Von der Freiheit des skeptischen Denkens – „Die grossen Worte aus den Zeiten, da Gescheh‘n noch sichtbar war, sind nicht für uns.“

Von der Freiheit des skeptischen Denkens

„Die grossen Worte aus den Zeiten, da Gescheh‘n noch sichtbar war, sind nicht für uns.“[1]

 

Skepsis (skepesthai: spähend umherblicken, betrachten, untersuchen) ist die Grundhaltung des an seiner Befähigung zu erkennen – überhaupt zu erkennen, Wahres zu erkennen – zutiefst zweifelnden Menschen, woraus die Infragestellung aller scheinbar gesicherten Erkenntnisse folgt, sowohl der eigenen wie fremder, ob diese die Aussenwelt betreffen, „Fremdpsychisches” oder metaphysische, transzendente Inhalte. Daraus wiederum folgt die ethische resp. moralische Vereinzelung des sich seiner prinzipiellen Begrenztheit und ausschliesslich subjektiven Verantwortung bewussten Menschen in allen Bereichen des Urteilens und Handelns, nicht autoritären Wahrheits- oder Richtigkeitserklärungen, sondern dem „daimonion“ folgend, nach Sokrates dem Gewissen, von der griechischen Bedeutung her generell dem göttlichen Geist, der der menschlichen „psyche“ inne ist.

In kognitiver Hinsicht liegt der Skepsis das Wissen um die Unmöglichkeit oder zumindest  Vorläufigkeit, Relativität, Unabschliessbarkeit und Unvollkommenheit allen Erkennens zugrunde, damit das Wissen um die Unmöglichkeit jeglichen Urteils. Daraus folgt die Infragestellung aller autoritär begründeten Lehren, die einen absoluten Richtigkeitsanspruch behaupten und verteidigen. Die Skepsis ist die Gegenhaltung zum Glauben und zum Wissen. Sie begründet die Philosophie als Lehre und Geschichte des Nichtwissens, des Fragens und Zweifelns.

In ethischer Hinsicht ist die Skepsis die Grundhaltung der Freiheit, resp. die Ablehnung autoritär begründeter normativer Handlungsanweisungen, wiederum eine Haltung der bewussten Inkaufnahme des persönlichen Irrens, aber auch der Eigenverantwortung für die Folgen, ev. für die Korrektur des Handelns. Die Skepsis wird dadurch zur Gegenhaltung des blinden Gehorsams.

Der Alltagsgebrauch von „skeptisch” und „Skepsis” unterscheidet sich vom philosophischen Gebrauch. Wer zum Beispiel den meteorologischen Nachrichten gegenüber „skeptisch” ist, oder wer den Plan einer jüngeren Schwester, ein altes Haus selber zu renovieren, „mit Skepsis” aufnimmt, zeigt sich einfach dem Gehörten gegenüber kritisch. Ein kritisches Verhalten und ein skeptisches Verhalten werden im Alltagsgebrauch gleichgesetzt, die Bedeutung der beiden Begriffe ist tatsächlich nah verwandt. In der Philosophie jedoch werden sie unterschiedlich verwendet und bezeichnen unterschiedliche  Inhalte. Darauf möchte ich eingehen.

“Der Geist, wie ein entsprungener Hengst”. Das Bild, das den skeptischen Geist einem “entsprungene Hengst” gleichstellt, habe ich Michel de Montaigne entliehen. Das Bild ist mangelhaft, ausschliesslich dem männlichen Geist entsprechend, doch es gefällt mir. Ich stelle mir vor, wie der Hengst den Kopf aufwirft, wie er sich von Zügel und Reiter – oder Reiterin – befreit, wie er sich aufbäumt, die Zäune überspringt, die Gehege hinter sich lässt und in die Wildnis hinausstürmt. Das Bild steht für etwas, wovon wir träumen: eine Befreiung aus der gewohnten Unterordnung und Abhängigkeit, eventuell gar der Unterdrückung, etwas Ungewöhnliches, das den immer gleichen Trott oder Trab unterbricht, das dem Leiden, eingesperrt zu sein, gelenkt und gezüchtigt zu werden, aufkündigt, das der Sicherheit valet sagt, um das Wagnis der Unsicherheit einzugehen, das Wagnis der Freiheit, wo fortan kein Herr und Meister mehr für den Unterhalt, für Wasser und Brot, für die Zukunft und wofür immer er zuständig ist, wo Existenz sich nur noch nach den eigenen Kräften misst. Ist Hochmut dabei? Überheblichkeit? Oder im Gegenteil eine Haltung des Verzichts und der Selbstbescheidung? Auch Michel de Montaigne hatte sich die Frage gestellt. Ich gehe später auf ihn ein. Auf jeden Fall war für Montaigne der Entscheid für die Skepsis ein Entscheid für die Freiheit und ein Bekenntnis zu sich selbst.

Das 16. Jahrhundert, als Michel de Montaigne lebte[2] – Sohn einer marranischen Mutter und eines katholischen, aber höchst autoritätskritischen Vaters -, war eine Zeit des Umbruchs, eine Zeit der grossen Krise. In der jüdischen Geschichte ist es die Zeit nach der Vertreibung aus Spanien, durch welche die jüdische Präsenz in Westeuropa dezimiert wurde und das jüdische Leben, damit die jüdische Gelehrtheit sich nach Osten zu verlagern begann. Obwohl im damaligen Europa viele Vertreibungen vorausgegangen waren – 1182 erstmals aus Frankreich, 1290 aus England, 1306 wiederum aus dem schon grösseren Königreich Frankreich und 1394 erneut, sodann im Lauf des 14. und 15. Jahrhunderts aus den meisten mitteleuropäischen Städten -, trotz all diesen Vertreibungen wurde diejenige aus Spanien im Jahre 1492 als Weltenwende verstanden. Ein Jahr später wurden die jüdischen Bewohner und Bewohnerinnen auch aus den spanischen Besitzungen Sizilien und Sardinien verjagt, und im selben Jahr wurde in den damals spanisch regierten Niederlanden für Juden ein strenges Niederlassungsverbot erlassen. Und damit war es noch nicht getan: 1497 befahl der portugiesische König Emanuel I. die Zwangstaufe aller portugiesischen sowie aller aus Spanien geflüchteten Menschen jüdischer Herkunft und setzte dies mit grosser Brutalität durch, 1498 wurden sie aus dem damals noch unabhängigen Königtum Navarra vertrieben, 1501 aus der Provence mit ihren bedeutenden Gemeinden in Nîmes, Lunel und Montpellier, 1510 aus dem Königtum Neapel und praktisch aus ganz Süditalien, wo insbesondere die Gemeinde von Bari hohes Ansehen genoss.

Joseph Hayim Yerushalmi[3], der als Historiker dem „Exil Jerusalems in Spanien” (galut Yerushalayim asher bi-Sefarad) und dessen Ende, sowie den daraus sich entwickelnden Folgen, sein Forschungsinteresse widmete, vermutet, dass das Bewusstsein der Weltenwende mit dem nicht mehr verstehbaren Paradigmenwechsel zu tun hatte: mit dem Verlust des Exils als Domizil, mit dem Sturz aus der höchsten Blüte der religiösen und der weltlichen Akzeptanz in die Heimatlosigkeit. Viele zeitgenössische Berichte dokumentieren das Entsetzen, etwa jene von Isaac Abravanel oder jene von Abraham Zacuto, einem Halacha-Chronisten, oder, vielleicht am ergreifendsten, die an Hiobs Klage erinnernde “Consolação às tribulações de Israel” des ehemaligen Marranen Samuel Usque: “Europa, welches mich verschlang mit seinem verderblichen Mund, erbricht mich nun wieder … Ach, Europa, Europa, du meine Hölle auf Erden! (Póis Europa, Europa, mi inferno na terra)”. Yerushalmi vergleicht die Zeit nach der Vertreibung aus „Sefarad” mit der Zeit nach der nationalsozialistischen Verfolgung, Vertreibung Vernichtung: eine Zeit der Entwurzelung und der Verzweiflung.

Auch die nicht-jüdische Geschichte des 16. Jahrhunderts war von aufwühlenden Krisen und Umbrüchen geprägt. Martin Luther[4] rief zum Kampf gegen Papsttum und Priesterschaft auf und leitete damit die Reformation ein, durch welche er die Lehre vom unbekannten Willen in Gott verkündete, über den keine menschlichen Autoritäten, sondern allein die Bibel und der Glaube auszusagen vermögen, worauf die katholische Kirche mit ihrer jesuitischen Kampftruppe die Gegenreformation in Gang setzte. Während die reformatorische Bewegung der religiösen Skepsis menschlicher Autorität gegenüber eine Art Anerkennung verschaffte, dabei aber der Bibel und dem Glauben umso grössere Autorität zubilligte, führte die Krise im katholischen Bereich zu einer Verstärkung der autoritären Tendenzen. Eine grosse Anzahl von Misstrauen und Gewalt, von inquisitorischen Hetzjagden, Foltermethoden und Scheiterhaufen, von Feinderklärungen, Vertreibungen und von fortgesetzten Kriegen waren die Folge.  Die Zeit, in welcher Michel de Montaigne lebte, mag ein Beispiel für die philosophisch-methodische Bedeutung der Skepsis sein, mag auch als Beispiel dienen für den sich wiederholenden Verlauf der menschlichen Geschichte. So wie das 16. Jahrhundert eine Zeit des Umbruchs war, eine Zeit der grossen Krisen und seelischen Not, eine Fortsetzung der Menschheitsentwertung und -zerstörung durch den Missbrauch von Macht und Herrschaft,  wiederholten sich diese in der Zwischen- und Nachkriegskriegszeit des eben vergangenen Jahrhunderts, letztlich auch in der heutigen Zeit nach den Religionskriegen in Irland und den politischen Kriegen in der Türkei, nach dem zehnjährigen Krieg im ehemaligen Jugoslawien, nach dem Krieg in Tschetschenien, in Iran und Iraq, in Israel und in den Ländern des ehemaligen Palästina, in Afrika, Indien, Afghanistan, China – überall auf dieser Erde.

Im Judentum bewirkten die traumatisierenden Ereignisse, die zum Verlust von Hab und Gut, von sozialer Stellung und Heimat, ja häufig zum Verlust des Lebens führten[5] zu einer – ebenfalls auf persönliche, auf rabbinische Autoritäten, die „Acharonim” abgestützten – religiösen Neuorientierung. Diese Neuorientierung ging zuerst von Safed in Galiläa aus und wirkte von dort aus auf das askenasische Judentum. Den Anfang machte der mit seinen Eltern aus Toledo vertriebene Joseph ben Ephraim Caro[6], der nach längerem Aufenthalt in der heutigen Türkei, in Konstantinopel (Istanbul),  Adrianopel (Edirne)und Nikopolis (Prevesa), schliesslich in Safed eine Jeschiwa gründete, ein bedeutender Talmudgelehrter, der zugleich  ein Mystiker der Kabbala wie ein religiöser Lehrer war, dessen „Schulchan Aruch”, das erstmals in Venedig erschien und ungezählte Neuauflagen erfuhr, nicht nur im sephardischen, sondern auch im askenasischen Judentum eine begeisterte Aufnahme fand, vor allem dank der Vermittlung durch Moses ben Israel – Isserles – genannt Ramo aus Krakau, der von 1525 bis 1572 lebte.

Rabbinischer Autorität und kabbalistischer Mystik, die ebenfalls von Safed ausstrahlte – zu erwähnen sind insbesondere Jacob Cordovero[7] und Isaak Luria[8] – gelang es, die durch die Verfolgungen und Vertreibungen  bewirkten Verunsicherungen aufzufangen. Wo und wie hätte da eine Philosophie der Skepsis sich etablieren können? Nein, das Gegenteil war gefragt, eine von Autoritäten vorgelebte Stärkung des Glaubens war gefragt, und der „Schulchan Aruch” führte auch zu einer Fixierung, wenn nicht gar zu einer „Versteinerung” der jüdischen Wissenschaft. Cordovero, den Gershom Scholem als den „tiefsinnigsten jüdischen Mystiker” bezeichnet, vermochte allerdings, philosophisch erstaunliche Erkenntnisse zu formulieren, die, hundert Jahre vor Baruch de Spinoza[9], den zentralen Widerspruch der religiösen Spekulation zusammenfassen, nämlich, dass „Gott alles Wirkliche, aber nicht alles Wirkliche Gott ist”. Doch bei Cordovero wie bei Luria wie später beim Messianismus des Sabbatai Zwi oder des Nathan von Gaza wie bei der ganzen daraus folgenden sabbatianischen Bewegung ist nicht Skepsis die Grundhaltung, sondern ein überzeugter, ja sogar ein fanatischer Glaube. Nun jedoch ist nicht diese zeitweise überaus breite, aber gar nicht einheitliche Entwicklung Gegenstandmeiner Untersuchung der Skepsis, sondern die spärlichen, vereinzelten, ganz persönlichen Ansätze einer prinzipiellen Orientierung am Eingeständnis des Nichtwissens oder an der Unmöglichkeit eines sicheren Urteils..

Auch diese Ansätze – etwa bei Michel de Montaigne und Etienne de la Boëtie, bei Descartes, bei Spinoza und bei weiteren Denkern – finden sich im gleichen 16. Jahrhundert, in dieser Zeit der Krise und des Umbruchs. Sie stützten sich auf antike Vorbilder, die damals übersetzt und gelesen wurden: auf Pyrrhon von Elis[10], den Begründer der dritten nach-aristotelischen Schule, der 39 Jahre alt war, als Sokrates[11] durch den Giftbecher starb und auf dessen bedeutendste Schüler, den römischen Denker und Politiker Marcus Tullius Cicero (106 – 43)  und auf den in Alexandria und Athen wirkende griechischen Arzt  und Philosophen Sextus Empiricus[12], deren Werke im Mittelalter, besonders aber in der Renaissance zum klassischen Bildungsgut gehörten. Cicero wie Sextus Empiricus griffen auf heute verschollene griechische Quellen der griechischen Skepsis zurück. (In Alexandria – à propos – kam in der Gestalt und im Werk von Philon, um 25 vor – 50 nach Chr., der Philo Judeaus genannt wurde, eine erstaunliche Synthese von griechischer Philosophie und jüdischer Tradition zustande, in dessen Fortsetzung Mose ben Maimon – Maimonides – und dessen Werk zu verstehen ist, das ebenfalls in Nordägypten, in Fustat, Alt-Kairo, geschrieben wurde und das insbesondere mit dem “Môreh Nebûkim”, dem “Führer der Unschlüssigen”, die Verbindung von Glaubenslehre und Aristotelismus wieder aufnahm und vervollkommnete). Allerdings waren weder Philon noch Maimonides Skeptiker; sie versuchten, im Gegenteil, die Glaubensinhalte mit einer  rationalen Begründung in Einklang zu bringen, weswegen sie von den – rein – religiösen Autoritäten wiederum angegriffen und angefeindet wurden.

Was aber war die Lehre der eigentlichen Begründer der Skepsis? Pyrrhon von Elis war der Überzeugung, dass sich die Wirklichkeit der menschlichen Erkenntnis entziehe. Daher könne von nichts gesagt werden, es sei schön oder nicht-schön, und von keinem Tun, es sei gerecht oder ungerecht. Jedes Urteil werde dadurch hinfällig, da alles, was sich der sinnlichen oder der intellektuellen Wahrnehmung anbiete, „adiaphoron” d.h. ununterschieden oder  gleichgültig sei. Wenn von irgend etwas bestimmte Eigenschaften behauptet würden,  so beruhe dies auf reiner Willkür, resp. sei nichts wie eine menschliche Setzung, eine Konstruktion. Der Weise unterscheide sich von den gewöhnlichen Menschen, indem er sich jeden Urteils enthalte und gegenüber allem, was sich zeige und was ihm widerfahre, unerschütterlich sei. Auch  bezüglich des Handelns seien feste Kategorien von Gut und Böse nicht zulässig (was in ethischer Hinsicht einen Relativismus nach sich zieht, der wiederum in moralischer Hinsicht sich als überaus entlastend oder als belastend auswirkt, je nach dem. Diesbezüglich finden sich bei Kierkegaard gewisse Anleihen, stärkere bei Nietzsche). Höchste Tugend des/der skeptischen Weisen ist, nach Pyrrhon, Unerschütterlichkeit, resp. „Unverwirrtheit” (ataraxia)[13].

Pyrrhons Lehre blieb nicht direkt erhalten, auch nicht in Fragmenten, wie andere Werke vorsokratischer Denker. So wie Sokrates Lehre auch nur indirekt über die platonischen Dialoge vermittelt wurde, wurde die pyrrhonische Philosophie nur dank dem – schon erwähnten – griechischen Arzt und Denker aus Alexandria, Sextus Empiricus und dessen Schrift Pyrrhonische Grundzüge übermittelt, sodann dank der Schriften eines anderen griechischen Denkers, Änesidemos, der mehr als zweihundet Jahre vor Sextus Empiricus ebenfalls in Alexandria lebte und wirkte. Bei Änesidemos finden sich die sogenannten „10 Tropen” (Gründe, resp. „trope” – griech. Wende, Umkehr, Wendpunkt), welche die Zögernden zu einer „Wende” zum Skeptizismus bewegen sollten, d.h. zu einer grundsätzlichen Infragestellung aller Wahrnehmungen der Aussenwelt. Als „Gründe” führt Änesidemos an: die Verschiedenheit der Lebewesen, die Verschiedenheit der Menschen voneinander, die Verschiedenheit der Sinnesorgane der Menschen, die Verschiedenheit der Zustände im einzelnen Menschen selbst, die Tatsache der unterschiedlichen Lagen, Entfernungen und Orte, die Unabgetrenntheit resp. die Verbindung oder Vermischung des Objekts der Wahrnehmung mit anderen Objekten, die Verschiedenheit der Art und Weisen, in denen das Objekt erscheint, je nach der Verschiedenheit der Verbindungen, die Relativität überhaupt, resp. der Einfluss aller äusseren und inneren Bedingungen auf eine Wahrnehmung, die Abhängigkeit der Wahrnehmung von der Anzahl resp. Wiederholung der Wahrnehmungen, letztlich die Abhängigkeit und Beeinflussbarkeit der Wahrnehmung von Bildung, von Sitten, Gebräuchen und Gesetzen sowie von religiösen und philosophischen Lehren.

Der wohl bedeutendste Skeptiker der Antike war Karneades von Kyrene (Nordafrika), der etwa zwei Generationen nach Pyrrhon lebte, der die Leitung der dritten Akademie übernahm, später in Rom als griechischer Gesandter wirkte und dort auch  Philosophie lehrte. Seine Theorien wurden durch Cicero überliefert. Karneades bezweifelte jegliche Möglichkeit, Wahrheit zu erkennen. Höchstens Wahrscheinlichkeit liess er zu, wobei alles Wahrscheinliche sich ebenso auch als nicht-wahrscheinlich erweisen konnte. Insbesondere griff er die Gottesbilder und Gottesbeweise der Stoiker an, die er mit unerbittlicher Logik dekonstruierte. Dabei berief er sich auf Protagoras aus Abdera, der mehr als zweihundert Jahre vor ihm jegliches Wissen um die Götter in Frage gestellt hatte, worauf er als 70jähriger Mann aus Athen verjagt wurde und auf der Flucht starb (410 v.Chr.). Im Fragment 4, das von Protagoras erhalten blieb, heisst es: „Über die Götter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen, weder dass sie sind, noch dass sie nicht sind, noch wie sie etwa an Gestalt sind. Denn vieles gibt es, was das Wissen hindert: die Nichtwahrnehmbarkeit und dass das Leben des Menschen kurz ist”[14]. Karneades stellt fest, dass es weder eine Übereinstimmung unter den Völkern in Bezug auf Gott gebe, noch verweise die Welt, wie sie sei, noch die menschliche Vernunft auf eine göttliche Fürsorge. Selbst der Begriff der Gottheit, wie er vertreten werde, sei dermassen widersprüchlich, dass man besser davon absehe, überhaupt von Gott zu sprechen. Auch brauche es weder für die Erklärung der Weltbildung noch für die Erschaffung der Materie noch für jene des Menschen einen Gott. „Angenommen, es hätten sich am Anfang Keime von allem gebildet, indem die Natur sich selbst befruchtete, wozu braucht man dann Gott als Schöpfer? (…) Der Mensch und jedes lebende Wesen, das geboren wird, erhält Leben und Wachstum infolge willkürlicher Verbindung der Elemente, in die jeder Mensch und jedes Tier sich wieder scheiden, auflösen, verflüchtigen…. Der Blitz schlägt da und dort ein… ohne Wahl trifft er heilige und unheilige Ort, bald erschlägt er schuldige, bald fromme Menschen. (…) Wenn die Welt durch eine göttliche Vorsehung regiert würde, so hätten Phalaris und Dionysios niemals einen Thron (…),  Sokrates nie den Giftbecher verdient. Entweder wird die dunkle Wahrheit uns verborgen und verhehlt oder, was eher zu glauben ist, es herrscht, frei von jedem Gesetz, in wechselvollem und schwankendem Spiel der Zufall”[15]. Anderswo hielt Karneades fest:Es gibt keinen grösseren Gegensatz zu einer ursächlichen Gesetzlichkeit als den Zufall, so dass meines Erachtens nicht einmal ein Gott wissen könnte, was zufällig oder von ungefähr geschehen wird. Denn Zufall ist das, was sich so ereignet, dass es auch anders hätte ausfallen können.” Seine Skepsis dehnte Karneades auch auf die Ethik aus, wiederum im Rekurs auf Protagoras, der in Fragment 6a festhielt: Über jede Sache gibt es zwei einander entgegengesetzte Aussagen”[16]. Entsprechend handelte Karneades in zwei Vorträgen in Rom die Frage der Gerechtigkeit ab. Am ersten Tag führte er aus, weshalb Rom, um gerecht zu handeln, alle Eroberungen an die früheren Besitzer zurückerstatten müsse; am zweiten Tag, weshalb Rom, gemäss dem Recht des Stärkeren, seine Imperium behalten könne. Cicero berichtete in seiner Schrift De republica wie Karneades’ akrobatische Widersprüche ernsthafte Männer, wie etwa Cato, vor den Kopf stiessen. Vom Standpunkt der Skepsis aus aber war sein Verhalten folgerichtig.

Karneades’ Philosophie erregte umso grösseres Aufsehen, als sie ja aus der platonischen idealistischen Akademie herausgewachsen war, in welcher die Wahrheitsfrage eigentlich positiv gelöst wurde. Eine bestimmte Ausgestaltung der Skepsis findet sich bei Platon höchstens in der Auseinandersetzung um Sein und Nicht-Sein, wie sie in den Dialogen Theaitetos (Über das Sein) und Sophistes (Über das Nicht-Sein) dokumentiert ist. Platon[17], dessen ganzes Denken um das Sein kreist, stellt fest, dass das Nicht-Seiende nicht nur die Negation des Seienden ist, sondern dass es für alle Vorstellungen gilt, die keine Realität haben oder haben können: Schein, Wahn, Täuschung, Trug und Irrtum. Mit anderen Worten: dass etwas nicht-seiend ist, bedeutet, dass etwas nicht das wahrhaft Seiende ist und dass es zugleich die Existenz des Nicht-Seins hat, resp. Schein oder Trug ist. Das Nicht-Seiende hat somit für Platon die Bedeutung des ganz Anderen. Das ganz Andere aber betrifft den Bereich der trügerischen Sophisten, die er zutiefst ablehnt.

Dass ausserhalb von Platons Idealismus Seiendes und Nicht-Seiendes miteinander verwoben sind, und dass daher die Urteilsbildung unsicher ist,  gehört zu den skeptischen Tropen des Änesidemus. So sind zum Beispiel Licht und Dunkel miteinander verwoben, wobei das Dunkel im Verhältnis zum Licht sowohl das Nicht-Licht ist wie etwas ganz anderes (oder das ganz andere als das Licht). Das Beispiel wird von einem gelehrten, streckenweise auch konfusen schwedischen Theologen, Thorleif Boman, als Kommentar zur platonischen Auseinandersetzung benutzt. Boman hatte Anfang der fünfziger Jahre Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, das in den siebziger Jahren nochmals aufgelegt wurde, das nun vergriffen ist und das gerade in Hinblick auf die Abgrenzung des Nicht-Seienden vom Seienden interessante Stellen aufweist. Boman macht es sich zur Aufgabe, Parallelen und Unterschiede im Verständnis und in der Bedeutung wichtiger griechischer und hebräischer Begriffe herauszuarbeiten. Er hebt etwa hervor, dass im Griechischen unter „to on” (dem Seienden) etwas Ruhendes, im Hebräischen unter „dabar” etwas Dynamisches, Bewegendes verstanden wurde. Er führt auch aus, dass der Begriff  „dabar”, der alle Realitäten bezeichnet – Wort, Tat, Sache -, in der Negation „lo dabar” sowohl die Nicht-Realität, das Nicht-Seiende bedeutet, als auch zugleich das ganz andere als „dabar”, das eine eigene Existenz hat, etwa Lippenworte, Lügenworte. Daher, führt Boman aus, ist „lo dabar” allen Begriffen, die etwas Nichtiges bezeichnen, von der Bedeutung her nahe, etwa „kazab” (Lüge) oder „habal” (Hauch, aber auch Täuschung, Wahn) oder auch „tohu”. Zur  Verstärkung seiner These führt er aus den Psalmen die Verse 62.10 an: „Ja, ein Hauch (habal) sind die Menschenkinder, eine Lüge (kazab) die Menschen; werden sie auf die Waage gehoben, so sind sie allzumal leichter als ein Hauch.”  Selbst das, was als „Chaos” übersetzt wird (ob „tohu” allein oder in Verbindung mit „bohu”) bedeutet vor allem das Nichtige, das was der Realität entbehrt. Allein durch die Begriffe wird somit klar, dass der Gott Israels nicht lügen kann, dass aber die Götzenbilder Lüge sind. Das göttliche Wort „dabar” ist jeder Skepsis entzogen. Vielleicht liegt hierin der tiefste Grund, weshalb auch nach den grössten Erschütterungen, wie etwa nach den Vertreibungen Ende des 15. Jahrhunderts, eine grundlegende Skepsis, die auch eine Erschütterung des Glaubens bedeutet hätte, nicht aufkommen durfte, ausser bei einzelnen wenigen Mutigen, nicht aber als Bewegung.  Selbst grosse Enttäuschungen in Fragen des Glaubens, etwa als der in den Jahren 1665 und 1666 als Messias gefeierte Sabbatai Zwi, der die Menschen überall in einen unvorstellbaren messianischen Taumel hineingerissen hatte, vom Judentum abfiel und sich zum Islam bekannte, führten nicht zu einer Skepsis dem Glauben überhaupt gegenüber, sondern höchstens dem – so von Sabbatai Zwi vertretenen – jüdischen Glauben gegenüber und es erfolgten massenweise Übertritte zu einem anderen Glauben, zum Islam oder zum Christentum.

Doch zurück zum 16. Jahrhundert und zurück zu Montaigne. Michel de Montaigne, 1533 auf dem väterlichen Schloss in der Nähe von Bordeaux geboren, verstärkte sogar die sokratische Skepsis, indem er Sokrates’ klare Aussage „Ich weiss, dass ich nichts weiss” der apodiktischen Form entledigte und den Ausdruck des Nichtwissens zur Frage machte: „Que sais-je?” – Was weiss ich? Was kann ich überhaupt wissen? Montaigne stellte fest, dass die Welt, die ihn umgab, aus Verstellung, Doppelzüngigkeit, Täuschung und Betrug bestand. „Gibt es eine ausdrücklichere Niederträchtigkeit, als sein eigenes Wort zur Lüge zu machen?[18]. Montaigne, der selber über eine blendende Rhetorik und damit über die sprachlichen Mittel der möglichen Täuschung verfügte, der auch wichtige öffentliche Funktionen wahrnahm – er hatte zum Beispiel einen Parlamentssitz – verpflichtete sich früh, entgegen dem Trend der Zeit, Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit zu üben.

In dieser Haltung fühlt er sich nicht allein, sondern in Übereinstimmung mit Etienne de la Boëtie, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband. 1563, im Alter von 32 Jahren, starb jedoch der Freund an einer damals nicht heilbaren Dysenterie. War es dieser Verlust, den er zeitlebens nie überwand, die Befassung mit den Schriften des Freundes, jener scharfen Analyse der knechtischen Korrumpierbarkeit der Menschen, deren Publikation er 1570/71 realisierte – Contr’un ou de la Servitude volontaire[19] -, war es das zunehmende Studium der antiken Denker, insbesondere jener der späteren Stoa und Skepsis – Seneca, Marc Aurel, Cicero, Sextus Empiricus u.a.m. – das Montaigne’s immer klarere Distanzierung von der Welt, wie sie war, erklärt?  „Wir sind nichts als Zeremonien; und die Zeremonie reisst uns hin, dass wir das Wesen der Dinge nicht betrachten; wir halten uns an die Zweige und lassen Schaft und Stamm fahren“[20] heisst im Kapitel Über den Eigendünkel im Band II der Essais.

Auf jeden Fall entschloss sich Montaigne an seinem 38. Geburtstag, am 28. Februar 1571, sich in der Bibliothek im Turmzimmer seines Schlosses einen Ort des Rückzugs, der Reflexion und der Selbstprüfung zu schaffen, einen Ort, wo er das tun konnte, was „ihn selbst anging”, wo er sich selbst finden konnte, ohne dass er sich deswegen völlig von der Welt zurückgezogen hätte. Pflichten, die ihm auferlegt wurden, nahm er weiterhin wahr, etwa als Schiedsrichter in öffentlichen Angelegenheiten. Ab 1572 aber begann er, in Texten, die er Essais nannte, seiner grundlegenden Skepsis in Bezug auf die Welt, auf die scheinbaren Autoritäten und „Götzen”, aber auch in Bezug auf sein eigenes Innenleben wie auf sein äusseres Verhalten Ausdruck zu geben.

Montaigne’s ganzes Bemühen richtete sich auf  e i n  Ziel aus: jene „ataraxia” zu gewinnen, die es ihm erlauben würde, die Furcht vor dem Tod zu verlieren und angesichts der Abwesenheit Gottes und der Nichtigkeit des eigenen Ich nicht der Verzweiflung zu verfallen. „Gott erzeigt denjenigen Gnade, welchen er das Leben bei kleinen Teilen entzieht. Das ist der einzige Vorteil des Alters. Der letzte Tod wird dadurch weniger schmerzhaft und gewaltsam“[21]. Und, aus dem gleichen Essai: „Er (der Tod) betrifft euch weder als Tote noch als Lebende: als Lebende, weil ihr seid; als Tote, weil ihr nicht mehr seid… Weder das, was ihm vorausgehrt, noch das, was auf ihn folgt, (gehört) zum Wesen des Todes”. Ein paar Zeilen später: „Der Tod mischt sich unbemerkt und überall in unser Leben. Die Hinfälligkeit bemächtigt sich im Voraus ihrer Stunde und hat selbst an unseren Fortschritten ihren Teil”[22].

Der Tod ist für Montaigne zugleich das ganz andere und nicht das ganz andere, da jeder Tod ähnlich dem Leben ist, das vorausging und wie es vorausging. „Wir werden nicht anders, um zu sterben. Ich deute immer den Tod aus dem Leben”, hält Montaigne fest. Im Angesicht des Todes werden somit das Ich und das so nichtige Leben wiederum bedeutungsvoll, die strenge Antinomie von Sein und Schein, von Maske und Antlitz wird gemildert, auch wenn sie nicht ganz wegfällt. „Wir wachen schlafend, und wachend schlafen wir”, hält Montaigne fest. „Es ist eine unbedingte und gleichsam göttliche Vollkommenheit, in richtigem Masse seines Wesens zu geniessen. Wir trachten nach einem anderen Zustand, weil wir den Gebrauch des unsrigen nicht verstehen, und verlassen uns selbst, weil wir nicht wissen, wozu wir fähig sind.[23]“ Die Skepsis bleibt, jedoch gemindert durch das Zugeständnis an die notwendige Akzeptanz des Gemischten, Widersprüchlichen und Unvollkommenen.

Montaigne zu lesen ist ein grosser Gewinn. Seine Essais wie auch seine Reisberichte durch Italien, die Schweiz und Deutschland[24] bieten schier unerschöpfliche Anregungen für die eigene Auseinandersetzung mit der Welt und den Menschen, die auf und in ihr leben, für die Auseinandersetzung mit sich selbst, mit den eigenen Schwächen und Masken, mit der eigenen Hinfälligkeit und Sterblichkeit, aber auch mit der Bedeutung eines in sich gesicherten Ich, mit dem Göttlichen und der Schöpfung. Montaigne war ein hervorragender Schriftsteller, für den das Schreiben nicht Selbstzweck, sondern Kommunikation bedeutete. Das Wort gehöre zur Hälfte dem, welcher spreche, und zur Hälfte dem, welcher höre, hielt er irgendwo fest, auch jenem und jener, die schreiben und jenen, die lesen. Suchen und Bewusstsein gewinnen, sich bescheiden und geniessen, angstfrei leben mit dem Wissen um den Tod, so löst die Ungewissheit der Zeit sich auf: „Das Leben an sich ist weder ein Gut noch ein Übel. Es ist der Raum des Guten und des Übels, je nachdem. Was ihr hineinlegt. Und wenn ihr einen Tag gelebt hast, so habt allses gesehen; ein Tag gleich allen übrigen Tagen. Es gibt keine andere Tageshelle, kein anderes Nachtdunkel. Diese Sonne, dieser Mond, diese Gestirne, diese Einrichtung ist gerade noch so, wie es eure Grossväter genossen und wie es eure Enkel befinden werden“[25].

Der Einfluss Montaigne’s wirkte sich auf viele nachfolgende Denker aus, auf Pascal, Descartes, Kierkegaard, Bergson, auf die Vertreter und Vertreterinnen der Existenzphilosophie, auf mich selber, auf viele kritische Denkerinnen und Denker bis heute.

Auf René Descartes[26] kurz einzugehen drängt sich auf. Ein Meisterstück skeptischer Reflexion ist dessen erste Méditation von 1641. Nicht dass Descartes von seinem gesamten philosophischen Werk her als Vertreter der Skepsis bezeichnet werden könnte, im Gegenteil. Er war Mathematiker, somit ein erklärter Positivist, und in der Philosophie einer der Begründer des modernen Rationalismus. Mit der ersten seiner sechs Méditations métaphysiques aber stellt er das ganze Fundament der Belehrungen, die er in der Jugend erhalten hatte, sowie alles Wissens, das er sich angeeignet und aller Meinungen, die er sich gebildet hatte, in Frage. „Schon vor einer Reihe von Jahren habe ich bemerkt, wie viel Falsches ich in meiner Jugend habe gelten lassen und wie zweifelhaft alles ist, was ich hernach darauf aufgebaut, dass ich daher einmal im Leben alles von Grund aus umstossen  und von den ersten Grundlagen an neu beginnen müsse… So habe ich denn heute zur rechten Zeit meine Gedanken aller Sorgen entledigt (…), und werde endlich ernsthaft und unbeschwert zu diesem allgemeinen Umsturz meiner Meinungen schreiten”, beginnt  Descartes seine Méditation. Er stellt fest, dass die Sinnenvermittlung trügerisch ist, dass „Wachsein und Träumen niemals durch sichere Kennzeichen unterschieden werden können”. So etwa kann es sein, dass er tatsächlich „mit dem Winterrock angetan, am Kamin sitzt, das Papier mit den Händen betastet” etc., es kann aber ebenso sein, dass er „während der Nachtruhe sich einbildet, mit dem Rock bekleidet, vor dem Kamin zu sitzen” etc.

Nachdem Descartes den Zweifel radikalisiert hat, kommt er allerdings zum Schluss, dass es ein paar wenige Erkenntnisinhalte gibt, die sich dem Zweifel entziehen: so das ganz Einfache der körperhaften Erfahrung – die Ausdehnung -, auch die Idee Gottes müsse jedem Zweifel überlegen sein, folgert Descartes, da diese ja nicht eine menschengeschaffene Idee sei, obwohl er sich gleichzeitig fragt, woher er denn wisse, ob Gott nicht bewirkt habe, dass es überhaupt keine Erde, keinen Himmel, kein ausgedehntes Ding, keine Gestalt, keine Grösse, keinen Ort gebe und dass dennoch dies alles genau so, wie es ihm jetzt vorkomme, bloss da zu sein scheine; ja sogar auch, wie er überzeugt sei, dass andere sich bisweilen in dem irren, was sie vollkommen zu wissen meinen, ebenso könnte auch er sich täuschen, so oft er 2 und 3 addiere oder die Seiten eines Quadrats  zähle, oder was man sich noch leichteres denken möge.

Descartes lehnt es jedoch ab, diesen Zweifel mit Gott in Verbindung zu bringen, dem „allgütigen”, dem „Quell der Wahrheit”. Eher sei anzunehmen, fährt er fort, dass „ein böser Geist,  der zugleich allmächtig und verschlagen ist”, all seinen Fleiss dran gewandt habe, ihn zu täuschen.

Descartes’ „böser Geist” muss nicht nur der grosse metaphysische Einflüsterer, mithin der Gegenpart Gottes sein. Es liesse sich darunter auch, im Sinn Freuds, das Unbewusste verstehen, oder, im Sinn der kritischen Theorie, die ideologischen und propagandistischen Verführungsmächte. Auf jeden Fall steht fest, dass für Descartes auch scheinbar „objektive” Meinungen über die Aussenwelt  – er zählt etwa „Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne usw.” auf – durch interne oder externe Kräfte beeinflusst werden, da wir ja nie aus uns und nie aus der Welt heraustreten können (was auch ein Kerngedanke der Wittgenstein’schen Reflexion ist). Was jedoch für Descartes unbestreitbar bleibt, ist gerade die Tatsache dieses „Innen”, resp. die Tatsache dass „ich denke”. Ob ich richtig oder falsch denke, ist unwichtig; was zählt, ist,  dass „ich denke, mithin, dass ich bin”„cogito ergo sum“. Mit der Affirmation dieser drei wichtigsten Erkenntnisinhalte – die Aussenwelt (res extensa), Gott (res divina) und die Innenwelt (cogito / res cogitans) – wird durch Descartes die Skepsis überwunden.

Rund achtzig Jahre nach den cartesianischen Meditationes, 1719, erscheint anonym Le Traité des trois imposteurs, das der durch Descartes vorgenommenen rationalen Begründung Gottes auf radikale Weise absagt, ein Dokument sowohl des sog. neuen pyrrhonischen Skeptizismus wie des Atheismus. Dass es anonym erschien, hatte mit den Verfolgungen zu tun, denen Glaubensdissidenten ausgesetzt waren, etwa der 1619 als Ketzer verbrannte Lucilio Vanini, der übrigens öfters als Verfasser des Buchs über die drei Betrüger vermutet wurde, zu Unrecht, da er – darin dem Renaissancephilosophen Pietro Pomponazzi ähnlich – seine ideologiekritischen, macht- und verführungskritischen  Überlegungen zu Religion und Glauben, zu den Wundergeschichten und zu den Religionsbegründern unter eigenem Namen verbreitet hatte. Der Traktat über die drei Betrüger erschien erstmals deutsch im Jahre 1787/88 in Berlin, unter dem merkwürdigen Titel Spinoza II oder Subiroth Sopim. Rom, bey der Wittwe Bona Spes. 5770 gedruckt.

Der Traktat ist ein merkwürdiges Sammelsurium, ein „aus allen möglichen zeitgenössischen philosophischen Machwerken abgeschriebener, etwas spinozistisch aufgeputzter” Texte, wie ihn ein Spinoza-Forscher, S. von Dunin-Borkowski, zu Beginn dieses Jahrhunderts bezeichnet hat. Mit Spinoza’s Ethik hat der Traktat nichts gemein. Im Gegensatz zur Ethik, in der Spinoza Gott als die immanente Ursache des raum-zeitlichen Universum von diesem unterscheidet, wird im Traktat Gott als das Aggregat aller materiellen Einzeldinge verstanden. Damit wird der pantheistische Satz „Tout est Dieu” zugleich zur Begründung eines radikalen Materialismus und Atheismus. Die Leugnung der Weltschöpfung, der Willensfreiheit und der Unsterblichkeit der Seele, d.h. aller supranaturalen Wahrheitsansprüche der drei Offenbarungsreligionen, ebenso die Entmythologisierung der Wundergeschichten, schliesslich  die Dekonstruktion der drei Religionsbegründer – Mose, Jesus und Mohammed – machen den Traktat zwar zu einem populären, eventuell gar populistischen Vorläuferdokument des sich im 19. und 20. Jahrhundert wissenschaftlich etablierenden atheistischen Materialismus, jedoch kaum zu einem Dokument wissenschaftlicher Skepsis, da diese nicht die atheistische Gegenthese, sondern das Nichtwissen um Gott propagieren würde.

Es bleibt nicht genug Raum, um die skeptischen Ansätze in der Philosophie der Aufklärung aufzuarbeiten, insbesondere die durch diese geleistete Kritik an Vorurteilen, in England etwa bei Francis Bacon, bei Hobbes, Locke und Hume, in Frankreich bei den Enzyklopädisten d’Alembert, Diderot, Holbach, Voltaire und bei weiteren, in Deutschland bei Lessing, Mendelssohn und Kant,  Ansätze, die sich allerdings weniger als Philosophie des Nichtwissens denn als Kritik dogmatischen Glaubens, Wissens oder Machtanspruchs entwickelt haben. Auch Marx’s Kritik an den ökonomischen Verhältnissen, die ihn zu seiner Entfremdungstheorie führte, oder Freuds Kritik am ausschliesslich naturwissenschaftlichen, neurologischen Zugang zu den psychischen Störungen und Leiden der Menschen, die ihn zur Entdeckung des Unbewussten führte, oder die ideologie- und herrschaftskritische Arbeit der Frankfurter Schule mit Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Max Horkheimer, auch mit Walter Benjamin.

Ebenso ist der Herrschaftskritik der Frauenbewegung seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts wie auch die länderübergreifende antiimperialistische Friedensbewegung der Frauen zu gedenken, der Kritik an Rechtsungleichheit und an Aufrüstung, an Rassismus und Krieg.  All diese bedeutenden Bewegungen beruhen auf der von skeptischen Elementen geprägten  Erbschaft von Denkerinnen, jedoch weniger im Sinn der philosophischen Definition von Skepsis als im Sinn der existenz- und gesellschaftsbezogenen Verwendung des Begriffs, die, wie ich eingangs erwähnte, jener von Kritik nahe kommt. Flora Tristan und Rosa Luxemburg, Bertha Pappenheim, Simone Weil und Hannah Arendt sind Wegbereiterinnen, in Hinblick auf die Macht der Sprache Wittgenstein, dessen Skepsis gegenüber der Macht und Autorität des Vaters vergleichbar jener ist, die Kafka zur schmerzhaften Auflehnung, schliesslich zur Skepsis gegenüber jeder sprachlichen Aussage führte. Die Zweifel betreffen sowohl die Begriffe und deren Bedeutung selbst wie das, wofür die Bedeutung steht: die Dinge der Aussenwelt, das eigene Denken, die Vorstellungen und deren eventuelle Entsprechung in der Welt, Gott, das Leben, die Zeit und die Fortsetzung der Zeit. Mit den letzten Aufzeichnungen[27], die Wittgenstein bis kurz vor dem Tode fortsetzte, verdichtet er die Skepsis schonungslos. Was er dadurch erreichte, ist Furchtlosigkeit vor dem Tod. Er bedurfte keiner Prophetie, welche Erlösung versprach. Wenige Tage vor seinem eigenen Tod besuchte ihn ein Freund in Cambridge, dem er sagte: „Es ist seltsam – obwohl ich weiss, dass ich nicht mehr lange zu leben habe, denke ich nie an ein ‘künftiges Leben’. Alle meine Interessen sind nach wie vor mit diesem Leben und mit dem verbunden, was ich noch schreiben kann“[28].

 

Literaturangaben:

Friedrich Battenberg. Das europäische Zeitalter der Juden. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990

Etienne de la Boétie. Von der freiwilligen Knechtschaft. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 1980

Thorleif Boman. Das hebräische Denken im Verlgeich mit dem griechischen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1977

René Descartes. Les Méditations métaphysiques. Presses universitaires de France, Paris 1963

Hermann Diels / Walther Kranz. Die Fragmente der Vorsokratiker. 2 Bde. Verlag Weidmann, o.O. 1974

Hermann Greive. Die Juden. Grundzüge ihrer Geschichte im mittelalterlichen und neuzeitlichen Europa. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1980

Thedor  Grundmann / Karl Stüber. Philosophie der Skepsis. UTB für Wissenschaft, Verlag  Schöningh. Paderborn-München-Wien-Zürich 1996

Julius Guttmann. Philosophies of Judaism. Schocken Books, New York 1976

Mose ben Maimon. Führer der Unschlüssigen. 3 Bde. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1972

Michel de Montaigne. Essais. 3 Bde. Union générale d’éditions, Paris 1964

Wilhelm Nestlé. Griechische Geistesgeschichte. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1944

Platon. Sämtliche Werke, Bd.4 (u.a. Theaitetos, Sophistes). Übersetzung von Fr. Schleiermacher. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg 1960

Richard H. Popkin. The History of Scepticism. University of California Press, Berkely-Los Angeles-London 1979

Gershom Scholem. Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Suhrkamp Verlag, Frnakfurt a.M. 1967

Jean Starobinski. Montaigne. Denken und Existenz. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1986

Yosef Hahim Yerushalmi. Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte. Wagenbach Verlag, Berlin 1993

 

 

 

 

 

 

 

[1] Rainer Maria Rilke. Requiem. In: Sämtliche Werke. Band I. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1955. S. 664

[2] Michel Eyquem de Montaigne  (28. 02. 1533 – 13. 09. 1592)

[3] Yosef Hayim Yerushalmi (20. 05. 1932 – 08. 12. 2009)

[4] Martin Luther (10. 11. 1483 – 18. 02. 1546)

[5] Die jüdische Geschichte im 16. Jahrhundert: mit der Vertreibung aus Spanien begann die Dezimierung der jüdischen Präsenz in Westeuropa und die Verlagerung des jüdischen Lebens, auch der jüdischen Gelehrtheit nach Osteuropa. Obwohl so viele Vertreibungen vorausgegangen waren – 1182 erstmals aus Frankreich, 1290 aus England, 1306 wiederum aus dem schon grösseren Königreich Frankreich und 1394 erneut, sodann im Lauf des 14. und 15. Jahrhunderts aus den meisten mitteleuropäischen Städten – trotz all diesen Vertreibungen wurde diejenige aus Spanien im Jahre 1492 als Weltenwende verstanden. 1493 wurden die Juden auch aus den spanischen Besitzungen Sizilien und Sardinien verjagt, und im selben Jahr wurde in den damals spanisch regierten Niederlanden für Juden ein strenges Niederlassungsverbot erlassen. Und damit war es noch nicht getan: 1497 befahl der portugiesische König Emanuel I. die Zwangstaufe aller portugiesischen sowie aller aus Spanien geflüchteten Juden und setzte dies mit grosser Brutalität durch, 1498 wurden die Juden aus dem damals noch unabhängigen Königtum Navarra vertrieben, 1501 aus der Provence mit ihren bedeutenden Gemeinden in Nîmes, Lunel und Montpellier, 1510 aus dem Königtum Neapel und praktisch aus ganz Süditalien, wo insbesondere die Gemeinde von Bari hohes Ansehen genoss. – Die jüdische Geschichte kollektiver Traumatisierung ging als „Weltenwende“ einher mit dem Beginn der von Spanien und der katholischen Kirche, dann von fast allen europäischen Ländern konkurrierend vorangetriebenen Geschichte des brutalen, ausbeuterischen wirtschaftlichen Imperialismus wie des Missionarismus. In Europa selber mit dem von Martin Luther (1483 – 1546) angeführten Kampf gegen Papsttum und Priesterschaft, womit die Reformation eingeleitet wurde, durch welche die Lehre vom unbekannten Willen in Gott, über den keine menschlichen Autoritäten, sondern allein die Bibel und der Glaube auszusagen vermögen, verkündet wurde und worauf die katholische Kirche mit ihrer jesuitischen Kampftruppe die Gegenreformation in Gang setzte. Während die reformatorische Bewegung der religiösen Skepsis menschlicher Autorität gegenüber eine Art Anerkennung verschaffte, schuf sie zugleich einen neuen Glaubenszwang; gleichzeitig führte die Krise im katholischen Bereich zu einer Verstärkung der autoritären Tendenzen

[6] Joseph ben Ephraim Caro (1488 – 24. 03. 1575)

[7] Moses ben Jacob Cordovero  ( 1527 – 1570)

[8] Isaac ben Salomon Luria /1534 . 25. 07. 1572)

[9] Baruch de Spinoza resp. Bento de Espinosa resp. Benedictus de Spinoza (21. 11. 1632 – 21. 02. 1677)

[10] Pyrrhon von Elis (ca. 360 v. Chr. – ca. 270 v. Chr.)

[11] Sokrates (469 – 399)

[12] Sextus Empiricus (ca. 160-210, eventuell  ca. 200-250)

[13] Ob eventuell Salomon der erste  Skeptiker war, so dass auch diese Linie, die Linie der Skepsis, im Judentum begonnen hätte? Der Überlieferung nach soll er einen Ring getragen haben, der ihn glücklich machen sollte, wenn er traurig war, und umgekehrt, und auf den eine Inschrift ingraviert gewesen sein soll: „Auch dieses wird vorübergehen”.

 

[14] Diels, Fragmente, Bd. II, S.265

[15] Cicero, Nat. deor. II 10, 24 f

[16] Diels, Fragmente, Bd. II, S.266

[17] Platon (427 v. Chr. – 347 v. Chr.)

[18]Michel de  Montaigne, Bd. II, 18. Kapitel. Du démentir.  In: Essais. Hrsg. R.-R.- Wuthenow. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1976, S. 186. (In der Originalfassung erschienen Bd. I und II 1580, Bd. III 1588).

[19] Etienne de La Boëtie. Von der freiwilligen Knechtschaft. Ins Deutsche übersetzt durch Horst Günther (unter Mitwirkung von Neithard Bulst). Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1980

[20] Michel de Montaigne, Bd. II, Frankfurt am Main, S. 133

[21] Michel de Montaigne. Essais. Bd. II, Frankfurt am Main 1976, S. 268

[22] Michel de Montaigne. Essais. Bd. II. Frankfurt am Main, S. 269

[23] Michel de Montaigne. Essais. Bd. II. Frankfurt am Main, S. 290

[24] Die Originalfassung: Journal de voyage de Michel Montaigne en Italie, par la Suisse et l’Allemagne, 1774.

[25] Michel de Montaigne. Philosophieren heisst sterben. Essais. Bd. I., Frankfurt am Main 1976, S. 26

[26] René Descartes (31. 03. 1596 – 11. O2.1650)

[27] Ludwig Wittgenstein. Über Gewissheit. 1969 erstmals deutsch/englisch erschienen, 1989 in einer zweiten, von den Herausgebern nochmals durchgesehenen Ausgabe.

[28] Ray Monk. Wittgenstein.  S.613

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