Gibt es mehr als ein “Entweder-Oder” der Geschlechter? – Über die List der Natur, über gesellschaftlichen Zwänge und über das Recht auf Differenz

Magazinbeitrag für: ZeitSchrift für Kultur, Politik, Kirche – Reformatio, Juni 1996, ISSN 1017-7620

 

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Gibt es mehr als ein “Entweder-Oder” der Geschlechter?

 

Über die List der Natur, über gesellschaftlichen Zwänge und über das Recht auf Differenz

 

Erinnerungen:

Im Dorf, in welchem ich bis zu meinem zehnten Altersjahr aufwuchs, lebten in einem weissen Häuschen zwei unverheiratete Geschwister. Die Frau galt als einfältig, sie war mittelgross und sanft und wurde zu Hilfsarbeiten in die Familien geholt, vor allem zum Bügeln. Ihr Bruder war auch zart und sanft, doch womit er sich beschäftigte, wusste ich nicht. Ich sah ihn etwa Wäsche aufhängen, auf einem Bänklein sitzen, manchmal mit einer Einkaufstasche ohne Gewicht den schmalen Fussweg zum Häuschen hochgehen. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, er trage Frauenmonatsbinden. In meinem kindlichen Gefühl für Recht und Unrecht störte es mich, dass man so über ihn sprach. Wer konnte das überhaupt wissen? Warum liess man ihn nicht in Ruhe? Bei den anderen Nachbarn waren die Unterhosen doch auch kein Thema?

Als ich zwöf Jahre alt war, hörte ich, wie eine Bekannte meiner Mutter erzählte, die ehemalige Klavierlehrerin ihrer Tochter habe ihr eine “intime Freundschaft” angetragen, so ein Ansinnen! Empört habe sie es abgeschlgen. Sie sei “zu sehr Frau”, um auf so etwas einzugehen. Zum Glück gehe die Tochter schon seit einiger Zeit zu einem Klavierlehrer in die Stunde, man wisse ja nie.  Ich  hörte zu und konnte mir nicht vorstellen, was der Grund für die Empörung war, noch konnte ich mir erklären, was es hiess, “zu sehr Frau” zu sein.

Die Jahre des Aufruhrs musste ich in Mädchenpensionaten verbringen. Es war selbstverständlich, dass sich Paare bildeten, nicht nur beim Tanzen in der abgedunkelten Halle. Mädchen, die sich jedoch  unter dem Vorwand eines Zahnarztbesuchs aus dem Pensionat stahlen und einen Jungen trafen, und wäre  es der “cousin germain”, wurden gechasst. Selbst auf Korrespondenz mit einem Jungen stand schwere Rüge, im Fall der Fortsetzung ebenfalls Ausschluss. Die Briefe wurden zensuriert, das Spitzelsystem auch ausserhalb des Pensionats funktionierte vortrefflich, die Kontrolle war beinah perfekt. Wer nicht Schaden nehmen wollte, musste sich selbst in der “Subversion des Wissens” ausbilden und zur trickreichen Beobachterin werden, zu einem menschlichen Chamäleon.

Es war auch in der Zeit des Aufruhrs, als auf Kinoplakaten erstmals Marlene Dietrich mit Hosenkostüm, Filzhut und Zigarette zwischen den schön geschminkten Lippen erschien. “Ein Mannsweib”, hiess es, die Verwirrung war enorm, die Männer empörten sich, weil ihnen mit eleganter Parodie ihre Gesten gestohlen wurden, die Frauen in Röcken und Schürzen  empörten sich, weil sie bei der Verführung durch Travestie nicht mithalten konnten, insgeheim aber bewunderten wohl Frauen und Männer den Ausdruck von Freiheit, der sich im Kostümwechsel anzeigte. Vor allem wir jungen Frauen, die den Mief der traditionellen Gesellschaft nicht mehr ertrugen, die wir uns gegen den mit den weiblichen Geschlechtsrollen und -kleidern verbundenen Unterwerfungsdruck aufbäumten ( obwohl wir die Rollen teilweise schon übernommen hatten) und andere Vorbilder suchten (ich vertiefte mich in Vita und Werk der George Sand), waren von der Leichtigkeit der weiblich-männlichen Selbstinszenierung angetan. Hosen zu tragen galt als Zeichen der Emanzipation. Leider wurden wir bald gewahr, dass mit den Hosen für die Frauen noch nichts gewonnen war: Schnell wurden die Hosen zur Mode degradiert. Wir spürten, dass es mehr wie eines Kostümwechsels, dass es eines Bewusstseinswandels bei den Männern (auch bei einem Teil der Frauen) bedurfte und dass es neuer Gesetze bedurfte. Das Bedürfnis, die starren Geschlechterrollen aufzusprengen, eine neue weiblich-männliche Lebensform mit freier Rollenwahl zu finden, war verbunden mit der Forderung nach  Parität in den politischen und sozialen Rechten, bei der Bildung, bei der Arbeit, bei den Löhnen, bei der Betreuung der Kinder: Wir befanden uns nicht nur in den Fussstapfen der George Sand, sondern auch der Mary Wollstonecraft, deren Schrift   “Vindication of the Rights of Women” 1792 in London erschien, als erbitterte Kritik an der systematischen Entwürdigung und organisierten Bevormundung der Frauen. Mary Wollstone’s Augenmerk richtete sich schon damals auf die verhängnisvolle Behauptung, bestimmte Charaktereigenschaften seien Frauen und Männern angeboren. “Der Begriff eines Geschlechtscharakters zerstört die Moral”, schrieb sie.

Es handelte sich um mehr als um meinen individuellen Aufruhr, es war eine Epoche des Aufruhrs. 1968 und in den nachfolgenden Jahren zeigte sich eine kollektive Übereinstimmung unter der Jugend in der Infragestellung aller rechthaberischen Macht- und Unrechtpositionen der Vätergeneration – so beim Algerienkrieg und beim Vietnamkrieg, bei der Rassendiskriminierung in den USA, bei der Antikommunismushysterie und ihrem Meinungsterror, bei der mangelnden Mitsprachemöglichkeit der Studierenden in den Universitäten, der Arbeiter und Arbeiterinnen in den Fabriken, auch bei der Geschlechterhierarchie. Die Bewegung der “Blumenkinder” war nicht zuletzt eine Feminisierungsbewegung der jungen Männer, resp. ein kollektiver Versuch der Geschlechterdiffusion, mit Witz und Poesie, mit Musik, Locken, Kostümvielfalt, Promiskuität  und LSD. Dass der Versuch nach wenigen Jahren in sich zusammenfiel, hatte nicht nur mit den Wasserwerfern der Polizei und dem gesamten übrigen Druck des “Systems” zu tun, sondern auch mit der Tatsache, dass selbst die Hippies, indem sie ein wenig älter wurden, in ihren Kommunen die üblichen Unterwerfungs- und Machtstrukturen reproduzierten, gegen diese eigentlich aufgestanden waren.

1991, beim landesweiten Frauenstreik, gab es Männer (Firmenchefs, Personalchefs, Ehemänner etc.), die “ihren” streikenden Frauen auf widerliche Weise Schwierigkeiten bereiteten, ja sogar kündigten. Aber es gab auch Männer, die mit den Frauen auf die Strasse gingen oder die für die Frauen und Kinder Streikküchen und Eintageskrippen einrichteten. Heute frage ich mich, ob mit der – noch immer ausstehenden – Aufhebung der gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen  tatsächlich eine Veränderung der gesellschaftlich fixierten Geschlechtsbinarität stattfinden könnte. Was ein Fortschritt für die Frauen ist, ist ein Fortschritt für die ganze Gesellschaft, auch für die Männer, selbst für die Kinder. Zum einen ist zwar in den grossen Städten den Phaenomenen der Geschlechtsdiversität gegenüber – etwa der Homosexualität, der Transsexualität oder der Travestie gegenüber – eine grössere Toleranz  festzustellen. (Allerdings heisst Toleranz noch nicht Akzeptanz im Sinn anerkannter Gleichberechtigung. Toleranz ist letztlich nicht viel mehr wie eine kollektive “Laune” des Geltenlassens, die bei veränderten Prämissen schnell wieder ändern kann). Zum anderen aber zeigt sich gerade in jüngster Zeit, wohl nicht zuletzt infolge der wirtschaftlichen Rezession, wieder eine zunehmende Diskriminierung der Frauen, vor allem auf dem Arbeitsmarkt, und, parallel dazu, ein regressiver Trend in der Verstärkung eindeutig definierter, konservativer Geschlechterrollen  (etwa in der auffälligen Zunahme der Hochzeiten in Weiss oder des ausschliesslichen “Zurück an den Herd” bei Frauen).

 

Die List der Natur und die Zwänge der Gesellschaft:

Ob Geschlechtlichkeit sich mehr männlich oder mehr weiblich definiere, entscheidet sich im Verborgenen: über Chromosomen und Keimdrüsen, über zerebrale, hormonale und morphologische Eigenschaften. Die List der Natur besteht darin, dass die Definition nicht ein- für allemal geschieht, sondern dass sie sich in Variationen prozesshaft manifestiert, gerade bezüglich der hormonalen und morphologischen Eigenschaften. Jugend und Alter sind Phasen häufiger Geschlechtsdiffusion, die auch über die sekundären Geschlechtsmerkmale wahrnehmbar ist. Während in anderen – indianischen, ozeanischen – Kulturen Geschlechtsdiffusion als “drittes Geschlecht” eine gesellschaftliche Anerkennung ohne Diskriminierung finden kann, ist unsere Gesellschaft unerbittlich und verlangt eine klare Geschlechtsdeklaration ab Geburt. Im Zweifelsfall werden bei Neugeborenen defiziente primäre Geschlechtsorgane mit chirurgischen Eingriffen korrigiert. In den Personalausweisen  (Pässen, sog. “Identitäts”papieren etc.) gibt es eine Rubrik “Geschlecht: männlich / weiblich” , in der nur das eine oder das andere angekreuzt werden kann, nicht beides. Allerdings waren  auch in unserem Kulturkreis, im Griechenland der vor-christlichen Aera, Hermaphroditentum resp. Androgynität keineswegs verpönt, sondern Ausdruck seltener Vollkommenheit, die in göttlichen Gestalten – etwa in Pallas Athene oder in Aphrodite – Vorbilder hatten. Die enge christliche Sexualmoral hat der Freieheit dem Geschlechtlichen gegenüber ein Regelkorsett übergezogen. Wenn Sexualität allein zum Zweck der Prokreation gestattet ist, ist eine starre duale funktionsaufteilung die Konsequenz. Unklar ist mir allerdings, wie und warum es dazu kam, dass auf dem Boden der gleichen griechisch-jüdischen Kultur, im gleichen mediterranen Kulturraum, das Christentum diese angstbesetzte Sexualmoral entwickeln konnte.

Neulich sagte ich zu meiner jüngsten Tochter, die offiziellen Personalausweise dürften, um menschenrechtskonform zu sein, die Rubrik “Geschlecht” ebensowenig enthalten wie die Rubrik “Religion”, da Geschlecht und Religion die Intimität des einzelnen Menschen betreffen, die unbedingt zu schützen sei. Zudem sei die Deklarationspflicht nicht nur unethisch, sondern auch überflüssig, da nur die Art und Weise des gelebten Lebens – die Beziehungen, die eingegangen und gelebt werden, sowie die Verantwortung und die Pflichten, die daraus folgen – die Richtigkeit oder die Falschheit der Deklaration bestätigen könne. Namen, Geburtsdatum und -ort würden für einen valablen Personenausweis genügen.  Meine Tochter lachte und bemerkte mit der realistischen Einschätzung ihrer Generation, darauf könne ich noch zweihundert Jahre warten, das sei eine pure Utopie, auch wenn ich mit der Forderung und der Begründung recht habe.

Die Antwort meiner Tochter wirft ein Licht auf die Problematik rund um den Identitätsbegriff. Solange “Identität” als Hypostase verstanden wird, als mit lauter Grossbuchstaben geschrebens SELBST, als handle es sich dabei um ein vergegenständlichtes Gut, um einen “Besitz”, den man einmal erwirbt und in der Folge verteidigen muss, solange wird tatsächlich auch in der Geschlechterfrage kein Fortschritt zu erwarten sein. “Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war”, schrieb Aadorno, “und etwas davon wiederholt sich noch in jeder Kindheit”. Leider auch heute noch, trotz der langen Erfahrung des Scheiterns und des Unglücks, trotz des seit Generationen geführten Diskurses über die Geschlchterfrage, über herrschaft und Freiheit. Meine Hoffnung – nicht Utopie – ist, dass die Erkenntnis und Erfahrung der Relationalität jedes menschlichen Lebens, die Erfahrung der gegenseitigen Abhängigkeit des gleichzeitigen In-der-Welt-seins, deutlich werden lässt, dass jeder Mensch zugleich Ich und Du und Er und Sie ist, in der Vielfalt der Differenzen seines eigenen Werdens als Kind, als Heranwachsende und als Heranwachsender, als Erwachsene und Erwachsener, als alter Mensch.

Thesen im Sinn einer Schlussfolgerung:

Geschlechtlichkeit wie Vernunft sind transzendentale Befähigungen zur Freiheit, oder, mit anderen Worten, Bedingungen der Möglichkeit frei gewählter, sinnvoller Menschlichkeit. Sie gestatten,  Beziehungen einzugehen, mit anderen Menschen in der Welt zu leben, schöpferisch zu sein und sich, je nach Lebensphase, mehr oder weniger als Frau oder als Mann zu fühlen sowie soziale Rollen und Aufgaben zu erfüllen, im Eingeständnis der Fülle immanenter Differenzen.

Es gibt kein ontologisch definiertes “Frau-Sein” oder Mann-Sein”, das ontologisch definierte Geschlechtseigenschaften implizieren würde, ebensowenig wie es ein ontologische definiertes “Jude-Sein” (resp. Jüdin-Sein) mit genetisch – quasi ontologisch –  definierten Charaktereigenschaften gäbe. Was im zweiten Fall als rassistisches Konstrukt klar durchschaut werden kann, wird im ersten Fall noch zu wenig als – sexistisches – Konstrukt erkannt. Dass auch die Homosexuellen Opfer der nationalsozialistsch-rassistischen Verfolguns- und Ausmerzungspolitik waren, macht allerdings deutlich, dass “Rasse” und “Geschlecht” auf vergleichbare Weise Instrumente einer gesellschaftlichen Schematisierung zu politischen Zwecken waren (und weiterhin sind).

Die Existenzphilosophie hat die traditionelle Ontologie abgeschafft und an ihre Stelle die Erkenntnis und Anerkennung des Menschseins als existentielle Aufgabe gesetzt, als zeitllich, d.h. durch Gebürtlichkeit und Sterblichkeit bestimmtes Werden und Unterwegssein auf ein Ziel hin, das einerseits durch die individuellen Befähigungen, Bedürfnisse und Wünsche, andererseits durch die allen Menschen gemeinsamen existentiellen Grundbedürfnisse definiert wird und so als erstrebenswert erscheint. Auf der Grundlage der Existenzphilosophie wird die Anerkennung der menschlichen Individualität mit der Fülle der ihr immanenten Differenzen zur politischen Forderung. Diese fand ihre bedeutendste Formulierung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen von 1948, etwa in den ersten Artikeln, in denen festgehalten wird, dass “alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechte geboren sind” (Art. 1) und dass “jeder mensch Anspruch auf die in dieer Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten hat, ohne irgendwelche Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen.”

 

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