Warum müssen Menschen ihre Heimat verlassen? Was erwartet sie bei uns? Wie kann Traumatherapie ihnen helfen?

Warum müssen Menschen ihre Heimat verlassen?

Was erwartet sie bei uns?

Wie kann Traumatherapie ihnen helfen?

Referat in St. Gallen am 8. November 2000 über die Zusammenhänge der Asylsituation in der Schweiz, der Traumatherapie von Asylsuchenden, des Fremdenhasses als Retraumatisierung

 

Im Spätsommer des Jahres 1993 rief mich einer in einem Schweizer Kanton seit zehn Jahren auf dem Land lebender und in einer Holzfabrik arbeitender bosnischer Mann an, er brauche meine Hilfe. Eine seiner Cousinen lebe mit ihren zwei Kindern – acht und vier Jahre alt -, von denen das kleinere schwer krank sei, bei ihm zuhause seit drei Monaten versteckt. Er wisse nicht mehr, wie weiter. Die junge Frau …..

Die Geschichten stehen für ungezählte andere. Wir haben in der Schweiz kein verlässliches Immigrationsgesetz für Menschen, die aus ihrer Situation des Elends fliehen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu versuchen, über das Asylverfahren bei uns Aufnahme zu finden. Gerade das aber ist ihnen zum vornherein verwehrt, da sie in ihrem Heimatland ja nicht durch den „Staat“ oder durch staatliche Organe aus politischen Gründen an Leib und Leben bedroht sind, sondern als Menschen, häufig spezifisch als Frauen, auf Grund der Zugehörigkeit zu einer Ethnie. Dass Gerade diese Verfolgungen politische Gründe haben, ist beim Gesetzesvollzug irrelevant. Entweder müssen Asylsuchende „auf Befehl“ die Rückreise antreten oder sie werden “ausgeschafft”. Der dritte Weg, dass ein Rekursverfahren angestrebt und gefordert wird, mit Hilfe einer/s fähigen Juristen/in sowie eines/r Traumatherapeutin/en, die/der ein umfassendes Gutachten austellt, ist der in menschlich-ethischer und menschenrechtlicher Hinsicht beste Weg.

Weltweit sind an die 30 Millionen Menschen unterwegs, zwischen Heimat und nirgendwo, vertrieben durch Krieg, Bürgerkrieg, politischen Terror, durch Dürre oder Überschwemmungen, durch Angst oder durch Hunger, vertrieben weil sie Angehörige einer ethnischen Minorität oder einer Religionsgemeinschaft sind, deren politische, kulturelle und wirtschaftliche Rechte, insbesondere deren Lebensrecht durch machthabende Gruppierungen nicht respektiert werden. Weit über zwei Drittel dieser Menschen halten sich in Südwestasien, im Mittleren Osten, in Nordafrika und in Afrika selbst, in Lateinamerika und in der Karibik auf. Das heisst, die ärmsten Länder haben für die meisten Flüchtlinge zu sorgen. Die europäischen Länder dagegen, diese hochentwickelten und reichen Länder, zu denen auch die Schweiz gehört, tun sich schwer, für die vergleichsweise wenigen Flüchtlinge, die zu ihnen gelangen, Aufnahme- und Integrationsbereitschaft zu schaffen. Seit der entsetzliche Krieg im ehemaligen Jugoslawien begonnen, sich in weiten Gebieten zugespitzt und sich in Kosova fortgesetzt hat, vor allem seit er in Bosnien-Herzegowina tobte, waren allein aus diesem Gebiet, das in seiner kulturellen Durchmischung und seiner hochstehenden Zivilisation sehr der Schweiz vergleichbar war, mehrere Millionen Menschen auf der Flucht, zum Teil innerhalb Bosnien-Herzegowinas selbst, zum Teil in den übrigen Republiken des ehemaligen Jugoslawien, zum kleinsten Teil in anderen europäischen Ländern.

In der Schweiz hatte es lange gebraucht, bis die Grenzen etwas weiter geöffnet wurden. Der Krieg allein, Hunger und Not der Vertriebenen genügten nicht. Es brauchte die Berichte über die kz-ähnlichen Kriegsgefangenenlager und den Druck der internationalen Behörden, bis Bundesrat Arnold Koller sich Ende Dezember 1992 bereit erklärte, zuerst 200, dann 1993 nochmals 1000 ehemalige Lagerinsassen und deren Familien aufzunehmen, das heisst diesen Menschen einen vorläufigen Flüchtlingsstatus zuzuerkennen. Die 1000 Frauen und Kinder dagegen, die die Schweizerischen Flüchtlingshilfe schon im August 1992 aus kroatischen Durchgangslagern in die Schweiz geholt hatte, ursprünglich für einen Erholungsaufenthalt von drei Monaten, sowie die rund 1000 Frauen, Kinder und alten Leute, die um die gleiche Zeit in der grössten Sommerhitze in Zügen an der kroatisch-slowenischen Grenze blockiert waren und dann, ebenfalls mit einem dreimonatigen kollektiven Touristenvisum, in die Schweiz einreisen durften, hatten das Privileg des Flüchtlingsstatus nicht. Sie waren “vorläufig Aufgenommene”, wie alle diejenigen, die als “Gewaltflüchtlinge” bezeichnet werden. Das heisst, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung nach Ablauf von 3 Monaten – mit der Zeit von 1 Jahr – zur Verlängerung vorgelegt werden muss, dass vom Bundesrat nach eigenem Ermessen beschlossen werden kann, dass diese nicht verlängert wird und dass sie zurückkehren müssen, dass der Familiennachzug nicht bewilligt wird, dass sie, je nach kantonalen Bestimmungen, nicht arbeiten dürfen, auch dass die Unterstützungspauschalen von Kanton zu Kanton verschieden sind.

Insgesamt hat der Bund seit dem letzten Jahr etwa 3500 Kriegsvertriebene aus dem ehemaligen Jugoslawien in der Schweiz Aufnahme gewährt. Die individuellen Asylgesuche nahmen 1992 enorm ab. Während es 1991 noch 41’629 waren, gingen sie schon 1992 auf 17’960 zurück. Von den insgesamt 36’904 BFF-Entscheiden in diesem zweiten Kriegsjahr (der Grossteil betraf allerdings Gesuche aus früheren Jahren) wurden nur 3,8% positiv entschieden, das heisst, in Zahlen, 1410 positive und 29’590 negative Entscheide. Über 6200 der Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller stammten aus dem ehemaligen Jugoslawien, rund 2800 aus den Bürgerkriegsgebieten Sri Lankas, 1800 aus der Türkei (viele von diesen waren Kurden und Kurdinnen), etwa 1000 aus Somalia.

Diese Zahlen machen deutlich, dass die wenigsten, die den Weg in die Schweiz schaffen, als anerkannte Flüchtlinge in der Schweiz bleiben dürfen. Die grosse Zahl der Gesuchsteller und Gesuchstellerinnen müssen unser Land wieder verlassen oder dürfen auf befristete Zeit als vorläufig Aufgenommene hier verweilen. Damals lief auch eine grosse Kontroverse um den vom BFF beschlossenen Rückschaffungsstop für Flüchtlinge aus Sri Lanka. Diejenigen Tamilen und Tamilinnen, die in der damaligen Zeit um Aufnahme nachsuchten, hatten nach dem neuesten Beschluss keine Chance, bleiben zu können, gemäss der Devise “last in first out”, trotz entgegengesetzter Studien, trotz warnender Stimmen von Heimkehrern aus südindischen Flüchtlingslagern, dass für rückkehrende Menschen in ihrer Heimat keine Sicherheit garantiert war.

Die Haltung der Schweiz, mit Gesetzesverschärfungen und Verfahrensmassnahmen die Einreise von Asylsuchenden und Flüchtlingen möglichst zu erschweren oder gar fast zu unterbinden, entspricht einer gesamteuropäischen Haltung. Obwohl die Mehrzahl der Bevölkerung und der Kantone den Beitritt zu Europa ablehnen, obwohl Europabefürworter und -befürworterinnen bei uns einen harten Stand haben, herrscht in Sachen Flüchtlings- und Asylpolitik eine grosse Übereinstimmung zwischen den eidgenössichen Behörden und den übrigen europäischen Länder. Während im Osten, mit dem Fall der Mauer im November 1989 und dem Zusammenfallen der staatssozialistischen Regimes eine ungeduldig begrüsste, aber schnell relativierte Öffnung Hoffnungen auf eine Ende der Blockspaltungen, auf Wohlstand und Freiheit (zuerst einmal Reise- und Konsumfreiheit) weckte, begann das um die EG zentrierte Europa mit seinen zugewandten Staaten – inklusive der Schweiz – eine neue Architektur der Fronten zu verfestigen, festungsmässige Vertragswälle gegen den befürchteten Zustrom von Armen und Vertriebenen auszubauen. Diese Architektur der Einigung richtet sich zugleich gegen potentielle Menschenströme aus Ost- und Südosteuropa wie gegen diejenigen aus dem Süden, gegen diejenigen aus der – wie es bezeichnenderweise heisst – “Zweiten” und “Dritten”, der zweitrangigen und drittrangigen Welt – insbesonder auch gegen die Menschen aus dem europäischen Kriegsgebiet.

Schon 1985 hatte die EG-Kommission beschlossen, gemeinsame europäische “Verwaltungsmassnahmen” im Asylbereich festzulegen. Im gleichen Jahr unterschrieben die Benelux-Staaten, Frankreich und die Bundesrepublik das “Erste Schengener Abkommen”, das den schrittweisen Abbau der innerstaatlichen Grenzkontrollen und eine Übereinkunft über die Verschärfung der Aussengrenzenkontrolle beinhaltete. Fortan sollte für die Bearbeitung eines Asylgesuchs nur noch ein Vertragsstaat zuständig sein. Bei Ablehnung bestand fortan keine oder kaum mehr eine weitere Chance einer eventuellen Asylgenehmigung in einem anderen Vertragsstaat, zumal beschlossen wurde, nicht nur Informationen über Verfahrensfragen, sondern auch personenbezogene Daten der Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller auszutauschen. Damals schon wurde die Einführung eines einheitlichen Visums angestrebt

Die Schere wurde zunehmend enger, als 1990 auch Spanien, Portugal und Italien dem Schengener Abkommen beitraten. Spanien zum Beispiel führte die Visumpflicht für Asylsuchende ein, die aus Nordafrikaanlangten. Hunderte, wenn nicht Tausende ertranken beim Versuch, mit Fischerbooten illegal vom Meer her die spanische Küste zu erreichen. Griechenland erwägt seinen Beitritt zum Abkommen. England hat im Sommer 1991 erklärt, seine Einreisebestimmungen nach Massgabe der Schengener Bestimmungen zu verschärfen. Diese wurden wurden 1990 im sogenannten “Zweiten Schengener-” und im “Dubliner”-Abkommen ausgeweitet.

Mitte Februar 1992 haben sich in Budapest an einer Ministerkonferenz, an der 35 europäische Staaten teilgenommen haben, die meisten Delegationen, darunter auch Bundesrat Arnold Koller, für verschärfte koordinierte Massnahmen gegen die “illegale Zuwanderung” und das damit verbundene Schlepperwesen ausgesprochen. Nur so gelänge es, “die Probleme der Migration in den Griff zu bekommen”, hiess es im Pressecommuniqué zum Abschluss der Konferenz.

Es stellte sich mit zunehmender Deutlichkeit heraus, dass für die europäischen Staaten, inklusive für die Schweiz, Menschen, die um Aufnahme nachsuchen, als innerstaatliches Problem Europas erfasst wurden. Dieses Problem galt es, “in den Griff zu bekomme,. wie es hiess. Das heisst, dass das Hauptaugenmerk der Anstrengungen auf die Abwehr gelenkt wurde, dass mithin nicht die zu Flucht zwingenden Bedingungen in den Herkunftsländern als das massgebliche Problem der Asylsuchenden erkannt wurden, dass mithin auch keine genügenden Anstrengungen unternommen wurden, um diese Bedingungen zu verbessern.

Um “das Problem in den Griff zu bekommen”, dachten sich – scheinbar – ernstzunehmende Profis Lösungen aus, die nachdenklich stimmen: So schlägt etwa der Nobelpreisträger für Ökonomie von 1992, Gary S. Becker, vor, dass der Markt die Immigration regeln solle. Einwanderungsrechte sollten wie andere Güter nach dem Gebot von Angebot und Nachfrage gehandelt werden. Die Preise für Visa sollten in jährlichen Versteigerungen ermittelt werden, sodass diejenigen, die schliesslich einwandern könnten, schwer dafür bezahlt hätten. Diese Einwanderer, meinte Becker, wären dann auch motiviert, sich entsprechend dem Eintrittspreis nützlich zu machen, sich anzupassen und sich eben nicht als “Schmarotzer” zu benehmen.

Das nicht mehr nur unterschwellige Cliché war damals deutlich erkennbar und ist heute noch spürbar – dasselbe Cliché, das auch den Anschlägen auf Unterkünfte von Asylsuchenden zugrundeliegt: dass die Fremden, die kommen, bedrohliche “Schmarotzer” seien, dass daher jede Art von Massnahme, und sei es Gewalt, gerechtfertigt sei, um gegen sie vorzugehen: ein Cliché und Feindbild, das grosse Teile der Bevölkerung für auf zunehmende Weise übernehmen und zur Erklärung vieler Misstände brauchen, deren Zusammenhänge allzu komplex sind. Das wirklich Bedrohliche ist, dass die verantwortlichen Politiker und Politikerinnen, ob im übrigen Europa, ob in der Schweiz, es zumeist unterlassen, klare Richtlinien zu setzen und sich mit der Kraft ihrer Persönlichkeit dieser Feindbildkonstruktion entgegenzusetzen. Im Gegenteil, sie handeln im Sinn populistischen Kalküls, um „Exempel“ zu statuieren, Menschenrechte hin oder her. Eine der tragischen Folgen ist, dass keine Traumatherapien mehr zugestanden werden.

Nationalistischen Ängsten liegen vielleicht immer Clichés – ich meine fixierte Bedrohungsbilder – zugrunde. Deswegen ist es so schwer, diese Ängste zu korrigieren. Viele dieser Bedrohungsbilder gehören zum gesellschaftlichen Umfeld und werden zudem durch negative wirtschaftliche Entwicklungen verstärkt. Der durch Angst und Gewalt so schnell gefährdete Friede könnte und sollte Motivation und Ziel in politischer Hinsicht sein. Im menschlichen Zusammenhang sollte das Wissen um die Dringlichkeit heilender Therapie nach kaum erträglicher Gewalterfahrung zu einer breiten Unterstützung der Flüchtlinge führen.

Im Fall der Fremdenangst und des Ausländerhasses könnte schon eine banale Tatsache, die in allen Diskussionen meistens unter den Tisch gewischt wird, etwas verändern: Dass es die Schweizer und Schweizerinnen, denen eine ausländerfreie Schweiz gehören sollte, gar nicht gibt. Dass die Schweiz seit Jahrhunderten längst eine ethnisch und kulturell gemischte Gesellschft geworden ist, eine “Heimat Babylon” wie der Titel des vor circa zehn Jahren erschienenen Buchs von Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid heisst, eine gemischte Gesellschaft, die sich nicht mehr entwirren lässt. Dass andererseits auch allein im 19. Jahrhundert Tausende von Schweizern und Schweizerinnen die Schweiz verlassen haben, insbesondere aus den Bergtälern des Wallis, des Tessin, des Glarner und  Berner Oberlandes und Graubündens, weil ihnen die Schweiz zu eng wurde, weil das Leben hier zu armselig und zu niedrückend war. Dass diese aus der Schweiz „geflohenen“ Menschen ihrerseits zur ethnischen und kulturellen Durchmischung in deren Aufnahmeländern beigetragen haben, in Russland, in Nordamerika, in Australien und Neuseeland und wo immer.

Es gilt, sich zu fragen, welche Massnahmen und Vorkehrungen nützlich sein könnten, damit Fremdenangst abgebaut werden könnte, und was vorgekehrt werden muss, damit Integration im guten Sinn möglich ist. Ebenso gilt es, sich zu fragen, wie Pflichten und Rechte im Zusammenleben von Mehrheit und Minderheiten geregelt werden sollten. Ferner, welche Werte gemeint sind, wenn von kultureller Bedrohung, von kultureller Überfremdung gesprochen wird. Am wichtigsten scheint mir, dass wir uns fragen, wie in unserer Gesellschaft Menschen geholfen werden kann, die auf Grund von Entwertung und Erniedrigung, von Angst, Hass und Gewalt in ihrer Heimat nicht leben kontnen. Unakzeptierbar ist, dass sie auch hier Opfer von Entwertung, von politischer Gewalt und dadurch von menschlicher Unterdrückung sind.

Es wäre dringend und nützlich, auf eine der schwierigsten Fragen einzugehen, die in fast allen politischen Diskussionen zu den grossen Tabus gehört: nämlich ob die Demokratie als politisches System noch tauglich und geeignet ist, um den enormen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aufgaben, insbesondre den menschenrechtlichen Verpflichtungen zu genügen. Vor allem: Was vorzukehren ist, damit die Demokratie als System kontrollierter und geteilter Macht tauglich bleibt, trotz wachsender Komplexität einerseits, wachsender Überforderung und Indifferenz des grossen Teils der Bevölkerung andererseits, da jedes andere System, auch eine oft herbeigewünschte Expertokratie, in Diktatur einmündet.

Was in der Traumatherapie erfordert ist, besteht in der Heilung des menschlichen Selbstwertes. ……….

 

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

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