“Einsamkeit – lautlos samtener Acker” Mitgliederversammlung “Die dargebotene Hand” 19. Mai 2003
“Einsamkeit – lautlos samtener Acker”
Mitgliederversammlung “Die dargebotene Hand”
Zürich, 19. Mai 2003
Verehrte Anwesende
Ich danke für die Einladung, Ihre Mitgliederversammlung mit einem Referat zu ergänzen, eine Einladung, die mich freut und ehrt, die mich aber auf merkwürdige Weise bei der Vorbereitung belastet hat. Warum diese Belastung? fragte ich mich. Auf Erfahrungen einzugehen, unter deren Last Menschen an mich gelangen, ist häufig gefordert, wenn es z.B. um Gutachten geht, die eine Verbesserung der Existenzbedingungen ermöglichen können. Oder wenn die Sorgfalt der Erläuterung von Ursachen und Heilungsmöglichkeiten lähmender Depressivität oder anderer psychischer Leiden im wissenschaftlichen oder politisch-rechtlichen Diskurs zu Gunsten von Patientinenn und Patienten erfordert ist. Dazu kommt, dass viele Erfahrungen, unter deren Folgen sich schwere psychische Belastungen ergeben, mir nicht nur im wissenschaftlichen und trauma-therapeutischen Bereich bekannt sind, sondern auch im persönlichen Zusammenhang. Auch ich wurde – wie alle Menschen – in eine Geschichte und in eine Zeit hineingeboren, die nicht gewählt werden konnte. Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind Lebensbedingungen ausgesetzt, die es ihnen auferlegen, sich selber kennen zu lernen und sich besser zu verstehen, um eigene stärkende und heilende Kräfte zu aktivieren.
Warum nur hat es mich belastet, meine Gedanken über Einsamkeit zusammenzufassen? Lag es daran, dass Einsamkeit zumeist mit Schweigen einhergeht? – oder hatte ich mich genug oder gar zuviel damit befasst, mit der Einsamkeit, welche die Menschen in ihrer Individualität besetzt hält und welche zugleich, wenn es um Tausende, ja um Millionen von Menschen geht, zu einem kollektiven Verstummen führen kann? Oder war der Grund, dass ich mir vorstellte, dass auch Sie, die heute Abend vor mir sind, darüber schon genug – oder übergenug – wissen? Denn Sie repräsentieren für Menschen, die sich in nicht mehr tragbarer Verlassenheit fühlen, allein durch die Telephonnummer, unter welcher Sie erreicht werden können, die Gegenwart eines anderen Menschen, an dessen Stelle Sie bereit sind, in ein Gespräch zu treten, um Abwesenheit und Fehlen, Verlust oder Mangel zu korrigieren. Die Telephonnummer der “Dargebotenen Hand” bedeutet Ihre Hand, Ihr Ohr und Ihre Stimme, bedeutet Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Gegenwart in Augenblicken, in welchen für diejenigen, die Ihrer bedürfen, die erlebte Zeit und die bevorstehende Zeit zum “lautlos samtenen Acker” wird, der tonlos und farblos ins Unendliche anwächst – ins graue, dunkle Nichts. So habe ich für Einsamkeit ein Bild gewählt.
Was bewegt Sie dabei? Was weckt es in Ihnen? Kann es dem, was “Einsamkeit” für Sie bedeutet, entsprechen? Wie gehen wir damit um? Kann damit verständlich gemacht werden, was als Struktur meines Referates mir immer klarer wurde: dass Einsamkeit und Alleinsein nicht dasselbe bedeuten, ganz und gar nicht, und dass diese Differenz geklärt werden muss? Wie kann das Alleinsein gut ertragbar werden, ohne sich in Einsamkeit aufzulösen oder in deren Schwere wegzusinken?
Das Bild vom “lautlos samtenen Acker” verweist auf die mit vorgepflügten Reihen bearbeitete Erde, auf die Erde voller Geschichte, auf welcher in eng verflochtener Dichte das, was wächst, vermischt wird in der Farbe, erstickt wird – lautlos. Es ist eine Verszeile aus einem der späten Gedichte von Nelly Sachs[1]. Am 10. Dezember 1891 war sie in Berlin zur Welt gekommen, Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie, die den Vater – William Sachs – früh verlor, die auch schon früh in Gedichten und Dramen festhielt, was sie bewegte, wovon jedoch beinah nichts erhalten blieb, da ihre Bücher – wie viele Bücher und Bilder – in der nationalsozialistischen Diktatur ausgelöscht wurden. Im Spätsommer 1939, kurz vor Ausbruch des Kriegs – sie war damals knapp 48 Jahre alt und in grosser Gefahr des qualvollen Abtransports ins Unbekannte, in den Tod, was mit vielen der ihr nahestehenden Kinder, Frauen und Männer geschehen war -, da konnte sie dank der Hilfe der Dichterin Selma Lagerlöf mit ihrer Mutter nach Schweden fliehen, wo ihnen beiden Asyl zugesprochen wurde. Am 12. Mai 1970 starb Nelly Sachs in Stockholm, nach langen Jahren der Einsamkeit und der Trauer, die nach dem Tod der Mutter noch schwerer lasteten, in welchen ihr der Rückzug in die Verdichtung der Sprache – ihre dichterische Sprache – zum Halt wurde, letztlich zur Heimat. Sprache zu finden für die Trauer, für das Zurückbleibenmüssen in einer gepeinigten Welt, wurde für sie zur Aufgabe; nie war es Hass, nie Androhung von Rache. Sie spürte, dass nicht die Wiederholung des nicht Tragbaren die Gegenwart tragbar machen konnte und ebenso wenig die Zukunft, zugleich aber, dass sie – und viele, die verstummt waren oder überhaupt nicht über die Sprache verfügten – der Klage bedurften. Denn sie wusste zutiefst, was Einsamkeit bedeutet: dass das Leben – das Erdenleben – zum “lautlos samtenen Acker” wird, auf welchem das Leiden ohne Ton und ohne Spuren wie in sich selbst verstummt, erstarrt, im leeren, grauen Geflecht versinkend verdurstet. Dass der Mensch, darin wie ins zeitlos Endlose weggeschwemmt, weder Halt spürt noch festes Ufer sieht. So hält sie in einem anderen Gedicht fest:
“Immer ist die leere Zeit
hungrig
auf die Inschrift der Vergänglichkeit –
In der Fahne der Nacht
mit allen Wundern eingerollt
wissen wir nichts
als dass deine Einsamkeit
nicht die meine ist –”[2] …
Was Nelly Sachs zum Ausdruck bringt, ist Sprache für viele, obwohl, wie sie festhält, jede Einsamkeit immer die je eigene eines Menschen – jedes Menschen – ist, in seiner/ihrer Besonderheit, in seiner/ihrer Ausgesetztheit in die spürbare Nähe des verstummenden Weggleitens. Welches Weggleitens? –in die “Vergänglichkeit”, die der “Inschrift hungrig ist”: in das “Eingerolltwerden” in die Verzweiflung, ins Nicht-mehr-Leben, ins Sterben, das letztlich nur der Bestätigung bedarf? – und obwohl das, was die “leere Zeit” bedeutet, vielen Menschen irgend wann nahe kam, ist sie die je eigene, besondere jedes Menschen, die innere Zeit, die mit der geregelten äusseren Zeit – der Stunden – und Minutenzeit, der Zeit der gezählten Jahre, die für alle gilt – nicht übereinstimmt.
In einer solchen Ausgesetztheit den verfänglichen Kräften der Einsamkeit muss Nelly Sachs gewesen sein, als sie die Zeilen schrieb. Wichtig ist zu wissen, dass sie darin ausharren konnte und immer wieder über die Sprache einen Ausdruck fand, der für sie selber zum Gespräch wurde und sie verpflichtet hielt. Trauer und Verlassenheit waren für sie verbunden mit dem Verlust von Menschen durch den Tod, letztlich durch das spurenlose Geflecht der Ohnmacht und Unkenntnis der Leidenden. Zurückzubleiben war für sie eine Aufgabe, die jede andere überstieg. Hätte sie nicht als innere Begleitkraft ihrer selbst die Sprache gehabt, sie hätte kaum diese Aufgabe tragen können, wie sie immer wieder in ihren Gedichten ^vermittelt:
“Immer ist die leere Zeit
hungrig
(…)
Vielleicht dass ein Traum – verwirklichtes Grün
Oder ein Sang
Aus der Vorgeburt schimmern kann
Und von den Seufzerbrücken unserer Sprache
Hören wir das heimliche Rauschen der Tiefe”…
Nelly Sachs’ Werk wurde noch zu ihrer Lebenszeit mit zahlreichen Preisen geehrt, 1966 mit dem Nobelpreis, vorher in Deutschland mit Literaturpreisen und mit dem Friedenspreis – Anerkennungen, die sie nicht abwehrte, sie, die zutiefst eine Vermittlerin der Sprachlosen war und sich selber so empfand.
Es gibt kaum Menschen, deren Beziehung zum eigenen Ich – die Selbstbeziehung – in allen Lebenszusammenhängen so sicher, so liebevoll und zugleich so offen ist, wie die Beziehung zu einem Du ersehnt wird. Was als persönlicher Wert und als Beziehungswert in der frühen Kindheit durch Mutter, Vater, Geschwister etc. vermittelt und erlebt wurde, bleibt häufig als Mangelerfahrung im Menschen haften: als Mangel an Wärme, an Verlässlichkeit, oder an Aufmerksamkeit und Mass, letztlich als Mangel an Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens. Erfahrungen von Enttäuschungen und Verlusten, von Missbrauch, Gewalt und Unterwerfung kommen häufig dazu und schaffen Zweifel und Misstrauen, Ängste und Rückzug in die vier Wände des eigenen Ghettos, manchmal eine kaum verständliche Enge der Abhängigkeiten und der Verlorenheit bis zur Verzweiflung.
Es ist möglich, grosses Leiden zu heilen, wenn die Ursachen des Leidens erkannt werden können und wenn die Beziehung zum eigenen Ich die Bedeutung der guten Beziehung zu einem Du – jene der Fürsorge, der Sorgfalt und der stärkenden Zustimmung – lernen kann resp. umsetzen lernt: in Gefühle der Zustimmung zum besonderen Menschen, der das eigene Ich bedeutet, in eine Sprache, durch welche die verborgenen Teile des Ich sich Ausdruck geben können – sei es die Sprache des eigenen Schreibens, des Austauschs, der Musik, oder die Sprache der Bilder, eventuell einer Tätigkeit, die der Arbeit gleichkommt und so oder so die Kraft des pulsierenden Lebens, die Sinnhaftigkeit und Freude zu leben wieder weckt und spürbar werden lässt.
Vorausgreifend halte ich fest: Alleinsein in der Dichte des menschlichen Zusammenlebens wird nicht zur Einsamkeit, wenn die Selbstbeziehung zum stärkenden Ich und Du werden kann. Wenn selbst das Schweigen ertragen werden kann oder eine Antwort findet. Ist dies überhaupt möglich? –und wenn ja, wie?
Nochmals will ich auf die Literatur eingehen, um eine Antwort zu übermitteln. Vor einigen Jahren erschien erstmals in deutscher Sprache ein Band mit Erzählungen des chinesischen Autors Lu Xun[3]. Die chinesische Originalausgabe war 1923 in Peking erschienen. Im Vorwort hält der Autor fest: “Auch ich hatte in meiner Jugend viele Träume, aber später habe ich die meisten davon wieder vergessen, worüber ich nicht einmal betrübt bin. Was landläufig als Erinnerung gilt, mag zwar durchaus Vergnügen bereiten, macht aber manchmal unweigerlich einsam und beschwört zudem die Einsamkeit vergangener Zeiten herauf.”
Als Sohn einer angesehenen Familie – deren Name Zhou lautete – wurde er 1881 geboren. Der Vater sei Literat gewesen, die Mutter Bäuerin, die sich selber das Lesen beigebracht habe und die irgendwann den Mut fand, sich die Füsse aufzubinden – was in der ganzen Sippe Auflehnung bewirkt habe. Irgendwie war diese Frau von besonderer Stärke, obwohl ihr Leben schwer war; man weiss, dass sie ihren Sohn um sieben Jahre überlebte. In einer kurzen Autobiographie hält er fest, dass nach dem Tod des Vaters, als er 13 Jahre zählte, der grosse Landbesitz habe verkauft werden müssen. Zwar habe er noch vier Jahre studieren dürfen, doch sei die Familie der völligen Mittellosigkeit ausgesetzt gewesen. Die Geschichte Chinas war in jener Zeit geprägt von Aufständen, Intrigen und immer wieder von Gemetzel zwischen Volksgruppen wegen Fanatismus und Feinderklärungen. Er hatte die Aufgabe, für die Mutter zu sorgen. Er begann zu schreiben und unter dem Namen Lu Xun zu publizieren. Während einigen Jahren war er Lehrer, dann Dozent und Professor an Universitäten, doch infolge von Säuberungsaktionen wurde er verfolgt, zumal er der Liga für Menschenrechte und der Liga linker Schriftsteller beigetreten war. Er musste fliehen, in anderen Städten zu leben versuchen. Was er seit 1926 veröffentlicht hatte, wurde verboten. Er musste untertauchen, die Angst begann ihn zu besetzen. Immer schwerer wurde es für ihn, seine Herkunft und sich selbst zu akzeptieren, immer schwerer lasteten Geschichte und Zukunftslosigkeit auf ihm. Das Projekt einer Zeitschrift unter dem Namen “Neuleben”, für deren Herausgabe er sich während Jahren eingesetzt hatte, versandete im Nichts.
Am 3. Dezember 1922 hielt Lu Xun in einer Aufzeichnung fest: “Eine nie gekannte innere Leere stellte sich ein. Zunächst wusste ich dafür keine Erklärung, später dachte ich, wenn jemand für seine Meinung Zustimmung erntet, bringt es ihn voran, stösst er jedoch auf Widerspruch, macht es ihn kämpferisch. Aber wirklich tragisch ist, wenn einer unter seinen Mitmenschen laut die Stimme erhebt, aber keinen Widerhall findet, weder Beifall noch Ablehnung, wie in einer grenzenlosen Ödnis und ohne die Möglichkeit, irgendwie einzugreifen. Daher begann ich, mich einsam zu fühlen. Diese Einsamkeit wuchs von Tag zu Tag und begann, sich wie eine riesige Giftschlange um meine Seele zu winden.”[4]
Wie kam Lu Xun dazu, die Einsamkeit, die er auch mit einer “eisernen Kammer” vergleicht, aufzubrechen? Er schildert, wie er jahrelang in einem versteckten Raum an einem Tisch sass und täglich nichts anderes tat, als alte Gedenktafeln zu kopieren, wie diese Kopien sich anhäuften. Da sei eines Tages ein Freund zu ihm gekommen.
“Wozu soll diese Kopiererei nützlich sein?” habe er mit allem Nachdruck gefragt, ja, er habe von ihm Rechenschaft verlangt.
“Zu rein gar nichts.”
“Wozu kopierst du also die Sachen?.
“Einfach so.”
Darauf habe er ihn angeschaut und ihm gesagt:
“Ich finde, du solltest schreiben…”[5]
Lu Xun begann zu schreiben. Die erste Erzählung, die er schrieb – “Das Tagebuch eines Verrückten” -, ist der Bericht eines von der Wahnvorstellung verfolgten Menschen, er sei von Menschenfressen zum gesuchten Objekt gemacht worden. Von Erzählung zu Erzählung finden sich in anderen Gestalten seine eigene Geschichte – so auch das Verhältnis zur Mutter, die Tragödie einer Liebe, die Probleme des Lebensunterhalts, die Tatsache, Opfer zu sein, die Suche nach Heimat –, bis er mit sich selber wieder wie gesättigt ist, so dass er als Titel “Applaus” wählte – “Applaus”, den er sich selber gab, im Erkennen der geheimen Kraft seiner lebensrettenden Sprache, die unter dem Blick des Freundes erwachte und die ihm die Entschlüsselung der “eisernen Kammer” der Einsamkeit ermöglichte.
Die beiden Geschichten – eine weibliche und eine männliche, zeitlich nicht weit, jedoch kulturell weit auseinander -, mögen deutlich machen, dass das schwere Ausmass an Traurigkeit, das auf Menschen lastet und das den Namen “Einsamkeit” hat, auf je persönlichen Ursachen beruht. So ist es auch heute. Düstere, trostlose, lähmende Leere beherrscht unzählbar viele Menschen auch heute, Erwachsene bis ins hohe Alter, auch Jugendliche, selbst Kinder. Mit Erschütterung stelle ich dies immer wieder fest. Was in der medizinischen Diagnostik als Depressivität bezeichnet wird, was seit der Antike unter Melancholie verstanden wurde und was im Volksmund “Schwermut” heisst, geht immer mit Einsamkeit einher. Lebenserfahrungen fügen sich aneinander, die so schwer lasten, dass sie beherrschend werden. Sie lassen keinen Platz mehr für die Erinnerung an lebensstärkende Kräfte, die immer wieder eine Verarbeitung zuliessen oder die geweckt werden konnten, um Kontakte und Beziehungen, die wichtig waren, zu aktivieren und um den eigenen Wert zu leben wieder zu spüren. Die Einsamkeit lässt jeden Klang zum schrillen oder leisen, ständig sirrenden Gleichklang werden – zum lähmenden Ton, der wie zu erstarren scheint, so dass auch Gespräche wie sinnlos erscheinen. Wie wird es umsetzbar, dass der Mensch auf den Ton einer Stimme oder auf den Blick eines Freundes /einer Freundin, der/die ihn aufsucht, achtet und hört, wie Lu Xun es tat? – dass er/sie “frierend vom Ausgang die Augen aufschlägt”, wie Nelly Sachs in einem anderen Gedicht schreibt?
“Wenn der Tag leer wird
in der Dämmerung
….
wenn alles namenlos wird wie am Anfang –
gehst du unter die Katakomben der Zeit,
die sich auftun denen, die nahe am Ende sind –
dort wo die Herzkeime wachsen –
in die dunkle Innerlichkeit hinab
sinkst du –
schon am Tod vorbei,
der nur ein windiger Durchgang ist –
und schlägst frierend vom Ausgang
deine Augen auf
in denen schon ein neuer Stern
seinen Abglanz gelassen hat -“[6]
Es ist tatsächlich so, dass die Einsamkeit einem Abgrund gleichkommt, aus welchem ein Aufstieg und Ausstieg möglich ist, wenn der Mensch sich selber darin erkennen kann: wenn er/sie den inneren Blick so auf sich werfen kann, dass er/sie versteht, was es heisst, sich selber im Stich zu lassen und sich selber preiszugeben. Dieses Verstehen mag ein Schock sein, wie das Erwachen aus einem schweren Traum. Plötzlich wird klar, dass Ereignisse, die von Aussen an einen Menschen herankamen, ein Gewicht annahmen, durch welches die Verteidigung des eigenen Lebenswertes keine Beachtung mehr fand, als ob ein inneres Übergewicht die Atem- und Erholungsmöglichkeit der Seele erstickte. Dies mögen fortgesetzte Herabsetzungen im Beruf gewesen sein, bis zur Entlassung, ständige Schikanen im Freundes- oder Familienkreis, Erfahrung von Betrug und Entwertung im Beziehungszusammenhang, Verlust durch Tod – Tod in irgend einer Form – von Menschen, deren Besonderheit im Beziehungsgflecht nicht ersetzbar ist. Oft ist es eine nicht mehr rekonstruierbare Anhäufung von Unterwerfung unter Pflichtforderungen, oder eine ständige Ausnützung der Arbeitskräfte ohne Anerkennung, oder ein Gebot des ständigen Schweigenmüssens, eventuell verbunden mit einem Tabu, das ein Mensch nicht zu lösen resp. zu öffnen vermag. In der eigenen psychischen Struktur Teile des Widerstands gegen diese innere Gewalt wecken zu können, um nicht zu erfrieren, um aus der “dunkeln Innerlichkeit” herauszufinden ist möglich. Dies ist eine Erfahrung der Genesung, die zu den erstaunlichsten gehört: aus der Nähe zum totalen Schweigen, aus der Todesnähe zu erwachen.
Das erstaunliche dabei ist, dass durch diese Genesung selbst das Alleinsein, das nach dem vergeblichen Suchen oder nach dem Verlust von Menschen, die einem teuer sind, heute mehr und mehr zum Alltag gehört, sich nicht mehr in Einsamkeit vermauert, wenn durch dieses Erwachen die Beziehung zum eigenen Ich zur liebevollen Sorgfalt und zum Interesse am Wohlbefinden wird, vergleichbar der Sorgfalt anderen Menschen gegenüber, die grossen Wert bedeuten und einem lieb sind. Es geht um jene Aufmerksamkeit, die dem Verstehenkönnen der Ursachen von Traurigkeit vorangeht, so dass sich Traurigkeit und Erschöpfung nicht mehr in Einsamkeit verdichten können. Wenn die tatsächlichen Ursachen erkannt werden, darf auch Traurigkeit einen Platz haben, ohne jenen Platz zu ersticken, der Freude, ja Glück zu leben ermöglicht. Es bedarf des ständigen aufmerksamen inneren Dialogs des Menschen mit sich selber, damit jede Erfahrung einen Platz finden kann in der grossen Bibliothek der Lebensgeschichte – ob diese vier Jahre zähle oder vierzig oder achtzig. Immer sind im verborgenen Teil der inneren Zeit Hunderte von Jahren und Hunderte von Lebensgeschichten von Vorfahren, welche den Erfahrungen der gegenwärtigen Zeit einen Begleitton verursachen.
So ist und besteht immer die Tatsache des Todes, mitten im Leben: Geburt und Tod. Dabei das Leben zu verstehen als täglich erneuertes Geschenk, so dass beim Erwachen aus dem Schlaf zugleich ein Staunen und ein Hinnehmen der Aufgabe, den eigenen Teil in der Zeitgeschichte zu übernehmen, erwacht und wieder umsetzbar wird – auch das ist möglich: dadurch angstfrei zu werden im Nichtwissen um die Zukunft, in welcher irgendwann ein Nichtmehrerwachen Tatsache sein wird, irgendwann eine Rückkehr des eigenen Körpers in den “samtenen Acker” und zugleich eine andere Präsenz der “psyche” – Geist und Seele – in der Zeitlosigkeit, die wir ahnen können durch das Gefühl von unvergänglicher Dauer, durch das, was letztlich Liebe bedeutet – das Bild des “neuen Sterns”. Welch kostbarer Ton kommt da der Stimme eines Menschen zu, der/die versteht, was dem anderen Menschen nur noch als dunkler Abgrund erscheint! Immer wieder gelingt es, dass das Verstehen eines anderen Menschen die Tür zum eigenen Verstehen öffnet – zum Verstehen seiner selbst, der Hintergründe von Traurigkeit und Angst, damit der Sehnsucht nach dem Wert des Alltags und dem Lebenswert der Zeit.
Dies ist die zugleich schwierige und wichtige Aufgabe, die der “Dargebotenen Hand” zukommt: die Aufgabe der Vermittlung des Verstehens – eine grosse Aufgabe
[1]Nelly Sachs. Späte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1965, S. 161
[2] ibid. S. 180
[3] unter dem Titel “Applaus” im Unionsverlag, Zürich 1993
[4] ibid. S. 11
[5] ibid. S. 13
[6] Nelly Sachs. Fahrt ins Staublose. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1988. S. 137