„Das Leben – die einzige Zuflucht“ – Trauma – Begriff und Realität

„Das Leben – die einzige Zuflucht“

Trauma – Begriff und Realität

 

„Trauma“ – das Wort findet sich in der altgriechischen Literatur, wenn es um ein „Leck“ an Odysseus‘ Schiff geht oder um eine körperliche oder seelische „Wunde“, die durch Fäuste, Pfeile oder andere Waffen angetan wird, die Not, Schmerz und Angst, zutiefst das Erdulden von vielfachem Leiden bewirkt.

Als „Trauma“ wird sowohl eine einmalige wie eine fortgesetzte Gewalterfahrung verstanden, durch welche die Lebenskontinuität durchbrochen wird und eine schwere Verletzung der seelischen Integrität, des Selbstwertgefühls und des Beziehungsgefüges erfolgt. Jedes Ereignis und jedes Geschehen kann traumatisierend sein, wenn damit eine Erfahrung des Zuviel einhergeht, sei dies ein Zuviel an Gewalt oder an Deprivation, an Verlust der Lebenssicherheit, an Verlust der Freiheit, an Verlust der körperlichen Intaktheit, an Verlust einer wichtigen Bezugsperson. Traumatisierte Menschen wurden zu hilflosen Objekten gemacht. Sie sind Leidende, unabhängig von Alter und Geschlecht, von Herkunft  und sozialem Zusammenhang. Die am schwersten Leidenden sind Kinder, deren Wissen um den eigenen Wert zu leben erst im Aufbau ist, die noch kaum über Ressourcen innerer Sicherheit verfügen.

Auf unzählige Weise wird Gewalt Menschen durch andere Menschen angetan, ob im geschlossenen, privaten Raum oder im öffentlichen Raum, ob im Kreis der eigenen Familie, durch nahe Vertraute oder durch Fremde und Vorgesetzte, ob in Chefetagen, Polizeistationen oder Kasernen, ob durch Schläge oder durch Worte, ob durch Missbrauch von psychischer oder von körperlicher Macht im Missbrauch von Vertrauen oder von Schwäche und Abhängigkeit. Traumatisierend ist jede Erfahrung von Gewalt, ob diese selber erduldet werden muss oder ob der Mensch zum hilflosen Zeugen von Gewalt gegenüber anderen Menschen wird, gegenüber Mutter, Vater oder Geschwistern, gegenüber Freunden und Freundinnen, gegenüber wehrlosen Fremden.

Gewalt kann aus unkontrollierter Willkür oder aus beabsichtigtem, gesetzeswidrigem Machtverhalten und Handeln Einzelner geschehen. Immer wird sie angetan, immer hat sie ein Objekt. Sie kann zur gesetzeskonformen Allmacht anwachsen, die sich durch politische oder religiöse Ideologien rechtfertigt  und schwerste kollektive Traumata verursacht. Verfolgung und Vertreibung, qualvolle Erniedrigung und Heimatlosigkeit, Leiden und Tod zahlloser machtloser, hilfloser Menschen sind die Folge. Der innere und der äussere Lebensraum werden nur noch von Angst beherrscht.

Angst und Machtlosigkeit können lähmende Unterwerfung bewirken oder verzweifelte Anstrengung zu überleben. Oft wächst daraus neues Leiden, so oder so. Selbst in Gesellschaften, denen Krieg und Verfolgung erspart blieben, besteht das  Gesetz der Gewalt darin, dass eine Kettenreaktion von Leiden entsteht, eine Fortsetzung von Unsicherheit und Angst oft über Generationen. Aus transgenerationellem psychischem Leiden, das der Genesung entbehrt, können sich seelische Taubheit und Verhärtung entwickeln, dadurch ein Abwehrverhalten gegen Machtlosigkeit durch das Streben nach Macht, das sich eventuell in neue Gewalt kehrt.

 

Seelisches Leiden als „posttraumatische Belastungsstörung”

Der Begriff „posttraumatische Belastungsstörung” (Posttraumatic Stress Disorder PTSD) ist seit den späten achtziger Jahren des vergangenen jahrhunderts geläufig. Amerikanische Psychiaterinnen und Psychiater haben ihn in der Folge von Beobachtungen bei Rückkehrenden aus dem Vietnamkrieg als Diagnosebegriff geschaffen, mit dem eine Vielzahl von psychischen und somatischen Symptomen – Angstzustände, Schlaflosigkeit, Gedächtnisverlust, Depressionen, Kopfschmerzen, Nacken-, Schulter- und Rückenschmerzen, Unterleibsschmerzen und andere Belastungen mehr – erfasst werden sollten, die aus traumatischen Erfahrungen resultieren.

Im wissenschaftlichen Disksurs wird zunehmend deutlich, dass der klinische Begriff des PTSD zu eng gefasst ist, dass an dessen Stelle eine weitere und zugleich differenziertere Erfassung der Leidenssymptome angezeigt ist. In verschiedenen Publikationen wird darauf hingewiesen, dass statt von „Störung” eher von psychischer und körperlicher Reaktion auf unerträgliches Leiden gesprochen werden sollte, durch welche zugleich das zentrale Bedürfnis, unversehrt zu leben, deutlich wird.

Ich stimme mit David Becker (Santiago de Chile) überein, dass ein Trauma als Prozess zu verstehen ist, der mit einer verstörenden Erfahrung beginnt, jedoch nicht auf die Erfahrung begrenzt ist, sondern weiter wirkt. Häufig sind persönlich erlebte Traumata auch Teil und Folge gesamtgesellschaftlicher Bedingungen, die sowohl im diagnostischen wie im therapeutischen Zusammenhang miterfasst werden sollten. Diese Erkenntnis macht deutlich, dass  es wichtig ist, die Psychoanalyse, die noch für die Opfer des Holocaust einen Weg aus der nicht integrierbaren extremen Leiderfahrung zu zeigen vernochte, heute durch weitere therapeutische Möglichkeiten zu ergänzen ist, die einen klärenden Prozess mit der Vergangenheit, letztlich eine Versöhnung mit dem eigenen Leben zulassen.

Bekannt sind aus der Nachkriegszeit in Deutschland die verhängnisschweren Folgen des Schweigens, das auch die Kinder und Kindeskinder von Tätern zu Opfern werden lässt, indem sie die nicht aufgearbeitete Geschichte als traumatisierendes Erbe mitbekommen, ob als unklares Schuldgefühl, das ihr eigenes Leben lähmt, oder als dunkel vermittelten Widerholungszwang, wie er sich im neu entstehenden Rassismus und Rechtsextremismus zeigt. Um die Aufarbeitung der Spätfolgen bei Kindern von Tätern wie von Überlebenden der nationalsozialistischen und anderer ethnisch oder religiös begründeter Verfolgungen mit allen qualvollen, meist unfassbaren Tatsachen in die Wege zu leiten, kann ein gut begleiteter Gesprächsaustausch zwischen Mitgliedern beider Gruppen zu Korrektur- und Heilungsmöglichkeiten der Geschichte führen, zur Verarbeitung von Verbitterung, auch zur Prävention einer Wiederholung von Schuld oder von Rache sowie von neuem Leiden.

 

„Erzähl dein Leben!“

Dan Bar-On (Israel) hat als Psychologe solche Gespräche zwischen Kindern und Grosskindern von Opfern und Tätern geführt, sowohl zwischen Nachkommen auf jüdischer und auf deutscher wie auf israelischer und palästinensischer Seite. Seine Eltern hatten sich schon 1933 entschieden, Hamburg zu verlassen – wenig später gefolgt von Dan Bar-On’s Grosseltern – und nach Haifa auszuwandern, wo er 1938 zur Welt kam, zusammen mit einem Bruder aufwuchs  und später 25 Jahre lang im Kibbuz Revivim lebte. 2008 ist er in Tel Aviv gestorben. Bei mehreren Gelegenheiten standen wir in regem Gedankenaustausch, das erste Mal Ende der Achtzigerjahre anlässlich eines PTSD-Kongresses in Hamburg.

Gespräche als Therapie zu führen hatte Dan Bar-On für sich selber als dringlich erachtet, in der „Rastlosigkeit“, die er in sich gespürt habe, wie er schrieb, obwohl er auf andere Menschen gelassen und ruhig gewirkt habe. „Rückblickend würde ich sagen, dass  meine innere Unruhe eine Reaktion auf das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Wirbelstürmen ist, die ich nie verursachte, mit denen ich mich aber stets auseinander setzen und trotz derer ich meinen eigenen Weg finden und gehen musste. Gleichzeitig versuchte ich zu vermeiden, in einen Teufelskreis zu geraten, in dem ich mich als Opfer dieser Umstände sah. Meine Bewältigungsstrategie war mir selbst gegenüber ziemlich streng: Ich bin kein Opfer – wenn überhaupt bin ich ein Täter, der sich selbst in diese Umstände gebracht hat. Auch jetzt, da ich diese Worte schreibe, sagt mir eine innere Stimme: ‚Das bildest du dir nur ein, so schlimm war das gar nicht. Du bist nur ein bisschen verwöhnt. Das ist alles.‘ Aber ich lernte, mit dieser Stimme zu ringen, ebenso mit meinen widrigen Lebensumständen, und nicht die Schuld für meine Rastlosigkeit in meinem ‚schlechten Charakter‘ zu suchen.“[1]

 

Retraumatisierung durch Unrecht, das als Recht gilt

Jede Herkunfts- und Familiengeschichte kann belastende Teile haben, die zum Teil tabuisiert werden, die aber die Nachkommen durch Ängste, durch erstarrte Feindbilder oder durch Gefühle der familiären oder sozialen Wertlosigkeit  prägen. Auch die Töchter und Söhne von Überlebenden der langjährigen Folter- und Hafterfahrungen aus der – nicht weit zurückliegenden – Zeit der russischen, ostdeutschen und spanischen, türkischen und griechischen  Gewaltherrschaft sowie der  lateinamerikanischen Diktaturen, oder die Erwachsenen und Kinder, die in irgend einer Weise die jüngsten Kriege in Vietnam und Kambodscha, in Afghanistan, im Irak und Iran, in Kuwait, im Libanon, in Algerien und in Marokko, in Tunesien, Lybien und nun in Syrien, im Gazastreifen und in Kurdistan, in Südafrika, Angola, Moçambique, in Rwanda und im Kongo, in Liberia und Somalia, in Nordirland, in Armenien und Georgien, in Tschetschenien und in Dagestan, in Burma, Tibet und in Sri Lanka, in allen Bereichen des ehemaligen Jugoslawien miterleben mussten und weiterhin müssen, weisen tramatisierende Brüche in ihrer Biographie auf, deren Folgen das weitere Leben aufs leidvollste prägen. Alle bedürfen der Möglichkeit, das Schweigen zu brechen und erzählen zu dürfen, um das Vergangene zu verarbeiten und dem Leben – dem eigenen Leben wie dem Zusammenleben mit den Anderen – zustimmen zu können.

In Ländern wie der Schweiz braucht es einen politischen und gesellschaftlichen Einsatz, damit für Kinder und Erwachsene, die ihre Heimat verlassen mussten und die alles verloren haben, Asyl nicht zur Retraumatisierung wird. Damit ihnen Lebensmöglichkeiten geboten werden, die nicht durch neue Diskriminierungen im Wohn-, Schul- und Arbeitsbereich, nicht durch Einschränkungen des menschlichen Wertes infolge von Namen oder Hautfarbe belastet werden, wie es heute geschieht. Die Verstärkung der politischen Ideologien und Parteien von Rechtsaussen hat zu einer massiven Desorientierung in Bezug auf Recht und Unrecht geführt. Bürokratie und Polizei vollziehen ein menschenverachtendes Asylrecht unter der Begründung, demokratisch entstandene Gesetze zu befolgen. Doch wie kann zwischenmenschlicher Respekt als Grundrecht überhaupt noch Beachtung erlangen, wenn menschliche Erniedrigung und Gewalttätigkeit wieder legalisiert werden, sowohl in der Schweiz wie in den übrigen europäischen Ländern? Ist Hoffnung eine Utopie?

 

“Das Leben – die einzige Zuflucht”

Es gibt ein Gedicht von Paul Celan, das sehnsuchtsvoll der  Hoffnung Ausdruck gibt, doch wie einem entschwindenden Traum. “Ich höre, die Axt hat geblüht, ich höre, der Ort ist nicht nennbar”, und schliesslich “Ich höre, sie nennen das Leben die einzige Zuflucht”.

Für Paul Celan war es die Hoffnung der Anderen, vielleicht die Hoffnung seiner Frau, seines Sohnes, nicht seine eigene. Sie hatte ihn gestreift, ohne sich in ihm verankern zu können. Er war gerade fünfzig Jahre alt, als er sich 1970 in Paris das Leben nahm. Wie eine nicht heilende Wunde hatte ihn – den in Cernowitz aufgewachsenen Paul Antschel -, der Arbeitslager und Zwangsarbeit überlebt hatte, das Trauma vom Abstransport seiner Eltern nach Transnistrien und von deren qualvollem Sterben besetzt gehalten, gnadenlose Bilder und nagende Selbstvorwürfe, nichts zu deren Schutz getan zu haben.

Wie kann Hoffnung zur heilenden, tragenden Kraft werden? Warum hatte diese bei Paul Celan nicht wirken können? Lässt sich sagen, dass sie sich nicht verankern, nicht einwurzeln konnte? Doch warum nicht?

Hoffnung ist die in die Zukunft weisende seelische Kraft, deren Erwachen und Erstarken erst möglich ist, wenn die Vergangenheit zu einem Teil der Geschichte werden kann und nicht mehr die gegenwärtige und die noch nicht gelebte Zeit in sich hineinzieht wie in einen dunkeln Schlund. Es gilt, eine Vernarbung der Wunde zuzulassen. Das heisst weder verdrängen noch vertuschen, was an schweren Verletzungen, an Schrecken und Leiden erduldet werden musste, im Gegenteil. Es heisst, Schmerz und Trauer im Öffnen der Wunde ertragen, dem reinigenden Prozess des Erzählens und des Verstehens zustimmen, über diese Zustimmung den Wert zu leben, in kleinen Mengen, als neues Lernen ehren – und langsam, ohne zu wissen wann, Momente des Staunens, vielleicht des Glücks erleben. Es ist wie das sachte, tropfenweise Einnehmen von Speise und Trank für Verhungernde und Verdurstende. Was mit dem Genesen geschieht, ist zutiefst ein Aufatmen, allmählich ein Sichversöhnen mit dem Leiden als vergangenem Leiden. Hoffnung ist nicht mehr ein ferner, fremder Klang, sondern spürbar die Stimme des Herzen. Sie stimmt dem Leben, auch dem noch unbekannten Leben, als einzige Zuflucht zu.

 

 

[1] Dan Bar-On. Erzähl dein Leben! Meine Wege zur Dialogarbeit und politischen Verständigung. 2004, Hamburg.

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