Die Verantwortung der Medien in der Berichterstattung über Krankheiten und Therapien
Die Verantwortung der Medien in der Berichterstattung über Krankheiten und Therapien
publiziert als Buchbeitrag in: “Psychosoziale Krebsnachsorge in Deutschland – Eine Standortbestimmung”
Herausgegeben von Reinhold Schwarz und Stefan Zettl, Verlag für Medizin Dr. Ewald Fischer Heidelberg 1991, ISBN 3-88463-155-1
Jede Berufsethik setzt die Normen professionellen Handelns fest, nach denen die Berufsausübung sich zu richten hat und nach denen sie gemessen wird. Diesen Richtlinien liegen inhaltliche und formale Werte zugrunde. In der medizinischen Praxis zum Beispiel sind dies, im Sinn der Hippokratischen Ethik, die Einzigartigkeit und Schutzwürdigkeit jeden Lebens. Die journalistische Ethik hat mit der besonderen Aufklärungs und Vermittlungsaufgabe zu tun, durch deren Erfüllung Klarheit über Zusammenhänge von öffentlichem oder von allgemeinem Interesse hergestellt wird, gemäß dem Respekt vor der Erkenntnis und Urteilsfähigkeit jedes Menschen und entsprechend der demokratischen Regel, daß die Wahrung politischer Gleichheit und die Verhinderung von Machtmißbrauch durch privilegierte Gruppen oder selbst durch Einzelne nur gewährleistet ist, wenn. das Wissen um die vordergründige und um die hintergründige gesellschaftliche Realität und um deren Zusammenhänge allgemein zugänglich und wahrnehmbar ist, damit es für alle in gleicher Weise urteilsbildend und handlungsanweisend sein kann. ·
Die Erfüllung dieser Aufgabe beginnt mit der einfachen Information. Jede neue Information korrigiert ein bestehendes Realitätsbild und trägt zu dessen kritischen Wahrnehmung oder Analyse bei, ebenso wie zur Neuorientierung des Handelns. Journalistische Arbeit hat zugleich eine aktuelle machtkritische, eine zukunftsweisende und eine gemeinschaftsbildende Funktion.
Auch die formalen Werte sind bei der Erfüllung des journalistischen Auftrags von Bedeutung: Präzision, Unmißverständlichkeit und möglichst große Vollständigkeit, sowohl in der Darstellung wie in der Quellenangabe. Die immer wieder erhobene Forderung dagegen, daß jegliche Subjektivität zu vermeiden sei, halte ich für falsch und unerfüllbar. Mir scheint im Gegenteil, daß die voll erkennbare Subjektivität, daß heißt die erkennbare Persönlichkeit des Journalisten oder der Journalistin hinter jeder Berichterstattung, vor allem hinter jedem Kommentar, zur Transparenz beiträgt, viel eher als die immer wieder beteuerte Objektivität. Die Norm journalistischen Handelns ist nicht Objektivität, sondern Wahrhaftigkeit.
So verhält es sich auch in der Berichterstattung über Krankheiten und Therapien; die Berichterstattung über Krebs und über Krebstherapien ist im Zusammenhang journalistischer Ethik kein Sonderfall. Krebs in allen Erscheinungsformen ist jedoch eine der großen medizinischen und gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit, sowohl wegen der vielfältigen, zum Teil ungeklärten Ursächlichkeiten als auch wegen der häufig unsicheren therapeutischen Chancen. Trotz zunehmender Heilungen in den letzten Jahren behält Krebs in der Öffent lichkeit die Fama einer „Krankheit zum Tode”, mit allen damit verbundenen Ängsten. Auch die sogenannte ,,Apparate-Medizin” ist Gegenstand der Angst und wird von den meisten Krebskranken von vornherein weniger als Hilfe, denn als zusätzliche Bedrohung empfunden. Im Gefühl des doppelten Ausgeliefertseins, einerseits dem nicht verstehbaren und nicht kontrollierbaren körperlichen Zerfall mit dem damit verbundenen Leiden, dem körperlichen und dem seelischen, andererseits den nicht durchschaubaren medizinischen, chirurgischen, physikalischen und chemisch-pharmazeutischen Gegenmaßnahmen, erscheinen die einfacheren und behutsameren alternativen Therapien als weniger bedrohlich.
Nun aber steht in der großen Menge der therapeutischen Angehöre oft nicht von vornherein fest, wie erprobt neue Heilverfahren sind. Allein schon die Hoffnung, eines davon könnte den großen therapeutischen Durchbruch bringen, übt Suggestivkraft aus. Wahrscheinlich ist es der alte Menschheitstraum, den Tod überhaupt zu besiegen, der Unsterblichkeitstraum, der Dichter und Religionsstifter seit Jahrtausenden beflügelt, der auch hinter jeder Hoffnung steht, Krebs und andere „tödliche” Krankheiten zu besiegen. Auch Forscher Molekularbiologen und Ärzte reihen sich manchmal unter die Träumer ein und stoßen so eventuell auf eine Methode „alternativer” Medizin, das heiße auf eine neue medizinische Methode, deren Spur von der Schulmedizin aufgenommen und perfektioniert wird. Von altersher stand zum Beispiel fest, daß das seelische Befinden auf maßgebliche Weise die körperliche Gesundheit beeinflußt, daß insbesondere Krebs auch in Zusammenhang zu bringen ist mit lang anhaltenden Zuständen der Entmutigung, der psychischen Überbelastung und des persönlichen Unwert gefühls.
Nun haben im Herbst 1985 zwei deutsche Forscherinnen vom MaxPlanck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt sich über die Fachpresse an die Öffentlichkeit gewandt; mit einer experimentellen Bestätigung der alltäglichen Beobachtung, daß seelische Überforderung, langanhaltende Bedrücktheit und Stress Krebs mitverursachen, oder umgekehrt, daß seelisches Wohlbefinden zu den besten Krebsprophylaxen gehört: Sie gaben fünfzehn krebskranken Ratten das Antidepressivum Imipramin und stellten nach sechsmonatiger Behandlung fest, daß alle Versuchstiere krebsfrei waren, während bei jenen Tieren, denen kein Imipramin verabreicht worden war, der Tumor sich weiterentwickelt hatte.
In der Folge wurde auch in der Tagespresse über das Experiment berichtet, zum Teil in reißerischer Weise, als wäre Krebs mit dieser “Seelendroge”, wie es hieß, endgültig heilbar. Einmal mehr.
Ich nehme an, daß der Grund der Euphorie tatsächlich in der Hoffnung begründet war, mit einer Formel dem großen Leiden, das Krebs heißt, beigekommen zu sein. Bedeutet das nun aber nicht, daß alternative Therapien oder Zusatztherapien, die vor allem das Wohlbefinden der Patienten bezwecken, tatsächlich die gleiche Beachtung verdienen, auch wenn die Resultate nicht im Max PlanckInstitut mit Tierexperimenten kontrolliert und ausgewertet werden können? Entspannung, Vertrauen, Wohlbefinden anstelle von Niedergeschlagenheit oder sogar von Entmutigung sind zweifelsohne eine Gewähr für jeden therapeutischen Erfolg, und die Vermittlung eines positiven psychischen Umfelds mag tatsächlich günstige Heilprozesse in der alternativen Medizin erklären, etwa auf der Basis eines ganzheitlichen Zugangs zum kranken Menschen, wie ihn zum Beispiel die Anthroposophie anstrebt.
Welches ist nun der Auftrag der Presse in diesem Zusammenhang? Wie soll sie reagieren? Jede Information, haben wir festgestellt, bedeutet schon eine mögliche Veränderung der Realität. Etwa gleichzeitig mit der Berichterstattung über das Imipramin-Experiment wurden Meldungen über therapeutische Erfolge mir Thymus-Hormonen in Umlauf gesetzt. Auch hier ging es um eine schulmedizinische Therapiebeobachtung von großer Bedeutung, und die noch unsichere und ungenügend geklärte Optimierung von Teilextrakten des Hormons zu therapeutischen Zwecken legte große Behutsamkeit in der Berichterstattung nahe. Im Kielwasser dieses wissenschaftlichen Erfolges wurden auch alternativ-medizinische Thymus-Hormontherapien angepriesen, bei denen mit der Abgabe des ganzen Thymusdrüsen-Extrakts scheinbar Wunderheilungen erzielt wurden. Der Mißbrauch des Patientenvertrauens war offenkundig, und eine kritische Berichterstattung über solchen Mißbrauch ist fraglos journalistische Pflicht. Hier gehe es um gefährliche, kontraproduktive Folgen einer fahrlässigen Medikamentierung, die es durch journalistische Aufklärung zu ahnden oder zu verhüten gilt; es handele sich nicht, wie im ersten Beispiel, um die Herstellung seelischen Wohlbefindens, wodurch mögliche Heilprozesse günstig beeinflußt werden kön nen, ob infolge eines alternativmedizinischen oder eines schulmedizinischen Angebots, ohne daß vor trügerischen Absichten und nachträglichen Konsequenzen gewarnt werden müßte.
Auch für die Berichterstattung über alternative Krebstherapien gibt es also nicht ein Rezept, das immer gilt. Journalistinnen und Journalisten, die ihre Verantwortung ernst nehmen, wissen zu unterscheiden. Wissensvermittlung verleihe Macht, vergleichbar der Vermittlung von Gesundheit oder von materiellem Auskommen, eventuell auch derjenigen von Erlösung und ewigem Heil. Proportional zur Macht wächst die Verantwortung. In der Verantwortung der Medienschaffenden liegt die ständige selbstkritische Befragung der eigenen Berufsausübung bezüglich der durchschaubaren und korrigierbaren Handhabung dieser Mache. Das ist anspruchsvoll. Zusätzlich zur Kontrolle der Machtkonzen trationen im Bereich der Politik, der Wirtschaft, der Medizin, der Kirchen und anderer Institutionen hat die Presse kritische Instanz ihrer eigenen Macht zu sein. Dieser Aufgabe kann sie nur gerecht werden, wenn eine große Pluralität und Freiheit der Presse gewährleistet sind, und wenn eine kritische Öffentlichkeit als gesellschaftliche Realität da ist, welche die Medienschaffenden immer wieder an die notwendige Befragung und Kontrolle ihrer Macht erinnert.
Diese kritische Öffentlichkeit, die sich aus einer Vielzahl selbständig denken der und urteilender Individuen zusammensetzt, ist die einzige Macht, mit der sich eine ihrer Berufsethik bewußten Presse verbünden darf. Stelle sie sich in den Dienst einer anderen Machtgruppierung, so hat sie sich auf unmißverständliche Weise als deren einseitige Interessenvertretung zu deklarieren, als erkennbaren PR-Journalismus.
Was dagegen als „anwaltschaftlicher Journalismus” Interessenvertretung der Machtlosen, der sprachlosen Opfer von Machtmißbrauch bedeutet, hat eine klare Berechtigung im demokratischen Konzept, das integriert ist in die journalistische Berufsethik. Zu den „Machtlosen” gehören auch die um Genesung und Leben bangenden Krebskranken, die häufig durch therapeutische Verheißungen oder durch unsorgfältige und ungenügende oder durch fahrlässige Behandlung in ihrer Hoffnung Geprellten. Zur Verminderung ihrer Enttäuschungen kann eine umfassende und präzise Berichterstattung über die Risiken und Chancen von Therapien, schulmedizinischen und alternativen, eindeutig beitragen.