Was bedeuten Jean Steins Skulpturen? – Überlegungen zur Eröffnung einer Ausstellung

Was bedeuten Jean Steins Skulpturen? – Überlegungen zur Eröffnung einer Ausstellung

 

 

Verehrte, liebe Jean

Liebe Maja Stein und lieber Robi Stein

Sehr geehrte Damen und Herren

 

Eine Ausstellung zu eröffnen, ist eine Art Ritual. Das künstlerische Werk eines Menschen, das im geschlossenen Raum – im Atelier, in der “Werkstatt” – geschaffen wurde, erhält damit einen Platz in der Öffentlichkeit. Mit der “Eröffnung” soll die Bedeutung des Werks, das eigentlich für sich selber spricht, eine Art “offizieller”, feierlicher Erläuterung resp. Übersetzung finden. Dabei geht es um die Übersetzung dessen, was den inneren Dialog der Künstlerin mit der Materie beinhaltet. Das Werk ist Ausdruck dieses Dialogs. Mit anderen Worten: die Intention der Künstlerin, ihr Bestreben, einen richtigen Ausdruck zu finden für ein inneres Bild oder eine wichtige Erkenntnis konnte durch ihre Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten der Materie und durch ihr Umgehen mit der Materie realisiert werden. Letztlich trifft zu, was sich in einer der Aufzeichnungen von Albert Camus findet, dass “die Kunst ein in Form gebrachtes Verlangen nach dem Unmöglichen ist”.

Es ist mehr als dreissig Jahre her, dass ich Jean Stein und ihre künstlerische Arbeit kennen lernte. Wir waren Nachbarinnen, im besten Sinn des Wortes – in verlässlicher Freundschaft, mit offener Tür. Unsere Söhne und Töchter waren damals Kinder, einander nah vertraut. Die Künstlerin hatte schon in jener Zeit eine grosse Geschichte – in England geboren und während der Kriegszeit aufgewachsen, nach dem Abschluss der Kunstakademie und einigen Semestern Architektur in London nach Rhodesien gezogen, dort über gemeinsame Arbeit Begegnung und Bekanntschaft mit dem Architekten André Stein, Liebe und Heirat, dann das Leben hier in der Schweiz, in Ennetbaden, dann in Zürich, gleichzeitig Ort der Emigration und neue Heimat, geprägt durch eine Fülle von Aufgaben im Verstehen und Vermitteln von häufig Unaussprechbarem. Immer waren die Gestalten, die Jean Stein durch ihr künstlerisches Werk schuf, für sie präsente und zugleich stille Partner/Partnerinnen des inneren Gesprächs, durch welches sie die hellen und die dunkeln Geschehnisse des Lebens durcharbeiten und platzieren konnte. Eine wichtige und vielseitige, zeitlich grossherzige Unterstützung – vor allem in den letzten Jahren –  fand sie dabei in Maja, ihrer Tochter.

Ein grosser Dank geht an Dich, liebe Maja.

Als ich Jean Steins Werk, das in den letzten zwei Jahren entstand, vor mir sah, nahm ich mit Staunen die Intensität und Beharrlichkeit der wachsenden Entwicklung und Verfeinerung wahr.

Wie ist das zu erklären?

Die Materie, mit welcher Jean Stein künstlerisch arbeitet, ist Gips – ein Mineral aus schwefelsaurem Kalk, einem Bestandteil der Erdkruste. Nur selten wünscht sie die hellen Figuren in bronzene dunkle aus Kupfer-Zinn-Legierung umgestalten lassen. Gips –”plaster” in der englischen Muttersprache von Jean Stein -, ist die Materie, die für sie mit der “plastischen” Arbeit übereinstimmt, resp. die mit jeder einzelnen “Plastik” in engste Verwandtschaft steht. Ist es nicht erstaunlich, wie aus der Verfeinerung von Kalkschichten unserer jahrmillionenalten Erdkruste etwas Neues geschaffen werden kann? Im 18. und 19.Jahrhundert waren es die ungezählten festlich oder spielerisch wirkenden Stuckaturen;  in unserer Zeit – in der jüngst vergangenen – diente Gips der Kunst der Chirurgen, gebrochenen Knochen beim Zusammenwachsen einen festen Halt zu bieten. Heute sind es Jean Steins Skulpturen.

Häufig vergessen wir, dass dem Wort “Materie” das lateinische Wort “mater” zugrunde liegt, das “Mutter” bedeutet. Das materiell Wahrnehmbare des Kunstwerks, das verfestigte Erdhafte seiner Substanz, aus welcher das sehbare und berührbare Sinnliche besteht, lässt sich als seine mütterliche Herkunft verstehen. Doch das Kunstwerk besteht nicht aus der Materie allein. Die Form, durch welche die Materie zum Kunstwerk wird, bedarf des Intellekts und des Werkzeugs. Die Form entsteht durch Geist und Hände der Künstlerin: bei Jean Stein zuerst durch die Arbeit am verborgenen inneren Teil des Werks, der aus feinem Metalldraht ist, womit das Bild, das die Künstlerin in ihren Gedanken beschäftigt, resp. ihre Idee oder ihr Konzept, in den skelettartigen Entwurf der menschlichen Gestalt umgesetzt wird. Erst wenn dieser Entwurf Jean Stein genügt, entsteht durch die körperhafte Weitergestaltung mit Gips die menschliche Figur.

Es ist die plastische Übersetzung verinnerlichter Bilder in menschliche Gestalten, die Jean Steins Werk prägt, männliche oder weibliche Gestalten, je nachdem, mit welchen wir sie in Verbindung bringen und wie wir sie sehen, Gestalten in Bewegung oder in einer Haltung des Nachdenkens oder der Ruhe, manchmal allein und manchmal nicht allein. So ist das Leben. Sind die Gestalten Fremde oder Vertraute? Mir scheint, sie entsprechen Begegnungen – vielleicht flüchtigen, vielleicht wiederholten – oder Erfahrungen, die als Bild in uns bleiben. Es kann sein, dass wir solche Bilder schildern, etwa “ich habe jemanden hüpfen sehen”, oder “jemand stand nachdenklich da”, oder “ich ging an einer Bank vorbei, auf welcher drei stille Menschen sassen” oder “eben ging jemand mit grossem Schritt die Treppe hinunter, als gäbe es einen Halt in der Luft”. Können die “Jemande” wir selber sein?  – in Momenten der Beschwingtheit und Leichtigkeit, der Nachdenklichkeit oder der erstarrenden Traurigkeit? – in Erfahrungen des Alleinseins oder des Nichtalleinseins, deren Flüchtigkeit durch die Skulptur gestoppt wird?

Jede Art von Kunst, nehme ich an, strebt nach einer Korrektur der Flüchtigkeit der Zeit, jede ist Ausdruck der Sehnsucht nach Dauer. Die Plastiken von Jean Stein halten die flüchtige Zeit – Bewegung und Erfahrung – körperlich an, durch einen Platz im Raum. Das Flüchtige im menschlichen Leben, das zutiefst mit der zeitlichen Begrenztheit des Körperlichen einhergeht, hat mit den Skulpturen eine Bedeutung von Zeitlosigkeit.

Hierin erkenne ich ihren grossen Wert, den ich zu übersetzen versuchte.

Damit schliesse ich ab und danke für Ihre Aufmerksamkeit. Die Ausstellung ist eröffnet!

 

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