Häusliche Gewalt

Häusliche Gewalt[1)

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… “weint ein Kind

schreit ein Kind

schreit ein Mann eine Frau

schreit ein Esel schreit ein Baum

schreit die Strasse schreit das Haus

schreit die Herde schreit das Pferd

schreit der Greis

und schreit nicht mehr

schreit der Markt das Spital

schrein Berg und Tal

schreit die Nacht

will keinen Tag

hat zugemacht

Luft, geh aus

Himmel, verschimmel

Im Kehraus”[2]

 

Diese Gedichtzeilen von Ilma Rakusa finden sich in einem Gedichtband, in welchem Frauen und Männer aus vielen Teilen der Welt ihre Erfahrungen und Überlegungen als Sprachbilder gegen Gewalt festhalten. Mehr als ein Sprachbild ist das Frauenhaus Bern, das vor 25 Jahren eröffnet wurde, als Schutz- und Fluchthaus für Frauen und Kinder, die vor Gewalt aus den eigenen vier Wänden fliehen müssen. Es sind nun 20 Jahre, dass dieses Haus als Ort des Rückzugs für Wehrlose jeden Alters und jeder Herkunft, jeden Status und jeder Haufarbe offen ist, die seiner dringlich bedürfen, dass es diesen Ort gibt, der sich hinter den Schutzbedürftigen abschirmend schliesst, bis sie nach einer stärkenden Zeit spüren, dass eigene, selbstschützende Kräfte spürbar wachsen und dass es möglich ist, die Tür für sich selber wieder zu öffnen und mit mehr innerer Sicherheit leben zu können.

Dass es seit 20 Jahren das Frauenhaus gibt, ist Anlass zu feiern. Zu feiern ist der Mut von Frauen und Kindern, Widerstand gegen Gewalt öffentlich erkennbar zu machen. Zu feiern ist die stärkende Solidarität unter Frauen und Kindern, welche die Erfahrung der Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit im Erleiden von Gewalt durch eine andere, neue Lebenserfahrung zu einer Teilerfahrung werden lässt. Die neue Erfahrung, die mit dem Frauenhaus einhergeht, beruht auf dem wechselseitigen Respekt im Verstehen von Schmerz und Einsamkeit, von Angst und Zorn; sie ermöglicht im Austausch von Lebensgeschichten gemeinsamen Schmerz, doch auch ein Wissen, im Leiden nicht allein zu sein. Erniedrigung und Scham können gelöst und allmählich geheilt werden, wenn die Erfahrung von persönlichem, echtem Lebenswert nicht flüchtig, sondern haltbar ist. Zu feiern ist die Tatsache, dass das Frauenhaus das von Rosa Luxemburg vor bald hundert Jahren als dringlich erklärte Recht, “laut zu sagen, was ist”, jenen umzusetzen ermöglicht, die unter dem Schweigezwang von Missbrauch und Gewalt jahrelanges Verstummen kannten.

20 Jahre Frauenhaus ist Anlass zu feiern, doch gleichzeitig Anlass, die Ursachen und Folgen von Gewalt zu klären sowie über Möglichkeiten der Verhinderung und der Heilung von Gewalt nachzudenken. Gewalt gibt es nicht erst seit jüngster Zeit; Gewalt ist die destruktive Rückseite menschlichen Lebens und Zusammenlebens seit Urzeiten.

 

“Später gab man den Jahrhunderten Namen.

Sie hiessen

Das Rohe Jahrhundert

Das Blutjahrhundert

Das Karge Jahrhundert

Das Kalte Jahrhundert

Das Zweite Kalte Jahrhundert

Das Arme Jahrhundert

Das Halbe Jahrhundert

Das Brache Jahrhundert

Das Dritte Kalte Jahrhundert

Das Vierte Kalte Jahrhundert

Das Zweite Arme Jahrhundert

Das Armselige Jahrhundert

Das Zweite Blutjahrhundert

Das Fünfte Kalte Jahrhundert

Das Schorfjahrhundert

Das Eiterjahrhundert

Das zweite Eiterjahrhundert”[3]

Auch diese Zeilen finden sich in der Sammlung, auf welche ich eingangs hinwies. Siebzehn Jahrhunderte werden beim Namen  benannt. Wann der spanische Dichter Sanjosé seine Zeitgenealogie beginnt und wann er sie abbricht, steht offen, ebenso in welches Jahrhundert er sich selber einbezieht; auch Knaben erleben Gewalt. So scheint mir, dass die Jahrhundertbenennungen in diesem Gedicht für jede Aufarbeitung endlos wirkender Gewalt von Bedeutung sein können, immer wieder in siebzehn Stufen ab dem aktuellen zurück zum Anfang jeder Zeitgeschichte. Denn die Zeitberechnungen in Monaten und Jahren sind kulturelle Ordnungskonstrukte; von realer Bedeutung ist allein die gelebte Zeit der Menschen selber, in jeder Generation, die immer zusammenhängt mit den nächsten und weiter zurückliegenden Generationengeschichten, mit Geschichten leidvoll gelebten Lebens, das in der Komplexität einer Jahrhundertgeschichte gleicht. Die Zeilen erscheinen mir wie Wortübersetzungen von Bildern[4], die ich vor einigen Jahren, als ich mich in Guangzhou in Südchina aufhalten durfte, im dortigen Museum[5] in der Grösse von Zimmerwänden vor mir sah und die sich meiner Erinnerung einprägten: Bilder einer von Rissen, von Wunden und von Abgründen zerspaltenen Welt, einer von Blut überströmten, von Feuer verglühten und verkohlten, von Eis überfrorenen, von fehlendem Wasser und Durst verkrusteten Welt, mit Flächen und Gebirgen, die menschlichen Körpern gleichen, in den Farben jahrhundertealter Leidensgeschichten nicht zählbar vieler Kinder, junger und alter Menschen – Bilder einer Welt ohne tröstlichen Schein, ohne blühende Wildrosen und Nelken, ohne glücklich lachende Augen[6].

Die gleiche Frage stellt sich immer wieder auf hämmernde Weise, ob in Guangzhou oder anderswo in der Welt, auch hier in Bern: Wie kommt es, dass von Generation zu Generation Menschen anderen Menschen durch den Missbrauch von Macht Leiden zufügen? Warum geschieht im geschlossenen Raum der Familie oder in anderen geschlossenen Räumen so viel Gewalt? Ist etwas anderes als Resignation möglich, wenn unter “Vermischten Meldungen” täglich Polizeiberichte über Gewalt gegen Kinder veröffentlicht werden, über Mädchen und Knaben, die spitalreif geschlagen wurden, die zu Tode geschlagen wurden, die auf vielfache Weise missbraucht werden? Wenn über die berufliche Arbeit Kenntnis über Kinder und junge Menschen anwächst, die infolge körperlicher, psychischer oder religiöser Gewalt verstummen, die angstbesetzt sich jeder Art von autoritärem Befehl unterwerfen, deren Überlebenskraft mit dem Erstarren von Empfindung und Denken einhergeht? – oder die von Müttern und Vätern, die infolge eigenen Mangels an innerem Wert und Halt workoholics oder erfolgssüchtig sind und die medikamenten-, alkohol- oder drogenabhängig werden, den Mangel an echtem Leben als Gewalt des Überlebens auferlegt bekommen und ständig durch Ersatz zu stillen suchen?  Wir wissen, dass die in den Medien und Statistiken, in den klinischen und polizeilichen Untersuchungen veröffentlichten Tatsachen bloss einen minimalen Teil dessen bedeuten, was hinter geschlossenen Türen geschieht.

Das Frauenhaus kann nur einen winzigen Teil beitragen, um Gewalt in unserem Umfeld zu mindern. Doch auch der geringste Teil bedeutet eine Korrektur, und jede Korrektur stärkt weitere Möglichkeiten, sich der Gewalt nicht zu beugen, sich gegen sie zu stellen und einen anderen Lebensweg zu suchen, in welchem nicht Machtmissbrauch und Unterwerfung dominieren, sondern den eine Grammatik des zwischenmenschlichen Respekts, der Achtung und der Sorgfalt prägt. Wie dringlich diese Korrektur ist, machen unzählige Gesichter deutlich, denen wir begegnen – auf der Strasse und in den Bahnhöfen, in den Schulhäusern und in den Einkaufszentren, wo immer wir unterwegs sind –, Gesichter von Kindern und Jugendlichen, von Erwachsenen und Alten, die verstummte und erstarrte Züge aufweisen, leere oder gläsern wirkende Augen, zusammengezogene Schultern, eine geduckte, müde Haltung oder unruhig aufgedrehte Überanpassung, und deren Stimmen, wenn wir sie hören, kraftlos tönen, wie gebrochen, zögernd oder stumpf, manchmal hastig, scherbelnd und dünn – Menschengesichter, in welchen körperliche oder psychische Gewalt erschütternde Spuren hinterliess. Wir wollen nicht aufgeben. Immer wieder braucht es einen Ort des Schutzes, der einen Ausweg aus dem verschlossenen Raum der Gewalt ermöglicht. *

 

Ergänzung:

Über die Ursachen und Folgen von Gewalt sowie

über Möglichkeiten der Verhinderung und der Heilung von Gewalt

Aus der Verbindung von Philosophie und Psychoanalyse sowie von langjähriger Traumatherapie mit Gewaltopfern werde ich versuchen, einen Beitrag zur Klärung der Fragen zu leisten.

Die Fragen bündle ich folgendermassen:

I . Wie kommt es zu Gewalt?

  1. Was unterscheidet Gewalt im privaten und im öffentlichen Rahmen? – resp. psychische, körperliche (u.a. sexuelle), ideologische, politische, administrative und militärische Gewalt?

III. Sind die Folgen von Gewalt heilbar?

  1. Genügen Ohnmacht, Widerstand und Aufbegehren, um Gewalt zu bannen? Worin bestehen Möglichkeiten, der ständigen Wiederholung von Gewalt entgegenzuwirken? Ist es eventuell möglich, ein gewaltfreies Zusammenleben zu erreichen?
  1. Wie kommt es zu Gewalt und was unterscheidet Gewalt im privaten und öffentlichen Rahmen?

Das Leben und Zusammenleben der Menschenist  geprägt durch „Dunkelheit, Verwirrung und Täuschung“[7], wie Hannah Arendt in einem ihrer Aufsätze von 1968 zum Ausdruck bringt. Von der frühen Kindheit an erleben Menschen vielfaches, menschlich verursachtes Leiden und Angstzustände, , qualvollen, steten Mangel, Entbehrungen und ein stetes, quälendes Hungergefühl, da wesentliche Bedürfnisse unerfüllt bleiben: das Bedürfnis nach Sicherheit und Wärme, nach Erfahrung von Liebe im Sinn von Respekt und Halt, nach Lebenswert und Lebenssicherheit. Ein Grundbedürfnis nach Gewalt gibt es nicht. Gewalt besteht im Missbrauch von Macht – von seelischer, körperlicher, standesmässiger und funktionaler Macht – Menschen gegenüber, die schwächer sind, die zu Objekten erklärt und als Objekte benutzt werden. Gewalt ist fast immer Wiederholung erlebter und nicht verarbeiteter Gewalt, jedoch nicht gegenüber den Verursachern der erlebten Gewalt, sondern gegenüber wehr- und machtlosen Menschen, sehr häufig gegenüber Kindern. Gewalt diente immer der Unterwerfung, der Benutzung oder Bestrafung, der Ausgrenzung oder gar Tötung von Menschen, die als Objekte narzisstischen Machthungers oder sadistischer Genugtuung benutzt und missbraucht wurden. Jede Art von Gewalt ist ein Versagen der Klärung eines Mangelzustands und ist zugleich Ursache erneuten, nicht tragbaren oder kaum tragbaren Leidens.

Genügt dies, um zu erklären, wie es zu Gewalt kommt und wie sich Gewalt fortsetzt? – was Ursachen, Zweck und Folgen von Gewalt sind? Es genügt nicht. Letztlich mündet jede Art von Macht, wenn sie missbraucht wird, in Gewalt. Warum bloss? Führt eventuell die Besinnung auf die Geschichte der feindseligen Brüder weiter, die sich in den ältesten Mythologien findet, auf die Geschichte von Kain und Abel, mit welcher die Tötung des einen durch den anderen erzählt wird? Es ist die Geschichte einer sich fortsetzenden Folge von Neid, Wut und Hass des einen Menschen auf den anderen, aus Gründen, die wir nur ahnen können. War es wegen einer Erfahrung der Minderbeachtung oder der Ungerechtigkeit, die der ältere Bruder nicht länger ertrug? – wegen des Mangels an Interesse und Liebe, die er erlebte infolge der Bevorzugung des Jüngsten durch den Vater? – war es wegen ungleicher Erbschaftsverteilung von Rang und Gut, von Land und Tieren?

In der “Sammlung von Sagen aus dem Schwarzen Amerika” – Sagen, die den deportierten und versklavten Menschen vermutlich so etwas wie Trost bedeuteten -, heisst es, die ersten Menschen, welche die Erde belebten, seien schwarz gewesen. Da sei es geschehen, dass der älteste und der jüngste unter den Söhnen von Adam und Eva, Kain und Abel, wegen einer Wassermelone (ein Bild für die Mutterbrust) in Streit geraten seien, und Abel sei von Kain umgebracht worden. Die Stimme des Herrn habe er darauf hinter sich gehört, der ihn nach dem Bruder fragte. Als Kain antwortete, er habe ihn nicht in seine Tasche gesteckt, und als er nach dem erneuten Fragen sich aufgebracht umwandte, sei er unter dem Blick des Herrn vor Scham erblasst. Farblos-weiss sei seine Haut geworden, und sein schönes, krauses Haar habe sich flach gesträubt. So habe die Gewalt begonnen und so setze sie sich fort: die weisse Haut halte vor Augen, was es heisst, wenn Menschen mehr beanspruchen und mehr besitzen wollen, als ihnen zusteht.

Wie immer die Geschichte von Kain und Abel gedeutet wird, sie geht auf den menschlichen Beziehungsbereich ein, auf den privaten Bereich, dessen Fortsetzung und Vervielfachung sich zum kollektiven Machtbereich erweitert: zum gesellschaftlich und arbeitsmässig  statusgeprägten, zum religiös-kollektiven und weiter zum kulturell-kollektiven oder zum nationalen Machtbereich, in welchem jede Art von Beziehungszusammenhang der Gefahr von Machtmissbrauch ausgesetzt ist, die wiederum Folgen im privaten Bereich nach sich zieht.

Was kennzeichnet dabei den privaten Bereich, in welchem alles geschieht, was “häusliche Gewalt” bedeutet?

  1. Was unterscheidet Gewalt im privaten und öffentlichen Rahmen?
  2. Es mag nützlich sein, an die Bedeutung des lateinischen Ursprungs von “privat” zu erinnern: “privatus-a-um” entspricht “befreit”, aber auch “beraubt” und “abgesondert”,  abgeleitet vom Verb „privare“ resp.”berauben, befreien” (Das Adjektiv “privus-a-um” dagegen heisst “für sich bestehend, einzeln”). In der römischen Kulturgeschichte bezieht sich das Wort auf den Rechtscharakter des antiken Haushalts („oikos“) und auf dessen Mitglieder: die Frauen, die Kinder und die Sklaven. Was sich in diesem Bereich abspielte, war “abgesondert”, war des “Lichts der Öffentlichkeit“ beraubt, wie Hannah Arendt in ihrer Untersuchung über das Entstehen der Gesellschaft immer wieder betont. In der Antike bedeutete das Private noch nicht die Sphäre der Intimität, wie heute, sondern definierte sich durch das, was generell die Organisation des Familienverbandes und des Lebensunterhaltes betraf.Das Private entsprach somit unter manchen Aspekten dem, was seit Beginn der Neuzeit unter dem Gesellschaftlichen, d.h. dem Nicht-Staatlichen verstanden wird. Es definierte sich ausschliesslich durch den Gegensatz zur Öffentlichkeit. “Für die Antike war entscheidend, dass alles Private ein nur Privates ist, dass man in ihm, wie schon das Wort anzeigt, in einem Zustand der Beraubung lebte, und zwar beraubt der höchsten Möglichkeiten und der menschlichsten Fähigkeiten“, schreibt Hannah Arendt in „Vita activa“, und fährt fort: “Wer nichts kannte als die private Seite des Lebens, wer wie der Sklave keinen Zutritt zum Öffentlichen hatte (…), galt nicht eigentlich als ein Mensch” (…), galt als “weltlos“. Sie betont dann, dass das Private die Bedeutung von “weltlos“ beibehielt, dass es als das Eingezäunte und Eingegrenzte, als Eigentum wie auch als Intimität letztlich “weltlos” ist.

 

Als Beispiel geht Hannah Arendt auf den Glücksbegriff ein. In der Antike stand das Erlangen der “eudaimonia“, des Glücks, ausschliesslich jenen zu, die von den Zwängen des Alltäglichen befreit waren, die somit nicht dem Privatbereich des “oikos“ unterworfen waren, sondern diesem vorstanden und zugleich in der “polis“ (in der Bedeutung von “Stadt”, aber auch von “Staat”) ihren Platz und ihre Stimme hatten. Dies waren ausschliesslich die freien, besitzenden Männer. Die “eudaimonia“ war mit der Freiheit konnotiert, mit der Sprache, mit Eigentum und Besitz, mit den Gestaltungsmöglichkeiten des Öffentlichen. Ausschliesslich die Mitglieder der “polis“ waren somit “glücksfähig“, und die “Gesetzesmauern“ rund um die “polis“ hatten den Zweck, diesen hohen Gehalt von Freiheit und Glück zu schützen.

Wichtig scheint mir zu erinnern, dass jede Wortbedeutung eine Veränderung erlebt, je nachdem, wie das Wort im Satzzusammenhang steht: ob es in der Aneinanderreihung von Begriffen eine Subjektfunktion hat und dadurch das Verb resp. das Handeln bestimmt, auf aktive oder auf passive Weise, oder ob es in einem Objektverhältnis zum Subjekt steht, resp. in der deutschen Sprache als Genitiv, Dativ oder Akkusativ dem Subjekt zugeordnet oder untergeordnet ist. Das System der Satzregulierung geschieht im Zusammenhang von grammatikalischen Theorien, von Zeitbedingungen und von Ursachen der praktischen Anwendung. Immer verändert der grammatikalische Gebrauch des Wortes und dessen Platz im Satz die Bedeutung des Wortes.

Liegt hierin eine Erklärung, dass Gewalt sich im privaten Rahmen zum beinah selbstverständlichen System der Objektabhängigkeit entwickelt hat, einem System, das bis heute weitergeht? –  dass Kinder und Frauen sich kaum als Subjekt Beachtung schaffen konnten und bis heute kaum können– Beachtung und Respekt zentraler Grundbedürfnisse wie jener des gleichen menschlichen Eigenwerts – materielle Abhängigkeit hin oder her – sowie des Eigenentscheids in Fragen, welche die Zumutbarkeit und Zulässigkeit von Lebensbedingungen betrifft? Die Erfahrungen im privaten Bereich, der jenen des hierarchisch geprägten gesellschaftlichen Systems einschliesst, ist Heranbildung des Verhaltens im öffentlichen Raum: eines Verhaltens der Unterwerfung und des Gehorsams unter Macht, oder eines der Nichtunterwerfung, des Widerstands, eventuell der Rache wegen zu schwerer Objekterniedrigung und -ausnützung, oder – eventuell – der Übernahme von Verantwortung im Sinn der vielfachen Subjekthaftigkeit: im Sinn der Kommunikation. (Darauf gehe ich später ein).

Zusätzlich zur körperlichen Gewalt, die Frauen und Kindern – Töchtern und Söhnen – in allen Bereichen angetan wurde/wird, deren Ausmass sich kaum untersuchen lässt, kommt die seelische Gewalt hinzu, auf folgenschwerste Weise. Unter den Bedingungen der Abhängigkeit wurde während Jahrhunderten – und wird noch immer –  die Erfüllung der wichtigsten immateriellen Bedürfnisse mit einem komplizierten konditionalen System verknüpft, in welchem beim Kind Beschämung und die Erzeugung von Scham über sein ungenügendes Verhalten – ungenügend in Hinblick auf die namen- und vorbildverknüpfte normative Erwartung der Erwachsenen –  von prägendem Einfluss sind. Beschämung und Scham sind interne Konstrukte der Erniedrigung, die auf der Seite der Erwachsenen wiederum wettgemacht werden durch unerreichbare Grösse sowie – manchmal – durch ein konditionales Zugeständnis von Güte. Für das Kind wird klar, dass das So- und-nicht-anders-sein-Sollen, aus welchem das Identitätskorsett geschaffen ist, nie erfüllbar ist,  dass es immer in der Schuld bleiben wird.

Was am einzelnen kleinen Menschen geübt und durchexerziert wird, widerspiegelt, was ganzen Völkern und Nationen, ganzen Kontinenten von ihren “Mutter”- oder “Vaterländern” angetan wurde: Kolonisation, auch heute, wenn gleich unter anderen Namen. Der Versuch, diese zu sprengen, geschah immer wieder von neuem. Was als “Aufstand” galt, wird heute als “Terror” bezeichnet – ohne dass die Ursachen, die vergleichbar sind, beachtet würden.

Ein Beispiel mag sein, was mir durch die Begegnung mit der algerischen Schriftstellerin Assia Djebar klar wurde. Sie präsentierte damals ihr Buch “Le blanc d’Algérie” und einen Film  “La Zerda ou les chants de l’oubli”, den sie 1982 geschrieben und produziert hatte. Dieser Film, aus Archivaufnahmen zusammengebaut, schildert die generationenlange Geschichte der maghrebinischen Kolonisation, eine Geschichte der nationalen kulturellen Fremddefinition, eine über unzählige Menschengeschichten sich fortsetzende und sich vervielfachende Geschichte der Beherrschung über die Sprache (resp. über die Namengebung), über die Kontrolle der Bedürfnisse, eine Geschichte der mangelnden Anerkennung, der Unterwerfung und der unendlichen Demütigung. Die Demütigung, das wurde deutlich, bestand und besteht in der Verunmöglichung der Eigendefinition der Bedürfnisse sowie der Art und Weise deren Erfüllung. “Verunmöglichung” bedeutet, im Sinn des Wortes, Unterbindung von Möglichkeit. Was als Möglichkeit unterbunden wird, soll nie Realität werden. Zumeist resultiert Verunmöglichung aus dem Missbrauch von Macht, als Folge von Herrschaft. Dass jede externe Definitionsmacht Missbrauch generiert und in Herrschaft ausartet, wurde mir bei der Betrachtung des Films in der Abfolge der Bilder einmal mehr klar, und ich war davon erschüttert.

Ein weiteres Beispiel? Ich erinnere mich, wie eine ähnliche Erschütterung von Frantz Fanon’s Buch “Les damnés de la terre” ausgegangen war, diesem Manifest des 1924 in der Französischen Kolonie Martinique geborenen Bauernsohns, der in Frankreich Philosophie und Medizin studiert hatte, während des Zweiten Weltkriegs in der Résistance mitkämpfte und anschliessend als Psychiater in Algerien während drei Jahren eine psychiatrische Klinik leitete, worauf er in einem öffentlichen Brief an den französischen Generalgouverneur demissionierte und sich der Algerischen Nationalen Befreiungsfront anschloss.

1961 erschien Fanon’s Buch in Paris, mit einem Vorwort von Jean Paul Sartre, in welchem dieser die europäischen Länder – die “Mutter”länder – aufruft, sich in Fanon’s Buch zu vertiefen, damit sie verstehen, was auf sie zukommt, nämlich die Frucht der Demütigung, nämlich die während Generationen  zurückgehaltene Wut, die sich lange nicht als Gewalt gegen das “Mutterland” und dessen Herrschaft zu richten wagte, sondern im kolonisierten Land internalisiert und in sog. “Bruderkriegen” ausgetragen wurde. Sartre schrieb im Vorwort, dass “der Bruder, der sein Messer gegen seinen Bruder erhebt, glaubt, das verabscheute Bild ihrer gemeinsamen Erniedrigung ein- für allemal zu tilgen”. Er versuchte deutlich zu machen, worum es Fanon ging: um die Notwendigkeit, eine kollektive Neurose zu heilen, die von den Kolonialherren durch die Einführung des “Eingeborenenstatus” geschaffen worden war, eines Status der Unmündigkeit, jenem ähnlich, der für die Kinder definiert wird. Das zutiefst Neurotisierende daran war, dass mit dem “Eingeborenenstatus” zugleich der Status des “Menschen” verlangt  u n d verleugnet wurde, mit anderen Worten, dass von den Kolonisierten einerseits verlangt wurde, dass sie sich wie Angehörige des “Mutterlandes” bewegten, kleideten, arbeiteten, marschierten, als Soldaten kämpften, Steuern bezahlten, auch Schulen besuchen und studieren durften, dass sie sich aber andererseits immer ihrer Abhängigkeit und ihrer Minderwertigkeit bewusst bleiben sollten. Wollten sie den Status von “Menschen” im Sinn des “Mutterlandes” erlangen, mussten sie zu Komplizen der Kolonisierung werden.

Verhängnisvoll war damals, dass es – nach Frantz Fanon – nichts als die Gewalt gibt, um die kollektive Neurose zu heilen. Fanon rief mit seinem Buch zur Gewalt auf, zum Mut zur Gewalt. “Die Dekolonisation, die sich vornimmt, die Ordnung der Welt zu verändern, ist, wie man sieht, ein Programm absoluter Umwälzung. Sie kann nicht das Resultat einer magischen Operation, eines natürlichen Erdstosses oder einer friedlichen Übereinkunft sein”. Und Fanon fuhr fort, dass so, wie sich die Kolonisierung unter dem Zeichen der Gewalt abspielte und erzwungen wurde, sowohl äusserlich in der Organisation des Landes, wie innerlich in den Köpfen der Kolonisierten, die Dekolonisierung nur durch Gewalt erfolgen könne. Nur über die Gewalt könne der Prozess der Rückgewinnung der zur Folklore denaturierten, fremdbeherrschten eigenen Kultur und der politischen sowie der ökonomischen Unabhängigkeit eingeleitet werden, dieser Prozess der Identitätsfindung, der letztlich unabschliessbar sei.

Ich weiss nicht, wer Fanon’s Buch noch kennt. In den sechziger Jahren, als es erschien, wirkte es wie ein Fanal. Ich war damals knapp über zwanzig. Der Aufruf zur Gewalt,  die Gewalt selbst erschreckte mich. Trügerisch war der Rat, den Fanon als Ausdruck kollektiver Verzweiflung formulierte, da Dekolonisierung durch Gewalt nicht nur nicht-abschliessbar ist, sondern selbstzerstörerisch wird. Schon damals war klar, dass Gewalt Gegenwalt weckt, resp. Gewalt quasi legitimiert, worauf sich erneut Gegengewalt als Wiedergutmachung oder als Rache äussert.

Die Frage, die sich stellt, ist, wie sich eine Reaktion auf Gewalt umsetzen liesse, durch welche die Fortsetzung von Gewalt abgebrochen werden könnte.

Fanon’s Buch liess ahnen, wie komplex es ist, eine kollektive Sprache für jene Auflehnung zu finden, die sich nicht der Gewalt bedienen würde. War es nicht vergleichbar der Auflehnung in der Jugend? – vergleichbar dem Ungehorsam, dem Widerspruch, den Fluchten (“fugues”), künstlerischen, resp. symbolischen oder literarischen Formen des Ausdrucks, eventuell auch internalisierter Gewalt, etwa einem schweren Unfall, stets dem Versuch von Gegenentscheiden zu jenen der Eltern bezüglich der persönlichen Entwicklung und Bildung, dann vergleichbar erneuten “fugues” und Eigenentscheiden, einer politischen Eigendefinition in völliger Abkehr von der von den Herkunftskreisen vertretenen Bürgerlichkeit, welche die Kolonisierung der Frauen als Programm aufrechterhielt, vergleichbar damit einer Absage an die vorgegebenen Modelle der bürgerlichen Sicherheit, der Zustimmung letztlich nur noch zum eigenen Programm der Auflehnung gegen Herrschaft und Gewalt, gegen Missbrauch der Menschen in allen Bereichen, letztlich vergleichbar im frühen Erwachsenenalter der Zustimmung zu eigenen Kindern als Subjekten, nicht als kolonisierbaren Objekten, der Zustimmung zur Auflehnung der Schwachen im eigenen Land und anderswo, welche durch die Auflehnung stark wurden, kurz, der Zustimmung zu Programmen der Subversion von Herrschaft und der Eigendefinition menschlichem Wert.

Doch genügt das, damit Brüder unter dem Neid, der sie besetzt, einander nicht erniedrigen und töten, damit Väter die Söhne nicht schlagen und nicht missbrauchen, damit sie die Töchter nicht demütigen und die Frauen nicht betrügen? – damit Frauen einander nicht mit Misstrauen herabsetzen und sich nicht an den Kindern mit dem, was ihnen fehlt, sättigen? Was braucht es, damit Gewalt nicht wiederholt wird, bis ins Masslose? – schon gar nicht durch Menschen, die selber unter Gewalt leiden mussten? (Beispiel: Fortsetzung politischer Entrechtung und militärischer Gewalt Israels gegenüber den Palästinensern; polititsche, rechtliche und polizeiliche Gewalt – insbesondere Funktionärsgewalt – von Schweizern, die in ihrer Kindheit selber Entwertung erlebt hatten, gegenüber Asylsuchenden etc.).

Warum gelang es nicht, dass die 1948 – nach dem Zweiten Weltkrieg – zustandegekommene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zum Massstab des Gewaltverzichts werden konnte? –  schliesst sie doch die wichtigen ethischen Grundsätze der grossen Weltreligionen irgendwie ein und erklärt den gleichen Wert jedes menschlichen Lebens als Begründung. Trotz der Menschenrechtserklärung hat sich die Gewalt weder im privaten noch im öffentlichen Bereich verminder, im Gegenteil.

“Es ist keine Gnade in der Luft”

hielt Ilma Rakusa, die 1946 in der Slowakei geborene Dichterin, die hier in Zürich lebt, im Titel eines ihrer jüngsten Gedichte fest:

“Es ist keine Gnade in der Luft.

Oben die Karakulschafe im Karakorum

Wasser und Weiden Himmelszonen

Unten die Bomber und Toten

weint ein Kind

schreit ein Kind

schreit ein Mann eine Frau

schreit ein Esel schreit ein Baum

schreit die Strasse schreit das Haus

schreit die Herde das Pferd

schreit der Greis

und schreit nicht mehr

schreit der Markt das Spital

schrein Berg und Tal

schreit die Nacht

sie will keinen Tag

hat zugemacht

Luft, geh aus

Himmel verschimmel

im Kehraus[8]

 

Die Natur mit den Milliardenjahren an Geschichte ist Zeugin vom Leiden, das Menschen anderen Menschen antun; sie mag nicht mehr Zeugin sein, ist erschöpft. “Bomber”, die aus grosser Distanz “Tote” zurücklassen, sind das Symbol für die Tatsache, dass jede Art von Gewalt sich nicht um die Folgen kümmert.

Es gilt, mit den Überlegungen ein Stück weiter zu kommen, indem die Aufgabe der Sozialarbeit miteinbezogen wird. Womit ist sie konfrontiert? Was feststeht ist, dass jede Gesellschaft letztlich daran gemessen wird, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht; die schwächsten Mitglieder sind überall die Kinder und die rechtlosen Menschen.

Ebenso steht fest, dass Gewalt und Gewalttätigkeit nicht ein Ende nehmen können, indem sie allein als Bedrohung oder als “fremdes” Verhalten erklärt werden. Auch nicht, indem die Täter ausschliesslich bestraft werden. Es bedarf aufs dringlichste der Klärung der Ursachen und der Möglichkeit der tatsächlichen Korrektur. Anstelle der Schwarz-Weiss-Alternative von Gewinnern und Verlierern, von “Bösen” und “Guten” müssen soziale Kräfte gestärkt werden, die ein vielfältiges und und widerspruchsvolles Zusammenleben erlauben. “Das gute Herz allein genügt nicht”, wie Regina Kägi-Fuchsmann 1933 festhielt, als sie, die als Kind einer litauisch-jüdischen Familie als Flüchtling in die Schweiz gekommen war, das Sekretariat der Proletarischen Kinderhilfe übernommen hatte, woraus sich die Arbeiterkinderhilfe, dann das Arbeiterhilfswerk entwickelte. Es ist eine grosse Aufgabe, die der sozialen Arbeit in der Korrektur der langen Gewaltgeschichte zukommt.

Doch nach welchen Kriterien stellt sich diese Aufgabe?

Sie wissen, als die ersten Schulen für Sozialarbeit gegründet wurden, zu Beginn des 20. Jahrhunderts – in der Schweiz in Genf, in Luzern, in Zürich und allmählich an weiteren Orten -, da standen zuerst vor allem Frauen dahinter, viele von ihnen aus Arbeiterkreisen, deren Wissen um die Folgen erlebter Rechtlosigkeit, Wehrlosigkeit und vielfacher Gewalt in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, im Befinden und Verhalten von Erwachsenen – z.B. durch Flucht in Alkohol – den Aufbau der sozialen Arbeit beeinflusste, die sich unter politischem und gesellschaftlichem Einfluss auf unterschiedliche Weise weiter entwickelte, bis zu den aktuellen Bedingungen und Zielsetzungen.

Diese zusammenzufassen, erübrigt sich. Sie, verehrte Anwesende, kennen die Zusammenhänge des von Ungerechtigkeit und Gewalt geprägten menschlichen Zusammenlebens in der heutigen Zeit, in welcher sich ein grosser Teil der Geschichte wiederholt, auch wenn unter den Mächtigen die Rollen wechseln, auch wenn die technologische und mediale Entwicklung Mittel schafft und Menschen beherrscht oder ausschliesst, wie dies früher auf diese Weise nicht möglich war. Sozialarbeit heute wird konfroniert mit der Tatsache der alten, sich wiederholenden Ursachen und Fortsetzungen von Gewalt, mit der Fortsetzung von wirtschafts- und marktbedingter Ausbeutung, Marginalisierung oder gar von Entrechtung eines Teils der Bevölkerung, gleichzeitig mit den Folgen blinder Beschleunigung technischer und technologischer Entwicklung, von welcher zahllose Menschen überrollt und erstickt werden. Dahinter vernetzt sich die massive Desorientierung – Folge der wirtschaftlichen und zunehmend auch politischen Globalisierung – mit nationalistischen, ethnizistischen sowie anderen fanatischen Gegenentwicklungen, welche eine kollektive Zugehörigkeit, ja “Heimat” ersetzen sollen, wiederum mit Folgen in allen Belangen von Recht und Unrecht, mit einem wachsenden Verlust an gegenseitigem Respekt, der häufig durch Respektlosigkeit “offizieller Stellen” – Polizei, Richter, Vollzugsbehörden etc.- den “Objekten” gegenüber noch verstärkt wird. Auch dies ist eine wachsende Fortsetzung von Machtgehabe und Machtmissbrauch durch Menschen, die auf Grund ihrer Funktionen andere Menschen, die auf sie angewiesen sind, Minderwert und Ohnmacht spüren lassen. Die politische Entwicklung, die in der westlichen Welt und überall in Europa überhandnimmt, auch hier in der Schweiz, weckt erstarrende Erinnerungen.

Es sind tatsächlich Berge von Aufgaben, mit denen die Sozialarbeit heute konfrontiert ist: immer geht es um den Wert menschlichen Lebens, um die Verminderung von Gewalt und um die Verbesserung des Zusammenlebens, letztlich um mehr Gerechtigkeit. Das Wissen, über welches Sie verfügen, vermag, andere Wahlmöglichkeiten des Handelns zu öffnen, damit Zukunft nicht als Wiederholung der Vergangenheit ängstigend lähmt, sondern als Gestaltung kollektiver und persönlicher Verantwortung offen bleibt. Welche Art von Wissen? Es geht um das Wissen, wie Mangelerfahrungen korrigiert werden können, so dass sich geschlossene Türen öffnen;  wie Differenz von Herkunft, Sprache und Religion, von Geschlecht und Hautfarbe ohne Angst und ohne Determinierung von menschlichem Wert akzeptiert und respektiert werden kann; wie eine Korrektur von Schuld möglich ist, eventuell die Freiheit und Kraft zu verzeihen (cf. Südafrika), wie die Ermöglichung besserer Lebensbedingungen mit Ausbildung, Arbeitsmöglichkeit und Freizeit, mit erträglicher Wohnsituation und mit Sicherheit auch im Fall von Krankheit und Alter geschaffen werden kann – letztlich ein Wissen um den Wert des lebenswerten Lebens für jeden Menschen  All dem, worin sich private Geschichte und öffentlicher Auftrag verbinden, steht die Chance zu, eine Verminderung von Gewalt zu ermöglichen: all dies hat mit Sozialarbeit zu tun.

„Das Leben ist die einzige Zuflucht“, heisst es in einem Gedicht von Paul Celan, der das Leben selber nicht mehr ertrug und aus dem Leben in den Tod floh. Das Leben ist mehr als Zuflucht, wenn das Zusammenleben angstfrei, d.h. gewaltfrei möglich wird, wenn es nicht mehr von Gefühlen fortgesetzter Erniedrigung, Entrechtung und Lebensgefährdung besetzt ist, in der je einzelnen Existenz wie in kollektiven Zusammenhängen. Von zentraler Bedeutung ist, nach meiner Einschätzung, dass Handlungsentscheide sowie die Art und Weise des Handelns von der Kraft der moralischen Vernunft getragen werden, die u.a. den Anfängen der Sozialarbeit zugrunde lag[9]. Als massgebliche Regel erachte ich dabei die Regel der Reziprozität.

Ich verstehe darunter die konstruktive Umkehr – und damit Korrektur –  des jahrtausendealten “Wie du mir, so ich dir”. Was bedenkenlos als Legitimation von Zurückschlagen, von Rache, ja von Gewalt generell benutzt wurde, erweist sich als verhängnisvoll selbstdestruktive Fehlinterpretation eines Begriffs. Die Bedeutung von “recus” ist “rückwärts” und von “procus” – “vorwärts”. “Reziprozität” schliesst sowohl die zeitliche Wechselseitigkeit von Geschichte und Zukunft ein wie die beziehungsmässige von Subjekt und Objekt wie jene von Sprache und von Handeln. Die mit “Reziprozität” gemeinte Regel heisst somit, dass das, von der Seite des Subjekts entschieden oder getan wird, als Objekt ertragen werden könnte. Mit anderen Worten: Dass nichts getan werden soll, was von den Folgen des Tuns her nicht ertragen werden könnte. Dass es keinen Menschen gibt, der nicht anderer Menschen bedarf, sollte die Handlungsverantwortung derjenigen prägen, die über Macht verfügen, ob dies geringe Macht sei oder grosse Macht. Jedes Handeln hat Folgen anderen Menschen gegenüber, deren Abhängigkeit, deren Angewiesenheit auf Rat, Anleitung oder Unterstützung, deren Kraftlosigkeit oder gar Ohnmacht sie zu Objekten macht – in den meisten Fällen in wechselnder, wechselseitiger, wenngleich häufig ungleicher Abhängigkeit von anderen Menschen. Letztlich findet sich jedes Ermessen von Zumutbarkeit – in der innersten Bedeutung von “Zumutbarkeit” – der Frage ausgesetzt, ob es der Regel der Reziprozität genügen kann. Daher lässt sich in der Grammatik des Zusammenlebens, die sich mit den vielfachen Subjekt-Objekt-Strukturen befasst und sich darin bewegt, die Beachtung der Reziprozität als die Grundregel moralischer Vernunft erklären. Deren Beachtung scheint mir entscheidend zu sein, um der Wiederholung und Steigerung von Gewalt entgegenzuwirken.

Der Sozialarbeit kommt dabei in der Fülle ihrer Vermittlerfunktion eine pionierhafte und zugleich entscheidende Aufgabe zu – Aufgabe  u n d  Auszeichnung. Möge es gelingen, dass dieses Jahrhundert einmal dieser Aufgabe entsprechend genannt wird – durch die Kinder oder Grosskinder derjenigen Menschen, die Ihrer heute bedürfen – vielleicht als das “weniger kalte Jahrhundert”. Ich danke Ihnen.

 

[1] 20 Jahre Frauenhaus Bern, 25. 11. 2005

[2] Ilma Rakusa (geb. 1946 in der Slowakei, Dichterin und  Übersetzerin, Lehrauftrag an der Universität Zürich, erhielt 1991 den Petrarca-preis für Übersetzungen). Es ist keine Gnade in der Luft. In: Das Gedicht. Zeitschrift für Lyrik, Essay und Kritik. 10. Jahrgang, Nr. 10. Gedichte gegen Gewalt. Sommer 2002 bis Sommer 2003. Hrsg. Anton G. Leitner. S. 42.

[3] Axel Sanjosé (geb. 1960 in Barcelona, lebt in München; Lehrauftrag an der Uni München), Ohne Titel, in: Das Gedicht. Zeitschrift für Lyrik, Essay und Kritik. a.a. O. S. 62

[4] Bilder des chinesischen Malers Ding Fang

[5] Guangdong Museum of Art

[6] Zur gleichen Zeit wurde im gleichen Museum eine Ausstellung mit Werken von Kindern zwischen 6 und 16 Jahren aus China eröffnet, deren Aussage mit jener Gleichaltriger aus Europa  auf erstaunliche Weise

übereinstimmt.

[7] Tradition und Neuzeit, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Verlag Piper 1994. S. 23. (Between past and future 1968)

[8] in: Das Gedicht. Gedichte gegen Gewalt. ibid. (1) S. 42

[9]  Zu diesen  Zusammenhängen Publikationen von Maja Wicki, u.a.

–      Über die Kraft der moralischen Vernunft. Widerspruch. Beiträge zur sozialistischen Politik.11. Jg./Heft 22  – Dezember 1991

  • Über die unerträgliche Last von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. MOMA (Monatsmagazin für neue Politik) 2-1995.
  • Antirassismus in der Krise? MOMA 3-1995.
  • Sozialzeit – Zeit für Engagement.MOMA 7/8-1995.
  • Dutschke oder Meinhof? Zwischen Fanatismusfalle und offener Perspektive. MOMA 7/8-1995.
  • Die Verfassung als Kulturauftrag. MOMA 11-1995
  • Ein Plädoyer für das Gewährenlassen des Unvollkommenen. MOMA 12-1995
  • Befreiung von Armut – eine Utopie? MOMA 4-1996
  • Auswandern, einwandern, fliehen, nicht dazu gehören, dazu gehören…MOMA 7/8-1996
  • Entweder-Oder der Geschlechter? Gesellschaftliche Zwänge und das Recht auf Differenz. MOMA 7/8-1996
  • Im Zentrum: die Grundbedürfnisse. Über die normativen Grundlagen einer europäischen Verfassung, MOMA 10-1996
  • Weder stumm noch unsichtbar. Armut in der Schweiz. 10-1996
  • Wie viel Rechte braucht der mensch? Von den Zwangsmassnahmen zur Asylinitiative. 11-1996
  • Süchtige Menschen in einer süchtigen Gesellschaft. Die Hoffnung, Entfremdung durch Unersättlichkeit zu heilen, MOMA 12-1996 / 1-1997
  • “Die Ordnung des Profanen. Über die gesellschaftspolitische Bedeutung der Geschichte. MOMA 2-1997
  • Sicherheit – eine ungleiche Chiffre für Mann und Frau. 3-1997
  • Eine Kultur der Solidarität aus Freiheit. Überlegungen zum Paradox der sozialen Arbeit. MOMA 6-1997
  • Politisches Handeln zwischen Gesetz und Urteilsvermögen. Über das “Anwachsen von Weltlosigkeit”. MOMA 7/8-1997
  • Die Mühe mir der Gegenwart ist die Mühe mit Vergangenheit ist die Mühe mit der Zukunft. Über die Mühe der Schweiz mit sich selber. MOMA 9/10 1997
  • Nationale Depression? Präliminarien für ein Konzept zur Aktivierung von Demokratie und Kultur. MOMA 9/10 1997
  • “Den toten Punkt überwinden”. Zionistische auseinandersetzungen um den Zionismus. MOMA 9/10 1997
  • Exkursion Kapitalismuskritik. Ein ideengeschichtliches Glossar. MOMA 5-1998
  • Werte als Orientierungshilfen. Werte und Moral in der philosphischen Tradtition. MOMA 5-1998
  • Erst die Arbeit, dann das Leben? Über die Arbeit als last und Bedürfnis. Gespräch zw. Maja Wicki und Willy Spieler. MOMA 7/8 1998
  • Die Schweiz und ihr Rassismus. Der erste NGO-Bericht an die UNO. 9-1998
  • Bildung zur Veränderung. Das subversive Potential wissenschaftlicher Skepsis und professioneller Kompetenz. MOMA 11. 1998
  • Privat? – beraubt, befreit, abgesondert. MOMA 12-1998/1-1999
  • Freiheit in Sicherheit. Sozialöe Grundrechte als Kriterien der Politik. MOMA 2-1999
  • “Unsere Sprache ist unser gelebtes Leben” – Frauenemanzipation vor der Emanzipation. MOMA 3-1999
  • Faschiosmus heute? Krieg heute? – Überlegungen zur aktuellen Urteilsüberforderung. MOMA 6/7 1999
  • Diesseits und jenseits der Grenzen. MOMA 8-1999
  • Was ist Zeit? Sozialpolitische Gedanken zum Milleniumswechsel. MOMA 9-1999
  • “Der Immune ist in gewissem Sinn auch ein Ausgeschlossener”. MOMA 1-2000
  • Helvetische Assimilationszwänge. Zur jüdischen Minderwertigkeitsgeschichte. MOMA 6.2000
  • Diese Flut von Schatten. Kann Psychotherapie unter Zwang erfolgreich sein? MOMA 7/8-2000
  • Das heimliche Rauschen der Tiefe. Über das Erkennen der davoneilenden zeit. MOMA 9-2000
  • Was bedeutet kreative Vernunft? Ethisches Dilemma im sozialen Systemwechsel. 10-2000
  • Not mit den Menschenrechten. Vorstellung einer Kultur ohne Unterdrückung. MOMA 12-2000/1-2001

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