massstab werden. Ist dies eine zu hohe, eine zu grosse Forderung? Kann ihr überhaupt entsprochen werden? Ich nehme an, dass die Schwierigkeit, ihr zu genügen, einer der Gründe für die immer wieder von neuem quälenden Schreibhemmungen und -blockaden sind, für die Erfahrung, dass das Schreiben immer von neuem eine unausweichliche Selbstprüfung bedeutet. Wenn dem nicht so wäre, könnte es den Anspruch erheben, Teil eines nicht abbrechenden Gesprächs zu werden, das die vorweg sich gestaltgebene Welthaftigkeit der einzelnen menschlichen Existenz dokumentiert? Käme dem geschriebenen Wort ausserhalb dieses Anspruchs überhaupt Bedeutung zu?
Mit diesen Überlegungen und den daraus sich ableitenden Fragen möchte ich zum Gespräch überleiten.
[1] cf. z.B. entwürfe nr. 18/1999, auch zahlreiche MOMA-Hefte
Zeitverhältnisse
Transzendierte Zeit.
Zukunft – Hoffnung und Phantasie, Flüchtigkeit des Lebens, Tod.
5. Abend
Innerhalb der vorgegebenen Zeitordnung unternehmen wir heute den fünften Versuch, die vielfach rätselhafte Zeit – die Zeitverhältnisse – zu ergründen. Wir werden uns mit der noch nicht erlebten Zeit befassen, mit den Zeitentwürfen, mit der Zukunft, sowohl der planbaren und vorhersehbaren, wie der durch die Begrenztheit des menschlichen Lebens zwar bewussten, jedoch zumeist gefürchteten und daher verdrängten, der Vorstellung endgültig entgleitenden definitiven Zukunft. Es geht am heutigen Abend um Überlegungen, in welchen versucht werden soll, die vielfache Zeitvernetzung im menschlichen Leben zu entfalten. Es mag in den mit dem 4. Abend verbundenen Denkprozessen deutlich geworden sein, dass durch die aktive, die je aktuelle lebendige Zeiterfahrung die erinnernde und die sich zum Teil der Erinnerung entziehende Rückschau einbezogen oder beiseite geschoben wird. Dass die guten Spuren zumeist sorgfältig gehütet und bewahrt werden, als könnten sie das Zerrinnen der Zeit aufhalten und eine Garantie darstellen gegen das Vergehen, während die lebensbedrohlichen Spuren ins Unbewusst eingepackt werden, als sei mit der Verdrängung eine Heilung verbunden – was nie der Fall ist.
Beim unbewussten psychischen Vorgehen der Verdrängung geht es um das mit der Zeitvernetzung verbundene Vorausschauen auf Zeitabläufe, die noch nicht sind, bei einzelnen Menschen eine sorgenvolle und ängstigende Unsicherheit, bei anderen ein vorausschauendes Streben und Hoffen, wiederum bei anderen Menschen ein Berechnen und Planen, immer gestützt auf die psychischen Voraussetzungen, je nachdem auf die im Innern verborgene, auf das Erleben und Erkennen sich abstützende Kraft, die Bergson „l’élan de la conscience“ nennt, d.h. den mit dem Bewusstsein verbundenen Schwung. Ob das Bewusstsein es vermag, wie Bergson annimmt, dass die im Unbewussten eingebetteten und daher sprachlos gewordenen, geheimen Erfahrungen der gelebten Zeit sich im Dunkeln rühren und eventuell gar lichterfüllt in die sprachliche Mitteilung und so in die Verarbeitung vorrücken, ob sie dadurch die kommende Zeit des Ich-Seins im nicht abwendbaren Vergehen der körperlichen Lebendigkeit auf stärkende Weise beeinflussen, ist sehr unterschiedlich. Dass es auf gute, beruhigende Weise gelinge, ist ein grosser Wunsch. „Zu wissen, dass die Zeit eine Einbildung ist und nichts mich zur Eile drängt. Ich möchte einmal wirklich schauen dürfen und die Dinge so sehen, wie sie sich uns nie zeigen“, hielt Marlen Haushofer fest, die ungewöhnliche österreichische Schriftstellerin, für welche die Sprache als Weg aus der Kolonisation in die Autonomie und die geheimnisvollen Kräfte, die Liebe heissen, die grösste Bedeutung hatten. Ob Liebe mit der Lebenskraft des Atems übereinstimmt, mit dem warmen Hauch, in welchem die Sprache in der Weiblichkeit wie in der Männlichkeit zum verstehenden Austausch wird und zugleich die Differenz trägt, oder ob sie die stärkste Manifestation der in der Menschlichkeit kaum erfüllbaren, tiefen Sehnsucht nach Aufhebung der Zeit ist, mittels der Sexualität – des „schönen Beischlafs“, wie Elfriede Jelinik schreibt -, wie dank der Fortsetzung der eigenen begränzten Lebendigkeit in einem Kind – vielleicht in mehreren Kindern -, wie dank der Erfahrung zeitunabhängiger Dauer (cf. Bergson) durch zwischenmenschliche Zusammengehörigkeit in Beziehungen, immer ist Liebe verbunden mit der zeitlosen Zeit und mit dem nicht begrenzten Raum, d.h. Liebe ist die in der Menschlichkeit am stärksten spürbare Dauer.
Die Frage, wie und warum sowohl die vergangene wie die noch nicht erlebte Zeit die jeweilige Bedeutung der Zeit vorweg beeinflussen, trifft einerseits, im Bereich der Philosophie, mit der Kernfrage der Ethik zusammen: mit der Frage, was ein „gutes“ und was ein weniger gutes, eventuell gar ein „schlechtes“ Leben sei und was es bewirke. Wäre Zeitlosigkeit die „condition humaine“und nicht Zeit, und würde Zeit nicht immer im Zeichen des Todes stehen, würde sich die Frage nach dem „guten Leben“ nicht stellen. Die Kernfrage der Ethik hat mit der Tatsache zu tun, dass die zu lebend Zeit befristet ist, dass aber die Frist mit Hilfe der Erkenntismöglichkeiten, trotz aller Einschränkungen in der Umsetzung des Erkennens ins Handeln, möglichst gut genutzt wird. Ob Gefühle der inneren Befriedigung, des inneren Friedens, sogar des Glücks miteinhergehen, mag ein spürbarer Massstab für ein gelingendes Programm der Ich-Entwicklung sein. Leicht ist dies kaum. Sarah Kofman, zum Beispiel, hielt im letzten schmalen Werk vor ihrem Tod im Jahre 1994 eine vorsichtige, selbst im Nachlesen schmerzliche, fragmentierte Spurensicherung ihres eigenen Ich fest[1], über das Erzählen des Erinnerbaren aus der Kindheit und aus der Zeit des Heranwachsens, über das Benennen und Untersuchen der Leerstellen, der Brüche, der sprachlos gebliebenen Verluste, so der Deportation und der Tötung des Vaters in Auschwitz, auch über das Nachspüren der traumatisierenden Identifikationsdiffusion zwischen der inneren Beziehung zur Mutter und andererseits zur Hilfsmutter/Ersatzmutter/Wahlmutter. Es ist eine späte Spurensicherung mit Hilfe der Sprache (worauf wir schon am ersten Abend eingegangen sind), nachdem sie mit grosser Sorgfalt und vorbildlichem Respekt in ihrem ganzen Werk den Versuch der Rückgewinnung des Ich in den Erzählungen der Überlebenden aus den Lagern der Vernichtung des individuellen Ich und des Menschheits-Ich mit Hilfe der analytischen Arbeit zu verstehen versucht hatte. Das Schreiben, das Zuhören, das Verstehen und Sprechen werden bei Sarah Kofman zur Möglichkeit, die Bilder aus der Sprachlosigkeit zu befreien und das Unsägliche zu benennen, das das Ich seinen/ihren Platz und Namen in der eigenen Geschichte, in den Beziehungen der Welt, auch in Hinblick auf die nicht berechenbare Zukunft – den letztlich unabwendbaren Tod – wiedergewinnen kann.
Immer wieder stelle ich in meiner existenz- und gesellschaftsanalytischen Arbeit fest, dass das Gefühl für die Bedeutung der Realität, auch das Gefühl für den Rhythmus der Zeit, häufig selbst das Gefühl für Recht und Unrecht verloren geht, wenn zum Beispiel Ermattung überhandnimmt und die Kraft des Widerstands gegen bedrohliche Machteinflüsse schwächer wird. Die Unterwerfungszugeständnisse, die in solchen Zeiten gemacht werden, demütigen die Menschen vor sich selber in einem Mass, dass sie sich klein und ohnmächtig fühlen. Ein Verlust der Lebensliebe ist beim Verlust jeglicher sicheren Liebe zu befürchten, wenn Gefühle der Entfremdung überhandnehmen. Doch immer besteht auch die Möglichkeit, dass diese Krisenerfahrungen zu einer Ich-Stärkung führen, zu einer zustimmenden Identitätsfindung sowohl im Zusammenhang der Geschichte (der weit zurückführenden Herkunftsgeschichte wie der eigenen, häufig schmerzlichen Entwicklungsgeschichte) wie des Entwurfs des noch offenen, aber begrenzten Lebens. Es geht um die von der Psyche aus beeinflussbare Sinnhaftigkeit des Lebens – selbst im Wissen um den Tod.
Neben den für mich so bedeutenden Überlegungen Sarah Kofmans gibt es eine Fülle von Texten, welche diese Überlegungen auf spezifische bestätigen. Nur auf sehr wenige ist es möglich, kurz hinzuweisen. Als Margarete Susman fast neunzig Jahre alt war (1963, drei Jahre vor ihrem Tod), vollendete die erblindete Philosophin und Dichterin ihren Lebensrückblick[2], den zu schreiben das Leo Baeck Institut in New York sie gebeten hatte. Persönlich zu schreiben war nicht mehr möglich, und so verschlang das ungewohnte Diktieren mehrere Jahre. Als sie das Buch abschloss, bezeichnete sie es als Fragment. „So ist die Zeit“, hält sie in der Einleitung fest. „Ein Tag nach dem anderen vergeht. Eben noch war es Abend, nun ist es wieder Morgen geworden, und ich muss ein Blatt von dem grossen Kalender auf meinem Schreibtisch abreissen, und in kaum mehr als einer Minute wird es wieder Abend sein. So geht es fort, und aus all diesen Minuten spinnt sich ein langes, unbegreifliches Menschenleben zusammen, ein Leben (…), in dem das Selbstverständliche unbegreiflich und das Unbegreifliche selbstverständlich geworden ist.“ Dies galt für sie auch beim angstfreien Wegrutschen aus der Zeit, beim spürbar angstlosen Hinübergleiten in den Tod, wie die Margarete Susman nahestehende Begleiterin mir vor Jahren erzählte.
Auf besondere Weise berührte mich auch die präzise, sorgfältige Selbstbetrachtung[3] des amerikanischen Schriftstellers Harold Brodkey, der, 1930 geboren, 1996 in N.Y. an den Folgen eines nicht heilbaren Aids-Infektes starb. Er schildert sich selber als „Hypochonder“ während seiner ganzen Lebenszeit, die erfahrungsreich und beziehungsreich war, auch immer geprägt durch „einen äusserst festen Sockel für meine Stimmungen und Geisteszustände, für meine mentale Landschaft”. Eines Tages aber musste er die Symptome einer völlig neuen Krankheit in sich entdecken. „Mein Leben hat sich irreversibel verändert, auf dieses Sterben hin“. Um zu verständlichzu machen, was die „irreversible Veränderung“ bedeutet, nimmt er die früheren Erlebnisse und Denkprozesse auf und geht zunehmend auf das sich leise entwicklende „echte Staunen“ ein. „Man möchte das Wirkliche noch hie und da erspähen. Gott ist etwas Unermessliches, während diese Krankheit, dieser Tod, der in mir steckt, dieses kleine, banale Ereignis, lediglich real ist, restlos, ohne ein Wunder zu bergen – oder eine Lehre. Ich stehe auf einem frei daheintreibenden Floss, einem Kahn, der sich auf der biegsamen, fliessenden Oberfläche eines Stroms bewegt. Eine unsichere Situation. Ich weiss nicht, was ich da tue. Die Unwissenheit, die angespannte Balance, die abrupten Stösse und die Instabilität breiten sich in kleinen, immer weitere Kreise schlagenden Wellen über all meine Gedanken aus. Frieden? Den hat es auf der Welt nie gegeben. Doch auf dem gescheidigen Wasser, unter dem Himmel, unverankert, reise ich nun dahin und höre mich lachen, zuerst vor Nervosität und dann vor echtem Staunen. Ich bin davon umgeben.“
Vor einigen Jahren bat mich auch eine seit sieben Jahren an Krebs leidende Bekannte, die sich der Unheilbarkeit und der sich beschleunigenden Todesnähe bewusst war, dass wir gemeinsam auf all dies – das gelebte Leben und die sich verengende Zukunft – eingehen. Sie war weder Philosophin noch Literatin, sie stammte aus einfacher, herkömmlicher Familie. Dank einem tiefen Schönheitsgefühl hatte sie einen erfolgreichen Kunsthandel aufgebaut. Die „Abschlussarbeit“, die sie, müde und erschöpft, mit grosser Verdichtung zustandebrachte, entsprach einer ausklingenden Komposition. Was ich aus den Gesprächen während der letzten Lebenstage erlebte, hielt ich fest, so wie ich es hier wiedergebe[4]: In der Welt sein und Teil der Welt sein ist der einzige Zustand, den wir kennen. Es ist gleichbedeutend mit Lebendigsein, mit Leben. Er schliesst alles ein, was unsere Existenz ausmacht, was sie seit dem Anfang des erwachenden Bewusstseins in frühester Kindheit erfahren hat: erwachen, tätig sein, ruhen, durch Strassen und über Plätze eilen, Gewässern entlang oder durch Wiesen streifen, allein sein oder nicht allein sein, lernen und immer wieder lernen, planen, Pläne ausführen, eine Hand halten, lieben, geliebt werden, Verluste erleben, Trauer und Verzweiflung durchstehen, sich stark fühlen oder krank und verlassen, Hunger haben, sich gesättigt fühlen, einen Platz ausfüllen in einem Tätigkeitsbereich, in einer Familie, in einem Dorf oder in einem Freundes- und Freundinnenkreis, Entscheide fällen, Entscheiden ausweichen oder fremde Entscheide annehmen müssen, schuldig werden, Gutes tun, Verzeihung erfahren oder selbst verzeihen, nützlich sein, für politische Ideale wirken, leiden, Angst kennen und Ausweglosigkeit, die Nähe des Todes spüren, Distanz nehmen, loslassen und zugleich sich verwurzelt fühlen in dieser geschenkten, befristeten und verpflichtenden Welthaftigkeit, die das Leben bedeutet.
Nur dies kennen wir, sonst nichts, nur diese Welthaftigkeit. Über deren Grenzen und Bedingungen aber, über deren Ursprung und Ziel drängt es uns, nachzudenken, ist doch unsere – menschliche und diesseitige – Welthaftigkeit zugleich Geisthaftigkeit, Ahnung einer geheimnisvollen und verborgenen Zugehörigkeit zu einer zeitüberdauernden, bedingungsfreien, jenseitigen Welt, von der wir, die Lebenden, keine Kenntnis haben, die sich erst jenseits der Zeit und jenseits des Todes erschliesst. “Sterben” nennen wir die Passage von dieser Welt in die unbekannte jenseitige.
“Was weisst du vom Sterben”, hatte Brigitte mich gestern vor einer Woche gefragt. Sie hatte mich gerufen, weil sie, wie sie sagte, dringend Hilfe brauchte, weil erstickende Angst sie tagsüber und nachts überfiel wie Hundegebell.
“Ich weiss nur wenig, nur was ich aus beobachtender Nähe erfahren konnte, mehr nicht”.
“Ist es schrecklich?”
“Ich denke nicht, da die Ängste dann ein Ende haben”.
“Dann ist es etwas Friedvolles?”
“Ja”, sagte ich, “ich denke, dass es etwas Friedvolles ist.
Wie ich von ihr wegging, erinnerte ich mich einiger Zeilen von Karl Kraus, in denen Gott zum sterbenden Menschen spricht (so ist auch der Titel des Gedichts “Der sterbende Mensch”):
“Im Dunkel gehend, wusstest du ums Licht,
nun bist du da und siehst mir ins Gesicht.
Sahst hinter dich und suchtest meinen Garten.
Du bliebst am Ursprung. Ursprung ist das Ziel”.
Der Ursprung ist das Ziel? Wenn das Leben der Ursprung ist – die Kraft der Schöpfung-, so ist das Ziel wiederum das Leben?
Ist deshalb Sterben etwas Friedvolles? Weil es eine Passage ist aus dem “Gehen im Dunkel” der unbeantwortbaren Fragen ins Licht? Aus dem zerfliessenden, gehetzten Leben unter dem Diktat des Chronometers, der erbarmungslos tickenden Zeit in die Stille des zeit- und bedingungslosen Lebens?
Der Ursprung ist das Ziel. Vielleicht findet sich in diesem knappen Satz die Antwort auf die Frage, wie wir uns vorbereiten sollen auf den Tod, ohne ständig daran zu denken. Die Antwort würde dann heissen, dass wir das Leben, wie wir es hier als Welthaftigkeit erfahren und dank unserer Geisthaftigkeit, dank unseren Talenten gestalten und verwirklichen können, ernst nehmen – gemäss den Bedingungen der Zeit, gemäss der “condition humaine”. Denn immer ist die Zeit nur als Gegenwart erlebbar, als Abfolge von nicht wiederholbaren, einmaligen Augenblicken, die in ihrer Einmaligkeit und Nichtwiederholbarkeit, in ihrer Unaustauschbarkeit jeden Atemzug, jeden Schritt, jede Begegnung und jede Berührung, auch jede Erkenntnis einmalig machen. Mir scheint, dass Brigitte gegen Ende ihres Lebens darum wusste. Mehrmals sprach sie vom Glück, frühmorgens dem ersten Lied einer Amsel zu lauschen, oder sich im winterlichen Garten von der Nachmittagssonne wärmen zu lassen, oder einfach eine Hand zu halten.
Das Leben nach den Bedingungen der Zeit ernst nehmen, heisst auch, den Aufgaben gerecht werden, die jede Einzelne und jeder Einzelne für sich selbst als verpflichtend erachtet, so verschieden diese Aufgaben und die Auffassungen davon sein mögen. Brigitte war in ihrer Pflichtauffassung ganz und gar unbeirrbar. Makellose Ordnung und Pünktlichkeit gehörten dazu, geregelte Formen, grösste Präzision in Abmachungen und in der Einhaltung von Abmachungen, und was sie von sich selbst forderte, erwartete sie mit fragloser Selbstverständlichkeit von ihren Mitarbeiterinnen und Geschäftspartnern, eigentlich von allen Menschen, die sie umgaben. Möglicherweise habe sie damit einigen Unrecht getan, überlegte sie sich in einem unserer letzten Gespräche.
Warum diese Ordnungsliebe, fragte ich mich öfters. Sie entsprach einem grossen Bedürfnis. Mas sein, dass Angst vor dem Unberechenbaren, Undurchschaubaren, auch vor dem Unverfügbaren dahinter stand. Mag sein, dass sie ihrem aesthetischen Bedürfnis entsprach, diesem grossen Bedürfnis nach Regeln der Harmonie. Ich weiss es nicht.
Dass die Harmonie selbst eine Übereinstimmung ist, die sich nicht durch Regeln erzwingen lässt, nicht durch Willensanstrengung und Durchsetzungskraft, dass sie einem als Geschenk widerfährt, wenn man bereit ist, loszulassen und vom eigenen Verfügen abzusehen, das hatte Brigitte eigentlich nur durch die unerfüllte Sehnsucht nach Harmonie, nur durch den inneren Mangel erfahren. Diese Unerfülltheit mag der Kern ihres Leidens und ihrer Lebenstrauer gewesen sein. Wir sprachen mehrmals darüber, als sie noch gesund war und dann gegen Schluss ihrer schweren Krankheit, die sie mit der gleichen Ordentlichkeit und mit dem gleichen Stil zu bestehen suchte wie jede andere anspruchsvolle Aufgabe. Ebenfalls am Freitag, bei unserem letzten Gespräch vor einer Woche, sagte sie, sie habe das nun verstanden, sie sei nun bereit.
Die Kraft zur Synthese der Zeitverhältnisse ist, denke ich, die eigentliche kreative Vernunft. Sie befähigt nicht nur zur Sinngebung in Bezug auf das Vergangene und das Gegenwärtige der Zeiterfahrung, sondern auch zu jener Wachheit, zu jener freiheitlichen Bereitschaft, die Margarete Susman „Rechtzeitigkeit“ nennt. In ihrem Lebensrückblick bezeichnet sie die Rechtzeitigkeit als Gnade. „Ich möchte diese seltene Gnade als einen Augenblik bezeichnen“, hält sie fest, „in dem die Zeit sich aus unserem Leben zurückzieht und nur die reine Gegenwart übriglässt, und je öfter dies geschieht (ich würde sagen, je intensiver) um so mehr ist ein Leben ein Leben gewesen.
Zukunft ist in jeder Lebensphase eine korrigierende und eine schöpferische Zeit. Auf viele Überlegungen und Fragen mögen die damit verbundenen Gespräche eingehen.
[1] Sarah Kofman. Rue Ordener – Rue Labat
[2] Margarete Susman. Ich habe viele Leben gelebt. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1964
[3] Harold Brodkey. This wild darkness. Die Geschichte meines Todes. Übersetzerin: Angela Praesent. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1996
[4] wie ich es auch im Rahmen ihrer Begräbnisfeier aussprach, gemäss ihrem Wunsch.