“Ich höre, sie nennen das Leben die einzige Zuflucht” – “Kinder als Opfer von Krieg und Verfolgung”

Loader Wird geladen …
EAD-Logo Es dauert zu lange?

Neu laden Dokument neu laden
| Öffnen In neuem Tab öffnen

Download [162.00 B]

 

“Ich höre, sie nennen das Leben die einzige Zuflucht”

“Kinder als Opfer von Krieg und Verfolgung” – ein Kongress in Hamburg

 

An die 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 35 Ländern trugen in Hamburg Erfahrungen zusammen, die alle mit Möglichkeiten und Grenzen von Traumatherapien zu tun hatten, dank derer aus Kindern, die Opfer traumatisierenden Gewalterlebnisse sind, zukunftsfähige Überlebende werden könnten.

Jede Gesellschaft wird daran gemessen, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Die schwächsten Mitglieder sind überall die Kinder. Gerade den Kindern aber wird auf unsägliche Weise Grausamkeit und Gewalt zugemutet, deren seelische Folgen häufig ein ganzes Leben lang verstörend weiterwirken. Nach UNICEF-Informationen, die in Hamburg vermittelt wurden, sind allein in den achtziger Jahren 1,5 Millionen Kinder in Kriegen getötet worden, 12 Millionen Kinder haben ihr Zuhause verloren, 5 Millionen Kinder leben in Flüchtlingslagern, etwa 200’000 Kinder wurden als Soldaten missbraucht, weit über 10’000 Millionen Kinder leiden unter traumatisierenden Kriegsfolgen. Dazu kommen weitere Millionen von Kindern, die unter furchtbaren Gewalt- und Verwahrlosungsbedingungen auf der Strasse leben, die jeder Art von Ausbeutung und Gewalt ausgesetzt sind, in den Slums der grossen Städte Lateinamerikas und Nordamerikas, in Afrika und Asien, teilweise selbst in Europa.

Direkte und indirekte Gewalterfahrung lösen Leiden aus

Das Leiden, das aus traumatisierenden Erfahrungen entsteht, äusserst sich auf vielfache Weise, je nach dem Alter der Kinder und je nachdem, ob den Kindern selbst Gewalt angetan wird oder ob sie Zeugen von Gewalt gegenüber ihnen nahestehenden Personen seien. Am Kongress in Hamburg wurde auch deutlich, in welchem Mass Kinder noch unter den Spätfolgen von Gewalt zu leiden haben, denen Eltern und nächste Angehörige ausgesetzt waren. Das Gesetz der Gewalt besteht darin, eine Kettenreaktion von Leiden zu bewirken, selbst in Gesellschaften, denen Krieg und Verfolgung erspart blieben, wo trotzdem Kinder Opfer von – gesellschafts- und familienbedingter – Gewalt werden, sodass ihre Seele durch die Erfahrung gröbster Missachtung ihres Liebes- und Sicherheitsbedürfnisses versehrt bleibt.

Nationalsozialismus, Diktaturen, Kriege – Gewalt allüberall

Dass der Kongress über Kinder als Opfer von Krieg und Verfolgung gerade in Hamburg stattffand, ist bedeutungsvoll. Der israelische Psychotherapeut Dan Bar-On (Haifa) schilderte die verhängnisschweren Folgen des Schweigens, das in Deutschland die Kinder und Kindeskinder von Tätern selbst zu Opfern werden lässt, indem sie die nicht aufgearbeitete unmenschliche Gewalt als traumatisierendes Erbe mitbekommen, ob als unklares Schuldgefühl, das ihr eigenes Leben lähmt, oder als dunkel vermittelter Widerholungszwang, wie er sich im neu entstehenden Rassismus und Rechtsextremismus zeigt. Um die Aufarbeitung der Spätfolgen bei Kindern von Tätern wie von Überlebenden der nationalsozialistischen Rassenverfolgung und der – noch immer unfassbaren – Menschenvernichtungslager in die Wege zu leiten, hat Bar-On einen Gesprächsaustausch zwischen Mitgliedern beider Gruppen aufgebaut, der im vergangenen Jahr erstmals in Wuppertal statfinden konnte.

Aber nicht nur der Nationalsozialismus wirft seine Schatten weiter auf unsere Zeit, auch die Töchter und Söhne von Überlebenden der langjährigen Folter- und Hafterfahrungen aus der – nicht weit zurückliegenden – Zeit der lateinamerikanischen Diktaturen, oder die Kinder, die in irgend einer Weise die jüngsten Kriege in Vietnam und Kambodscha, in Afghanistan, im Irak und Iran, in Kuwait, im Libanon, in Marokko, im Gazastreifen und in Kurdistan, in Südafrika, Angola, Liberia und Somalia, in Nordirland, in Armenien und Georgien, in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien miterleben mussten und weiterhin miterleben müssen, weisen kaum heilbare Brüche in ihrer Biographie auf, deren Folgen das weitere Leben aufs leidvollste prägen.

Kann seelisches Leiden als “posttraumatische Belastungsstörung” klinisch erfasst und behandelt werden?

Der Begriff “posttraumatische Belastungsstörung” (Posttraumatic Stress Disorder PTSD) ist seit den späten achtziger Jahren geläufig. Amerikanische Psychiaterinnen und Psychiater haben ihn in der Folge von Beobachtungen bei Rückkehrenden aus dem Vietnamkrieg als Diagnosebegriff geschaffen, mit dem eine Vielzahl von Symptomen – Angstzustände, Schlaflosigkeit, Gedächtnisverlust, Depressionen und andere Erscheinungen mehr – erfasst werden sollten, die aus traumatischen Erfahrungen resultieren. Jedes Ereignis kann traumatisierend sein, präzisierte Dieter Bürgin (Basel), wenn mit dem Ereignis eine Erfahrung des Zuviel einhergeht, sei dies ein Zuviel an Gewalt oder an Deprivation, etwa wenn das Ereignis den Verlust einer wichtigen Bezugsperson nach sich zieht. Als psychisches Trauma wird daher sowohl eine einmalige wie eine fortgesetzte Gewalterfahrung verstanden, durch welche die Lebenskontinuität durchbrochen wird und eine schwere Verletzung der seelischen Integrität, des Selbstwertgefühls und des Beziehungsgefüges erfolgt.

Im Lauf des Hamburger Kongresses wurde zunehmend deutlich, dass der klinische Begriff des PTSD zu eng gefasst ist, dass an dessen Stelle eine kulturell und menschlich weitere und zugleich differenziertere Erfassung der Leidenssymptome angezeigt ist. In verschiedenen Beiträgen wurde darauf hingewiesen, dass, statt von “Störung”, eher von seelischer Reaktion auf unerträgliches Leiden gesprochen werden sollte, durch welche zugleich auch der Wille, unversehrt zu leben, angezeigt werde.

Das Trauma und die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen

Für David Becker (Santiago de Chile) ist das Trauma ein Prozess, der zwar mit einer verstörenden Erfahrung beginnt, doch ist das Trauma nicht auf die Erfahrung selbst begrenzt, sondern wirkt weiter. Er betont, dass persönlich erlebte Traumen immer auch Teil und Folge gesamtgesellschaftlicher Bedingungen seien, die sowohl im diagnostischen wie im therapeutischen Zusammenhang miterfasst werden müssen. Diese Erkenntnis macht deutlich, dass die Psychoanalyse, die noch für die Opfer des Holocaust einen Weg aus der nicht integrierbaren extremen Leiderfahrung zu zeigen vermochte, heute durch andere therapeutische Prozesse abgelöst werden muss.

Bei den Opfern von gesellschaftlich bedingten und quasi legitimierten Gewalttaten, wie wir damit in der Schweiz durch die Flüchtlinge aus den jugoslawischen und aus anderen Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten konfrontiert werden, muss das therapeutisches Ziel darin bestehen, die lebenszustimmenden Kräfte (the coping skills) zu stärken, betonte auch Gisela Perren-Klingler (Visp), die als IKRK-Ärztin in Lateinamerika und im Gazastreifen wichtige therapeutische Erkenntnisse sammeln konnte.

James Garbarino (Chicago) ging noch weiter und machte deutlich, dass Traumen nicht allein nach psychologischen, sondern ebenso nach moralischen Kategorien erfasst werden müssen. Nur auf diese Weise kann erklärt werden, führte Garbarino aus, warum bestimmte Traumen Kollektiverfahrungen werden und über Generationen das Verhältnis zu anderen Kollektiven prägen, etwa in den USA bei der armen schwarzen Bevölkerung das Verhältnis zur weissen Bevölkerung, oder in Israel bei den jüdischen Einwanderern das Verhältnis den Arabern gegenüber. Er ist überzeugt, dass es auch einer kollektiven Bewusstseinsarbeit bedarf, um traumatisierte Verhältnisses zu heilen. Diese Bewusstseinsarbeit muss die Reflexion über das Böse, das kulturell je verschieden verstanden wird, einschliessen. Mit der Reduktion von Symptomen allein ist es nicht getan, insistierte Garbarino, wenn nicht zugleich die Vorstellung, dass allein Rache Wiedergutmachung bedeutet, verändert werden kann.

“Das Leben die einzige Zuflucht”?

James M. Herzog (Boston) leitete seinen Beitrag mit dem Gedicht Paul Celans (aus der Sammlung “Schneepart”) ein, das mit den folgenden Zeilen beginnt:

“Ich höre, die Axt hat geblüht

ich höre, der Ort ist nicht nennbar”,

und das mit der Zeile endet

“Ich höre, sie nennen das Leben die einzige Zuflucht”.

Millionenfaches Leid, das Kindern angetan wurde und weiterhin angetan wird, kann nur geheilt werden, führte Herzog aus, wenn es nicht weiterhin wiederholt wird. Das heisst, dass Therapie Wiederbeheimatung in der Welt bedeuten muss, durch aufbauende Zuwendung und durch Respekt, nicht theoretisch, sondern ganz konkret, in jedem einzelnen Land.

Auch in der Schweiz? Es sind Tausende von Flüchtlingen bei uns, davon ein grosser Teil Kinder, denen unsere Behörden aus kurzfristigen Spargründen kaum Schule und Ausbildung, schon gar nicht therapeutische Begleitung zugestehen wollen. Es gibt rücksichtsloseste Gewalt auch bei uns, beim Lettenbahnhof in Zürich und anderswo. Der Kinderpsychiater Heinz Stefan Herzka (Zürich) vertrat auch in Hamburg die Überzeugung, dass Gewalt und Gewalttätigkeit nicht ein Ende nehmen, indem sie geleugnet werden. Es gelte, in den Familien wie in den Schulen die Fähigkeit zu entwickeln, mit Konflikten leben zu lernen, ohne dass sie gewalttätig ausgetragen werden müssen. Anstelle der Schwarz-Weiss-Alternative von Gewinnen und Verlieren müssen soziale und emotionale Kräfte gestärkt werden, die ein vielfältiges und und widerspruchsvolles Zusammenleben erlauben.

Gisela Perren-Klingler (Visp) erklärte, die Gewaltbereitschaft in der Schweiz habe unter anderem mit der massiven Desorientierung in Bezug auf Recht und Unrecht zu tun. Daraus folge ein Verlust an gegenseitigem Respekt, der durch die Respektlosigkeit der “offiziellen Stellen” – Polizei, Richter, Vollzugsbehörden – noch verstärkt werde. Kinder und Jugendliche brauchen eine starke Lobby, insistierte sie, der die Sorge um das Leben das zentrale Anliegen sei, damit nicht Gewalt und Unterdrückung, sondern das Leben, das zukunftsfähige Leben die “einzige Zuflucht” sein könne.

Write a Reply or Comment