Überlegungen zur Frage: Was ist der Mensch?

Überlegungen zur Frage: Was ist der Mensch?

 

Wie kommt es, dass eine Frage gestellt wird, die seit Jahrtausenden gestellt wurde? „Ist es mit dem Wissen wie mit dem Sammeln?“[2], fragte sich Ludwig Wittgenstein kurz vor seinem Tod, nach einem Leben, das geprägt war von der Skepsis allem gegenüber, was auf eine Frage als „richtige Antwort“ erklärt wurde. Wittgenstein‘s mäanderhaftes Suchen nach Antworten auf Fragen, die er als nicht beantwortbar beurteilte, da jede Antwort eine subjektive Annahme ist oder die Wiederholung eines „Namens“ oder einer Behauptung und daher Zweifel weckt, erscheint mir gewissermassen als Fortsetzung des sokratischen „Ich weiss, dass ich nichts weiss“, von Sokrates nicht im Sinn der Resignation formuliert, sondern als Begründung des ständigen Lernens, während Wittgenstein den Zweifel als intellektuellen Ausdruck der kaum erfüllbaren Sehnsucht nach Sicherheit empfand, die nach seinem Empfinden eventuell nur ab und zu im praktischen Leben beruhigt werden konnte.

Gilt dies aber auch für die Frage, „was“ der Mensch sei? Die Frage nach dem „was“ ist eine Sachfrage. Der Mensch wird durch diese Frage zum Gegenstand gemacht – zum Objekt gesellschaftspolitischer, staats-und sozialrechtlicher, zivil- oder strafrechtlicher, wirtschaftlicher, pharmakologischer und medizinwissenschaftlicher Definitionen, Absichten, Zwecke und anderem mehr. Er wird untersucht und zugeordnet, gemessen und gewogen, benutzt und manchmal ernst genommen, er wird als „passend“ oder als „unpassend“, als angenommen oder als abgewiesen, als gut und als schlecht, als Bürger und Bürgerin oder als Fremder und Fremde erklärt. Die Medizin z.B. nimmt die Frage in der Anatomie und in der Physiologie auf, durch das „Aufschneiden“ (gemäss dem griechischen „anatemnein“) und Untersuchen des Körperbaus des Menschen, durch Erforschen und Beurteilen der darin wirkenden physikalischen und chemischen Gesetzmässigkeiten, entsprechend einer Vielzahl von Masseinheiten, von Druck- und Mengenangaben etc. Die Frage nach dem „was“ ist in der Medizin somit eine Frage nach den materiellen körperlichen Eigenheiten. Die vierte Aussage in Wittgensteins Band „Über Gewissheit“ geht als Beispiel auf diese Frage ein, um deutlich zu machen, dass selbst die Aussage über den Körper Zweifel weckt: „‘Ich weiss, dass ich ein Mensch bin‘. Um zu sehen, wie unklar der Sinn des Satzes ist, betrachte seine Negation. Am ehesten noch könnte man ihn so auffassen: ‚Ich weiss, dass ich die menschlichen Organe habe‘ (z.B. ein Gehirn, welches doch noch niemand gesehen hat). Aber wie ist es mit einem Satz wie: ‚Ich weiss, dass ich ein Gehirn habe‘? Kann ich ihn bezweifeln? Zum Zweifeln fehlen mir die Gründe! ‚Es spricht alles dafür, und nichts dagegen.‘ Dennoch lässt sich vorstellen, dass bei einer Operation mein Schädel sich als leer erwiese“[3]. Deutlich wird durch das Beispiel, dass der Zweifel in die Verzweiflung führt, wenn er sich vom intellektuellen Prozess, der „Logik“ heisst, auf das praktische Leben – auf den Wert der Existenz –überträgt. Auch Wittgenstein ist sich dessen bewusst; er hält fest: „Mein ‚Seelenzustand‘, das ‚Wissen‘, steht mir nicht gut für das, was geschehen wird. Er besteht aber darin, dass ich nicht verstünde, wo ein Zweifel ansetzen könnte, wo eine Überprüfung möglich wäre“[4]. Und er fährt fort: „Man könnte sagen: ‚Ich weiss‘ drückt die beruhigte Sicherheit aus, nicht die kämpfende“[5]:

Viele Fragen stellen sich zur Frage nach dem „was“ ist der Mensch. Ist die Frage überhaupt zulässig? Wurde sie in der nationalsozialistischen Zeit nicht als Mittel und Massstab benutzt für die Definition von Lebenswert oder Lebensunwert? – und steht die Frage nicht im Zentrum jeder Diktatur, ob sie von nationalistischen, ethnizistischen, religionsfundamentalistischen, parteipolitischen oder marktwirtschaftlichen Massstäben bestimmt werde, als Werkzeug zur Kategorisierung und Beurteilung der Menschen, als Begründung von Gebrauch und Missbrauch, von Folter und Tötung? Wer nicht Menschen nahe steht, die hier in Europa oder anderswo in der Welt in einem der Länder, in welchen „was ist der Mensch“ zur qualvollen Überlebensfrage wurde resp.wird, so dass sie in andere Länder flohen, um das Recht, leben zu dürfen, zugestanden zu bekommen, die jedoch als Asylsuchende erneut durch das „was“ kategorisiert und entrechtet werden, ist anzuraten, die Aufzeichnungen solcher Menschen zu lesen oder die Literatur, die sich mit ihnen befasst, nicht zu scheuen[6]. Nach allen Erfahrungen, welche die Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart im Zusammenhang der sprachlich geregelten, gesellschaftlichen Grammatik wiederholt hat, in der durch Macht, Machtmissbrauch und Ohnmacht gekennzeichneten Unterscheidung von Subjekt und Objekt, erscheint es angemessener zu fragen, „wer“ ist der Mensch? – oder eventuell „wie“ ist der Mensch?

Die Frage nach dem „wer“ ist jene nach der Subjekthaftigkeit des Menschen, nach der unaustauschbaren Besonderheit in der nicht wählbaren Herkunfts- und Zeitgeschichte, auf dem Weg von der pränatalen Verborgenheit über das ständige Wachstum und Lernen von der frühen Kindheit und Jugend zum Erwachsenenleben, immer mit wechselnden Möglichkeiten der Partizipation im Lebensumfeld und im Beziehungsgeflecht, immer mit einer Teilverantwortung, die Antwort ist auf das Grundbedürfnis, das „Freiheit“ heisst. Die Frage nach dem „wie“ ist jene nach der Besonderheit der Empfindungen des Menschen, d.h. nach dem, was seine Seele bewegt und die Gestaltungsmöglichkeit seiner Besonderheit bewirkt, ob im Wohlbefinden der kreativen Entfaltung seines Ich in allem, was Entscheiden und Handeln bedeutet, ob im guten Ertragenkönnen wechselseitiger menschlicher Abhängigkeit und Begrenztheit, ob im Leiden und ständigen Hunger wegen nicht erfüllter Bedürfnisse. Hat die Herrschaft der Technologie die Menschen auf eine Weise der Virtualität unterworfen, dass es ungewohnt und ungebräuchlich wurde zu fragen, „wer“ jemand ist, der /die durch einen bestimmten Namen und ein bestimmtes Lebensalter gekennzeichnet ist, und „wie“ sich dieser Mensch in den Bedingungen und Strukturen seines Lebens empfindet?

Wird die Frage nach dem „wer“ und nach dem „wie“ nicht gescheut, sondern in der Bedeutung der Subjekthaftigkeit wie in jener der Sprache der Psyche ernst genommen, darf auch die Frage „Was ist der Mensch“ gestellt werden, ohne dass Gefahr besteht, dass sie zur Verdinglichung des Menschen führt. Die Antwort ergibt sich aus der Beachtung der nicht wählbaren und nicht auswechselbaren, aber sich allmählich entschlüsselnden und sich entfaltbaren Individualität, mit dem Wert der Einmaligkeit und Besonderheit, zugleich der Einsamkeit und der Abhängigkeit: als Kind, als Mädchen oder als Knabe, allmählich als Frau oder als Mann, immer geprägt von einer Vielfalt von Hungergefühlen, von Hunger nach Erfüllung ständig spürbarer Bedürfnisse, jener Grundbedürfnisse, die jeden Menschen in seinem Menschsein prägen, häufig auf widersprüchliche Weise, Hunger nach körperlicher, nach seelischer und nach intellektueller Nahrung, nach Sicherheit und nach Freiheit, nach Übereinstimmung des inneren Zeitgefühls mit der gezählten und berechneten Zeit, selbst wenn die äusseren Zeitgeschehnisse kaum ertragbar sind, letztlich und zutiefst durch Erfüllung des Hungers nach Beziehung, im Sinn von Martin Buber’s Erkenntnis[7]: nach Beziehung des Ich zum Selbst und des Ich zum Du, zum Sie und zum Er, auch zum Es, so dass ein Wir entsteht, das durch Verlässlichkeit das Ich in seiner Besonderheit schützt und so den tiefsten Hunger stillt: jenen nach Auflösung der Angst, nach Liebe und nach Sicherheit, letztlich nach Ertragenkönnen der eigenen Abhängigkeit von anderen Menschen sowie nach Erfüllenkönnen deren Bedürftigkeit und Abhängigkeit mit der Kraft der Freiheit.

Was also ist der Mensch? Geheimnis und Realität – ein von Lebendigkeit, von Bedürftigkeit und von einer Vielzahl von Fähigkeiten geprägtes Ich, Natur und Geist zugleich in seiner genealogisch geprägten Körperlichkeit sowie in der geheimnisvollen, über Angst, Sehnsucht und Glück, letztlich über alle Empfindungen und über die Bildersprache der Träume spürbaren Psyche sowie in der beinah unbegrenzt wachsenden Erkenntnis- und Denkfähigkeit, in seiner Besonderheit und Abhängigkeit geprägt vom nicht wählbaren Herkunftsrahmen und in eine Zeitgeschichte versetzt, deren Bedingungen unter dem Gebot, für die eigene Zukunft zu sorgen, in der Fortsetzung menschlicher Geschichte kaum tragbar sind, in der Lebensgleichzeitigkeit mit einer Vielzahl anderer Menschen im gleichen Raum, von denen jeder/jede in seiner/ihrer Besonderheit in der gleichen Abhängigkeit ist von seinem Ich und von Anderen, auf unterschiedliche Weise getrieben vom Bedürfnis, den vielfachen Hunger zu stillen, häufig bis zur Masslosigkeit, wodurch die Geschichte beim einzelnen Menschen und gleichzeitig bei vielen wieder geprägt wird durch neuen Schaden, durch Last und Schuld und durch neuen Hunger nach Erfüllung der Bedürftigkeit, letztlich nach Glück.

Ein merkwürdig widersprüchliches Werk ist also der Mensch, immer Kind und zugleich Frau oder Mann, so oder so – gemäss der sokratischen Mythologie[8] – immer als Eros verstanden, als Tochter oder Sohn von Penia, welche die Bedürftigkeit repräsentiert, und von Poros, der mit seinem Namen als Wegefinder gilt, daher mit der Aufgabe versehen, auf Grund seiner/ihrer Bedürftigkeit und seiner/ihrer vielfachen Fähigkeit selber schöpferisch zu sein. Könnte dies heissen, dass die Frage, „was“ ist der Mensch, zu beantworten ist mit der Erklärung: jeder Mensch ist zugleich Fortsetzung des Menschsein und Neuanfang?

„Ob sich ein Satz im Nachhinein als falsch erweisen kann, das kommt auf die Bestimmungen an, die ich für diesen Satz gelten lasse“[9], zitiere ich abschliessend nochmals Wittgenstein. Die Bestimmung, die ich gelten lasse, ist der Versuch, auf die Frage eine Antwort zu finden, die sich auf die Hoffnung stützt, sie möge gelten.

[2] Ludwig Wittgenstein (geb. 1889, gest. 1951). Über Gewissheit. Bibliothek Suhrkamp 1997, Überlegung 539,

  1. 139.

[3] a.a.O. S. 9-10

[4] Überlegung 356, a.a.O. S. 94

[5] Überlegung 357, a.a.O. S. 94

[6] als Beispiel Aleksandar Tisma. Das Buch Blam. Roman. Hanser Verlag, München-Wien 1995, auch die anderen Werke dieses Autors wie jene von Überlebenden der Lager, der Folter und Gefängnisse überall in Europa.

[7] Martin Buber. Das dialogische Prinzip. Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1979. S. 22

[8] cf. Symposion 203a –204a

[9] a.a.O., S. 10

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