Die späten Jahre – ein Leben im Gegenlicht – Über den Wert der Besonderheit
Die späten Jahre – ein Leben im Gegenlicht
Über den Wert der Besonderheit
„Du sitzt am Fenster
und es schneit –
dein Haar ist weiss
und deine Hände –
aber in den beiden Spiegeln
deines weissen Gesichts
hat sich der Sommer erhalten:
Land, für die ins Unsichtbare erhobenen Wiesen –
Tränke, für Schattenrehe der Nacht“……[1]
Es sind Gedichtzeilen von Nelly Sachs, der 1891 in Berlin geborenen und 1970 in Stockholm verstorbenen Dichterin, welche sie schrieb, als sie sich selber – weniger an gezählten Jahren, sondern mit den nicht zählbar vielen Lebenszeiten, die sie in sich trug – in ihrer Spätzeit empfand; sie würde mir beipflichten, nehme ich an, wenn ich sie fragen könnte. Das Gedicht, aus welchem ich die ersten Zeilen las, schrieb sie in der Zeit, nachdem ihre Mutter eingeschlafen war für immer, im Februar 1950, beinah zehn Jahre nachdem sie mit ihr aus Berlin hatte fliehen und nach Schweden hatte gelangen können. Das war am 16. Mai 1940 gewesen, im letzten Moment möglicher Rettung, als Nelly Sachs beinah 49 Jahre zählte. Da ihr Werk aus der Zeit vor der Flucht verbrannt worden war – wie viele Bücher im damaligen Deutschland -, nehme ich an, dass alle lyrischen und szenischen Dichtungen, die Ihnen und mir von ihr vorliegen und die auch mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt worden sind – 1966 gar mit dem Nobelpreis – Mitteilungen aus der „Spätzeit“ dieser Dichterin sind, deren Sprache mir so nahe kommt, als würde sie vor mir sitzen und würde mir leise die Bilder schildern, die sie bewegen.
In einem ihrer „Späten Gedichte“ sprach Nelly Sachs die Mutter an, mit welcher sie die Wohnung im Süden Stockholms, die ihnen zugeteilt worden war, bewohnt hatte und welche sie weiter bewohnte, bis sie aus Krankheitsgründen des Spitalaufenthalts bedurfte. Dort starb Nelly Sachs am 12. Mai 1970. Ich war damals dreissig Jahre alt, noch ohne Studienabschluss, unterrichtete Sprachen und übersetzte Bücher, hatte Zwillinge geboren – Knabe und Mädchen -, dann ein kleines Mädchen, das zur Welt kam und nicht leben konnte, dann einen Knaben, und war in Erwartung des fünften Kindes, voller Hoffnung, es komme zur Welt ohne Beschwerden und trage in sich eine starke eigene Kraft fürs Leben. Was meine Kräfte betraf, war ich für mich selber in schwindender Zuversicht, fühlte mich alt, da die erlebte Zeit in mir wie ein dunkles Gemenge wirkte, das, wie ich zunehmend spürte, zur „Ellipse“ sich formte, für deren Farben und Klarheit ich die Verantwortung trug.
„Mutter“, hatte Nelly Sachs geschrieben
„(…) umzogen von göttlicher Ellipse
mit den beiden Schwellenbränden
Eingang
und
Ausgang
Dein Atemzug holt Zeiten heim
Bausteine für Herzkammern
Und das himmlische Echo der Augen
……
Leise vollendet sich
die schlafende Sprache
von Wasser und Wind
im Raum deines
lerchenhaften Aufschreis.“[2]
Bedurfte die „Herzkammer“ meiner Kinder, ja, bedurfte meine eigene nicht der „Bausteine“, die sicherer waren als diejenigen, die ich bieten konnte? War die Wohnung, in welcher Nelly Sachs „die Zeiten heimholen“ konnte, ein Symbol von ähnlichem Wert wie die Sprache? Seit damals lässt mich die Frage nicht los, seit damals durch Mäander des Fragens und Suchens nach Antwort; ich bringe sie zum Ausdruck durch meinen Beitrag zur heutigen Tagung.
Was heisst „Alter“? Welche Jahre sind die „späten Jahre“? Was bedeutet „spät“?
Es war meine Grossmutter gewesen, die mir häufig gesagt hatte, ich solle mich „rechtzeitig auf den Weg machen, damit ich nicht zu spät komme“. Sie, die im Elsass zur Welt gekommen und aufgewachsen war, in Armut und ständiger Unsicherheit, sowohl was den Alltag wie was die Zukunft betraf, die noch vor dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz gelangen konnte, meinen Grossvater heiratete und meinen Vater gebar, dann weitere sechs Kinder, sie wusste, dass es eine ständige, kaum erfüllbare Aufgabe ist, den Rhythmus der ungleichen Zeiten zu koordinieren und Zeitraster einzuhalten, in denen die berechnete und vorgegebene Zeit mit der eigenen, inneren Zeit in einem ständigen, nagenden Konflikt stehen. „Zu spät sein“ hiess damals „zu kurz kommen“. Es wurde als eigene Verantwortung bewertet, schon dem Kind gegenüber, wenn ein vorgegebener Zeitablauf nicht durchgeführt oder nicht eingehalten werden konnte, vielleicht weil Hindernisse im Weg standen, vielleicht auch weil ein eigener Widerstand mitwirkte oder weil das Zeitgefüge – das innere und das äussere – einander blockierten. So geschah es immer wieder, dass ein Weg mir überflüssig erschien, als unnütz verbrauchte Zeit, dass einen anderen ich zu gehen wünschte, doch dass dann das Bestreben spürbar wurde, nochmals zur Wegkreuzung zu gelangen, vielleicht rückwärts zu gehen und anders zu gehen, doch ständig hiess dies in meiner Empfindung, dass die Zukunft eingeschluckt war, dass sie vorweg Vergangenheit wurde, so dass ich mich damals, in der Kindheit und Jugend, wie atemlos zeitenfremd fühlte.
„Zu spät sein“ konnte heissen, dass eine Türe sich nicht mehr öffnete, wenn ich an sie gelangte, hiess vielleicht Selbsttäuschung wegen der Hoffnung, die ich auf dem Weg zwischen Tagen und Nächten und Jahren wie einen Motor in mir geöffnet hielt, aber Hoffnung worauf? – auf eine zeitlose Zeit? Auf Glück? Ist Zukunft immer ein Traum? Was ist das Ziel der Rechtzeitigkeit? Ein Altwerden? – ein Geborgensein? All dies war eine Warnung wegen des Übermasses an Zeithunger, der ungestillt blieb. Meine Mutter, die ihren erstgeborenen Sohn verloren hatte, bedurfte meiner, um die Trauer nicht zu vergessen. So empfand ich mein Leben geprägt von vielerlei Pflicht.
In der Kindheit hatte die freie Zeit zwar bestanden, vor allem, wenn ich mich bei meiner Grossmutter befand, und trotzdem kaum bestanden. Um freie Zeit zu haben, bedurfte es der Flucht, wie mir schien. Einmal, ich erinnere mich, lag ich unter einem Baum, ich wusste nicht wo, jenseits der Schweizer Grenzen, die Grillen zirpten, den Wind spürte ich leicht durch die Blätter wehen, es war mir warm und ungewöhnlich aufregend; sonderlich frei fühlte ich mich. Neben mir lag der grosse Wächterhund, den ich von seiner Ankerkerung gelöst und der mich durch die Wiesen mit sich gerissen hatte, im Gras, ungehemmt atmend und glücklich-erschöpft, da nie zuvor Freiheit ihm zugestanden worden war. Ich war ein Kind damals, noch vor der Schulzeit, ich spürte in mir weder Alter noch Angst. Irgendwann tauchte einer der Grossonkel auf, packte mich hart an der Hand und den Hund an der Kette. „Spät ist es. Abend“, brummte er „Seit Mittag musste ich euch suchen.“ So wurde ich zurückgeführt in das Grosselternhaus und bekam an jenem Abend kein Abendbrot. Der Hund wurde wieder mit der Kette an die Mauer gefesselt. Es blieb eine Freundschaft zwischen ihm und mir, auch eine Art Übereinkunft zwischen den Grosseltern und mir. Obwohl sie mir wenig erklären konnten, schien mir, dass sie spürten, was das Wagnis der Freiheit mir bedeutet hatte, als seien wir ähnlich alt. Eventuell war das Pflichtengehäuse gesellschaftlicher Kindheitsregeln ihnen fremd, obwohl sie einfache, ernste Menschen waren? Oder bedeutete ihnen und mir das Leben das Nicht-Vorhersehbare, das Nicht-Absehbare, so dass ein Vertrauen in eine geheime Kraft uns trug, und die Abhängigkeit von anderen Menschen ähnlich empfunden wurde wie jene vom Wetter?
Was heisst alt werden und alt sein? Obwohl ich an Jahren allmählich alt bin, will ich nochmals eintauchen in das innere Zeitempfinden, wie es in der Kindheit wach war. Es bestand im Wissen um die Nähe zum Tod u n d im Glück zu leben. Immer wieder geschah es, wenn ich die Zeit übersprang, meist unter dem Druck der Pflichten, dass ich auf irgend eine Weise gezwungen wurde, die Zeit nachzuholen, so dass ich mich empfand wie am Ende der Zukunft, als stände nur Vergangenheits-Nachholarbeit vor mir. Als 1948, nach Kriegsende, meine Eltern erstmals wieder ins Ausland gefahren waren, nach Mailand und Rom, und ich sie seit Wochen vermisste, stieg ich eines Morgens den Hügel hinunter, um als älteste der Kinder Besorgungen für den Haushalt zu erledigen. Da sah ich meine Mutter auf der anderen Seite der Strasse stehen, zurückgekehrt nach – wie mir schien – unendlich langer Zeit. Ich lief über die Strasse hinweg ihr entgegen, ohne im geringste zu achten, ob es nötig war zu warten, wurde von einem Auto überfahren, das zu spät mich sah, um bremsen zu können, wurde aufs schwerste verletzt und war in der Folge ohne Bewusstsein, dann mit einem der Beine wie an einen Schragen gehängt, bewegungslos, nur noch beschäftigt mit meiner inneren Welt. Als ich nach Monaten der Isolation im Spital mich wieder zu Hause befand, fühlte ich mich alt wie die ältesten Menschen, die ich kannte. Gehen und lachen lagen weit zurück oder standen mir nicht mehr zu.
Da baute ein Knabe aus Wien, der bei uns lebte, um sich vom Krieg zu erholen, für mich eine Seifenkiste, mit welcher er mich die steile und steinige Strasse neben dem Haus hinunterfahren liess, dann mich lehrte, Schritt für Schritt, gestützt auf die Seifenkiste, wieder gehen zu lernen. Irgendwann lachte ich, ging mit Vergnügen und hüpfte wieder, fand letztlich die Rückkehr ins Leben.
Für mich als Kind hatten „spät“ und „alt“ besonderen Wert. Unter der Bettdecke mit einem kleinen Licht zu lesen, bis von einem Turm, der nicht nahe stand, zwölf dunkle Klänge Mitternacht anzeigten, als gälte die Mahnung mir, dem Kind, das nicht schlief; oder zu „später Stunde“ zu hören, dass Besuch ins Haus kam, ein Freund meines Vaters, mit welchem Gespräche sich stundenlang fortsetzten, hinter geschlossener Tür im Raum nächst der Eingangstür, der Herrenzimmer hiess; oder zu hören, dass die Hebamme eintraf, die hinter der Wand, die mich vom Elternzimmer trennte, mit meiner Mutter sprach, bis irgendwann ein leises Weinen ertönte und ich am Morgen erfuhr, dass eine Schwester zur Welt gekommen war, einmal ein Bruder.
Ist es merkwürdig oder nicht, dass „spät“ und „alt“ in deren Bedeutung auch vernetzt waren mit „früh“? Was im Gegenlicht wahrgenommen wird, ob in der Dämmerung, ob im Morgendunst, ist Grenzerfahrung von flüchtigem Zauber. Ich gehe später mehr darauf ein; jetzt nur, dass Schlaflosigkeit oder Fieberträume die Vernetzung prägten, manchmal Angstverklammerung, häufig aber Eigenwilligkeit und Wissensdurst – immer die Ahnung, dass ein schmaler Pfad ist zwischen Leben und Tod. „Leben“ bekommt so den Wert des Morgengeschenks. Eine Erinnerung? Es war möglich, früh morgens zu erwachen, die Gräser unter glitzerndem Tau zu erleben und die ersten Vogelrufe zu hören, an der Hand des Grossvaters zu gehen, der selber kaum sprach, mich neben ihn auf eine Bank zu setzen, nachdem er mit der Sense das Gras geschnitten, und zu warten, bis er mit langsamen Schritten wieder heimwärts ging. Oder im stillen, noch schlafenden Haus am Freitagmorgen, im Duft des Brotes, das die Grossmutter buk, auf das beste, knusprigste warten zu dürfen, das sie auf besondere Weise für mich geformt, dann zuzuschauen wie Laib für Laib, in Tücher gehüllt, in einer Kammer in eine Truhe gelegt wurden, um für die Woche zu reichen.
Was damals ich empfand, blieb gespeichert bis heute, auch während Lebensetappen, die in dunkeln Tunnels durchschritten werden mussten: gespeichert blieb die Nähe von Kindsein und Altsein, die einem Strickzeug gleicht, mit Fadenmustern hinauf und hinunter in unterschiedlichen Farben, ständig verstrickt. Ist eines leichter, eines schwerer, beide anders und gleich?
„‘Basciamu li mani‘. Questo, non altro. „‘Wir küssen die Hände‘. Dies, nichts anderes.
Oscuramente forte e la vita.“ Geheimnisvoll stark ist das Leben.“[3]
Im Gegenlicht
Und heute? Janka K. ist mir nahe, aus dem Warschauer Ghetto gerettet, heute 86 Jahre alt. Sie hat weder Haus noch Enkelkinder wie meine Grossmutter, aber ein Zimmer hat sie, auch eine kleine Badeküche, ein Bett mit einem Sommertuch und einem Wintertuch, sie hat Photos und Dokumente, drei Lampen, Gläser und Teller, zwei wacklige Tischchen aus Metall und einen starken Tisch aus Holz, einen Drehsessel, den sie vor dreissig Jahren kaufte, auf welchem sie sitzt und sitzend schlummert, während die Zeit verrinnt. Ein Fenster ist vor ihr, das sich öffnen lässt, mit dem Blick auf die Dächer von Zürich und auf die Wolken, die am Himmel vorüber gleiten, manchmal wie Herden von Schäfchen, manchmal – was in Märchen erzählt wird – wie wandelnde Berge.
In Warschau hatte sie Jura studiert und Gedichte geschrieben, in der Schweiz als Übersetzerin gearbeitet, bei der Fremdenpolizei und privat, immer bewegt vom Wunsch, Menschen aus Polen zu unterstützen, welcher Herkunft auch imme sie waren, welche die Schweiz um Aufnahme baten, jahrzehntelang ohne Honorar, aber mit einem Netz von Frauen und Männern, das so entstanden war, Menschen, die ihr verbunden blieben. Daran denkt sie, wenn sie im Sessel sitzt, Bilder werden wach und bunt, in welchen sie sich selber sieht, intensiv und stolz, auch Bilder von den Kindheitsjahren in Warschau, dann von Vorlesungen in Medizin, Biologie und Psychologie im Ghetto. Eng sassen die Menschen nebeneinander, lauschten und lernten, sie, die noch lebt, und viele, die nicht mehr leben. Wissen galt als Gegenkraft gegen die Verzweiflung. Doch gleiten zugleich, wenn sie von ihrem Sessel in die Wolken blickt, aus anderen Bildern Wehmut und Trauer über sie herein. Sie sieht die Eltern, die Freundin Ejgha Jochelson, Kinder, die sie kannte, und viele Menschen mehr, wie sie an die Sammelstelle gejagt, auf die Lastwagen gestossen und abgeführt worden waren, einige, die schon vorher irr geworden waren vor Angst oder gestorben waren vor Hunger.
Als Janka K. vor einigen Monaten sehr hilfebedürftig wurde, in jeder Hinsicht, auch die haushälterischen Aufgaben nicht mehr selber erledigen konnte, fragte ich sie, ob sie einverstanden wäre, in ein Pflegeheim umzuziehen und dort umsorgt zu werden. „Auf keinen Fall“, war ihre Antwort, mit unmissverständlichem Ton. Seither kommt dreimal täglich eine Betreuerin vorbei von der Spitex, ihr Arzt, der die Praxis im gleichen Haus hat, wo sie im Dachstock lebt, sucht sie wenn nötig auf, eine Nachbarin auf der gleichen Etage schaut oft vorbei, ein Paar aus dem guten polnischen Kreis besorgt ihre Buchhaltung, und täglich, wann immer möglich, besuche ich sie und bringe ihr mit, was sie braucht und was sie freut, manchmal Blumen, manchmal frisches Brot oder ein Fläschchen Wein, immer meine Zeit. Ich setze mich in ihre Nähe. „Hier ist mein Ort, mein Raum“, sagt Janka K. Was heist „ihr“ Raum?
„Ich kenne nicht den Raum
wo die ausgewanderte Liebe
ihren Sieg niederlegt
und das Wachstum in die Wirklichkeit
der Visionen beginnt
noch wo das Lächeln des Kindes bewahrt ist
das wie ein Spiel in die spielenden Flammen geworfen wurde
aber ich weiss, dass dieses die Nahrung ist
aus der Erde ihre Sternmusik herzklopfend entzündet“[4] –
Alles, was ihrem persönlichen Lebensmassstab und ihren Bedürfnissen entspricht, kann Janka K. in diesem „Raum“ geniessen, obwohl ihr Körper nur noch Schmerz ist, Knochen, Gelenke, Lungen, Herz und Kopf, alles Schmerz, gebrochen, entzündet, vielfach krank, mit Wasser angefüllt; obwohl auch das Zeitgefühl schwindet und oft, wenn ich abends zu ihr gehe, sie lächelnd fragt, ob ich gut gefrühstückt habe. Auch sind es die gleichen Geschichten, Geschichten, die sie nicht loslassen und die sie immer wieder erzählt, als sei es das erste Mal. Nelly Sachs hatte festgehalten in wenigen Zeilen, was Janka erlebt und ich mit ihr:
„ … im Alter ist alles ein grosses Verschwimmen
die kleinen Dinge fliegen fort wie die Immen.
Alle Worte vergasst du und auch den Gegenstand;
Und reichtest deinem Feind über Rosen und Nesseln die Hand.“ [5]
Oft will Janka K. weder Geschichten erzählen noch klagen, nur Weisheit austauschen, wie sie es im Ghetto übertragen bekam. „Angst ist ein schlechter Berater“, sagt sie fast täglich, erinnert sich dabei an den Vater, der ihr dies vorgelebt habe, und blickt mich an mit Glanz in den Augen. „Der Augenblick ist Augen-Blick, der bleibt“, sage ich, und sie nickt mir zu. „Nie kann Lüge sein in den Augen“, fügt sie bei, und nun nicke ich ihr zu. „Lüge hat eh kein Sein, nur Schein“ sagt sie weiter, „was ist, ist das Besondere und zugleich das, was schon war; auch was noch nicht ist, wird so sein“. So wiederholt sich häufig, was für sie wichtig ist: ein nicht abbrechendes Lernen auf ihre besondere Weise. Oft fasst sie leicht meine Hände dabei und hält sie fest. „Wenn nur keine Träume wären, die mag ich nicht, keine Träume mag ich“, sagt sie. Vor wenigen Tagen aber erzählte sie erstmals einen guten Traum. Im Traum habe sie Ejgha gesehen, die Freundin, die nicht mehr lebt, ganz nah, als lebte sie wieder.
Tage und Nächte sind gleich wie lange Abende für Janka K. Wofür ist der Abend für sie ein Bild? Aufzeichnungen von Robert Walser fielen mir ein, als ich neulich von ihr wegging. Auch Erinnerungen an meinen Vater, der, als er so alt war wie Janka K. heute, die Abendstimmungen liebte, das himmelvergoldende, langsam vergehende Licht wie eine warme Köstlichkeit. Walser hatte in einem kleinen Text zum Abend festgehalten:
„Einige Helligkeit war am Verschwinden, war noch da, hauchte und schwebte noch da und dort herum. (….) Alles war so still, lautlos, freundlich-nachbarlich, gut und gross. Ich wünschte, dass die Zeit zwischen Tag und Nacht, die schöne Zwischenzeit, die liebe, schöne Abendzeit ewig, ewig andauern könnte. Eine Ewigkeit lang Abend. Weiter ging ich. (…) Da kam ich über die Brücke.“[6]
Über welche Brücke? Die Brücke ist der Schlaf, mit welchem Nelly Sachs, meine Grosseltern, Robert Walser, mein kleines Mädchen Joséphine, mein Vater, meine Mutter, Janka K., ich selber, jede und jeder von uns das andere Ufer – vielleicht den nächsten Morgen, oft nur die nächste Stunde – in der Besonderheit der eigenen Lebensdauer erreichen konnten oder können. Was „früh“ und „spät“ bedeuten, wird spürbar in der Klarheit und Intensität des Gegenlichts, das in flimmernden Dunst übergeht – oder in Dunkelheit. Walter Vogt, ein Mediziner und Schriftsteller meiner Zeit (1927 geboren, am 21. September 1988 gestorben) notierte in seinem Tagebuch, das unter dem Titel „Später Sommer“ erschien:
„Alles altert, auch die Sonne, auch der Wind. An einem Nebelmorgen hocken die Möwen auf dem Steg, mit ihrem novemberlichen Schrei. Selten genug zerreisst ein Reiher ‚das Porzellan des Abends‘ mit seinem krächzenden Ruf. Vor wenigen Jahren waren die Reiher häufiger, sassen öfter nebenan, auf einem bestimmten Bau: dort hatten einmal Milane ihren Horst gebaut. (….)
Alle altern, Möwen, Reiher, Enten.
Es altert der Mensch, es altert die Natur.
Von den kleinen Singvögeln sagt man: was im folgenden Jahr in denselben schier unendlichen Schwärmen über dieselben Pässe zieht, ist, im Schnitt, immer schon die nächste Generation. Kleinere Vögel altern rascher als grosse.
Junge Menschen altern schneller als ältere. Erst Greise altern wieder mit atemberaubender Geschwindigkeit, so dass man es sieht. (….) – Vorgänge, die nicht rückgängig zu machen sind“[7].
So schliesse ich ab. Zum wichtigsten gehört in den späten Jahren, dass nicht Angst die wachsende Hilfebedürftigkeit und Wehrlosigkeit beherrscht, dass der Mensch in Räumen – zuletzt in einem Raum – leben kann, in welchem, gemäss dem Gedicht von Nelly Sachs, „die Zeiten heimgeholt“ werden können, welche die „Bausteine der Herzkammern“ sind; dass der Raum selber gewählt werden kann, in welchem der Blick sich auf den Abend richtet und im Gegenlicht den nächsten Morgen ersehnt, so wie ein Vogel den Ast, auf welchen er sich setzt für die Nacht, selber wählt.
Mein Dank für Ihre Aufmerksamkeit findet Ausdruck im Sonett 119 von
William Shakespeare (übersetzt von Hans Günther Hirschberg):
„So wie die Wogen roll’n zum kiesbedeckten Strand
so eilen unsre Stunden an ihr Ziel.
Wetteifernd überdeckt ein jedes Wellenband
Das vor ihm eilende in stetem Wechselspiel.
Geboren wirst du in ein strahlend Licht,
erklimmst die Reife dann als dein gekröntes Ziel.
Doch manch ein Schatten fällt und unterbricht
Der Zeit so hoffnungsreiches Gabenspiel.
Die Zeit durchbohrt der Jugend Schwingen,
schürft, deine Stirn mit Furchen zu durchziehn,
weiss ihre herbe Wahrheit aufzuzwingen.
Kein Halm, der wuchs, kann ihrem Schnitt entfliehn.
Und doch: In Hoffnung habe dies mein Lied Bestand,
dass es dich preist trotz ihrer grausam harten Hand“ [8].
[1] Nelly Sachs. Fahrt ins Staublose. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. Main 1961. S. 136
[2] Nelly Sachs. Späte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1981. S. 42
[3] Salvatore Quasimodo. Das Leben ist kein Traum. Ausgewählte Gedichte. Italienisch/deutsch. Piper Verlag, Müchen 1960 (Arnolod Montadori Milano 1942). S.54-55
[4] Nelly Sachs. Späte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main 1981, S. 142
[5] Nelly Sachs. ibid. S. 46
[6] Robert Walser. Abend. Aus: Dichtungen in Prosa. Hrsg. von Carl Seelig. Sonderausgabe: 27. Zürcher Druck der Offizin Gebrüder Fretz AG zu Weihnachten 1961. S. 49
[7] Walter Vogt. Vergessen und Erinnern. Altern. Romane. Benziger Verlag AG, Zürich 1992. S. 208-209
[8] William Shakespeare. Sonett 119. In: Hans Günther Hirschberg. Der Rhythmus des Regens. Gedichte und Nachdichtungen au fremden Sprachen. Verlag Pro Lyrica. Schweizerische lyrische Gesellschaft. Schaffhausen 1999. S. 193
[9] Dr. phil. Maja Wicki, Zürich, geb. 1940, 4 Kinder, 4 Grosskinder; geschieden. Philosophin, Psychoanalytikerin und Traumatherapeutin (Studienabschluss in Philosophie; Internationalem Staatsrecht/Menschenrechte, Soziologie/Politologie. Dissertation: Eine Logik des Absurden. Paul Haupt Verlag Bern-Stuttgart 1983). – Langjährige journalistische und publizistische Tätigkeit im gesellschaftsanalytischen Bereich u.a. für Weltwoche, Tages-Anzeiger, Magazin-Tagesanzeiger, Schweizer Fernsehen, MOMA – Monatsmagazin für neue Politik etc. Zahlreiche wissenschaftliche und literarische Buchbeiträge, Publikation von Büchern, von Übersetzungen etc. – Mitbeteiligt am Aufbau und langjähriges Vorstandsmitglied des Forums gegen Rassismus, des Netzwerks schreibender Frauen etc. – Mitglied Psychoanalytisches Seminar Zürich PSZ, Vorstandsmitglied Zürcher Fachstelle für Psychotraumatologie ZFP, Präsidium der Swiss Recovery Foundation etc. Vorlesungs- und Lehrbeauftragte an zahlreichen Universitäten und Fachhochschulen im In- und Ausland etc.
Die späten Jahre – ein Leben im Gegenlicht
Über den Wert der Besonderheit
Maja Wicki-Vogt
„Du sitzt am Fenster
und es schneit –
dein Haar ist weiss
und deine Hände –
aber in den beiden Spiegeln
deines weissen Gesichts
hat sich der Sommer erhalten:
Land, für die ins Unsichtbare erhobenen Wiesen –
Tränke, für Schattenrehe der Nacht“……[1]
Es sind Gedichtzeilen von Nelly Sachs, der 1891 in Berlin geborenen und 1970 in Stockholm verstorbenen Dichterin, welche sie schrieb, als sie sich selber – weniger an gezählten Jahren, sondern mit den nicht zählbar vielen Lebenszeiten, die sie in sich trug – in ihrer Spätzeit empfand; sie würde mir beipflichten, nehme ich an, wenn ich sie fragen könnte. Das Gedicht, aus welchem ich die ersten Zeilen las, schrieb sie in der Zeit, nachdem ihre Mutter eingeschlafen war für immer, im Februar 1950, beinah zehn Jahre nachdem sie mit ihr aus Berlin hatte fliehen und nach Schweden hatte gelangen können. Das war am 16. Mai 1940 gewesen, im letzten Moment möglicher Rettung, als Nelly Sachs beinah 49 Jahre zählte. Da ihr Werk aus der Zeit vor der Flucht verbrannt worden war – wie viele Bücher im damaligen Deutschland -, nehme ich an, dass alle lyrischen und szenischen Dichtungen, die Ihnen und mir von ihr vorliegen und die auch mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt worden sind – 1966 gar mit dem Nobelpreis – Mitteilungen aus der „Spätzeit“ dieser Dichterin sind, deren Sprache mir so nahe kommt, als würde sie vor mir sitzen und würde mir leise die Bilder schildern, die sie bewegen.
In einem ihrer „Späten Gedichte“ sprach Nelly Sachs die Mutter an, mit welcher sie die Wohnung im Süden Stockholms, die ihnen zugeteilt worden war, bewohnt hatte und welche sie weiter bewohnte, bis sie aus Krankheitsgründen des Spitalaufenthalts bedurfte. Dort starb Nelly Sachs am 12. Mai 1970. Ich war damals dreissig Jahre alt, noch ohne Studienabschluss, unterrichtete Sprachen und übersetzte Bücher, hatte Zwillinge geboren – Knabe und Mädchen -, dann ein kleines Mädchen, das zur Welt kam und nicht leben konnte, dann einen Knaben, und war in Erwartung des fünften Kindes, voller Hoffnung, es komme zur Welt ohne Beschwerden und trage in sich eine starke eigene Kraft fürs Leben. Was meine Kräfte betraf, war ich für mich selber in schwindender Zuversicht, fühlte mich alt, da die erlebte Zeit in mir wie ein dunkles Gemenge wirkte, das, wie ich zunehmend spürte, zur „Ellipse“ sich formte, für deren Farben und Klarheit ich die Verantwortung trug.
„Mutter“, hatte Nelly Sachs geschrieben
„(…) umzogen von göttlicher Ellipse
mit den beiden Schwellenbränden
Eingang
und
Ausgang
Dein Atemzug holt Zeiten heim
Bausteine für Herzkammern
Und das himmlische Echo der Augen
……
Leise vollendet sich
die schlafende Sprache
von Wasser und Wind
im Raum deines
lerchenhaften Aufschreis.“[2]
Bedurfte die „Herzkammer“ meiner Kinder, ja, bedurfte meine eigene nicht der „Bausteine“, die sicherer waren als diejenigen, die ich bieten konnte? War die Wohnung, in welcher Nelly Sachs „die Zeiten heimholen“ konnte, ein Symbol von ähnlichem Wert wie die Sprache? Seit damals lässt mich die Frage nicht los, seit damals durch Mäander des Fragens und Suchens nach Antwort; ich bringe sie zum Ausdruck durch meinen Beitrag zur heutigen Tagung.
Was heisst „Alter“? Welche Jahre sind die „späten Jahre“? Was bedeutet „spät“?
Es war meine Grossmutter gewesen, die mir häufig gesagt hatte, ich solle mich „rechtzeitig auf den Weg machen, damit ich nicht zu spät komme“. Sie, die im Elsass zur Welt gekommen und aufgewachsen war, in Armut und ständiger Unsicherheit, sowohl was den Alltag wie was die Zukunft betraf, die noch vor dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz gelangen konnte, meinen Grossvater heiratete und meinen Vater gebar, dann weitere sechs Kinder, sie wusste, dass es eine ständige, kaum erfüllbare Aufgabe ist, den Rhythmus der ungleichen Zeiten zu koordinieren und Zeitraster einzuhalten, in denen die berechnete und vorgegebene Zeit mit der eigenen, inneren Zeit in einem ständigen, nagenden Konflikt stehen. „Zu spät sein“ hiess damals „zu kurz kommen“. Es wurde als eigene Verantwortung bewertet, schon dem Kind gegenüber, wenn ein vorgegebener Zeitablauf nicht durchgeführt oder nicht eingehalten werden konnte, vielleicht weil Hindernisse im Weg standen, vielleicht auch weil ein eigener Widerstand mitwirkte oder weil das Zeitgefüge – das innere und das äussere – einander blockierten. So geschah es immer wieder, dass ein Weg mir überflüssig erschien, als unnütz verbrauchte Zeit, dass einen anderen ich zu gehen wünschte, doch dass dann das Bestreben spürbar wurde, nochmals zur Wegkreuzung zu gelangen, vielleicht rückwärts zu gehen und anders zu gehen, doch ständig hiess dies in meiner Empfindung, dass die Zukunft eingeschluckt war, dass sie vorweg Vergangenheit wurde, so dass ich mich damals, in der Kindheit und Jugend, wie atemlos zeitenfremd fühlte.
„Zu spät sein“ konnte heissen, dass eine Türe sich nicht mehr öffnete, wenn ich an sie gelangte, hiess vielleicht Selbsttäuschung wegen der Hoffnung, die ich auf dem Weg zwischen Tagen und Nächten und Jahren wie einen Motor in mir geöffnet hielt, aber Hoffnung worauf? – auf eine zeitlose Zeit? Auf Glück? Ist Zukunft immer ein Traum? Was ist das Ziel der Rechtzeitigkeit? Ein Altwerden? – ein Geborgensein? All dies war eine Warnung wegen des Übermasses an Zeithunger, der ungestillt blieb. Meine Mutter, die ihren erstgeborenen Sohn verloren hatte, bedurfte meiner, um die Trauer nicht zu vergessen. So empfand ich mein Leben geprägt von vielerlei Pflicht.
In der Kindheit hatte die freie Zeit zwar bestanden, vor allem, wenn ich mich bei meiner Grossmutter befand, und trotzdem kaum bestanden. Um freie Zeit zu haben, bedurfte es der Flucht, wie mir schien. Einmal, ich erinnere mich, lag ich unter einem Baum, ich wusste nicht wo, jenseits der Schweizer Grenzen, die Grillen zirpten, den Wind spürte ich leicht durch die Blätter wehen, es war mir warm und ungewöhnlich aufregend; sonderlich frei fühlte ich mich. Neben mir lag der grosse Wächterhund, den ich von seiner Ankerkerung gelöst und der mich durch die Wiesen mit sich gerissen hatte, im Gras, ungehemmt atmend und glücklich-erschöpft, da nie zuvor Freiheit ihm zugestanden worden war. Ich war ein Kind damals, noch vor der Schulzeit, ich spürte in mir weder Alter noch Angst. Irgendwann tauchte einer der Grossonkel auf, packte mich hart an der Hand und den Hund an der Kette. „Spät ist es. Abend“, brummte er „Seit Mittag musste ich euch suchen.“ So wurde ich zurückgeführt in das Grosselternhaus und bekam an jenem Abend kein Abendbrot. Der Hund wurde wieder mit der Kette an die Mauer gefesselt. Es blieb eine Freundschaft zwischen ihm und mir, auch eine Art Übereinkunft zwischen den Grosseltern und mir. Obwohl sie mir wenig erklären konnten, schien mir, dass sie spürten, was das Wagnis der Freiheit mir bedeutet hatte, als seien wir ähnlich alt. Eventuell war das Pflichtengehäuse gesellschaftlicher Kindheitsregeln ihnen fremd, obwohl sie einfache, ernste Menschen waren? Oder bedeutete ihnen und mir das Leben das Nicht-Vorhersehbare, das Nicht-Absehbare, so dass ein Vertrauen in eine geheime Kraft uns trug, und die Abhängigkeit von anderen Menschen ähnlich empfunden wurde wie jene vom Wetter?
Was heisst alt werden und alt sein? Obwohl ich an Jahren allmählich alt bin, will ich nochmals eintauchen in das innere Zeitempfinden, wie es in der Kindheit wach war. Es bestand im Wissen um die Nähe zum Tod u n d im Glück zu leben. Immer wieder geschah es, wenn ich die Zeit übersprang, meist unter dem Druck der Pflichten, dass ich auf irgend eine Weise gezwungen wurde, die Zeit nachzuholen, so dass ich mich empfand wie am Ende der Zukunft, als stände nur Vergangenheits-Nachholarbeit vor mir. Als 1948, nach Kriegsende, meine Eltern erstmals wieder ins Ausland gefahren waren, nach Mailand und Rom, und ich sie seit Wochen vermisste, stieg ich eines Morgens den Hügel hinunter, um als älteste der Kinder Besorgungen für den Haushalt zu erledigen. Da sah ich meine Mutter auf der anderen Seite der Strasse stehen, zurückgekehrt nach – wie mir schien – unendlich langer Zeit. Ich lief über die Strasse hinweg ihr entgegen, ohne im geringste zu achten, ob es nötig war zu warten, wurde von einem Auto überfahren, das zu spät mich sah, um bremsen zu können, wurde aufs schwerste verletzt und war in der Folge ohne Bewusstsein, dann mit einem der Beine wie an einen Schragen gehängt, bewegungslos, nur noch beschäftigt mit meiner inneren Welt. Als ich nach Monaten der Isolation im Spital mich wieder zu Hause befand, fühlte ich mich alt wie die ältesten Menschen, die ich kannte. Gehen und lachen lagen weit zurück oder standen mir nicht mehr zu.
Da baute ein Knabe aus Wien, der bei uns lebte, um sich vom Krieg zu erholen, für mich eine Seifenkiste, mit welcher er mich die steile und steinige Strasse neben dem Haus hinunterfahren liess, dann mich lehrte, Schritt für Schritt, gestützt auf die Seifenkiste, wieder gehen zu lernen. Irgendwann lachte ich, ging mit Vergnügen und hüpfte wieder, fand letztlich die Rückkehr ins Leben.
Für mich als Kind hatten „spät“ und „alt“ besonderen Wert. Unter der Bettdecke mit einem kleinen Licht zu lesen, bis von einem Turm, der nicht nahe stand, zwölf dunkle Klänge Mitternacht anzeigten, als gälte die Mahnung mir, dem Kind, das nicht schlief; oder zu „später Stunde“ zu hören, dass Besuch ins Haus kam, ein Freund meines Vaters, mit welchem Gespräche sich stundenlang fortsetzten, hinter geschlossener Tür im Raum nächst der Eingangstür, der Herrenzimmer hiess; oder zu hören, dass die Hebamme eintraf, die hinter der Wand, die mich vom Elternzimmer trennte, mit meiner Mutter sprach, bis irgendwann ein leises Weinen ertönte und ich am Morgen erfuhr, dass eine Schwester zur Welt gekommen war, einmal ein Bruder.
Ist es merkwürdig oder nicht, dass „spät“ und „alt“ in deren Bedeutung auch vernetzt waren mit „früh“? Was im Gegenlicht wahrgenommen wird, ob in der Dämmerung, ob im Morgendunst, ist Grenzerfahrung von flüchtigem Zauber. Ich gehe später mehr darauf ein; jetzt nur, dass Schlaflosigkeit oder Fieberträume die Vernetzung prägten, manchmal Angstverklammerung, häufig aber Eigenwilligkeit und Wissensdurst – immer die Ahnung, dass ein schmaler Pfad ist zwischen Leben und Tod. „Leben“ bekommt so den Wert des Morgengeschenks. Eine Erinnerung? Es war möglich, früh morgens zu erwachen, die Gräser unter glitzerndem Tau zu erleben und die ersten Vogelrufe zu hören, an der Hand des Grossvaters zu gehen, der selber kaum sprach, mich neben ihn auf eine Bank zu setzen, nachdem er mit der Sense das Gras geschnitten, und zu warten, bis er mit langsamen Schritten wieder heimwärts ging. Oder im stillen, noch schlafenden Haus am Freitagmorgen, im Duft des Brotes, das die Grossmutter buk, auf das beste, knusprigste warten zu dürfen, das sie auf besondere Weise für mich geformt, dann zuzuschauen wie Laib für Laib, in Tücher gehüllt, in einer Kammer in eine Truhe gelegt wurden, um für die Woche zu reichen.
Was damals ich empfand, blieb gespeichert bis heute, auch während Lebensetappen, die in dunkeln Tunnels durchschritten werden mussten: gespeichert blieb die Nähe von Kindsein und Altsein, die einem Strickzeug gleicht, mit Fadenmustern hinauf und hinunter in unterschiedlichen Farben, ständig verstrickt. Ist eines leichter, eines schwerer, beide anders und gleich?
„‘Basciamu li mani‘. Questo, non altro. „‘Wir küssen die Hände‘. Dies, nichts anderes.
Oscuramente forte e la vita.“ Geheimnisvoll stark ist das Leben.“[3]
Im Gegenlicht
Und heute? Janka K. ist mir nahe, aus dem Warschauer Ghetto gerettet, heute 86 Jahre alt. Sie hat weder Haus noch Enkelkinder wie meine Grossmutter, aber ein Zimmer hat sie, auch eine kleine Badeküche, ein Bett mit einem Sommertuch und einem Wintertuch, sie hat Photos und Dokumente, drei Lampen, Gläser und Teller, zwei wacklige Tischchen aus Metall und einen starken Tisch aus Holz, einen Drehsessel, den sie vor dreissig Jahren kaufte, auf welchem sie sitzt und sitzend schlummert, während die Zeit verrinnt. Ein Fenster ist vor ihr, das sich öffnen lässt, mit dem Blick auf die Dächer von Zürich und auf die Wolken, die am Himmel vorüber gleiten, manchmal wie Herden von Schäfchen, manchmal – was in Märchen erzählt wird – wie wandelnde Berge.
In Warschau hatte sie Jura studiert und Gedichte geschrieben, in der Schweiz als Übersetzerin gearbeitet, bei der Fremdenpolizei und privat, immer bewegt vom Wunsch, Menschen aus Polen zu unterstützen, welcher Herkunft auch imme sie waren, welche die Schweiz um Aufnahme baten, jahrzehntelang ohne Honorar, aber mit einem Netz von Frauen und Männern, das so entstanden war, Menschen, die ihr verbunden blieben. Daran denkt sie, wenn sie im Sessel sitzt, Bilder werden wach und bunt, in welchen sie sich selber sieht, intensiv und stolz, auch Bilder von den Kindheitsjahren in Warschau, dann von Vorlesungen in Medizin, Biologie und Psychologie im Ghetto. Eng sassen die Menschen nebeneinander, lauschten und lernten, sie, die noch lebt, und viele, die nicht mehr leben. Wissen galt als Gegenkraft gegen die Verzweiflung. Doch gleiten zugleich, wenn sie von ihrem Sessel in die Wolken blickt, aus anderen Bildern Wehmut und Trauer über sie herein. Sie sieht die Eltern, die Freundin Ejgha Jochelson, Kinder, die sie kannte, und viele Menschen mehr, wie sie an die Sammelstelle gejagt, auf die Lastwagen gestossen und abgeführt worden waren, einige, die schon vorher irr geworden waren vor Angst oder gestorben waren vor Hunger.
Als Janka K. vor einigen Monaten sehr hilfebedürftig wurde, in jeder Hinsicht, auch die haushälterischen Aufgaben nicht mehr selber erledigen konnte, fragte ich sie, ob sie einverstanden wäre, in ein Pflegeheim umzuziehen und dort umsorgt zu werden. „Auf keinen Fall“, war ihre Antwort, mit unmissverständlichem Ton. Seither kommt dreimal täglich eine Betreuerin vorbei von der Spitex, ihr Arzt, der die Praxis im gleichen Haus hat, wo sie im Dachstock lebt, sucht sie wenn nötig auf, eine Nachbarin auf der gleichen Etage schaut oft vorbei, ein Paar aus dem guten polnischen Kreis besorgt ihre Buchhaltung, und täglich, wann immer möglich, besuche ich sie und bringe ihr mit, was sie braucht und was sie freut, manchmal Blumen, manchmal frisches Brot oder ein Fläschchen Wein, immer meine Zeit. Ich setze mich in ihre Nähe. „Hier ist mein Ort, mein Raum“, sagt Janka K. Was heist „ihr“ Raum?
„Ich kenne nicht den Raum
wo die ausgewanderte Liebe
ihren Sieg niederlegt
und das Wachstum in die Wirklichkeit
der Visionen beginnt
noch wo das Lächeln des Kindes bewahrt ist
das wie ein Spiel in die spielenden Flammen geworfen wurde
aber ich weiss, dass dieses die Nahrung ist
aus der Erde ihre Sternmusik herzklopfend entzündet“[4] –
Alles, was ihrem persönlichen Lebensmassstab und ihren Bedürfnissen entspricht, kann Janka K. in diesem „Raum“ geniessen, obwohl ihr Körper nur noch Schmerz ist, Knochen, Gelenke, Lungen, Herz und Kopf, alles Schmerz, gebrochen, entzündet, vielfach krank, mit Wasser angefüllt; obwohl auch das Zeitgefühl schwindet und oft, wenn ich abends zu ihr gehe, sie lächelnd fragt, ob ich gut gefrühstückt habe. Auch sind es die gleichen Geschichten, Geschichten, die sie nicht loslassen und die sie immer wieder erzählt, als sei es das erste Mal. Nelly Sachs hatte festgehalten in wenigen Zeilen, was Janka erlebt und ich mit ihr:
„ … im Alter ist alles ein grosses Verschwimmen
die kleinen Dinge fliegen fort wie die Immen.
Alle Worte vergasst du und auch den Gegenstand;
Und reichtest deinem Feind über Rosen und Nesseln die Hand.“ [5]
Oft will Janka K. weder Geschichten erzählen noch klagen, nur Weisheit austauschen, wie sie es im Ghetto übertragen bekam. „Angst ist ein schlechter Berater“, sagt sie fast täglich, erinnert sich dabei an den Vater, der ihr dies vorgelebt habe, und blickt mich an mit Glanz in den Augen. „Der Augenblick ist Augen-Blick, der bleibt“, sage ich, und sie nickt mir zu. „Nie kann Lüge sein in den Augen“, fügt sie bei, und nun nicke ich ihr zu. „Lüge hat eh kein Sein, nur Schein“ sagt sie weiter, „was ist, ist das Besondere und zugleich das, was schon war; auch was noch nicht ist, wird so sein“. So wiederholt sich häufig, was für sie wichtig ist: ein nicht abbrechendes Lernen auf ihre besondere Weise. Oft fasst sie leicht meine Hände dabei und hält sie fest. „Wenn nur keine Träume wären, die mag ich nicht, keine Träume mag ich“, sagt sie. Vor wenigen Tagen aber erzählte sie erstmals einen guten Traum. Im Traum habe sie Ejgha gesehen, die Freundin, die nicht mehr lebt, ganz nah, als lebte sie wieder.
Tage und Nächte sind gleich wie lange Abende für Janka K. Wofür ist der Abend für sie ein Bild? Aufzeichnungen von Robert Walser fielen mir ein, als ich neulich von ihr wegging. Auch Erinnerungen an meinen Vater, der, als er so alt war wie Janka K. heute, die Abendstimmungen liebte, das himmelvergoldende, langsam vergehende Licht wie eine warme Köstlichkeit. Walser hatte in einem kleinen Text zum Abend festgehalten:
„Einige Helligkeit war am Verschwinden, war noch da, hauchte und schwebte noch da und dort herum. (….) Alles war so still, lautlos, freundlich-nachbarlich, gut und gross. Ich wünschte, dass die Zeit zwischen Tag und Nacht, die schöne Zwischenzeit, die liebe, schöne Abendzeit ewig, ewig andauern könnte. Eine Ewigkeit lang Abend. Weiter ging ich. (…) Da kam ich über die Brücke.“[6]
Über welche Brücke? Die Brücke ist der Schlaf, mit welchem Nelly Sachs, meine Grosseltern, Robert Walser, mein kleines Mädchen Joséphine, mein Vater, meine Mutter, Janka K., ich selber, jede und jeder von uns das andere Ufer – vielleicht den nächsten Morgen, oft nur die nächste Stunde – in der Besonderheit der eigenen Lebensdauer erreichen konnten oder können. Was „früh“ und „spät“ bedeuten, wird spürbar in der Klarheit und Intensität des Gegenlichts, das in flimmernden Dunst übergeht – oder in Dunkelheit. Walter Vogt, ein Mediziner und Schriftsteller meiner Zeit (1927 geboren, am 21. September 1988 gestorben) notierte in seinem Tagebuch, das unter dem Titel „Später Sommer“ erschien:
„Alles altert, auch die Sonne, auch der Wind. An einem Nebelmorgen hocken die Möwen auf dem Steg, mit ihrem novemberlichen Schrei. Selten genug zerreisst ein Reiher ‚das Porzellan des Abends‘ mit seinem krächzenden Ruf. Vor wenigen Jahren waren die Reiher häufiger, sassen öfter nebenan, auf einem bestimmten Bau: dort hatten einmal Milane ihren Horst gebaut. (….)
Alle altern, Möwen, Reiher, Enten.
Es altert der Mensch, es altert die Natur.
Von den kleinen Singvögeln sagt man: was im folgenden Jahr in denselben schier unendlichen Schwärmen über dieselben Pässe zieht, ist, im Schnitt, immer schon die nächste Generation. Kleinere Vögel altern rascher als grosse.
Junge Menschen altern schneller als ältere. Erst Greise altern wieder mit atemberaubender Geschwindigkeit, so dass man es sieht. (….) – Vorgänge, die nicht rückgängig zu machen sind“[7].
So schliesse ich ab. Zum wichtigsten gehört in den späten Jahren, dass nicht Angst die wachsende Hilfebedürftigkeit und Wehrlosigkeit beherrscht, dass der Mensch in Räumen – zuletzt in einem Raum – leben kann, in welchem, gemäss dem Gedicht von Nelly Sachs, „die Zeiten heimgeholt“ werden können, welche die „Bausteine der Herzkammern“ sind; dass der Raum selber gewählt werden kann, in welchem der Blick sich auf den Abend richtet und im Gegenlicht den nächsten Morgen ersehnt, so wie ein Vogel den Ast, auf welchen er sich setzt für die Nacht, selber wählt.
Mein Dank für Ihre Aufmerksamkeit findet Ausdruck im Sonett 119 von
William Shakespeare (übersetzt von Hans Günther Hirschberg):
„So wie die Wogen roll’n zum kiesbedeckten Strand
so eilen unsre Stunden an ihr Ziel.
Wetteifernd überdeckt ein jedes Wellenband
Das vor ihm eilende in stetem Wechselspiel.
Geboren wirst du in ein strahlend Licht,
erklimmst die Reife dann als dein gekröntes Ziel.
Doch manch ein Schatten fällt und unterbricht
Der Zeit so hoffnungsreiches Gabenspiel.
Die Zeit durchbohrt der Jugend Schwingen,
schürft, deine Stirn mit Furchen zu durchziehn,
weiss ihre herbe Wahrheit aufzuzwingen.
Kein Halm, der wuchs, kann ihrem Schnitt entfliehn.
Und doch: In Hoffnung habe dies mein Lied Bestand,
dass es dich preist trotz ihrer grausam harten Hand“ [8].
* Copyright maw[9]
[1] Nelly Sachs. Fahrt ins Staublose. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. Main 1961. S. 136
[2] Nelly Sachs. Späte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1981. S. 42
[3] Salvatore Quasimodo. Das Leben ist kein Traum. Ausgewählte Gedichte. Italienisch/deutsch. Piper Verlag, Müchen 1960 (Arnolod Montadori Milano 1942). S.54-55
[4] Nelly Sachs. Späte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main 1981, S. 142
[5] Nelly Sachs. ibid. S. 46
[6] Robert Walser. Abend. Aus: Dichtungen in Prosa. Hrsg. von Carl Seelig. Sonderausgabe: 27. Zürcher Druck der Offizin Gebrüder Fretz AG zu Weihnachten 1961. S. 49
[7] Walter Vogt. Vergessen und Erinnern. Altern. Romane. Benziger Verlag AG, Zürich 1992. S. 208-209
[8] William Shakespeare. Sonett 119. In: Hans Günther Hirschberg. Der Rhythmus des Regens. Gedichte und Nachdichtungen au fremden Sprachen. Verlag Pro Lyrica. Schweizerische lyrische Gesellschaft. Schaffhausen 1999. S. 193
[9] Dr. phil. Maja Wicki, Zürich, geb. 1940, 4 Kinder, 4 Grosskinder; geschieden. Philosophin, Psychoanalytikerin und Traumatherapeutin (Studienabschluss in Philosophie; Internationalem Staatsrecht/Menschenrechte, Soziologie/Politologie. Dissertation: Eine Logik des Absurden. Paul Haupt Verlag Bern-Stuttgart 1983). – Langjährige journalistische und publizistische Tätigkeit im gesellschaftsanalytischen Bereich u.a. für Weltwoche, Tages-Anzeiger, Magazin-Tagesanzeiger, Schweizer Fernsehen, MOMA – Monatsmagazin für neue Politik etc. Zahlreiche wissenschaftliche und literarische Buchbeiträge, Publikation von Büchern, von Übersetzungen etc. – Mitbeteiligt am Aufbau und langjähriges Vorstandsmitglied des Forums gegen Rassismus, des Netzwerks schreibender Frauen etc. – Mitglied Psychoanalytisches Seminar Zürich PSZ, Vorstandsmitglied Zürcher Fachstelle für Psychotraumatologie ZFP, Präsidium der Swiss Recovery Foundation etc. Vorlesungs- und Lehrbeauftragte an zahlreichen Universitäten und Fachhochschulen im In- und Ausland etc.
Die späten Jahre – ein Leben im Gegenlicht
Über den Wert der Besonderheit
Maja Wicki-Vogt
„Du sitzt am Fenster
und es schneit –
dein Haar ist weiss
und deine Hände –
aber in den beiden Spiegeln
deines weissen Gesichts
hat sich der Sommer erhalten:
Land, für die ins Unsichtbare erhobenen Wiesen –
Tränke, für Schattenrehe der Nacht“……[1]
Es sind Gedichtzeilen von Nelly Sachs, der 1891 in Berlin geborenen und 1970 in Stockholm verstorbenen Dichterin, welche sie schrieb, als sie sich selber – weniger an gezählten Jahren, sondern mit den nicht zählbar vielen Lebenszeiten, die sie in sich trug – in ihrer Spätzeit empfand; sie würde mir beipflichten, nehme ich an, wenn ich sie fragen könnte. Das Gedicht, aus welchem ich die ersten Zeilen las, schrieb sie in der Zeit, nachdem ihre Mutter eingeschlafen war für immer, im Februar 1950, beinah zehn Jahre nachdem sie mit ihr aus Berlin hatte fliehen und nach Schweden hatte gelangen können. Das war am 16. Mai 1940 gewesen, im letzten Moment möglicher Rettung, als Nelly Sachs beinah 49 Jahre zählte. Da ihr Werk aus der Zeit vor der Flucht verbrannt worden war – wie viele Bücher im damaligen Deutschland -, nehme ich an, dass alle lyrischen und szenischen Dichtungen, die Ihnen und mir von ihr vorliegen und die auch mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt worden sind – 1966 gar mit dem Nobelpreis – Mitteilungen aus der „Spätzeit“ dieser Dichterin sind, deren Sprache mir so nahe kommt, als würde sie vor mir sitzen und würde mir leise die Bilder schildern, die sie bewegen.
In einem ihrer „Späten Gedichte“ sprach Nelly Sachs die Mutter an, mit welcher sie die Wohnung im Süden Stockholms, die ihnen zugeteilt worden war, bewohnt hatte und welche sie weiter bewohnte, bis sie aus Krankheitsgründen des Spitalaufenthalts bedurfte. Dort starb Nelly Sachs am 12. Mai 1970. Ich war damals dreissig Jahre alt, noch ohne Studienabschluss, unterrichtete Sprachen und übersetzte Bücher, hatte Zwillinge geboren – Knabe und Mädchen -, dann ein kleines Mädchen, das zur Welt kam und nicht leben konnte, dann einen Knaben, und war in Erwartung des fünften Kindes, voller Hoffnung, es komme zur Welt ohne Beschwerden und trage in sich eine starke eigene Kraft fürs Leben. Was meine Kräfte betraf, war ich für mich selber in schwindender Zuversicht, fühlte mich alt, da die erlebte Zeit in mir wie ein dunkles Gemenge wirkte, das, wie ich zunehmend spürte, zur „Ellipse“ sich formte, für deren Farben und Klarheit ich die Verantwortung trug.
„Mutter“, hatte Nelly Sachs geschrieben
„(…) umzogen von göttlicher Ellipse
mit den beiden Schwellenbränden
Eingang
und
Ausgang
Dein Atemzug holt Zeiten heim
Bausteine für Herzkammern
Und das himmlische Echo der Augen
……
Leise vollendet sich
die schlafende Sprache
von Wasser und Wind
im Raum deines
lerchenhaften Aufschreis.“[2]
Bedurfte die „Herzkammer“ meiner Kinder, ja, bedurfte meine eigene nicht der „Bausteine“, die sicherer waren als diejenigen, die ich bieten konnte? War die Wohnung, in welcher Nelly Sachs „die Zeiten heimholen“ konnte, ein Symbol von ähnlichem Wert wie die Sprache? Seit damals lässt mich die Frage nicht los, seit damals durch Mäander des Fragens und Suchens nach Antwort; ich bringe sie zum Ausdruck durch meinen Beitrag zur heutigen Tagung.
Was heisst „Alter“? Welche Jahre sind die „späten Jahre“? Was bedeutet „spät“?
Es war meine Grossmutter gewesen, die mir häufig gesagt hatte, ich solle mich „rechtzeitig auf den Weg machen, damit ich nicht zu spät komme“. Sie, die im Elsass zur Welt gekommen und aufgewachsen war, in Armut und ständiger Unsicherheit, sowohl was den Alltag wie was die Zukunft betraf, die noch vor dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz gelangen konnte, meinen Grossvater heiratete und meinen Vater gebar, dann weitere sechs Kinder, sie wusste, dass es eine ständige, kaum erfüllbare Aufgabe ist, den Rhythmus der ungleichen Zeiten zu koordinieren und Zeitraster einzuhalten, in denen die berechnete und vorgegebene Zeit mit der eigenen, inneren Zeit in einem ständigen, nagenden Konflikt stehen. „Zu spät sein“ hiess damals „zu kurz kommen“. Es wurde als eigene Verantwortung bewertet, schon dem Kind gegenüber, wenn ein vorgegebener Zeitablauf nicht durchgeführt oder nicht eingehalten werden konnte, vielleicht weil Hindernisse im Weg standen, vielleicht auch weil ein eigener Widerstand mitwirkte oder weil das Zeitgefüge – das innere und das äussere – einander blockierten. So geschah es immer wieder, dass ein Weg mir überflüssig erschien, als unnütz verbrauchte Zeit, dass einen anderen ich zu gehen wünschte, doch dass dann das Bestreben spürbar wurde, nochmals zur Wegkreuzung zu gelangen, vielleicht rückwärts zu gehen und anders zu gehen, doch ständig hiess dies in meiner Empfindung, dass die Zukunft eingeschluckt war, dass sie vorweg Vergangenheit wurde, so dass ich mich damals, in der Kindheit und Jugend, wie atemlos zeitenfremd fühlte.
„Zu spät sein“ konnte heissen, dass eine Türe sich nicht mehr öffnete, wenn ich an sie gelangte, hiess vielleicht Selbsttäuschung wegen der Hoffnung, die ich auf dem Weg zwischen Tagen und Nächten und Jahren wie einen Motor in mir geöffnet hielt, aber Hoffnung worauf? – auf eine zeitlose Zeit? Auf Glück? Ist Zukunft immer ein Traum? Was ist das Ziel der Rechtzeitigkeit? Ein Altwerden? – ein Geborgensein? All dies war eine Warnung wegen des Übermasses an Zeithunger, der ungestillt blieb. Meine Mutter, die ihren erstgeborenen Sohn verloren hatte, bedurfte meiner, um die Trauer nicht zu vergessen. So empfand ich mein Leben geprägt von vielerlei Pflicht.
In der Kindheit hatte die freie Zeit zwar bestanden, vor allem, wenn ich mich bei meiner Grossmutter befand, und trotzdem kaum bestanden. Um freie Zeit zu haben, bedurfte es der Flucht, wie mir schien. Einmal, ich erinnere mich, lag ich unter einem Baum, ich wusste nicht wo, jenseits der Schweizer Grenzen, die Grillen zirpten, den Wind spürte ich leicht durch die Blätter wehen, es war mir warm und ungewöhnlich aufregend; sonderlich frei fühlte ich mich. Neben mir lag der grosse Wächterhund, den ich von seiner Ankerkerung gelöst und der mich durch die Wiesen mit sich gerissen hatte, im Gras, ungehemmt atmend und glücklich-erschöpft, da nie zuvor Freiheit ihm zugestanden worden war. Ich war ein Kind damals, noch vor der Schulzeit, ich spürte in mir weder Alter noch Angst. Irgendwann tauchte einer der Grossonkel auf, packte mich hart an der Hand und den Hund an der Kette. „Spät ist es. Abend“, brummte er „Seit Mittag musste ich euch suchen.“ So wurde ich zurückgeführt in das Grosselternhaus und bekam an jenem Abend kein Abendbrot. Der Hund wurde wieder mit der Kette an die Mauer gefesselt. Es blieb eine Freundschaft zwischen ihm und mir, auch eine Art Übereinkunft zwischen den Grosseltern und mir. Obwohl sie mir wenig erklären konnten, schien mir, dass sie spürten, was das Wagnis der Freiheit mir bedeutet hatte, als seien wir ähnlich alt. Eventuell war das Pflichtengehäuse gesellschaftlicher Kindheitsregeln ihnen fremd, obwohl sie einfache, ernste Menschen waren? Oder bedeutete ihnen und mir das Leben das Nicht-Vorhersehbare, das Nicht-Absehbare, so dass ein Vertrauen in eine geheime Kraft uns trug, und die Abhängigkeit von anderen Menschen ähnlich empfunden wurde wie jene vom Wetter?
Was heisst alt werden und alt sein? Obwohl ich an Jahren allmählich alt bin, will ich nochmals eintauchen in das innere Zeitempfinden, wie es in der Kindheit wach war. Es bestand im Wissen um die Nähe zum Tod u n d im Glück zu leben. Immer wieder geschah es, wenn ich die Zeit übersprang, meist unter dem Druck der Pflichten, dass ich auf irgend eine Weise gezwungen wurde, die Zeit nachzuholen, so dass ich mich empfand wie am Ende der Zukunft, als stände nur Vergangenheits-Nachholarbeit vor mir. Als 1948, nach Kriegsende, meine Eltern erstmals wieder ins Ausland gefahren waren, nach Mailand und Rom, und ich sie seit Wochen vermisste, stieg ich eines Morgens den Hügel hinunter, um als älteste der Kinder Besorgungen für den Haushalt zu erledigen. Da sah ich meine Mutter auf der anderen Seite der Strasse stehen, zurückgekehrt nach – wie mir schien – unendlich langer Zeit. Ich lief über die Strasse hinweg ihr entgegen, ohne im geringste zu achten, ob es nötig war zu warten, wurde von einem Auto überfahren, das zu spät mich sah, um bremsen zu können, wurde aufs schwerste verletzt und war in der Folge ohne Bewusstsein, dann mit einem der Beine wie an einen Schragen gehängt, bewegungslos, nur noch beschäftigt mit meiner inneren Welt. Als ich nach Monaten der Isolation im Spital mich wieder zu Hause befand, fühlte ich mich alt wie die ältesten Menschen, die ich kannte. Gehen und lachen lagen weit zurück oder standen mir nicht mehr zu.
Da baute ein Knabe aus Wien, der bei uns lebte, um sich vom Krieg zu erholen, für mich eine Seifenkiste, mit welcher er mich die steile und steinige Strasse neben dem Haus hinunterfahren liess, dann mich lehrte, Schritt für Schritt, gestützt auf die Seifenkiste, wieder gehen zu lernen. Irgendwann lachte ich, ging mit Vergnügen und hüpfte wieder, fand letztlich die Rückkehr ins Leben.
Für mich als Kind hatten „spät“ und „alt“ besonderen Wert. Unter der Bettdecke mit einem kleinen Licht zu lesen, bis von einem Turm, der nicht nahe stand, zwölf dunkle Klänge Mitternacht anzeigten, als gälte die Mahnung mir, dem Kind, das nicht schlief; oder zu „später Stunde“ zu hören, dass Besuch ins Haus kam, ein Freund meines Vaters, mit welchem Gespräche sich stundenlang fortsetzten, hinter geschlossener Tür im Raum nächst der Eingangstür, der Herrenzimmer hiess; oder zu hören, dass die Hebamme eintraf, die hinter der Wand, die mich vom Elternzimmer trennte, mit meiner Mutter sprach, bis irgendwann ein leises Weinen ertönte und ich am Morgen erfuhr, dass eine Schwester zur Welt gekommen war, einmal ein Bruder.
Ist es merkwürdig oder nicht, dass „spät“ und „alt“ in deren Bedeutung auch vernetzt waren mit „früh“? Was im Gegenlicht wahrgenommen wird, ob in der Dämmerung, ob im Morgendunst, ist Grenzerfahrung von flüchtigem Zauber. Ich gehe später mehr darauf ein; jetzt nur, dass Schlaflosigkeit oder Fieberträume die Vernetzung prägten, manchmal Angstverklammerung, häufig aber Eigenwilligkeit und Wissensdurst – immer die Ahnung, dass ein schmaler Pfad ist zwischen Leben und Tod. „Leben“ bekommt so den Wert des Morgengeschenks. Eine Erinnerung? Es war möglich, früh morgens zu erwachen, die Gräser unter glitzerndem Tau zu erleben und die ersten Vogelrufe zu hören, an der Hand des Grossvaters zu gehen, der selber kaum sprach, mich neben ihn auf eine Bank zu setzen, nachdem er mit der Sense das Gras geschnitten, und zu warten, bis er mit langsamen Schritten wieder heimwärts ging. Oder im stillen, noch schlafenden Haus am Freitagmorgen, im Duft des Brotes, das die Grossmutter buk, auf das beste, knusprigste warten zu dürfen, das sie auf besondere Weise für mich geformt, dann zuzuschauen wie Laib für Laib, in Tücher gehüllt, in einer Kammer in eine Truhe gelegt wurden, um für die Woche zu reichen.
Was damals ich empfand, blieb gespeichert bis heute, auch während Lebensetappen, die in dunkeln Tunnels durchschritten werden mussten: gespeichert blieb die Nähe von Kindsein und Altsein, die einem Strickzeug gleicht, mit Fadenmustern hinauf und hinunter in unterschiedlichen Farben, ständig verstrickt. Ist eines leichter, eines schwerer, beide anders und gleich?
„‘Basciamu li mani‘. Questo, non altro. „‘Wir küssen die Hände‘. Dies, nichts anderes.
Oscuramente forte e la vita.“ Geheimnisvoll stark ist das Leben.“[3]
Im Gegenlicht
Und heute? Janka K. ist mir nahe, aus dem Warschauer Ghetto gerettet, heute 86 Jahre alt. Sie hat weder Haus noch Enkelkinder wie meine Grossmutter, aber ein Zimmer hat sie, auch eine kleine Badeküche, ein Bett mit einem Sommertuch und einem Wintertuch, sie hat Photos und Dokumente, drei Lampen, Gläser und Teller, zwei wacklige Tischchen aus Metall und einen starken Tisch aus Holz, einen Drehsessel, den sie vor dreissig Jahren kaufte, auf welchem sie sitzt und sitzend schlummert, während die Zeit verrinnt. Ein Fenster ist vor ihr, das sich öffnen lässt, mit dem Blick auf die Dächer von Zürich und auf die Wolken, die am Himmel vorüber gleiten, manchmal wie Herden von Schäfchen, manchmal – was in Märchen erzählt wird – wie wandelnde Berge.
In Warschau hatte sie Jura studiert und Gedichte geschrieben, in der Schweiz als Übersetzerin gearbeitet, bei der Fremdenpolizei und privat, immer bewegt vom Wunsch, Menschen aus Polen zu unterstützen, welcher Herkunft auch imme sie waren, welche die Schweiz um Aufnahme baten, jahrzehntelang ohne Honorar, aber mit einem Netz von Frauen und Männern, das so entstanden war, Menschen, die ihr verbunden blieben. Daran denkt sie, wenn sie im Sessel sitzt, Bilder werden wach und bunt, in welchen sie sich selber sieht, intensiv und stolz, auch Bilder von den Kindheitsjahren in Warschau, dann von Vorlesungen in Medizin, Biologie und Psychologie im Ghetto. Eng sassen die Menschen nebeneinander, lauschten und lernten, sie, die noch lebt, und viele, die nicht mehr leben. Wissen galt als Gegenkraft gegen die Verzweiflung. Doch gleiten zugleich, wenn sie von ihrem Sessel in die Wolken blickt, aus anderen Bildern Wehmut und Trauer über sie herein. Sie sieht die Eltern, die Freundin Ejgha Jochelson, Kinder, die sie kannte, und viele Menschen mehr, wie sie an die Sammelstelle gejagt, auf die Lastwagen gestossen und abgeführt worden waren, einige, die schon vorher irr geworden waren vor Angst oder gestorben waren vor Hunger.
Als Janka K. vor einigen Monaten sehr hilfebedürftig wurde, in jeder Hinsicht, auch die haushälterischen Aufgaben nicht mehr selber erledigen konnte, fragte ich sie, ob sie einverstanden wäre, in ein Pflegeheim umzuziehen und dort umsorgt zu werden. „Auf keinen Fall“, war ihre Antwort, mit unmissverständlichem Ton. Seither kommt dreimal täglich eine Betreuerin vorbei von der Spitex, ihr Arzt, der die Praxis im gleichen Haus hat, wo sie im Dachstock lebt, sucht sie wenn nötig auf, eine Nachbarin auf der gleichen Etage schaut oft vorbei, ein Paar aus dem guten polnischen Kreis besorgt ihre Buchhaltung, und täglich, wann immer möglich, besuche ich sie und bringe ihr mit, was sie braucht und was sie freut, manchmal Blumen, manchmal frisches Brot oder ein Fläschchen Wein, immer meine Zeit. Ich setze mich in ihre Nähe. „Hier ist mein Ort, mein Raum“, sagt Janka K. Was heist „ihr“ Raum?
„Ich kenne nicht den Raum
wo die ausgewanderte Liebe
ihren Sieg niederlegt
und das Wachstum in die Wirklichkeit
der Visionen beginnt
noch wo das Lächeln des Kindes bewahrt ist
das wie ein Spiel in die spielenden Flammen geworfen wurde
aber ich weiss, dass dieses die Nahrung ist
aus der Erde ihre Sternmusik herzklopfend entzündet“[4] –
Alles, was ihrem persönlichen Lebensmassstab und ihren Bedürfnissen entspricht, kann Janka K. in diesem „Raum“ geniessen, obwohl ihr Körper nur noch Schmerz ist, Knochen, Gelenke, Lungen, Herz und Kopf, alles Schmerz, gebrochen, entzündet, vielfach krank, mit Wasser angefüllt; obwohl auch das Zeitgefühl schwindet und oft, wenn ich abends zu ihr gehe, sie lächelnd fragt, ob ich gut gefrühstückt habe. Auch sind es die gleichen Geschichten, Geschichten, die sie nicht loslassen und die sie immer wieder erzählt, als sei es das erste Mal. Nelly Sachs hatte festgehalten in wenigen Zeilen, was Janka erlebt und ich mit ihr:
„ … im Alter ist alles ein grosses Verschwimmen
die kleinen Dinge fliegen fort wie die Immen.
Alle Worte vergasst du und auch den Gegenstand;
Und reichtest deinem Feind über Rosen und Nesseln die Hand.“ [5]
Oft will Janka K. weder Geschichten erzählen noch klagen, nur Weisheit austauschen, wie sie es im Ghetto übertragen bekam. „Angst ist ein schlechter Berater“, sagt sie fast täglich, erinnert sich dabei an den Vater, der ihr dies vorgelebt habe, und blickt mich an mit Glanz in den Augen. „Der Augenblick ist Augen-Blick, der bleibt“, sage ich, und sie nickt mir zu. „Nie kann Lüge sein in den Augen“, fügt sie bei, und nun nicke ich ihr zu. „Lüge hat eh kein Sein, nur Schein“ sagt sie weiter, „was ist, ist das Besondere und zugleich das, was schon war; auch was noch nicht ist, wird so sein“. So wiederholt sich häufig, was für sie wichtig ist: ein nicht abbrechendes Lernen auf ihre besondere Weise. Oft fasst sie leicht meine Hände dabei und hält sie fest. „Wenn nur keine Träume wären, die mag ich nicht, keine Träume mag ich“, sagt sie. Vor wenigen Tagen aber erzählte sie erstmals einen guten Traum. Im Traum habe sie Ejgha gesehen, die Freundin, die nicht mehr lebt, ganz nah, als lebte sie wieder.
Tage und Nächte sind gleich wie lange Abende für Janka K. Wofür ist der Abend für sie ein Bild? Aufzeichnungen von Robert Walser fielen mir ein, als ich neulich von ihr wegging. Auch Erinnerungen an meinen Vater, der, als er so alt war wie Janka K. heute, die Abendstimmungen liebte, das himmelvergoldende, langsam vergehende Licht wie eine warme Köstlichkeit. Walser hatte in einem kleinen Text zum Abend festgehalten:
„Einige Helligkeit war am Verschwinden, war noch da, hauchte und schwebte noch da und dort herum. (….) Alles war so still, lautlos, freundlich-nachbarlich, gut und gross. Ich wünschte, dass die Zeit zwischen Tag und Nacht, die schöne Zwischenzeit, die liebe, schöne Abendzeit ewig, ewig andauern könnte. Eine Ewigkeit lang Abend. Weiter ging ich. (…) Da kam ich über die Brücke.“[6]
Über welche Brücke? Die Brücke ist der Schlaf, mit welchem Nelly Sachs, meine Grosseltern, Robert Walser, mein kleines Mädchen Joséphine, mein Vater, meine Mutter, Janka K., ich selber, jede und jeder von uns das andere Ufer – vielleicht den nächsten Morgen, oft nur die nächste Stunde – in der Besonderheit der eigenen Lebensdauer erreichen konnten oder können. Was „früh“ und „spät“ bedeuten, wird spürbar in der Klarheit und Intensität des Gegenlichts, das in flimmernden Dunst übergeht – oder in Dunkelheit. Walter Vogt, ein Mediziner und Schriftsteller meiner Zeit (1927 geboren, am 21. September 1988 gestorben) notierte in seinem Tagebuch, das unter dem Titel „Später Sommer“ erschien:
„Alles altert, auch die Sonne, auch der Wind. An einem Nebelmorgen hocken die Möwen auf dem Steg, mit ihrem novemberlichen Schrei. Selten genug zerreisst ein Reiher ‚das Porzellan des Abends‘ mit seinem krächzenden Ruf. Vor wenigen Jahren waren die Reiher häufiger, sassen öfter nebenan, auf einem bestimmten Bau: dort hatten einmal Milane ihren Horst gebaut. (….)
Alle altern, Möwen, Reiher, Enten.
Es altert der Mensch, es altert die Natur.
Von den kleinen Singvögeln sagt man: was im folgenden Jahr in denselben schier unendlichen Schwärmen über dieselben Pässe zieht, ist, im Schnitt, immer schon die nächste Generation. Kleinere Vögel altern rascher als grosse.
Junge Menschen altern schneller als ältere. Erst Greise altern wieder mit atemberaubender Geschwindigkeit, so dass man es sieht. (….) – Vorgänge, die nicht rückgängig zu machen sind“[7].
So schliesse ich ab. Zum wichtigsten gehört in den späten Jahren, dass nicht Angst die wachsende Hilfebedürftigkeit und Wehrlosigkeit beherrscht, dass der Mensch in Räumen – zuletzt in einem Raum – leben kann, in welchem, gemäss dem Gedicht von Nelly Sachs, „die Zeiten heimgeholt“ werden können, welche die „Bausteine der Herzkammern“ sind; dass der Raum selber gewählt werden kann, in welchem der Blick sich auf den Abend richtet und im Gegenlicht den nächsten Morgen ersehnt, so wie ein Vogel den Ast, auf welchen er sich setzt für die Nacht, selber wählt.
Mein Dank für Ihre Aufmerksamkeit findet Ausdruck im Sonett 119 von
William Shakespeare (übersetzt von Hans Günther Hirschberg):
„So wie die Wogen roll’n zum kiesbedeckten Strand
so eilen unsre Stunden an ihr Ziel.
Wetteifernd überdeckt ein jedes Wellenband
Das vor ihm eilende in stetem Wechselspiel.
Geboren wirst du in ein strahlend Licht,
erklimmst die Reife dann als dein gekröntes Ziel.
Doch manch ein Schatten fällt und unterbricht
Der Zeit so hoffnungsreiches Gabenspiel.
Die Zeit durchbohrt der Jugend Schwingen,
schürft, deine Stirn mit Furchen zu durchziehn,
weiss ihre herbe Wahrheit aufzuzwingen.
Kein Halm, der wuchs, kann ihrem Schnitt entfliehn.
Und doch: In Hoffnung habe dies mein Lied Bestand,
dass es dich preist trotz ihrer grausam harten Hand“ [8].
* Copyright maw[9]
[1] Nelly Sachs. Fahrt ins Staublose. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. Main 1961. S. 136
[2] Nelly Sachs. Späte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1981. S. 42
[3] Salvatore Quasimodo. Das Leben ist kein Traum. Ausgewählte Gedichte. Italienisch/deutsch. Piper Verlag, Müchen 1960 (Arnolod Montadori Milano 1942). S.54-55
[4] Nelly Sachs. Späte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main 1981, S. 142
[5] Nelly Sachs. ibid. S. 46
[6] Robert Walser. Abend. Aus: Dichtungen in Prosa. Hrsg. von Carl Seelig. Sonderausgabe: 27. Zürcher Druck der Offizin Gebrüder Fretz AG zu Weihnachten 1961. S. 49
[7] Walter Vogt. Vergessen und Erinnern. Altern. Romane. Benziger Verlag AG, Zürich 1992. S. 208-209
[8] William Shakespeare. Sonett 119. In: Hans Günther Hirschberg. Der Rhythmus des Regens. Gedichte und Nachdichtungen au fremden Sprachen. Verlag Pro Lyrica. Schweizerische lyrische Gesellschaft. Schaffhausen 1999. S. 193
[9] Dr. phil. Maja Wicki, Zürich, geb. 1940, 4 Kinder, 4 Grosskinder; geschieden. Philosophin, Psychoanalytikerin und Traumatherapeutin (Studienabschluss in Philosophie; Internationalem Staatsrecht/Menschenrechte, Soziologie/Politologie. Dissertation: Eine Logik des Absurden. Paul Haupt Verlag Bern-Stuttgart 1983). – Langjährige journalistische und publizistische Tätigkeit im gesellschaftsanalytischen Bereich u.a. für Weltwoche, Tages-Anzeiger, Magazin-Tagesanzeiger, Schweizer Fernsehen, MOMA – Monatsmagazin für neue Politik etc. Zahlreiche wissenschaftliche und literarische Buchbeiträge, Publikation von Büchern, von Übersetzungen etc. – Mitbeteiligt am Aufbau und langjähriges Vorstandsmitglied des Forums gegen Rassismus, des Netzwerks schreibender Frauen etc. – Mitglied Psychoanalytisches Seminar Zürich PSZ, Vorstandsmitglied Zürcher Fachstelle für Psychotraumatologie ZFP, Präsidium der Swiss Recovery Foundation etc. Vorlesungs- und Lehrbeauftragte an zahlreichen Universitäten und Fachhochschulen im In- und Ausland etc.