Totenrede für Brigitta Almeida Lopez
Totenrede für Brigitta Almeida Lopez
Gestorben am 17. März 1991 in Zürich
Begraben am 23. März 1991 in Steinhausen
Liebe traurende Familie
Liebe trauernde Anwesende
In der Welt sein und Teil der Welt sein ist der einzige Zustand, den wir kennen. Es ist gleichbedeutend mit Lebendigsein, mit Leben. Er schliesst alles ein, was unsere Existenz ausmacht, was sie seit dem Anfang des erwachenden Bewusstseins in frühester Kindheit erfahren hat: erwachen, tätig sein, ruhen, durch Strassen und über Plätze eilen, Gewässern entlang oder durch Wiesen streifen, allein sein oder nicht allein sein, lernen und immer wieder lernen, planen, Pläne ausführen, eine Hand halten, lieben, geliebt werden, Verluste erleben, Trauer und Verzweiflung durchstehen, sich stark fühlen oder krank und verlassen, Hunger haben, sich gesättigt fühlen, einen Platz ausfüllen in einem Tätigkeitsbereich, in einer Familie, in einem Dorf oder in einem Freundeskreis, Entscheide fällen, Entscheiden ausweichen oder fremde Entscheide annehmen müssen, schuldig werden, Gutes tun, Verzeihung erfahren oder selbst verzeihen, nützlich sein, für politische Ideale wirken, leiden, Angst kennen und Ausweglosigkeit, die Nähe des Todes spüren, Distanz nehmen, loslassen und zugleich sich verwurzelt fühlen in dieser geschenkten, befristeten und verpflichtenden Welthaftigkeit, die das Leben bedeutet.
Nur dies kennen wir, sonst nichts, nur diese Welthaftigkeit. Über deren Grenzen und Bedingungen aber, über deren Ursprung und Ziel drängt es uns, nachzudenken, ist doch unsere – menschliche und diesseitige – Welthaftigkeit zugleich Geisthaftigkeit, Ahnung einer geheimnisvollen und verborgenen Zugehörigkeit zu einer zeitüberdauernden, bedingungsfreien, jenseitigen Welt, von der wir, die Lebenden, keine Kenntnis haben, die sich erst jenseits der Zeit und jenseits des Todes erschliesst. “Sterben” nennen wir die Passage von dieser Welt in die unbekannte jenseitige.
“Was weisst du vom Sterben”, hatte Brgitte mich gestern vor einer Woche gefragt. Sie hatte mich gerufen, weil sie, wie sie sagte, dringend Hilfe brauchte, weil erstickende Angst sie tagsüber und nachts überfiel wie Hundegebell.
“Ich weiss nur wenig, nur was ich aus beobachtender Nähe erfahren konnte, mehr nicht”.
“Ist es schrecklich?”
“Ich denke nicht, da die Ängste dann ein Ende haben”.
“Dann ist es etwas Friedvolles?”
“Ja”, sagte ich, “ich denke, dass es etwas Friedvolles ist.
Wie ich von ihr wegging, erinnerte ich mich einiger Zeilen von Karl Kraus, in denen Gott zum sterbenden Menschen spricht (so ist auch der Titel des Gedichts “Der sterbende Mensch”):
“Im Dunkel gehend, wusstest du ums Licht,
nun bist du da und siehst mir ins Gesicht.
Sahst hinter dich und suchtest meinen Garten.
Du bliebst am Ursprung. Ursprung ist das Ziel”.
Der Ursprung ist das Ziel? Wenn das Leben der Ursprung ist – die Kraft der Schöpfung-, so ist das Ziel wiederum das Leben?
Ist deshalb Sterben etwas Friedvolles? Weil es eine Passage ist aus dem “Gehen im Dunkel” der unbeantwortbaren Fragen ins Licht? Aus dem zerfliessenden, gehetzten Leben unter dem Diktat des Chronometers, der erbarmungslos tickenden Zeit in die Stille des zeit- und bedingungslosen Lebens?
Der Ursprung ist das Ziel. Vielleicht findet sich in diesem knappen Satz die Antwort auf die Frage, wie wir uns vorbereiten sollen auf den Tod, ohne ständig daran zu denken. Die Antwort würde dann heissen, dass wir das Leben, wie wir es hier als Welthaftigkeit erfahren und dank unserer Geisthaftigkeit, dank unseren Talenten gestalten und verwirklichen können, ernst nehmen – gemäss den Bedingungen der Zeit, gemäss der “condition humaine”. Denn immer ist die Zeit nur als Gegenwart erlebbar, als Abfolge von nicht wiederholbaren, einmaligen Augenblicken, die in ihrer Einmaligkeit und Nichtwiederholbarkeit, in ihrer Unaustauschbarkeit jeden Atemzug, jeden Schritt, jede Begegnung und jede Berührung, auch jede Erkenntnis einmalig machen. Mir scheint, dass Brigitte gegen Ende ihres Lebens darum wusste. Mehrmals sprach sie vom Glück, frühmorgens dem ersten Lied einer Amsel zu lauschen, oder sich im winterlichen Garten von der Nachmittagssonne wärmen zu lassen, oder einfach eine Hand zu halten.
Das Leben nach den Bedingungen der Zeit ernst nehmen, heisst auch, den Aufgaben gerecht werden, die jede Einzelne und jeder Einzelne für sich selbst als verpflichtend erachtet, so verschieden diese Aufgaben und die Auffassungen davon sein mögen. Brigitte war in ihrer Pflichtauffassung ganz und gar unbeirrbar. Makellose Ordnung und Pünktlichkeit gehörten dazu, geregelte Formen, grösste Präzision in Abmachungen und in der Einhaltung von Abmachungen, und was sie von sich selbst forderte, erwartete sie mit fragloser Selbstverständlichkeit von ihren Mitarbeiterinnen und Geschäftspartnern, eigentlich von allen Menschen, die sie umgaben. Möglicherweise habe sie damit einigen Unrecht getan, überlegte sie sich in einem unserer letzten Gespräche.
Warum diese Ordnungsliebe, fragte ich mich öfters. Sie entsprach einem grossen Bedürfnis. Mas sein, dass Angst vor dem Unberechenbaren, Undurchschaubaren, auch vor dem Unverfügbaren dahinter stand? Mag sein, dass sie ihrem aesthetischen Bedürfnis entsprach, diesem grossen Bedürfnis nach Regeln der Harmnie? Ich weiss es nicht.
Dass die Harmonie selbst eine Übereinstimmung ist, die sich nicht durch Regeln erzwingen lässt, nicht durch Willensanstrengung und Durchsetzungskraft, dass sie einem als Geschenk widerfährt, wenn man bereit ist, loszulassen und vom eigenen Verfügen abzusehen, das hatte Brigitte eigentlich nur durch die unerfüllte Sehnsucht nach Harmonie, nur durch den inneren Mangel erfahren. Diese Unerfülltheit mag der Kern ihres Leidens und ihrer Lebenstrauer gewesen sein. Wir sprachen mehrmals darüber, als sie noch gesund war und dann gegen Schluss ihrer schweren Krankheit, die sie mit der gleichen Ordentlichkeit und mit dem gleichen Stil zu bestehen suchte wie jede andere anspruchsvolle Aufgabe. Ebenfalls am Freitag, bei unserem letzten Gespräch vor einer Woche, sagte sie, sie habe das nun verstanden, sie sei nun bereit.
Nun ist sie im Ursprung und zugleich im Ziel. Nun wird auch ihre Sehnsucht erfüllt sein.
Wir wollen ihrer in Liebe gedenken. Möge sie ruhen im Frieden.