Grenzen: Existenzbedingungen in Zeit und Raum – Diesseits und jenseits der Grenzen Identität und Differenz – Sicherheit als Konstrukt und als Grundbedürfnis – Europa

Grenzen: Existenzbedingungen in Zeit und Raum – Diesseits und jenseits der Grenzen Identität und Differenz – Sicherheit als Konstrukt und als Grundbedürfnis – Europa

Begegnung von Le Louverain / Boldern am 27. April 1996

 

(1) Zeitlichkeit und Räumlichkeit definieren, d.h. begrenzen unsere Existenz. “Zeitlichkeit” bedeutet Sterblichkeit (mortalité), aber nicht allein Sterblichkeit, sodern auch Gebürtlichkeit (natalité), d.h., Befähigung zum Anfang, zum Neubeginn, zur Freiheit. “Räumlichkeit” heisst In-der-Welt-sein. Mit den Anfängen der Kulturgeschichte begann das  Eingrenzen und Bewohnbarmachen des – ursprünglich unbegrenzten – Raums, das Markieren von Territorien, das Erstellen von Zäunen, Mauern und Wällen und verband sich mit Eigentumsvorstellungen,  d.h. mit Vorstellungen der Unvereinbarkeit von Dein und Mein, mit Vorstellungen der Privatheit. Zugleich aber – dafür gibt es zahlreiche kulturhistorische Belege – wurden Räume für die allgemeine oder kollektive Nutzung geschaffen und markiert, gemäss einer Protovorstellung von Öffentlichkeit, lange bevor es diesen Begriff gab.

Zeit und Zeitlichkeit wurden erst viel später als die eine gleiche Dimension erkannt, die allen Menschen auf ungleiche Weise zur Verfügung steht, erst viel später wurde begonnen, die Zeit zu befragen, zu erklären und zu definieren, sie einzuteilen nach Mondphasen, sie in Kalenderzeiten zu unterteilen und zu benennen und neu einzuteilen: der Gregorianische Kalender, den wir benutzen, wurde erst vor gut 400 Jahren, im Jahre 1582, nach der Revision des Julianischen Kalenders durch Papst Gregor XIII festgelegt. Die Regulierung der Zeit ist ist nicht etwas Unverrückbares, sondern ist Menschenwerk. Sie ist, nach einem Wort von Norbert Elias, ein “gesellschaftlicher Code”; sie ist mithin nicht nur ein Ordnungs- und Organisationsinstrument, sondern dient auch zur Kontrolle des menschlichen Zusammenlebens. Zu erinnern ist etwa an die Einführung eines neuen Kalenders in der Folge der Französischen Revolution und der “Abschaffung” des Christentums: da wurde das jahr 1792 zum jahr 1 erklärt, und es wurden Monate à drei Wochen und à 10 Tage eingeführt, um den Beginn des neuen Zeitalters unmissverständlich zu markeiren. Noch heute gelten selbst in unserem Kulturkreis mehrere Kalender gleichzeitig. So wird gemäss dem jüdischen Kalender nun das Jahr 5756 gerechnet, und der 27. April entspricht dem 8. Ijar, welcher der achte Monat im jüdischen Jahr ist). Nochmals  viel später als die Kalendereinteilung wurde die Feinmessung der Zeit, d.h. die verbindliche Begrenzung der subjektiven Zeit der Menschen, vorgenommen, mit Hilfe des Sonnenlichts, des rinnenden Sandes, der ineinander greifenden Räder. Erst 1657 wurde die erste Pendeluhr gebaut, 1674 die erste Spiralfederuhr, sodass die Zeitmessung, wie sie für uns anhand von Chronometern geläufig ist, nur auf etwas mehr wie dreihundert Jahre zurückblickt.

Neben diesen gesellschaftlichen Codices oder Regelsystemen, durch welche die Zeit für Abmachungen, Fahrpläne, Arbeitspräsenz, Ausgangssperren und ähnliches abgegrenzt und verfügbar gemacht wird, ist Zeit jedoch vor allem ein Phaenomen der Innerlichkeit, eine subjektive Empfindung, oder, wie Kant sagte, eine Form der inneren Anschauung a priori.  Die Zeit wird als sich verdichtende oder als mangelnde Intensität der Existenz wahrgenommen, als fliegende oder als schleppende Abfolge von Ereignissen, doch haben wir, um diese Intensität auszudrücken, nur Metaphern zur Verfügung. Auch die räumlichen Begriffe, mit denen wir die Zeitempfindungen wiedergeben, sind Metaphern, so wenn wir sagen, die Zeit erscheine uns “kurz” oder “lang”, wenn wir von “Kurzweil” sprechen oder über “Langezeit” klagen.

Diese subjektive Empfindung der Zeit blieb sich seit den Anfängen der Menschheit gleich, unbesehen der Tatsache, dass mit dem Aufkommen der Kapitalbildung auch die Zeit zur Ressource wurde, jedoch zur ungleich wertvollen oder wertlosen Ressource, je nach dem sozialem Rang der Menschen, deren Existenzzeit als Arbeitszeit gewertet wird,  und je nach dem sozialem Prestige der geleisteten Arbeit. Diese ungleiche Wertdefinition der Zeit – Arbeitszeit ist Existenzzeit – bedeutet eine folgenschwere Grenzziehung zwischen den Menschen. Sie impliziert den ungleichen Existenzwert der Menschen und liegt letztlich den sozialen Klassen und der damit verbundenen sozialen Ungerechtigkeit zugrunde.

Beide Existenzbedingungen, Raum und Zeit, sind zugleich individuelle Bedingungen des einzelnen Menschen und Bedingungen aller Menschen. Sie gelten für mich und sie gelten, unabtrennbar voneinander, für die Pluralität der Menschen in der Gleichzeitigkeit ihres In-der-Welt-seins.  Die Tatsache der Gleichzeitigkeit der unzählbar vielen Menschen in der Welt , von denen ein jeder, eine jede einerseits mit der Befähigung zur Freiheit begabt ist, damit zur Sprache und zur Partizipation an der Macht, d.h. nicht nur zum privaten, sondern auch zum politischen Tätigsein, von denen andererseits jeder und jede Grundbedürfnisse haben, deren Stillung die Menschen gegenseitig  voneinander abhängig werden lässt, diese Tatsache der Gleichzeitigkeit schafft die Notwendigkeit von Regeln, von Gesetzen. Gesetze sind Grenzen im sozialen und im politischen Raum. Sie grenzen die Freiheit des einzelnen Menschen zu gunsten der Freiheit jedes anderen Menschen ein und dienen zugleich der geregelten Erfüllung der Grundbedürfnisse aller. Die ursprüngliche Notwendigkeit für die Regelsetzung, resp. für die Verfassung- und Gesetzgebung, ergab sich aus der Erkenntnis, dass die individuellen Existenzbedingungen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit mit den Existenzbedingungen der vielen vereinbar gemacht werden müssen, damit auch das schwächste Individuum innerhalb der vielen nicht zu kurz komme. Sowohl das gesellschaftliche Regelsystem, das wir “Konventionen” nennen, wie das politische, das aus Verfassung und Gesetzen besteht,  bilden jene Grammatik des Zusammenlebens, welche die schwer vereinbaren Voraussetzungen von Zeitlichkeit (resp. Freiheit) und Räumlichkeit (resp. In-der-Welt-sein) in Hinblick auf den möglichst grossen Nutzen (oder den möglichst kleinen Schaden) sowohl für jedes Mitglied der grossen menschlichen Gesellschaft wie für die Allgemeinheit verbinden soll, damit dieser möglichst grosse individuelle Nutzen zugleich dem möglichst grossen allgemeinen Nutzen entspreche.

(2) Worin besteht jedoch dieser Nutzen? Die jahrtausendalte Kultur- und Machtgeschichte, auf die wir heute aus der kommentierenden Position der Post-histoire zurückblicken, war zwar vor allem eine Geschichte der irrigen und trügerischen Nutzendefinitionen bis in die jüngste Zeit, eine Geschichte der Herrschaft weniger über viele, eine Geschichte der Unterdrückung und des Leidens. Im Lauf dieser Geschichte wurden u.a. die nationalen Grenzen festgelegt, welche die Rechte, die Bewegungs- und Tätigkeitsmöglichkeit von vielen auf einschränkende Weise bestimmen und zugleich schützen, indem sie andere davon ausschliessen. Die nationalen Grenzen kamen zumeist als Resultat von Kriegen oder von Verhandlungen zwischen wenigen zustande, welche die Bedürfnisse der vielen kaum berücksichtigen. Diese lange Geschichte war jedoch in der Gleichzeitigkeit der Geschichten auch immer geprägt durch Neubeginn, d.h. durch ein Neubesinnen auf die Chancen der Freiheit für ein besseres Zusammenleben, und damit der Neudefinition von Regeln, welche  eine gerechtere Stillung der massgeblichen geistigen und materiellen Bedürfnisse der Vielen erlauben sollte. Wir stehen heute in Europa einmal mehr in einer spannungsvollen Gleichzeitigkeit der neune Nutzendefinitionen und des Neubeginns,  erneut am Ende eines Krieges.

Als optimale Übereinstimmung von möglichst grossem individuellem Nutzen und möglichst grossem allgemeinem Nutzen erscheint heute ein Wert alle anderen in den Schatten zu stellen: Sicherheit. Sicherheit  lässt sich nur negativ definieren, nur durch Aufzählung der Verunsicherungen, die es auszuschalten gilt: wirtschaftliche, politische, ökologische, letztlich existentielle Verunsicherungen. Was auf existentieller Ebene einerseits durch kommerzielle Angebote von Versicherungen (gegen Einbruch, Diebstahl, Unfall, Todesfall etc.) angeboten wird, andererseits durch solidarische, gesamtgesellschaftliche  Vertragswerke (Alters- und Invalidenversicherung) erkämpft wurde, soll eine Begrenzung der Leidensfolgen der “condition humaine”, d.h. der mit der Zeitlichkeit resp. Sterblichkeit verbundenen Unvorhersehbarkeit bewirken. Auf nationaler Ebene gewährleistet einerseits die Verfassung die Rechtssicerheit der Bürgerinnen und Bürger, andererseits soll gleichzeitig durch institutionelle Massnahmen, etwa durch Polizei, durch Grenzbeamte und durch Armeen, Sicherheit durch Abschreckung oder Ausschaltung irgendwie definierter Feinde garantiert werden. Auch auf transnationaler, etwa auf europäischer Ebene soll Sicherheit ebenfalls durch Abschreckungs-, Eingriffs- und Angriffsmethoden erreicht werden, so durch durch Nato- und Unprofortruppen, zugleich aber durch multinationale Abkommen und Verträge wie diejenigen von Schengen, von Maastricht, von Budapest und neuestens von Turin. Was aussteht, ist eine transnationale Garantie  für die Sicherheit der der personalen und politischen Rechte aller Menschen. Nach wie vor leben Millionen von Kindern, Frauen und Männern allein in Europa – Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten, gesellschaftliche “Marginalisierte”, insbesondere Obdachlose, Langzeitarbeitslose und sog. “drop outs” –  in einer Situation der höchst prekären existentiellen Verunsicherung. Es ist daher unsinnig, die Forderung nach Sicherheit allein als reaktionären Diskurs zu bezeichnen und zu verwerfen. Zwar gehen dabei unbestrittenermassen Begehrlichkeiten der unanfechtbaren Eigentums- und privilegiensicherrung miteinher. Gleichzeitig aber handelt es sich um die Notwendigkeit, existentielle Verunsicherung infolge prekärster Lebensbedingungen zu beheben – mithin um eine Forderung, die mit Gerechtigkeit und Schutz der menschlichen Würde zu tun hat. Das zutiefst Erschreckende ist, dass gerade diese Forderung nach Sicherheit vor sozialer und politischer Ausgrenzung von den meisten europäischen Regierungen als Bedrohung interpretiert und definiert wird. Die bis heute vorliegenden europäischen Vertragswerke, welche die Modalitäten  transnationaler Sicherheit festhalten, richten sich ja nicht mehr gegen fremde Staaten und fremde Armeen, sondern allein noch gegen Menschen, Menschen, die zu “fremden” Menschen, zu Fremden deklariert werden, weil sie die Erfüllung ihrer Rechte und Grundbedürfnisse ausserhalb der Grenzen ihrer Herkunftsländer einfordern, weil ihre Existenz und ihre Arbeitszeit innerhalb ihrer eigenen Gesellschaft nichts gilt, Migrierende, Arbeitssuchende, Arme, Flüchtlinge vor Gewalt, Hunger und Krieg. Diese werden ausgegrenzt, d.h. hinter die Grenzen einer transnationalen Vertragsgemeinschaft gewiesen, die sich gleichsam wiederum als privaten Wohnraum definiert. Auf verhängnisvolle Weise scheint durch die Hintertür von nationalen und multinationalen Vereinbarungen der Klassenkampf von oben neue “faits accomplis” massiver Ungerechtigkeit durch die massive Ausgrenzung von Menschen  zu schaffen: Ausgrenzung innerhalb des sozialen und politischen Raumes mit Hilfe von Gesetzen. Eine europäische Verfassung sollte in erster Linie Sicherheit gegen diese massive Ungleichbehandlung und Ausgrenzung von Menschen garantieren.

Ein zweiter Aspekt von individueller und kollektiver Sicherheit scheint mir grösste Aufmerksamkeit zu verdienen: Dieser betrifft die Sicherheit vor Schadenfolgen aus militärischen, technologischen und ökologischen Risiken. Auch bei dieser Sicherheit geht es um den Respekt vor der Integrität des menschlichen Lebens, der immer und unbedingt gefordert werden muss,  im privaten wie im öffentlichen Bereich. Es geht um Sicherheit vor psychischer und körperlicher Gewalt. Diese Sicherheit entspricht ebenfalls einem Grundbedürfnis. Da, wo sie als kollektives Postulat aller Menschen kollektive Räume und Nutzungen betrifft, ist deren Garantie auch durch politische Instanzen zu leisten. Dies betrifft u.a. Sicherheit am Arbeitsplatz, in Fabriken, auf Baustellen und anderswo, Sicherheit auf der Strasse oder in der Luft, Sicherheit vor krankmachender Nahrung, Sicherheit vor Anwendung von Waffen, Sicherheit vor atomarer Verstrahlung – die Aufzählung könnte weitergehen. Der in den letzten fünf Jahren miterlebte Krieg im ehemaligen Jugoslawien, der russische Angriff auf Tschetschenien, die militärische Bedrohung und Dezimierung der kurdischen Bevölkerung, aber auch der in den letzten Wochen vielen Menschen bewusst gewordene Wahnsinn einer rücksichtslosen, nur gewinnmaximierenden Technologie der Tieraufzucht und Tierverwertung, als handle es sich dabei nicht um Kreaturen mit eigenen Bedürfnissen und Rechten, sondern um blosse Materie, sodann das Gedenken an den Reaktorunfall von Tschernobyl vor zehn Jahren mit seinen unsäglichen Leidensfolgen für Generationen von Menschen mögen die dringende Forderung nach Sicherheit vor militärischen und technologischen Risiken heute in den Vordergrund rücken. Diese darf, wenn die jeweilige Medienaktualität vorüber ist, auf keinen Fall wieder einschlafen oder gar vergessen werden.  Hier müssen Gesetze dem Missbrauch Grenzen setzen, damit alle Menschen im sozialen Raum ohne willkürliche Begrenzung ihrer physischen und psychischen Integrität geschützt seien.

(3) Wir haben eben eine nationale Grenze überschritten. Sie ist – abgesehen von den Kontrollposten an der Strasse – von Auge nicht nicht ersichtlich, und trotzdem ist es eine tatsächliche Grenze zwischen zwei Nationen, zwischen zwei Staaten, eine Grenze, um welche Kriege geführt wurden und welche vor noch nicht langer Zeit, vor nur fünf Jahrzehnten, eine Grenze zwischen Leben und Tod war. Die “passeurs” und “passeuses”, welche es wagten, unter eigener Lebensgefahr gehetzte und gejagte Menschen aus einer Situation der tödlichen Bedrohung über die Grenze zu führen, wussten nur allzu gut, wie real sie war. Sie ist es noch heute, wir bezeugen es, indem wir von zwei Seiten auf sie zukommen, von diesseits und jenseits der Grenze.

Jede Grenze ist gekennzeichnet durch ein Diesseits und ein Jenseits, durch ein Hüben und Drüben, durch ein Drinnen und Draussen. Die nationalen Grenzen machen  deutlich, dass die Menschen das In-der-Welt-sein tatsächlich räumlich verstehen. Dass sie nach wie vor abgegrenzte Räume brauchen, nicht nur private Räume, sondern auch politische, die zu betreten es eines besonderes Rechts oder einer besonderen Genehmigung bedarf, einer besonderen Identität oder besonderer “Identitätspapiere”. Die Abgrenzung – Eingrenzung und Ausgrenzung – sowohl des privaten wie des politischen, des nationalen Raums soll in erster Linie der Sicherheit dienen. Die  “Sicherheit” jedoch, darauf wies ich schon hin, wird ausschliesslich durch Bedrohungsszenarien definiert, die sich aus Differenz und Differenzen konstituieren.

Ich sagte eben, Grenzen hätten immer ein Diesseits und ein Jenseits. Dies unterscheidet sie von Abbruchkanten, auch wenn es sich um innere Grenzen handelt, um Grenzen der Leistungsfähigkeit, um Schmerzgrenzen, um Grenzen des Duldens und Leidens, um Grenzen der Toleranz auch im Politischen, oder um Grenzen des Verstehens, um Grenzen der Sprache. Ludwig Wittgensteins Satz  “Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt”, hat seine Richtigkeit. (Da dies von Marcel Schwander in seinem Referat ausführlich illustriert wurde, gehe ich nicht weiter darauf ein). Es gibt Grenzen, die verschiebbar sind wie der Horizont, die Grenze zwischen Erde und Himmel, oder die diffus sind wie die Grenze zwischen Tag und Nacht, die Dämmerung, die durch den langsamen Prozess des Übergangs von der Dunkelheit in die Helligkeit oder umgekehrt jede Art von Räumlichkeit  auflöst. Die Abfolge der Variationen  von Heller und Dunkler zwischen Tag und Nacht macht deutlich, dass die Fülle von Differenzen es schwierig, wenn nicht gar unmöglich macht, von einer Grenze zwischen dem einen und dem anderen zu sprechen, macht auch deutlich, wie falsch die Redeweise ist, zwei Menschen oder zwei Völker oder zwei Nationen oder Kulturen seien “so verschieden wie Tag und Nacht”.

Damit komme ich wieder zur Identität. Unter “Identität” wird ja so etwas wie eine hypostasierte Gleichheit mit sich selbst verstanden, welche sich durch klare Ungleichheit, durch klare Differenz von einer anderen Identität abgrenze. Wenn von “Identitätspapieren” die Rede ist, welche berechtigen oder ev. nicht berechtigen, eine Grenze zu überschreiten, so müssen wir zu Recht fragen, um welche “Identität”, resp. um welche “Gleichheit” es sich dabei handle.  Gleichheit zwischen wem und wem, oder zwischen wem und was. Bei der gleichen Staatsbürgerschaft etwa geht es um ein erwerbbares, ja häufig sogar käufliches Recht, das allein während einer Lebenszeit mehrmals gewechselt werden kann. Es handelt sich somit um eine Variable von ausschliesslich funktionalem Wert. Dasselbe kann von der Religion gesagt werden oder von der so verhängnisvollen und fragürdigen Begriffskonstruktion “Rasse”, ja selbst vom Geschlecht. Jede dieser “Identitätskategorien” weist für jedes einzelne Individuum, das eine oder mehrere davon für sich beansprucht oder das durch eine oder mehrer determiniert wird, eine Fülle von Differenzen auf, nicht nur wenn das ganze Leben von der Geburt bis zum Tod betrachtet wird, sondern selbst wenn nur ein einzelner bestimmter Tag oder ein einzelner bestimmter Moment  in den Blick fällt. Immer ist das, was als Identität erscheint, ein Zugleich vielfältigster, ja sogar widersprüchlichster Differenzen im einen und gleichen Individuum. So kann “Identität” eigentlich nur als ständig sich verändernde Summe der Differenzen oder als Prozess verstanden werden. Was allerdings “identisch” ist bei allen Menschen, unabhängig von ihren unterschiedlichen “Identitätspapieren”, ist die existentielle Bedingtheit in Zeit und Raum sowie die gegenseitige Abhängigkeit voneinander in der Stillung der Grundbedürfnisse, wozu nicht zuletzt der Respekt vor der Freiheit gehört.

(4) Ich komme zum Schluss: Die existenzphilosophische Reflexion über die immanenten Grenzen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit einerseits, über die unterschiedliche Deutungsmöglichkeit von Grenzen andererseits (sowohl im Zusammenhang mit Identität und Differenz wie mit der Tatsache der gleichen Grundbedürfnisse aller Menschen), sollte als Grundlage einer politischen Theorie  der Demokratie bei der Ausformulierung einer europäischen Verfassunggebung mitberücksichtigt werden. Ich wäre glücklich, sie könnte eine weiterführende Reflexion bewirken, nicht nur hier in unserem Kreis, sondern darüber hinaus dank der Reflexionen und der politischen Arbeit, die Sie in Ihre politische und gesellschaftliche Kreise hinein weitertragen.

Ich danke Ihnen

 

 

Write a Reply or Comment