Schritte aus der Armut – “Photographieren deckt sich mit allem, was ich sonst tue” Eröffnung der Photoausstellung von Claude Giger am 26. April 1991
Schritte aus der Armut – “Photographieren deckt sich mit allem, was ich sonst tue”
Eröffnung der Photoausstellung von Claude Giger am 26. April 1991 im Gewerkschaftshaus beim Claraplatz in Basel
Es sei für ihn eigentlich nie ein Entscheid gewesen, ob er photographieren solle oder nicht, sagt Claude Giger. Photographieren sei die Sprache, die ihm erlaube, sich auszudrücken, die Sprache, mit der er die wahrgenommene Realität in Bildern weitervermitteln könne, das sei “seine Sprache”, im Gegensatz zur ver trackten begrifflichen Sprache, die eine regelbestimmte und für ihn eher mühselige Konstruktion sei, immer schon gewesen sei, schon als er ein Kind war, in Reinach zur Schule ging und in Basel mit den Erwachsenen in den Vietnam-Demonstrationen mitlief, mit dem Vater etwa, für den die Arbeiterbewegung nicht eine “standes- oder klassebedingte” Notwendigkeit war, sondern eine innere Notwendigkeit, ein Verpflichtung des denkenden, gesellschaftlich verantwortlichen Menschen.
So wuchs Claude Giger auf, mit Bildern, die sich ihm einprägten und mit dem Bewusstsein, dass er vor der Realität nicht die Augen verschliessen durfte, sondern dass er sie festhalten musste, nicht einfach abbildhaft, eins zu eins, sondern deutend und mehrdimensional durch die zusätzliche Aussagekraft, die ihr zukommt, wenn sie aus der vergehenden Zeit gelöst wird, wenn sie fixiert wird und als Ausschnitt Dauer gewinnt. Dann wird das-vielleicht-Momentane und Zufällige plötzlich vielsagend präzise und typisch: Der einzelne, auf die Befragung durch die Fremdenpolizei wartende Asylbewerber, zum Beispiel, wird zum Bild des heimatlosen und damit rechtlosen Menschen überhaupt, zum Bild der Einsamkeit und der Entwurzelung. Und die Aufnahmen einzelner Kurden und Kurdinnen im Durchgangsheim geben Auskunft über das ganze vielschichtige Verbrechen, über das kalte politische Kalkül und über die tödliche Vernichtungsstrategie, dessen Opfer dieses gejagte und gequälte Volk ist. Oder die schwer gerüstete Polizeiarmada vor dem Hintergrund der spielenden Jugendlichen wird zum Bild des Missverhältnisses zwischen Gewalt und Ohnmacht, zum Bild auch der verratenen und verlorenen Idee gelebter Demokratie. Oder der alte Mann, der zufrieden an der Werkbank arbeitet, wird nicht nur in diesem Augenblick konzentrierter Arbeit festgehalten, sondern dokumentiert gleichzeitig die Freude, endlich wieder nützlich zu sein, endlich nicht mehr am Rand der Gesellschaft zu stehen, trotz Alter und trotz langer vorhergehender Arbeitslosigkeit. Letzlich dokumentiert jeder Ausschnitt aus der Realität den Blickwinkel des Photographen und damit den politischen und menschlichen Hintergrund, der ihn bewegt und bestimmt, sowie den Grad von Bewusstheit um die Zusammenhänge, in die die einzelne Erscheinung vernetzt und verknüpft ist.
So sieht Claude Giger seine eigene Arbeit. Photographieren decke sich mit dem, was er auch sonst tue, sagt er. Ob seine Bilder aus der Abstumpfung aufwecken können, ob sie zwingen können, wieder genau zu schauen? Abstumpfung und Gewöhnung, denkt er, seien die grosse Gefahr für uns alle, die wir so uns so bequem im Komfort, in dem wir leben, vom Leid und vom Unrecht, das uns umgibt, distanzieren können. Immer wieder stehe für ihn die Frage im Vordergrund, was zu tun sei, um nicht abzustumpfen. Mit Bewusstheit leben, nicht ab und zu, sondern ständig, sagt er, und auch im Alltag versuchen, gerecht zu sein, im selbstverantworteten Kleinen und Unpathetischen nicht anders, als dies für die grossen Zusammenhänge nötig wäre, damit die Welt ein friedlicher Ort für alle würde, in dem es niemandem verwehrt wäre, mitzuarbeiten, mitzubestimmen und zu einem besseren Leben einen Teil beizutragen.
“Photographieren ist anstrengend”, stellt Claude Giger fest. Setzt man sich seinen Bildern aus, wie er sich selbst der Realität aussetzt, so weiss man, wie wahr dies ist. Für ihn, sagt er, sei ständige Wachheit erfordert und eine Art Vorausahnung, die sich im Zusammenprall mit der Realität wie etwas Unausweichliches bestätige, die sich im Bild fixiere. Für uns nicht anders, denke ich, wenn wir bereit sind, uns ins Schauen einzulassen, wie wir es durch diese Ausstellung lernen können, die eine Art Schule des Schauens ist.
Das Schweizerische Arbeiterhilfswerk, dessen Anliegen und politischen Inhalte sich mit Claude Gigers Arbeit eigentlich zusammenfassend darstellen lassen, dankt für Ihre Bereitschaft, diese Anliegen zuunterstützen und zu deren Realisierung in einzelnen Projekten mitzuhelfen. Markus Bitterli wird am Beispiel von “Carrom”, dessen Projektleiter er ist, Ihnen Näheres darüber sagen.
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