Würde, Achtung, Respekt – Not mit den Menschenrechten – Über die Vorstellung einer Kultur ohne Unterdrückung

Würde, Achtung, Respekt – Not mit den Menschenrechten

Über die Vorstellung einer Kultur ohne Unterdrückung

 

 

Verehrte Anwesende

 

Um in die Frage der Menschenrechte einzusteigen, will ich mit einer Geschichte beginnen, einer alltäglichen Geschichte, wie Sie eventuell viele vergleichbare kennen. „Schon früh musste ich arbeiten, mit vier Jahren schon vor der Kamera stehen, für Werbungszwecke als Photomodell. Als ich vierzehn war, weigerte ich mich”, erzählte mir L. B. Sie verfügte in der Kindheit über keinen Schutz und über keine freie Zeit , sie durfte nicht spielen und durfte nicht Fragen stellen, um allmählich lernen zu leben. Eine Folge der „Zwangsarbeit” war, dass sie die neun Schuljahre mit Schwierigkeiten absolvierte. Das Geld, das sie erarbeitete, diente der Grossmutter zur Tilgung der grossväterlichen Schulden.

Eine andere Bezugsperson als die Grossmutter hatte L. B. nicht; der Stiefgrossvater starb, als sie vier Jahre als war, die Eltern hatte sie kaum gekannt. Es gelang ihr dank dem Widerstand, den sie mit 14 Jahren gegen ihre Ausbeutung zeigen konnte, eine kaufmännische Lehre bei einer Bank zu machen. Mit 21 Jahren verliebte sie sich in einen Mann, heiratete ihn drei Jahre später und trennte sich von ihm nach einer gemeinsamen Indienreise. Der in der Kindheit erlebte Missbrauch hatte sich fortgesetzt und wurde zum Stolperkleid. Ihr Bedürfnis, einen Fluchtort zu finden, wurde zur Sucht, zuerst mit Haschisch, später mit Heroin. Damals, Anfang der 80er Jahre, kostete eine Tagesration Heroin auf dem Schwarzmarkt rund 700 Franken. Während einiger Zeit gelang es ihr, die Arbeit als Bankangestellte und ihre Sucht irgendwie zu vereinen, doch sie verschuldete sich immer stärker und verlor schliesslich ihre Arbeit.

1980 hatte L. B. ein Kind geboren, das sie sehr liebte, für welches zu sorgen ihr aber nicht möglich war. Vom sechsten Monat an wuchs der Bub in einem Kinderheim auf, doch die Wochenende, häufig auch die freien Nachmittage, verbrachte er mit seiner Mutter. L. B. hatte ein schweres Leben. Sucht und Prostitution bedingten sich wechselseitig. Sie versuchte, vom Heroin loszukommen. Immer wieder fiel sie zurück, suchte jedoch Arbeit im Gastgewerbe und meldete sich für ein Methadonprogramm an. Zwei Jahre musste sie damals warten, bis sie aufgenommen und in ein Beschäftigungsangebot in der Natur integriert wurde. „Harte Arbeit im Wald, Forstarbeit. Wie froh war ich zu spüren, dass ich noch Kraft hatte und das Leben schön fand!” Ein Jahr später war sie auch vom Methadon frei.

Seit 1979 suchte sie die Sozialberatungsstelle ihres Wohnkreises auf; noch heute holt sie dort Rat. Sie lebt in einer einfachen städtischen Wohnung ohne Zentralheizung, und arbeitet in einer städtischen Kantine. Über viele Umwege gelang es ihr, ihre Existenz zu ertragen, sogar in die Zukunft zu schauen, für sich und ihren Sohn, der seine Herkunft nicht wählen konnte, der den Vater vermisste und Zorn auf die Mutter empfand. Trotzdem hatte er keinen Zweifel an ihrer Liebe zu ihm.

Wird es auch dem Sohn gelingen, ohne Zweifel an seinem eigenen Lebenswert einen Weg aufzubauen, der ihn trägt? Ich nehme an, dass es ihm gelingen kann. Trotz aller schweren frühkindlichen Mangelerfahrungen konnte er in sich eine kreative Kraft erhalten und allmählich entfalten. Für ihn und seine Mutter hatte die Sozialarbeit eine spürbar gute Begleitung geboten.

Was löst der Begriff „Ethik“ in Ihnen aus? Eine innere Sicherheit? – oder Unsicherheit und Zweifel? Messen und beurteilen Sie zusätzlich zur Arbeit Ihr persönliches Handeln, Ihre Entscheide, eventuell Ihre Gefühle nach ethischen Kriterien? Wenn ja, nach welchen? In welchem Verhältnis stehen Ethik und Moral? Oder ist Ethik, nach Ihrem Verständnis, ausschliesslich das Beurteilungsraster fremden Handelns? – oder allgemeiner Massstäbe, zum Beispiel der Erklärung der IFSW von 1994, oder der Menschenrechtserklärung von 1948, oder der nationalen Verfassung, der kantonalen Gesetze, der Strafgesetze, der politischen Abstimmungsentscheide und deren Wirkungen auf Persönlichkeitsrechte, Frauen- und Kinderrechte, auf die Menschenrechte im Asylbereich, überhaupt im AusländerInnenbereich usw? Was ist das zentrale Anliegen der Ethik? Ist es immer die Menschlichkeit? – oder sind es andere Zwecke? Stimmen der Ethikbegriff und der Kulturbegriff miteinander überein? Oder sehen Sie die Frage, was Ethik bedeutet, vor allem im Zusammenhang mit den Begründungs- und Durchsetzungsstrategien politischer, wirtschaftlicher oder wissenschaftlichen Theorien, zum Beispiel in der Gentechnologie, in der Medizin, Chemie, Physik usw?

Was Ethik je nach den Werten, um die es dabei geht, bedeutet und bewirkt, ist für Menschen, die wie Sie im Sozialbereich arbeiten, tatsächlich mit wichtigen Fragen verbunden. Sie betreffen insbesondere den Einfluss der Sozialarbeit auf eine grosse Anzahl einzelner Menschen. Auch den Einfluss auf die Kultur. Wir nehmen uns als Ziel der heutigen Arbeit daher vor, eine grössere Klarheit zu gewinnen. Ich werde im Sinn einer Klärung zuerst auf einzelne Ursprünge und Entwicklungen der Ethik eingehen, in einem zweiten Teil auf die Zusammenhänge zwischen Ethik und Kultur, um schliesslich den Einfluss von Ethik auf die Arbeit im Sozialbereich – auf das, was Würde, Achtung und Respekt in existentieller. nicht in theoretischer Hinsicht bedeuten – zu klären.

 

Ethik – Massstab des Guten. Aber was ist das Gute?

 

Jede Ethik (ethos/Sitte, Brauch) wurde und wird in Hinblick auf genau definierte persönliche, beziehungsmässige und gesamtgesellschaftlich-politische Zwecke formuliert, die das Gute vom Schlechten oder vom Bösen unterscheiden, nicht nur in ältester Vergangenheit, sondern auch in der jüngste Zeitgeschichte. Ich vertrete die Meinung, dass jede Ethik als oberstes Wert- und Normengehäuse Resultat zeit- und kulturbestimmter Prozesse ist, d.h. Resultat  erfahrungsbestimmter Sozialisationsprozesse in Hinblick auf eine optimale Gegenwart und auf eine anstrebbare Zukunft. Es ist denkbar, dass selbst die in der Bibel festgehaltenen obersten Normen –so die Zehn Gebote – aus der zeitspezifischen Notwendigkeit heraus formuliert wurden, das in der Wüste von Auflösung bedrohte, während Jahrzehnten durch die Unterdrückung geplagte jüdische Volk durch eine klare, verpflichtende Festsetzung des Guten und des Bösen zu disziplinieren und damit in eine politische und gesellschaftliche Ordnung zu lenken.

Diese obersten Normen weisen schon weit über die noch älteren religiösen Mythen hinaus, die von der Trennung der Elemente – Erde, Feuer, Wasser Luft – handeln, von der Trennung von Finsternis und Licht, von den Gestirnen, vom Kreislauf des Lebens, kurz, von den Ursprüngen der Welt und des vielfältigen Lebens in der Welt. Diese handeln allerdings noch nicht vom Guten, resp. vom Bösen. Zwar wird mit der hebräischen Silbe „ra‘ah“ alles bezeichnet, was nicht gut, was schlecht ist: die verdorbene Frucht, der unfruchtbare Boden, ein Tag, der Unglück bringt, eine Naturkatastrophe etc. Schlecht ist eine Eigenschaft, die den Dingen oder ev. auch den Menschen anhaftet, eine Eigenschaft, die nicht weiter hinterfragt wird, die einfach auf die Wirklichkeit verweist. Was „gut“ ist, findet sich vor allem im Wahrnehmen und Anerkennen, im Befolgen einer höheren Ordnung. Dass diese Ordnung sich zu Gesetzen zuspitzte – den Zehn Geboten auf den zwei Tafeln die Moses, wie es heisst, in den vierzig Tagen des Rückzugs auf den Berg von Gott erhielt -, war eine Folge der menschlichen Nichtbeachtung der höheren Ordnung.

Ganz anders thematisiert später Platon (427-347) die ethischen Grundsätze, indem er in seiner Ideenlehre das Gute mit Hilfe von Mathematik und Geometrie zu erfassen sucht und es als das Eine, damit als das Unteilbare, Wahre und Vollkommene bezeichnet.  Alles, was nicht das Eine ist, ist daher auch nicht das Gute. Aber was ist es dann? Da es sich bei Platon um eine „Seinslogik“, eine Ontologie, handelt, ist es weder das Schlechte noch das Böse, sondern das Nicht-Wahre, das Falsche, was irreführt und täuscht, d.h. das, was im Bemühen um Klarheit, um Wahrheit nicht vollkommen ist, was eben falsch ist. Da es dem Guten, resp. der Wahrheit entgegensteht, muss es gemäss Platon trotzdem als das irreführende Schlechte bezeichnet werden. Bei Heraklit, einem Denker aus Ephesos , der (544-483) etwa ein Jahrhundert vor Platon lehrte, steht im Fragment 133: „Schlechte Menschen sind die Widersacher der wahrhaftigen“. Dass ethisches Ungenügen im Zufügen von Leiden besteht, findet sich bei den Vorsokratikern am deutlichsten bei Xenophanes (580/77-485/80), und zwar in einer kleinen Geschichte, die er von Pythagoras, einem der grossen Zeitgenossen (580-500), erzählt. Xenophanes‘ Fragment 7 lautet: „Und es heisst, als er (Pythagoras) einmal vorbeiging( und sah), wie ein Hündchen misshandelt wurde, habe er Mitleid („sym-pathein“) empfunden und dieses Wort gesprochen: ‚Hör auf mit deinem Schlagen, denn es ist ja die Seele eines Freundes, die ich erkannte, wie ich seine Stimme hörte‘.“ Der Satz verweist sowohl auf die Pythagoreische Seelenwanderungslehre wie auf das mitleidende Empfinden, dass das Zufügen von Leiden, das Misshandeln eines Lebewesens, etwas Übles ist.

Bei anderen vorsokratischen Denkern wird in – nur teilweise erhaltenen – Mythologien das Masslose, die Überheblichkeit als das dem Guten Widerstrebende dargestellt. Prometheus‘ überheblicher Griff nach dem Feuer, zum Beispiel, entspricht interessanterweise der in der Bibel dargestellten ersten strafbaren „Überheblichkeit“ der geschaffenen Menschen, dem Griff nach der verbotenen Frucht im Garten Eden, d.h. der masslosen  Erfüllung des Hungers nach Erkenntnis und nach Wissen. Die Nichtbeachtung der menschlichen Begrenztheit, der Übergriff in die göttliche Allmacht durch grenzenloses Wissen findet sich in weiteren alten Texten. Es ist z.B. ein Fragment des Pherekydes von Syros zu erwähnen, dass, wer „aus Überhebung frevelt“,  von Zeus in den Tartaros geworfen werde. Oder bei Heraklit heisst es in Fragment 43: „Überhebung soll man löschen mehr noch als Feuerbrunst“.

Meiner Ansicht nach lässt sich sagen, dass Religion und Philosophie sich da trennen, wo der Zustand der Welt nicht mehr der göttlichen Kosmogonie anheimgestellt wird, sondern das So- oder Anders-Handeln der Menschen dafür verantwortlich gemacht wird. Dieses menschliche Handeln wird so Gegenstand der praktischen Philosophie, resp. der Ethik. Das Gute und das Böse resultieren aus einer spezifischen Wahl des Handelns. Überraschend ist, dass bei Aristoteles (384/3-322/1) nicht mehr eine Idee, sondern der Gute das Mass für das Gute darstellt. Mit anderen Worten, was gut und was böse ist, resp. was ethische Regeln befolgt oder nicht erfüllt, misst sich am Menschen und am praktisch-tätigen Leben, am Handeln.  Dabei genügt es nicht, dass die Handlung sittlichen Kriterien genügt, dass sie zum Beispiel nicht-schädigend oder gerecht ist, sondern der Handelnde (Frauen gelten noch nicht als sittliche Wesen) muss selber bestimmte Eigenschaften aufweisen, um den Kriterien des Guten zu genügen. Aristoteles nennt drei Bedingungen: der Handelnde muss, erstens, „bewusst handeln“; zweitens muss er „mit Vorsatz handeln“, und drittens muss er „im Handeln sicher und ohne Schwanken“ sein. Der Analogieschluss ist zulässig, dass, was für den Guten gilt, in der Umkehrung auch für den Menschen gilt, der den ethischen Forderungen nicht genügt. Nicht das – zufällig – gute oder schlechte Handlungsresultat ist entscheidend, sondern das  Wissen, die Absicht und die Unbeirrbarkeit des handelnden Menschen.

Unklar erscheint es Aristoteles allerdings, weshalb die einen Menschen gut und tugendhaft sind, die anderen aber schlecht. Aristoteles mutmasst, dass dies entweder „von Natur aus“ so sein könnte, oder durch „Gewöhnung“, oder durch „Belehrung“; andernorts führt er noch den Zufall und die göttliche Fügung ein. (Der Rekurs auf die „göttliche Fügung“ findet sich in der Prädestinationslehre wieder; es wurde damit auf vergleichbare Weise Unheil angerichtet wie mit der späteren biologistisch-rassistischen Vererbungslehre. Was andererseits bei Aristoteles mit dem „Zufall“ gemeint wurde, könnte das Unberechenbare und scheinbar Unbegründbare sein, das sich im Wirken zeigt, das vom Unbewussten angestossen wird). Wichtig ist festzustellen, dass es bei Aristoteles letztlich immer um einen bewussten oder unbewussten   Entscheid geht, der in bestimmten Momenten des praktischen Lebens, d.h. in Konfliktsituationen, gefordert wird. Der antike Denker zieht dabei drei entscheidende mögliche Einflüsse auf die moralische Entwicklung, resp. auf das Handeln der Menschen in Betracht, die der modernen Forschung nahe kommen. Was er als „von Natur aus“ nennt, könnte sich mit dem decken, was heute mit dem Einfluss der genetischen Faktoren gemeint ist. Was bei ihm „Gewöhnung“ heisst, könnte durch die heutigen Begriffe der Sozialisation  und der Beziehungserfahrungen übersetzt werden; und was er als „Belehrung“ bezeichnet, könnte sich sowohl mit den Welt-, Gesellschafts- und Erziehungstheorien decken, mit denen ein Mensch schon als Kind konfrontiert wird, wie auch das Über-Ich meinen, d.h. die innere Stimme, die sich als Gewissen äussert und welche die internalisierten Verbote, Gebote und Vorbilder, resp. den frühen Einfluss der Vater und Mutter-Vorbilder widergibt. Ich möchte allerdings betonen, dass Aristoteles, obwohl er die verinnerlichten Eigenschaften  als Kriterien für das gute oder schlechte Handeln herausarbeitet, die eigentliche Gewissensfrage, d.h. die Selbstverantwortung nur teilweise beachtet. Damit bleibt seine „Nikomachische Ethik“ in erster Linie eine Tugendlehre.

Ethische Tugenden, an denen sich, gemäss Aristoteles, das Gute, resp. der Gute am stärksten misst, sind Gerechtigkeit, Klugheit und Freigebigkeit. Die Nicht-Erfüllung dieser Tugenden kennzeichnet somit auf besonders unmissverständliche Weise den sittlich unfwnügenden Menschen. Aber wie lässt sich die Erfüllung resp. der Nicht-Erfüllung dieser Tugenden erklären? Aristoteles sagt diesbezüglich, dass, „was wir tun können, nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es tun“. Mit anderen Worten: Die Theorien und Doktrinen machen uns Handlungsangebote, doch wir müssen sie anwenden, um zu wissen, was deren Bedeutung ist. Das Lernen genügt nicht; es braucht auch das Tun. Dabei geht er davon aus, dass es für dieses – ethisch tugendhafte – Tun auch materieller Voraussetzungen bedarf, resp. dass „ohne Geld“ weder Gerechtigkeit noch Freigebigkeit gepflegt werden können. Die „Nikomachische Ethik“ ist somit, trotz des erstaunlich Neuen, das sie mit dem Praxisrekurs bietet, eine Art Verhaltenskodex ausschliesslich für besitzende, freie Männer, obwohl daraus eine allgemeine Ethik abgeleitet wurde, gemäss welcher das menschliche Tun des Guten und das Tun des ethisch Schlechten generell unterschieden und untersucht werden könnte. Dazu kam es erst sehr viel später.

Ein weiterer möglicher Zugang, die Bedeutung der Ethik zu klären, mag sich über die Entwicklung des Wertebegriffs anbieten. Wie kommt es, dass etwas als wertvoll, resp. als gut, und etwas anderes als weniger wertvoll oder als wertlos, als untauglich oder als schlecht angesehen wird? Der Wertebegriff muss sich ins Denken und Handeln eingefügt haben, als erste Formen der Selbstversorgung nicht mehr genügten, als der Tauschhandel und damit die Arbeitsteiligkeit begannen, als der Abtausch resp. die Abtretung von Produkten, Gegenständen oder Leistungen einsetzte, über welche die einen Menschen verfügten, ohne deren zu bedürfen, gegen andere, die als gleichwertig galten. Schon sehr früh wurden Waren oder Leistungen im Tauschhandel durch die symbolische Gleichwertigkeit von Münzen, resp. von Geld abgelöst, bis schliesslich das Geld, der Geldbesitz und die Anhäufung von Geld mit der Entwicklung des Kapitalismus zum Wert an sich wurde.

Obwohl der ursprüngliche Gütertausch per definitionem an materielle Güter gebunden war, schloss er immer schon etwas Immaterielles mit ein, das heute noch spürbar ist: ein Abwägen und Erwägen, eine Vorstellung von Wert, die an Begriffe wie Nützlichkeit, Dringlichkeit, Unverzichtbarkeit, auch Schönheit und/oder Lustgewinn gebunden war und für welche ohne Zweifel schon sehr früh eine Prioritätenordnung und damit die Erfordernis eines Entscheides galt, der einerseits Gewinn, andererseits Verzicht bedeutete. Der Entscheid für das eine Gut schloss ein anderes aus. Und so muss der Wertbegriff sich auch für immaterielle Güter, für Werte der persönlichen Lebensführung, des Verhaltens und der Organisation des Zusammenlebens durchgesetzt haben. Zum Beispiel bedeutete der Entscheid, einen Feind zu schonen, statt ihn zu töten, als Abtausch die Gewähr, selber geschont und nicht getötet zu werden. Oder der Entscheid, zu verzeihen statt Rache zu üben, zog/zieht als Gegenwert die Aussicht nach sich, dass auch eigene Fehler verziehen und nicht mit Strafe geahndet wurden/werden. Oder der Entscheid, ein gegebenes Versprechen zu halten, zog/zieht ebenfalls die Erwartung von Gegenseitigkeit nach sich. So entwickelten sich aus dem Abwägen von Werten und aus dem Entscheid für einen bestimmten Wert in einer Rangordnung von Werten bestimmte wertorientierte Regeln des Verhaltens, welche durch die wiederholte Einhaltung internalisiert wurden und zu einem Wert- und Regelbewusstsein führten, das sich wiederum im persönlichen Gewissen ausdrückt: dem “guten Gewissen”, bei Beachtung der internalisierten Wertkategorien und bei Einhaltung der Regeln, dem “schlechten Gewissen” bei deren Nichtbeachtung und Übertretung. Die Entwicklung des eigenen Urteilsvermögens und der eigenen Handlungsverantwortung führt zu einer Veränderung der sozialisierten und internalisierten Wertvorstellungen und Regelcodices.

Es ist auch eine Tatsache, dass im Lauf der Menschheitsgeschichte sowohl die Prioritätenordnung der Werte wie die daraus abgeleiteten ethischen Regeln zumeist autoritär bestimmt wurden, häufig nicht im Sinn einer möglichst breiten Konsensfindung, nicht in Hinblick auf das grösstmögliche “bien commun”, sondern in Hinblick auf partikuläre Vorteile derjenigen, die sich die Definitionsmacht für die Rangordnung der Werte und Regeln zubilligten, um dadurch die danach handelnden Menschen zu kontrollieren, ob dies Fürsten, Potentaten, religiöse Autoritäten, Arbeitgeber, politische Führer, die sogenannte “öffentliche Meinung” usw. war oder noch immer ist. Auch gehörte eine gleichzeitige Vielzahl von Wertordnungen, die untereinander rivalisierten, im Lauf einer komplexer werdenden Welt zu den sich bietenden Orientierungsmöglichkeiten. Daraus entstanden jene Orientierungskonfusionen, jene Paradoxien, auf die ebenfalls schon Aristoteles in seiner “Nikomachischen Ethik” hinwies, und jene Gewissenskonflikte, die wir zum Teil auch heute kennen, deren Ursprung in der Nichtübereinstimmung von – eventuell gleichrangigen – Werten oder Handlungsregeln liegt, die aber verschiedenen Ordnungen entstammen. Wir sehen uns ständig mit der Tatsache konfrontiert, dass das eine oder das andere, was wir tun oder unterlassen sollten resp. müssten, sich widerspricht. Die Art und Weise, in der Menschen sich bei verschiedenen, häufig gar widersprüchlichen richtungweisenden Ethiken entscheiden, fällt wiederum in den Bereich der Moral.

Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass das übernommene oder persönlich entwickelte Werte- und Regelbewusstsein der persönlichen Moral eines Menschen entspricht, während unter Ethik die Auseinandersetzung um die obersten Grundsätze der verschiedenen Moralen verstanden wird. Es lässt sich sagen, dass das Ziel jeder Ethik eigentlich das Aristotelische “gute Leben” ist, wobei bezüglich des guten Lebens Verschiedenes und Ungleiches gemeint ist: das diesseitige gute Leben, oder das jenseitige gute Leben, oder das gute Leben einer bestimmten Gruppe von Menschen (wie eben z.B. der freien Männer in der griechischen Antike und noch während Jahrhunderten in den Systemen des Patriarchats, oder der Arier im Nationalsozialismus, oder aller Menschen, auf Grund einer reziproken Anerkennung des gleichen Menschseins und einer konsensfähigen Wertehierarchie) usw. Damit wird deutlich, dass jede Ethik ein bestimmtes Menschenbild voraussetzt, und eine bestimmte Zeit widerspiegelt.

Spätere, noch heute massgebliche philosophische Grundlagen westlicher Ethik finden sich  u.a. bei Immanuel Kant[2], dessen kritische Philosophie als Absage an die herkömmlichen metaphysischen Tugendlehren einerseits den Rekurs auf die Vernunft – auf die Freiheit, auf das Selberdenken und auf die Selbstverantwortung -, andererseits den Rekurs auf die Praxis  – das praktische Leben – zum Instrument von Handlungsentscheiden erklärt. Um zu unterscheiden, was gutes und was schlechtes oder böses Handeln ist, lässt sich einerseits die Rechtslehre, andererseits die sog. Tugendlehre heranziehen. Während die Rechtslehre sich „äussere Gesetze gibt”, wie Kant sagt, deren Befolgung notwendig „ein Zwang”  ist (wobei der äussere Zwang keinem inneren Zwang entsprechen darf, wie dies im zivilen Ungehorsam betont wird, sich auch im autoritären Charakter[3] zeigt), ist „die Tugendlehre des Zwangs nicht fähig“. Bei der Tugendlehre (häufig auch als Pflichtenlehre bezeichnet) – worunter Kant die Ethik resp. die Moralphilosophie im engen Sinn meint – zieht er in Betracht, dass es einerseits allgemeiner Maximen bedarf, andererseits der Überwindung der inneren Widerstände, ev. der Trägheit, damit Menschen diesen Maximen entsprechend handeln.

Damit in Hinblick auf die Umsetzung der Ethik die inneren Widerstände überwunden werden können, bedarf es, laut Kant, einer inneren Überzeugungskraft: der Urteilskraft. Er versteht darunter die Fähigkeit, einen partikulären Handlungsentscheid einer übergeordneten Maxime unterzuordnen. Eine allgemeine Maxime für das gute oder richtige (resp. tugendhafte) Handeln ist, gemäss Kant, ein Zweck, der zugleich Pflicht ist. Dazu rechnet er einerseits die “eigene Vollkommenheit”, andererseits “fremde Glückseligkeit”, wobei diese letztere, indem sie angestrebt wird, zur eigenen werden kann. Man könnte sagen, dass Kant in Hinblick auf die Ethik zugleich einen egoistischen und einen altruistischen Ansatz vorschlägt, bei dessen Befolgung zwei wichtige Hauptregeln, resp. Maximen, wegweisend sind, nämlich der kategorische und der praktische Imperativ. Der kategorische Imperativ  besagt, dass die Handlungsentscheide so zu treffen seien, dass sie zum allgemeinen Gesetz erklärt werden könnten, und der praktische Imperativ hält fest, dass zur Erreichung eines bestimmten Zweckes nie ein Mensch zum Mittel gemacht resp. benutzt oder gar missbraucht werden darf. Kant hat auf massgebliche Weise die emanzipatorische Ethik geprägt: Nie darf ein Mensch wie eine Sache, wie ein Ding eingesetzt werden. In der Umkehrung lässt sich somit sagen, dass ein Handeln, dessen Folgen für einen selbst abträglich sind, weil sie Leiden verursachen, gewiss nicht zum allgemeinen Gesetz erklärt werden könnte und daher falsch resp.schlecht ist. Dazu gehört jede Art der Instrumentalisierung und damit der Verdinglichung von Menschen, jede Art der Entwürdigung und menschlichen Entwertung

Der Kant’schen Ethik liegt das Menschenbild der Aufklärung zugrunde, das für uns immer noch gilt: eine erstmals säkular definierte Gleichheit der Menschen auf Grund des gleichen Menschseins, der gleichen “Menschheit” in jedem Menschen, mit verhängnisvollen kulturellen und politischen Einschränkungen allerdings. Ende des 18. Jahrhunderts war weder die Sklaverei abgeschafft noch die Emanzipation, d.h. die rechtliche Gleichstellung der Juden und schon gar nicht der Frauen oder gar der Kinder erreicht. Zudem setzte damals, mit dem Beginn der Industrialisierung, die systematische Ausbeutung einer faktisch rechtlosen, ganz und gar vom Arbeitgeber abhängigen Arbeiterschaft ein, die durch die Fliessbandarbeit anonymisiert, des “Produkts” entfremdet und ausschliesslich zur Mehrwertsteigerung des Kapitals missbraucht, resp. instrumentalisiert wurde, trotz des Kant’schen praktischen Imperativs. Und trotz dieser hohen Norm begann sich auch gleichzeitig das System des Imperialismus zu entwickeln, das sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem globalisierten Herrschaftssystem ausweitete und festigte, mit Kriegen und bürokratisierten administrativen, militärischen und wirtschaftlichen Unterwerfungssystemen, bei denen der Herrschaftsanspruch der sogennannten “Mutterländer” durch die “Unentwickeltheit” und “Minderwertigkeit” der “Objekte” der Herrschaft in Afrika, Asien etc. legitimiert wurde. Damit setzte sich weltweit der systematische Rassismus sogenannter “Herrenvölker” und “Herrenrassen” durch, der in die verhängnisvolle Geschichte unseres Jahrhunderts hineinführte und dieses Jahrhundert mit seinen menschenverachtenden Ideologien und Herrschaftssystemen zum blutigsten und schuldbeladensten aller Zeiten werden liess.

 

In welcher Verbindung sind „Ethik“ und „Kultur“ zu verstehen?

Mit der Moderne begann somit einerseits die bislang verallgemeinerungsfähigste Ethik des gleichen Respekts vor dem gleichen Menschsein in jedem Menschen, und zugleich die systematische und zunehmend noch gesteigerte Instrumentalisierung, Entfremdung und Entwertung der Menschen durch andere Menschen – eine Entwicklung, die bis heute andauert.

Weder der Rekurs auf die Grundlagen der westlichen Ethik noch der spezifische Wertediskurs führen somit zu einer sicheren Erkenntnis. Ich schlage Ihnen daher noch einen kurzen Abstecher in die Kombination von Psychoanalyse und neuzeitlicher Philosophie vor, um der Verbindung von Ethik und Kultur näherzukommen.

Gewissermassen befasst sich Freuds gesamtes Werk mit dem Geheimnis der widersprüchlichen, einseitigen oder ungenügenden Umsetzen ethisch-kulturellen Wissens, resp. mit dem Geheimnis des Bösen, geht es darin doch um die Triebstrukturen, die das Unbewusste regieren, Lebenstrieb und Todestrieb, Lustrieb und Aggressionstrieb. Letzterer dient  zwar dem Überleben, fügt jedoch auch unendlich viel Leiden und Leid zu. Denn er regt sich ja nicht nur, um bei Lebensbedrohung das Überleben zu sichern, sondern er ist häufig auf komplexe Weise mit dem Lusttrieb verknüpft. Wie diese Verknüpfung und Umkehrung (mit dem Begriff „Per-version“ bezeichnet) zustandekommt, ist zu erklären hier nicht der Ort. Wie häufig jedoch in jeder Art von Verhältnis – in privaten Verhältnissen ebenso wie in Arbeitsverhältnissen wie in anderen hierarchisch oder autoritär bestimmten Verhältnissen – über Funktion und Stellung geschaffene Macht missbrauch wird, um schwächere oder abhängige, häufig wehrlose Menschen zu erniedrigen, zu quälen oder gar zu vernichten, zeigt auf, wie dringlich es ist, mehr über das schlechte, verhängnisvolle Handeln zu wissen, um es verhindern zu können. Einfach das Böse zu leugnen, schafft es ebenso wenig aus der Welt wie Übeltäter schwer zu bestrafen. Die 1943 in England verstorbene Philosophin Simone Weil hielt in einem ihrer „Cahiers“ fest, das schlechte, boshafte Handeln könne nur überwunden werden, indem es nicht mehr getan werde; das Strafsystem aber sei so sehr vom Plagen und herabsetzen der Menschen kontaminiert, dass es lediglich das Böse fortsetze und weiter übertrage. Die Frage ist, wie zu erreichen ist, dass Menschen einander nicht mehr quälen.

Freud ist sich bewusst, dass die Kulturgeschichte seit ältester Zeit immer zugleich auch eine Kriegs- und Leidensgeschichte ist, eine Geschichte von Tätern und Opfern, und dass „jedes Dokument der Kultur zugleich ein solches der Barbarei“[4] ist. Von eigenen Mangelerfahrungen, Bosheit und Härte gezeichnete Mütter und Väter sind kaum in der Lage, ihren Kindern Geborgenheit und innere Sicherheit durch generöse und liebevolle Zustimmung zu ihrem noch ungesicherten Ich zu geben, sodass sich das Antun von Leiden wiederholt und häufig, bereits im Lauf des Heranwachsens,  auch das kompensatorische Sichselberbestätigen durch Missbrauch von Macht, schon auf der Stufe der Kinder und immer weiter fort bis ins Erwachsenen- und Greisenalter. Freud hält fest, „die Schicksalsfrage der Menschenart scheint  es zu sein, ob und in welchem Masse es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“[5]

Unter „Herr werden“ versteht Freud die persönlich verpflichtende Kontrolle des Handelns, unabhängig von Geschlecht und Funktion. Dies ist tatsächlich die „Schicksalsfrage der Menschheit“. Um deren Erfahrung zu bezeichnen, gebrauchte Hannah Arendt den – noch aus dem englischen Imperialismus stammenden Ausdruck – „administrative massacres“. Die millionenfachen Tötungen von Menschen, denen jeder Lebenswert abgesprochen wurde, geschah, wie sie festhält, unter Befolgung und als Vollzug gesetzmässiger, administrativer Pflichten. Dieser Begriff stimmt mit der – scheinbaren – Anonymität der Schreibtischtäter resp. der Vollzugspersonen einer nationalistischen, rassistischen Ethikbesetzung überein, wie sie unter Hitlers „Führung“ entstand und befolgt wurde. In der gleichen Zeit stützten Widerstand und Ablehnung des Natinalsozialismus u.a. auf die emanzipatorische Ethik des gleichen Menschseins ab, wie sie von machtlosen Denkern und Denkerinnen entwickelt wurde. Tatsache ist, dass auch heute infolge rassistischer Rechtsaussenentwicklungen die Gefahr administrativ gerechtfertigten Handelns besteht, das für einzelne wie für enorm zahlreiche Menschen unheilvoll ist. Wiederum stellt sich auf dringliche Weise die Frage, wie die gesetzesmässige Gefährdung von Menschen durch administrativen Vollzug verhindert werden kann. Hannah Arendt hält in ihrem Report zum Eichmann-Prozess[6] von 1963 fest, dass das Ausmass des unmenschlichen Handelns nicht hätte getan werden können, wenn nicht auf jeder Stufe des Tuns jeder einzelne Helfershelfer seine Vorstellungskraft ausgeschaltet hätte, wenn nicht jeder die „Vorstellung, was er eigentlich anstellt“, was er einem anderen Menschen antut, unterbunden hätte. Die Vorstellungskraft nicht ausschalten heisst, sich selber an den Platz des anderen Menschen versetzen. Heisst, an dessen/deren Stelle alles empfinden, was angetan wird. Damit Ethik nicht im unmenschlichen Sinn umgesetzt wird, bedarf es einer kritischen Regelbefolgung oder Nichtbefolgung, gestützt auf die Vorstellungskraft des mit dem falschen Handeln verbundenen, nicht mehr heilbaren Leidens.

 

Eine Kultur der Solidarität aus Freiheit – Option für die Zukunft?

Auffallend ist, dass die sozialpolitischen Fragen heute immer seltener in Verbindung mit der Ethik diskutiert werden, dass die Diskussion zumeist punktuell und konditional geführt wird, vor allem dann, wenn es um die Finanzierbarkeit bestimmter sozialer Aufgaben gerade in Hinblick auf gesetzliche Regelungen geht, so etwa in Hinblick auf die AHV, sodann auf die Arbeitslosen- und Altersversicherung, die Erwerbsersatzordnung oder die Familienzulagen, in Hinblick auf die Regelung der Mutterschaftsversicherung und insbesondere bei asylrechtlichen und ausländerrechtlichen Gesetzesentscheiden. Auch bei der Frage des Beitritts der Schweiz zur europäischen Union wird regelmässig auf zentrale und entscheidende Weise die Frage aufgeworfen, wie die sozialen Folgekosten zu bezahlen seien.

Über die – nicht-abbrechende – Aktualität von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität nachdenken soll daher Anlass sein, die stete, zeitunabhängige soziale Verpflichtung zur ethischen Frage zu machen. Worauf gründet sich die Verpflichtung zur Solidarität?

Ich möchte einen Begründungsansatz zur Diskussion vorlegen, den Simone Weil 1943 in ihrem letzten, kurz vor dem Tod fertiggestellten Buch “Enracinement” im Londoner Exil entwickelt hat. Sie hält darin fest, dass der Rekurs auf Rechte – sie meint unausgesprochenerweise die sozialen Grundrechte – müssig sei, und dasss es ebenso müssig sei festzustellen, jeder Mensch habe zugleich Rechte und Pflichten. Rechte gelten ja nur, wenn sie anerkannt werden, schreibt sie. Ohne deren Anerkennung durch Dritte sind sie bedeutungslos. Was dagegen “einfach” feststeht, ist die Bedürftigkeit jedes einzelnen Menschen, und was ebenso unbedingt gilt, ist die nicht weiter hinterfragbare Notwendigkeit, die sich dem einzelnen Menschen stellt, dieser Bedürftigkeit genüge zu tun. Simone Weil argumentiert, dass, selbst wenn ein Mensch völlig allein auf sich gestellt wäre, diese Grundverbindlichkeit besteht. “L’obligation prime le droit”.

Da nun aber kein Mensch in der Lage ist, seine Grundbedürfnisse allein zu stillen, sondern da sich alle Menschen in einer nicht aufhebbaren Abhängigkeit von anderen Menschen befinden, kann die primäre Verbindlichkeit als je gegenseitige und wechselseitige definiert werden. Sie besteht, ob sie anerkannt werde oder nicht, allein auf Grund der Tatsache des gleichen Menschseins, ohne dass es irgendwelcher anderer Bedingungen – gesetzesmässiger, standesmässiger, einkommensmässiger oder welcher auch immer – bedürfte. Simone Weil hält fest, dass, wer diese Grundverbindlichkeit nicht anerkennt, sich eines Vergehens schuldig macht. Sie gesteht allerdings ein, dass es Situationen geben mag, wo sich widersprechende Handlungserfordernisse durch deren Gleichzeitigkeit bewirken, dass einer bestimmten Verbindlichkeit nicht Genüge getan werden kann. Und sie folgert, dass die Qualität eines Gemeinwesens oder einer Gesellschaft danach zu bewerten sei, wie häufig oder wie selten solche Unvereinbarkeiten sich zeigen.

Was nun im konkreten Fall wie die Erfordernis eines Leistungsausweises in Hinblick auf zu erwartenden Sozialleistungen aussehen könnte, ist bei Simone Weil nicht so gedacht. Es heisst lediglich, dass Rechte eine abgeleitete Bedeutung haben und nicht eine primäre; auch dass der Solidaritätsgedanke auf Grund der existentiellen Bedürftigkeit aller Menschen nicht weiter hinterfragt werden kann, sondern zu den primären Gegebenheiten des gleichzeitigen In-der-Welt-Seins, zum immer bestehenden Beziehungsgeflecht des gleichzeitigen Menschseins gehört. Daraus ergeben sich Fragen. Ist der Begründungsansatz der je gleichen existentiellen Bedürftigkeit tauglich, um den schwindenden Solidaritätsgedanken zu stärken? Ist es tauglich, statt auf Grundrechte auf Grundverbindlichkeiten zu rekurrieren, um die Frage der sozialen Gerechtigkeit in den einzelnen Gesetzesvorlagen und Verträgen als unumstösslich vorauszusetzen und um deren praktischer Umsetzbarkeit eine grössere Chance zu geben? Um die Fragen zu klären, gehen wir zum abschliessenden Teil des Vortrags über.

Meine Überlegungen gehen von einem Paradox aus: Sozialarbeit hat als generelle Aufgabe, die Folgelasten und Leidenswirkungen von sozialer Ungleichheit aufzufangen, zu mildern oder zu verändern. Soziale Ungleichheit und damit verbundenes Leiden werden quasi als gesellschaftlliche Invariable vorausgesetzt. Mit anderen Worten: Materielle und psychische  Not, daraus resultierende Entwurzelungen, äussere und innere Emigration, Ausgrenzungen und Ausweglosigkeiten, Abhängigkeiten, Süchtigkeiten, Gewalt, Delinquenz und andere Formen der Hilflosigkeit sind die notwendige Bedingung für einen vielseitigen und anspruchsvollen, breit gefächerten Berufszweig. Das heisst, für dessen Tätigkeit, für dessen Fachwissen und Engagement müssen Ursachen vorausgesetzt werden, deren Folgenbekämpfung zugleich sein Ziel ist – eine paradoxale Situation.

Auch hierzu ein kurzer Rückblick: Als im Jahre 1908 zwei junge Frauen, Mentona Moser und Maria Fierz, die einander in London an der Schule für Sozialarbeit kennengelernt hatten, im Grossmünsterschulhaus in Zürich den ersten Kurs zur “Einführung in die soziale Hilfstätigkeit” anboten, ging es um etwas grundlegend Politisches: Anstelle der willkürlichen “Wohltätigkeit”, zu welcher Damen aus der “guten Gesellschaft” sich je nach dem verpflichtet fühlten, sollte eine verpflichtende und verlässliche professionelle Leistung treten. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und mit der krisenhaften Verschärfung von Armut, Erwerbslosigkeit, Wohnproblemen und Hunger in den darauf folgenden Jahren wurden die Kurse ausgebaut und erweitert.

Als ein bedeutungsvolles Beispiel praktisch umgesetzter Ethik erscheint mir, dass in der Schweiz – nicht nur in Zürich, sondern ebenso in Luzern, in Genf und in anderen Städten – die Gründung von Schulen für Sozialarbeit in jener Zeit das Werk von – selber rechtlosen –  Frauen war. Auch in den meisten anderen europäischen und ausser-europäischen Ländern ergriffen Frauen sozialpolitische Initiativen, lange bevor sie über politische Rechte verfügten. Ich erinnere etwa an die von der amerikanischen Soziologin und Sozialarbeiterin Jane Adams geleitete Internationale Friedenskonferenz der Frauen in Den Haag am 15. Mai 1899, der ersten dieser Art. Am gleichen Tag veranstalteten überall in der Welt Frauenorganisationen Kundgebungen: gegen das Wettrüsten, gegen Militarismus und Krieg. Besonderen Mut brauchte es für die Friedensdemonstrationen im damaligen Russland, da alle öffentlichen politischen Versammlungen, geschweige solche von Frauen, durch die zaristische Polizei verboten waren. In Spanien und in Japan gingen die Frauen an diesem Tag überhaupt das erstemal organisiert mit einem politischen Anliegen auf die Strasse. In Amerika schlossen sich 1’250’000 Frauen den Kundgebungen an. Der Bericht, den die deutsche Pazifistin Margarete Lenore Selenka für die Friedenskonferenz von Den Haag verfasste, liest sich heute mit Staunen. Er ist ein Dokument für die Kraft, die Frauen in allen Ländern befähigte, nicht nur gegen die Kolonialkriege – etwa die Burenkriege – und gegen das Wettrüsten in Europa aufzustehen, das zu den zwei Weltkriegen führte, deren menschliche und kulturelle, moralische und materielle Zerstörungswirkung bis heute nicht geheilt ist, sondern gegen jede Art von Verachtung und Minderachtung menschlichen Lebens. Sie kämpften für die Achtung ihres eigenen Frauenlebens, für welches sie die gleichen beruflichen und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten und Rechte forderten, wie die Männer sie selbstverständlich  für sich beanspruchten, für die Achtung des Lebens der Kinder, für welche sie Gesetze gegen Ausbeutung und das allgemeine Recht auf Schulung und Bildung forderten und durchsetzten, für die Achtung des Lebens von Arbeiterinnen und Arbeitern, für die sie gesetzlich geregelte Arbeitszeit, Schutzbestimmungen am Arbeitsplatz und Arbeitslosengelder verlangten. Es waren Frauen aus allen Schichten der Gesellschaft, sie waren religiös oder nicht religiös, protestantisch, katholisch oder jüdisch, bürgerliche Frauen, Sozialistinnen, Kommunistinnen oder Parteilose, verheiratete Frauen oder unverheiratete. Einzelne, zumeist selbst Opfer, erkannten damals schon die besondere Bedrohung, die aus Rassismus und Antisemitismus erwuchs, eine bereits vor dem Ersten Weltkrieg quasi institutionalisierte Form der Menschenverachtung, so wie jene der rücksichtslosen Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und menschlicher Existenz oder wie jene des kalten Bürokratismus, für den menschliche Existenz nichts wie eine Nummer ist, ein “Fall”.

Den Frauen ging es um mehr als um die Verbesserung ihrer eigenen Lebensbedingungen. Es ging ihnen um die Lebensbedingungen derjenigen Menschen, die sich selbst nicht wehren konnten, aus mannigfaltigen Gründen. Im Grunde genommen ging es ihnen um die Qualität des Zusammenlebens überhaupt. Diese aber misst sich an der Lebensqualität der Schwächsten in einer Gesellschaft.

Ich denke, dass diese Rückbesinnung auf die von – rechtlosen – Frauen getragenen Anfangszeiten der sozialen Arbeit für heutigen Fragen der Ethik wichtig ist. Was stand für die Frauen, die damals, in der damaligen Krisenzeit, Initiativen ergriffen, im Mittelpunkt? Es war der Widerstand gegen die Zeitströmungen, es war die Unverfügbarkeit des einzelnen menschlichen Lebens und der Wert der menschlichen Beziehungen. Gestützt auf zwischenmenschliche Ethik wurde Sozialarbeit als “politisches Handeln” verstanden, lange bevor dieser Begriff durch Hannah Arendt eine besondere  Bedeutung bekam. Das heisst, dass soziale Arbeit mehr und anderes sein muss als Verwaltung von Stellen und Budgets, letztlich mehr als Verwaltung von Menschen in Not. Warum? Für Hannah Arendt ist politisches Handeln Ausdruck von Freiheit. Es setzt Wahlmöglichkeiten für Entscheide der Lebensgestaltung voraus, die über das private Überleben und Leben hinausgehen, die das Zusammenleben mit den anderen Menschen, das Zusammenleben in der Pluralität der Beziehungen betreffen. Diese Freiheit fehlt jenen Menschen, die sich in psychischen, rechtlichen und materiellen Zwangslagen befinden. Darin besteht ja das eigentliche Unrecht sozialer Ungleichheit, dass Menschen in Notlagen der Umsetzung ihrer Freiheit verlustig gehen. Dass Kinder und Jugendliche, die in psychischen oder in materiellen Zwangslagen aufwachsen, nur sehr schwer diese Freiheit erringen können. Daraus lässt sich die Forderung ableiten, dass Armut und jede Form der sozialen und politischen Ausgrenzung aus Gründen der Demokratie vermieden werden muss, da Demokratie die Partizipation aller, die zusammenleben, am politischen Handeln bedeutet, das heisst an den Entscheiden, die alle betreffen, die zusammenleben.

Die – heute gemeinhin bedauerte – Lähmung der Demokratie hängt nicht zuletzt mit der Verwechslung von politischem Handeln mit wirtschaftlichem Handeln zusammen. Während das erste sich nach Zielen ausrichtet, die eine Optimierung der Lebensqualität der vielen, die zusammenleben, beinhaltet, strebt das zweite eine Optimierung des partikulären Vorteils an, ob dieser Vorteil Mehrwert- oder Machtsteigerung bedeute.  Theodor W. Adorno hielt in den 1944 entstandenen “Minima Moralia” fest, dass “der Blick auf mögliche Vorteile der Todfeind menschenwürdiger Beziehungen ist. Aus solchen kann Solidarität und Füreinanereinstehen folgen, aber nie können sie im Gedanken an praktische Zwecke entspringen.” Adornos Feststellung entspricht Hannah Arendts Unterscheidung zwischen “polis” und “oikos”, resp. zwischen politischem Handeln, das sich nach überpersönlichen, zwischenmenschlichen Zielsetzungen ausrichtet, und wirtschaftlichem Handeln, das dem Erreichen kurzfristiger Zwecke dient. So verstandenes politisches Handeln könnte somit – theoretisch – zu einem Verzicht auf persönlichen Vorteil führen, zu Gunsten der Qualität des Zusammenlebens. Empirisch ist es leider anders. Trotzdem, aus diesem theoretischen Verständnis von Freiheit könnte jene gegenseitig-vielseitig unterstützende Zwischenmenschlichkeit erwachsen, die der ursprünglichen Bedeutung von Solidarität entspricht, sowie jene intensive plurale Kreativität, die ich als “Kultur” verstehe.

Die menschlichen, zwischenmenschlichen und sozialen Folgelasten der Nichterfüllung wichtiger psychischer und sozio-politischer Grundbdürfnisse sind enorm. Angesichts der kaum mehr tragbaren Folgelasten der Nichterfüllung infolge von Erwerbslosigkeit, Ausgrenzung, Ausschaffung, Armut und – je nach dem – demütigender Fürsorgeabhängigkeit, aber auch angesichts der gesamten Komplexität der politischen und gesellschaftlichen Erbschaften, welche die Menschen von heute insgesamt zu lähmen scheinen, welche ängstigen und daher die Gefahr neuer (oder alter) komplexitätsverringernder Massenrezepte entstehen lassen, jedoch auch, im positiven Sinn, angesichts der Pluralität der Weltbilder, Welt- und Existenzerklärungen, die wir als Errungenschaft verteidigen, könnten die Geschwisterbegriffe “Solidarität” und “Kultur” als Ausdruck einer bedeutungsvollen Ethik eine menschenwürdige gesellschaftliche Realität konstituieren, als erneuerungsfähige Demokratie und damit als Option für die Zukunft.

Sozialarbeit ist daher Kulturarbeit. Da Kultur nur im Raum partizipativer Freiheit gedeiht, da dieser Raum sich vorweg prozesshaft gestaltet, da er kein – irgendwie privilegiertes – Zentrum besitzt, daher auch keine Ränder (“margines”) und keine Randständigkeiten (Marginalisationen), bedingen Kultur und Solidarität einander gegenseitig. Dem Abbau oder Verlust dieser politisch gefährdeten, aber menschlich enorm motivierenden und wärmenden Interdependenz vorzubeugen und entgegenzuwirken, ist Aufgabe der Sozialarbeit. Wollen wir heute, angesichts der mannigfaltigen Verschiedenheit der vielen Menschen, die zusammenleben, den Primat dieser Ethik verteidigen, mit den daraus sich ergebenden Möglichkeiten der Korrigierbarkeit und der Komplementarietät des Entscheidens und Handelns, wollen wir daher eine möglichst optimale Qualität des pluralen Zusammenlebens und partizipativer Freiheit verteidigen – nicht eine Qualität privilegierter Weniger zu Lasten verwalteter Knappheiten, Abhängigkeitsfrustrationen und Leidensfolgen vieler, muss das Wagnis gewagt werden, Sozialarbeit als Kulturarbeit auch gesamtgesellschaftlich neu zuzuordnen. Ich bin der Meinung, dass die geschehene Zuordnung zum Polizei- und Militärdepartement einer Verhöhnung dessen gleichkommt, was Sozialarbeit als Kulturarbeit bedeutet, und dass eine Unterordnung derjenigen Menschen, die in Not geraten, unter die Kategorie “Sicherheitsrisiko”, ein Akt der Menschenverachtung ist.

Ich komme zum Schluss. Gesellschaften entwicklen sich nicht nach festen, quasi naturgesetzlich vorhersehbaren Gesetzen, sie entscheiden selber über die Art und das Klima  des Raums, in welchem sie sich entwickeln, ob dies ein vorweg sich öffnender Raum des vielfältigen, möglichst leidensfreien Zusammenlebens sei, ein Raum der partizpativen Freiheit der vielen, die zusammenleben, und so ein Raum der Kultur qua Solidarität, oder ob es ein sich verengender Raum sei, ein Raum, der nur sich gegenseitig bekämpfenden Starken Handlungsmöglichkeiten und Platz bietet, in welchem die Verachtung der Anderen, der ev. Schwächeren, zu zunehmenden Ausgrenzungen, zu zunehmender Barbarei führt. Ich bin froh, dass Verantwortliche für Sozialarbeit sich mit den wichtigen Fragen der Ethik befassen. Vielleicht lässt sich das anfänglich thematisierte Paradox nie völlig lösen, da die Aufgaben eines “Füreinandereinstehens” in Freiheit sich immer wieder von neuem als höchst anspruchsvoll stellen werden, aber es ist enorm wichtig, an diesem Paradox zu arbeiten, wenn Sozialarbeit eine Option für eine bessere Zukunft sein will.

 

 

[2] cf. “Grundlegung der Metaphysik der Sitten” von 1785, “Kritik der praktischen Vernunft” von 1788 und schliesslich “Metaphysik der Sitten” von 1797, die in die “Rechtslehre” und in die “Tugendlehre” aufgeteilt.

[3] Hannah Arendt. Macht und Gewalt, 1969  / Theodor W. Adorno. Studien über den autoritären Charakter, 1973

[4] Walter Benjamin. Über der Begriff der Geschichte. Passus VII. In: Illuminationen. Suhrkamp Taschenbuch 345.

[5] Das Unbehagen in der Kultur (1929/30). Studienausgabe Bd.9. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1974

[6] Hannah Arendt. Eichmann in Jerusalem. Über die Banalität de Bösen. Piper Verlag, Münchwn 1964.

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