Zum Begriff der Grenze und zur Konstitution des Ich

Zum Begriff der Grenze und zur Konstitution des Ich

Wintersemester 1993/94 – Sprache und Identität 9. November 1993

 

 

Noch mitten im Krieg, 1918, beendete Ludwig Wittgenstein die Niederschrift des “Tractatus” und verfasste das Vorwort zu diesem schmalen, bedeutungsschweren Buch, von dem er schrieb, es wolle “dem Denken eine Grenze ziehen“, das heisst,  “Nicht dem Denken”, wie er sich sofort korrigierte, “ sondern dem Ausdruck der Gedanken” wolle das Buch eine Grenze ziehen “Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müssten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müssten also denken können, was sich nicht denken lässt)“, räumte er ein und präzisierte seine programmatische Absichtserklärung gleich nochmals, indem er näher umschrieb, was er als “Ausdruck” verstand: die Sprache. “Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können, und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein“.

Wenige Zeilen vorher schrieb er, der “Sinn” des Buchs lasse sich in folgende Worte fassen: “Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“. Nach diesem frühen, kategorischen Urteil Wittgensteins ist mithin das, was sich nicht klar sagen lässt, Unsinn. Man muss jedoch wissen, dass der klare Ausdruck, die klare Aussage für Wittgenstein nicht leicht verfügbar waren, dass er darum zu ringen hatte wie alle denkenden Menschen. Im Tagebuch von 1915 (mit dem Eintrag vom 8. März) hielt er fest: “Meine Schwierigkeit ist eine – enorme – Schwierigkeit des Ausdrucks“. Sein stetes Bemühen war, die Grenzen zu verschieben, dem Unsagbaren Ausdruck – verstehbaren, klaren Ausdruck – zu geben. Gute zwanzig Jahre später, in den Philosophischen Untersuchungen (§ 329/330) dachte er noch immer über diese Schwierigkeit nach, den Inhalten des Denkens die richtige sprachliche Form zu geben. Er kam zum Schluss, dass Sprache und Denken einander gegenseitig förderlich seien, dass das Denken jedoch auch eine andere Form finden könne als die Sprache: “Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht nebem dem sprachlichen Ausdruck noch ‘Bedeutungen’ vor; sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens”. Und er fuhr fort: “Ist Denken eine Art Sprechen? Man möchte sagen, es ist das, was denkendes Sprechen vom gedankenlosen Sprechen unterscheidet. Und da scheint es eine Begleitung des Sprechens zu sein, ein Vorgang, der vielleicht auch etwas anderes begleiten oder (der) selbständig ablaufen kann”.

Doch zur Zeit der Entstehung des “Tractatus” notierte er entmutigt im Tagebuch von 1914, am 21. November: “An dieser Stelle versuche ich wieder etwas auszudrücken, was sich nicht ausdrücken lässt.”

Was Wittgenstein im Vorwort des “Tractatus” einerseits als Absichtserklärung für sich selbst formuliert, als ein “Wollen” (“dem Ausdruck des Denkens wolle das Buch eine Grenze ziehen”), dieser Absicht gibt er zugleich auch die Bedeutung eines “Müssens” (“…darüber muss man schweigen”). Das heisst, den strengen Massstab, den er sich selbst für sein sprachliches Handeln setzt, wandelt er sogleich in einen allgemeinen Imperativ um. Dieser Imperativ gilt für die Grenzziehung zwischen Sinn und Unsinn, ein Imperativ, mit dem er die Aufgabe der Philosophie definiert. In Paragraph 4.114 präzisiert er diesen Imperativ: “Sie (d.h. die Philosophie) soll das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare. Sie soll das Undenkbare von innen durch das Denkbare begrenzen“.

Die Grenze zu ziehen zwischen dem Denkbaren und dem Undenkbaren ist die Aufgabe der Philosophie, wobei, wiederum nach Wittgenstein, die Philosophie nie Lehre ist, sondern immer Tätigkeit (4.112), das heisst immer Grenzziehung, Grenzsetzung, immer Abschreiten eines Denkpfades zwischen dem, was Wittgenstein als die Welt versteht und dem, was jenseits der Welt ist, dem Undenkbaren. Philosophie ist eine Gratwanderung zwischen dem Streben nach Wissen, der Ahnung von Wissen, Zweifel am Wissen, Verlust der Sicherheit und neuem Streben nach Wissen, unabschliessbar.

Bei Wittgenstein ist mithin der Begriff der Grenze nicht als der Begriff eines Verbots, eines Tabus oder einer Zensur zu verstehen, sondern als vorweg tätige Kritik, die das Denkbare vom Nicht-Denkbaren scheidet, das heisst von dem, was sich dem Denken nicht öffnet, was sich dem Denken verschliesst: Glaubenssätze, Vorurteile, Clichés, Propagandasätze, Parolen , in deutlicher Nachfolge Kants, wo das erkennende Ich in der “KdV” die Aufgabe hat, eine Art “Grenzpolizei” den dogmatischen Sätzen der Metaphysik gegenüber zu sein. Auch bei Wittgenstein geschieht dieses kritische Unterscheiden, dies muss ergänzt werden,  nicht von selbst, nicht durch  “das” Denken, nicht durch “die” Philosophie, sondern durch das denkende Ich.

 

Ist mithin das denkende Ich die Grenze? Wer oder was aber ist dieses denkende Ich?

Was wie eine rhetorische Frage erscheint, ist in Wahrheit eine echte Frage. Während Jahrhunderten überwog der Zweifel an der Wahrheitsfähigkeit des denkenden und erkennenden personalen menschlichen Ich. So etwa erklärte Meister Eckhart in einer seiner Predigten, dass “Ego, das Wort Ich, niemandem eigen sei als Gott in seiner Einheit”. Neben dem einen “auctor”, dem einen grossen Subjekt dürfe es kein anderes geben. Das menschliche Ich sei nur ein Abbild des göttlichen Ich. Für sich allein könne es weder Wahrheit noch Autorhaftigkeit beanspruchen, es sei lediglich stellvertretendes, sichtbares und hörbares, mitteilbares “Organ” des göttlichen Ich. Wo sich das menschliche Ich als Subjekt grosstue, sei dies Anmassung oder Selbsttäuschung.

Diese Infragestellung des Rechts, als Subjekt, als Ich sich zu bestimmen – eine Infragestellung, die als längst überholte religiöse Grundhaltung erscheint –  hat auch in unserem Jahrhundert in Simone Weils Werk wieder Ausdruck gefunden. Simone Weil versteht das in der Wahrnehmung, im Denken und Handeln  sich äussernde und sich selbst verstehende existentielle Ich in Hinblick auf das transzendente, eigentliche Ich als Irrtum. Die subjekthafte Existenz ist, nach Simone Weil, bestimmt durch Nicht-Sein, das heisst sie hat Sein lediglich im Mass der Erkenntnis ihres Nicht-Seins und im Mass der Zustimmung zum Nicht-Sein. “L’homme n’a pas d’être, il n’a que de l’avoir“, hält sie im ersten Band der “Cahiers” fest. “L’être der l’homme est situé derrière le rideau, du côté du surnaturel… Je est caché pour moi…est du côté de Dieu…est Dieu…Le rideau, c’est la misère humaine.” Irrtum aber hat für Simone Weil im strengen sokratischen Sinn die Bedeutung von Schuld, ist nicht nur erkenntnismässiges, sondern existentielles Ungenügen; denn gleichzeitig mit der Erkenntnisfähigkeit ist den Menschen die  Erkenntnispflicht gegeben und aufgegeben. Werden die mit der Fähigkeit gegebenen Möglichkeiten auf ungenügende oder falsche Weise wahrgenommen, macht sich der Mensch schuldig. Simone Weil zufolge ist jedoch dieses Schuldigwerden am Sein, das heisst das Nihtunterscheiden von eigentlichem und uneigentlichem Sein die unausweichliche Folge der ursprünglichen, mit der Tatsache der Schöpfung verbundenen Schuld, die dem existenzbegründenden Tun Gottes anheimfällt, der Schöpfung als Tathandlung Gottes, “le crime de Dieu”. “Le seul fait qu’il existe des êtres AUTRES que DIEU implique la possibilité du péché. C’est n’est pas à la liberté que cette possibilité est attachée…, mais à l’existence. L’existence séparée” (Cahiers II, S.69; Grossschreibung bei S.W.).

Simone Weil verstärkt hier jenes Paradox, das Sören Kierkegaard (1813 – 1855) (in: Abschliessende unwissenschaftliche Nachschrift, S.209) den “entscheidenden Ausdruck des existentiellen Pathos” bezeichnet hat, Schuld, die sich “aus dem Existieren selbst erklärt”, wie er schreibt, die jenes Schuldbewusstsein begründet, das die Existenz vollumfänglich bestimmt, in dessen “Totalität sich die Existenz so stark behauptet, wie es in der Immanenz möglich ist” und worin sie jenem “absoluten Verhältnis” Ausdruck gibt, das Kierkegaard als “Verhältnis zu einer ewigen Seligkeit” versteht, Simone Weil als Verhältnis der Existenz als “Variabler” zum – göttlichen – Sein als “Invariabler (Cahiers III, S.243).

In diesem existentiellen Verhältnis, das sich vorweg als “un passage à la limite” erweist, als Weg, in dem das – zwar schuldhafte – Ich im Diesseits das jenseitige Sein, die Transzendenz, streift, ist für Simone Weil zwar das Paradox, nicht aber die Absurdität die “condition humaine”, solange Existenz sich nicht allein auf sich selbst bezieht, sondern sich auf das Sein bezieht, das jenseits der “limite”, jenseits der Grenze auch das Diesseits determiniert.

Doch das, was jenseits der “limite” ist, ist dem erkennenden existentiellen Ich verborgen. Es offenbart sich höchstens dem erkennenden inneren Auge, jener Wesensschau, die Simone Weil, wie schon Spinoza, als “intuition” bezeichnet, häufig auch als “agape. In ihrem Wissen um die Grenze des Ich radikalisiert Simone Weil die “docta ignorantia”, das Wissen vom Nichtwissen, das bei Meister Eckhart (um 1260), dann bei Nikolaus Cusanus (gest. 1464), bei Johannes vom Kreuz, vor allem aber bei Platon  Ausdruck findet als Verbindung philosophischer Analyse und religiösen Bedürfnisses. Auch Wittgenstein gehört in diese Reihe. “Il faut dans le domaine des rapports entre l’homme et le surnaturel chercher une précision plus que mathématique. Cela doit être plus précis que la science. Tel doit être un des usages de la science” (Cahers Bd. II, S.130).  Wittgenstein, in der Tagebuchaufzeichnung vom 1.8.1916 hält fest:

“Wie sich alles verhält, ist Gott.

Gott ist, wie sich alles verhält.

Nur aus dem Bewusstsein der Einzigkeit meines Lebens entspringt Religion – Wissenschaft – und Kunst”.

Die “Einzigkeit meines Lebens” aber ist gerade jene Subjekthaftigkeit, jenes Ich, das so fragwürdig ist.

 

Es gab allerdings auch Denker und Denkerinnen, die das beobachtende, wahrnehmende, denkende Ich und die Subjekthaftigkeit des Ich als einzige Autorität anerkannten. 1637 erschien René Descartes “Discours de la Méthode”, in dessen viertem Teil nach langen vorbereitenden Erläuterungen das Axiom “Cogito, ergo sum” vorgetragen wird, das mit seinem Rekurs auf das sichere Instrument des subjektiven Verstandes die ganze Aufklärung beeinflusste. Das Ich, das denkt, stellt eine Garantie gegen alle Verunsicherungen und Zweifel dar, selbst dann, wenn  – wie Descartes in den 1641 publizierten “Meditationes” festhält – ein böser und übermächtiger Dämon alle Sinne täuschen würde, selbst dann könnte das denkende Ich sich noch seiner selbst besinnen und wäre seines eigenen Daseins sicher. “Nachdem ich alles genug und übergenug erwogen habe, muss ich schliesslich festhalten, dass der Satz ‘Ich bin. Ich existiere’ notwendig wahr ist, sooft ich ihn ausspreche oder im Geist auffasse” (“toutes les fois que je la prononce ou je concois en mon esprit”). So ist das Sprechen in der ersten Person für Descartes der unumstössliche diskursive Beweis – wenngleich ein Zirkelbeweis – des subjekthaften Daseins.

Doch das rationale Erkenntnisideal, das in Descartes Axiom einen  eindeutigen Ausdruck findet, wandelte sich in der Folge auf vielfältige Weise. Bei Jean-Jacques Rousseau, in den “Confessions” (1762), ist es die Autonomie des sich selbst erhaltenden Ichs, worauf der Rekurs erfolgt. “Kein materielles Wesen ist aus sich selbst heraus tätig, ich aber bin es. Man mag mir diese Selbsttätigkeit, so viel man will, bestreiten; ich fühle sie, und dieses Gefühl ist stärker als alle Gründe, die man gegen sie ins Feld führen kann”. Das sichere Wissen entspringt nicht mehr dem Denken, sondern der intuitiven und zugleich gelebten Erfahrung der Selbsterhaltung. Der Rekurs auf das Ich wird geleistet durch die Erfahrung.

Kant steht sowohl in der Nachfolge Descartes’ wie Rousseau’s. In seiner Erkenntnistheorie ebenso wie in seiner Ethik, das heisst in der “Kritik der reinen Vernunft” von 1781 wie in der “Kritik der praktischen Vernunft” von 1788, ist es das Ich, das die Anmassungen einer dogmatischen Metaphysik als unlautere Grenzüberschreitungen aufbricht, das im Rekurs auf die Erfahrung jede Erkenntis auf ihre Richtigkeit hin prüft, wenngleich alle Erkenntnisse nur zustandekommen können dank der im erkennenden Geist “apriori” angelegten Anschauungsformen des Raumes und der Zeit.

Es ist auch das Ich, das verantwortlich ist für die Richtigkeit seiner Handlungsmaxime, das sich das “sittliche Gesetz” in Form des kategorischen Imperativs gibt: “Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde” (KpV, BA 52). Die Würde dieses in Freiheit über sein Handeln entscheidendes Ich ist das menschheitliche Ich, dasjenige Ich, das in jedem Menschen ungemindert, ungeschmälert zu achten ist, das nie instrumentalisiert werden darf, da es immer Zweck, höchster Zweck ist. Dies ist der Gehalt von Kants praktischem Imperativ, wie er ihn in BA 67 formuliert: “Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchst”.

Diese Zubilligung der Freiheit und mithin der ungeteilten Verantwortung für das Handeln macht die ethische Relevanz von Kants kritischer Philosophie aus. Nach Kant gibt es keine Denker oder Denkerinnen, die sich nicht damit auseinandersetzen müssen. Auch Wittgenstein geht es letztlich um die Ethik. Die Tagebuchaufzeichnungen des Monats August von 1916 kreisen unabschliessbar, immer wieder von neuem, um die damit verbundenen Fragen. Am 4. August hält er fest: “Wäre der Wille nicht, so gäbe es auch nicht jenes Zentrum der Welt, das wir das Ich nennen, und das der Träger der Ethik ist. Gut und böse ist wesentlich nur das Ich, nicht die Welt. Das Ich, das Ich ist das tief Geheimnisvolle”. (Zu lesen S.171 unten bis S.173 unten).

 

Auf die kommende Woche vorzubereiten: I. Teil der “Philosophischen Untersuchungen” S.289 – 291 Mitte (bis § 4), dann ab S.292 § 7 bis S. 295 § 13.

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