Was heisst fotografische Lyrik? – Ein Blick auf Julieta Schildknechts aktuelles Werk

Was heisst fotografische Lyrik?

Ein Blick auf Julieta Schildknechts aktuelles Werk

 

Als ich Julieta Schildknecht im Sommer 2004 kennen lernte, legte sie mir eine fotografische Dokumentation der Lebensbedingungen brasilianischer Strassenkinder vor. Es sind Bilder finsterer Kellerräume mit den Kleinsten, die kaum gehen können und die, minimal bekleidet oder nackt, sich aneinander drängen und mit grossen Augen in die Kamera blicken. Andere Bilder mit Jugendlichen, Mädchen und Knaben, einzeln oder in kleineren Gruppen, die zwischen Autos und Abfall sich selber zum Kauf anbieten. Im Hintergrund Männer, manchmal eine Frau, immer erschütternde Gleichzeitigkeit von Kindern oder Jugendlichen und von latenter Gewalt, von Verfügungs- und Verführungsgewalt, von sexueller Gewalt, von vielfacher Abhängigkeit, vielleicht von Hoffnung auf einen Ausweg aus dem Labyrinth von Hunger, Schmutz und Sehnsucht, vielleicht von Hoffnung auf Glück, doch letztlich schwarz-weisse Hoffnungslosigkeit mit allen Grautönen, Bilder einer transgenerationellen Abfolge von Tätern und Opfern, als deren Produkt Kinder geboren werden und deren Überleben erneuter Gewalt unterworfen ist. Nicht politische und nicht sozialkritische Motivation fand sich als Leitmotiv hinter Julieta Schildknechts Dokumentation, sondern die schwer aussprechbare persönliche Dringlichkeit ihrer Seele, tabuisierte Realität bildhaft zu thematisieren.

Um das Tabu anzutasten, das der komplexen inneren Empfindungswelt des Kindes auferlegt ist – dem psychischen Apparat (gemäss Freuds Bezeichnung), der den erwachsenen Menschen weiter in seinen dringlichen und latenten, abwehrenden und fordernden Impulsen begleitet, in seinen Ängsten und in seinen Sehnsüchten -, bedarf  Julieta Schildknecht des fotografischen Apparates. Die Sprache des Bildes hat für sie eine Übersetzungsfunktion, die des technischen Mediators bedarf, resp. eines magischen Apparates oder Instruments, durch welches die Klangfarben der Seele Ausdruck finden. Die Kunst besteht im richtig vibrierenden Zusammenspiel der beiden Apparate, das durch den verlängerten und gleichzeitig intensivierten Blick der Fotografin den Moment aus dem Ablauf der Zeit löst, ihn festhält und das Bild zeugt. Noch liegt es nicht vor als Fläche, noch bedarf es der physikalisch und chemisch beeinflussbaren Entwicklung und Gestaltung, bis es vorliegt und durch einen anderen Blick entziffert werden kann. Der Blick, durch den es geschaffen und der Blick, durch den es betrachtet und interpretiert wird, haben eine unterschiedliche Funktion, doch beide beziehen sich auf das Bild.

Jeder Blick beruht auf einem momentanen Bezug zu dem, was das Bild dem betrachtenden Auge bedeutet: für die Fotografin das Resultat eines zeitlichen Bildablaufs, der angehalten wird; dadurch Dokumentation dessen, was war, wie es war und wie es von ihr gesehen wurde. Das Bild schafft für sie aus der Flüchtigkeit Dauer, es ist ins Sichtbare umgesetzte Erinnerung. Für die Betrachterin beginnt durch die Begegnung mit dem Bild ein neuer zeitlicher Ablauf, der beim Resultat der Fotografin ansetzt und dem psychischen Apparat übergeben wird. Andere gespeicherte Bilder werden dadurch berührt, geweckt und in einen Bedeutungszusammenhang versetzt. Ein Bild betrachten leitet einen vielfachen dialogischen Prozess ein: einerseits mit der Bildsprache selber, die in sich selber verharrt und dadurch eine magisch wirkende Aussage enthält, andererseits mit der Fotografin, ohne deren Wahrnehmung und Handlung das Bild nicht vorliegen würde, weiter mit dem eigenen Ich, das durch das Bild angesprochen wird.

Es gibt eine Vielzahl von Überlegungen, die auf den Prozess der Fotografie eingehen. Von besonderer Bedeutung erscheint mir, was der technischen Qualität der Fotografie gegenüber Distanz fordert, so Susan Sontag, um in besonderer Weise auf die rätselhafte Mimesis der Seele einzugehen, die sich in der Bildübersetzung äussert. Oder Vilém Flusser und dessen  Auseinandersetzung mit der perfekt manipulierbaren, technologisierten Bildsprache, durch welche mit Hilfe der Kamera (von ihm weniger als Werkzeug, denn als Spielzeug, analog zu jenem des Schachspiels, betrachtet) die Raum-Zeitdimensionen auf die Fläche reduzierbar werden. Was mir wichtig erscheint, ist die Betrachtung der Fotografie in fragendem Bezug zu den inneren Bildern der Fotografin, die bei ihr nicht zur Tonsprache und nicht zur Schriftsprache Zugang finden, sondern der symbolischen Übersetzung durch andere Bilder bedürfen. Es stellt sich die Frage, was es braucht, damit im persönlichen Duktus eine  fotografische Lyrik entsteht, analog und zugleich anders wie jene, die als Dichtkunst der inneren Lyra eines Menschen mittels der Sprache oder der Musik gerecht wird. Auch Musik und Sprache verlassen den funktionalen Ton der Alltagssprache, um Körperlaute in Klanggrammatik umzustimmen, um Pulsrhythmus in Worte zu kleiden, letztlich um ein Sprachkleid zu schaffen, das die Haut zu schützen vermag und Halt bedeutet vor dem forschenden, trugfreien Spiegelbild der Seele.

Für Julieta Schildknecht mit ihrer zugleich brasilianischen und schweizerischen Herkunftsgeschichte waren die Klang- und Sinndifferenzen der Vatersprache-Muttersprache-Gutegesellschaftssprache – Schulsprache-Lehrsprache-Kirchensprache-Bürosprache-Lautsprechersprache ständige Wiederholung der Einsamkeit der Kindersprache auf der schmalen Linie zwischen persönlichen und anderen, fremden Bedürfnissen, zwischen dröhnenden und leisen Lauten, zwischen Geboten und Verboten, zwischen Zuviel und Zuwenig an Süssigkeit und an bitterem Salz. Noch ist das kindliche Wissen karg im Erkunden der Lebensfülle, die es umgibt, und ohne Kenntnis der  Folgen all dessen, was sich an Bildern und an Erfahrungen speichert, noch ohne Kenntnis der lang währenden Schmerzzustände in den verborgenen Schichten der Seele, die sich in Sehnsucht und vielfacher Unruhe kundtun und schnell von neuen Erfahrungen überwachsen werden. Julieta Schildknecht bedurfte der Fotografie, um zur Möglichkeit der Lyrik zu gelangen.

Der kalte Schnee und das missbrauchte Kind

Ein Kind im Schnee, hingesetzt und hingeworfen, nach vorn, nach hinten, zur Seite, die geöffneten Augen ins Leere gerichtet, ohne schützendes Kleid, die Arme hilflos verrenkt, baumelnd mit kleinen Fäusten, die sich nicht zu öffnen vermögen, die Beinchen gespreizt, geknickt, verdreht, der ganze Körper getrennt und zusammengenäht mit dem Kopf, mit den offenen Augen und dem geschlossenen Mund, Schmerz und Verlassenheit ohne Worte, schutzloses Kind ohne Namen, Puppe, Kindpuppe, Objekt jeglicher Zweckerklärung und jeglicher Aneignung Erwachsener. Der Schnee überdeckt alle Wege und Spuren unter sich, weiss wie ein Linnen, das der grossen Kälte bedarf, um die weisse Textur zu wahren. Was heisst Liebe? Wie schwer abgrenzbar ist doch für ein Kind der eigene Körper in dessen Bedürfnis nach pulsierender Nähe und Wärme. Wie unaussprechbar ist die fortgesetzte Erfahrung, Objekt der Wunscherfüllung Erwachsener zu sein, wie hart der Weg zur Ich-Erfahrung als Subjekt in der fragilen, vielfach überworfenen, familiären und sozialen Grammatik des Zusammenlebens.

Die Dringlichkeit, die Julieta Schildknecht bewog, mit ihrer Kamera in einer der Favelas von Sao Paulo die Tatsache sexueller Gewalt zu dokumentieren, der ungezählte Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind, findet in der Bilderserie über die Kindpuppe im Schnee eine andere, zugleich komplexere und einfachere, direktere Übersetzungsweise. Um verständlich zu machen, was in ihrem Innenlabyrinth nach Übersetzung drängt, benutzt Julieta Schildknecht nun als Objekt der Kamera, d.h. als Objekt des im technischen Apparat verlängerten eigenen Blicks von Innen nach Aussen nicht mehr Kinder in deren Anpassungs- oder Verführungserfahrung, sondern ein Kindsymbol, das aufs genaueste darstellt, was sie dargestellt haben möchte: das wehrlose Kindsein überhaupt, das Ausgeliefertsein in jedem Herkunftsgefüge, das den geheimen Bezirk der Liebe dem Missbrauch von Vertrauen durch den Missbrauch von Macht überlässt. Gibt es eine überzeugendere Magie als jene des Symbols durch das tonlose Entsetzen, das überall beheimatet ist? Kann Erkennen auf Grund von Scham zu einem anderen Bewusstsein des Verhaltens bewegen?

Fotografien sind nicht Antwort auf Fragen, sondern Angebot des dialogischen Prozesses, das sich dem betrachtenden Auge offenbart, jenem der optischen Wahrnehmung wie jenem des inneren Blicks, um – Traumbotschaften vergleichbar – ein Erkunden des Unbewussten zu ermöglichen.

 

Transit zwischen Dasein und Dortsein

Auch in der zweiten Bilderserie gleitet Julieta Schildknecht  – dank ihrer Kamera und der technischen Bildverarbeitung – aus der nicht beantwortbaren Fragestellung der inneren Welt in jene der schwarz-weissen Flächenstrukturen über, zu einer Lyrik der Trennung und des Übergangs, der Trauer und zugleich, vielleicht, der Befreiung. Der krankheits- und altersbedingte Tod des Vaters, räumliche und zeitliche Nähe, religiöse Rituale des Abschieds und der Beisetzung sowie erneute Emigration liessen für sie Fragen des Sterbens zu, mit grosser Dringlichkeit, zugleich mit Mut und mit Scheu.

Ist mitteilbar, was beim Sterben geschieht? Der Körper in seiner zeitlich begrenzten Materialität und die immateriell-zeitentlastete Kraft des Geistes – psyche in der griechischen Sprache, anima in der lateinischen, Seele in der deutschen – verlassen einander mit zunehmender Untrügbarkeit in den Momenten des sich verlangsamenden Atems. Dass der Zyklus zwischen Lebensanfang und Lebensende, der die individuelle Existenz eines Menschen bedeutet, sich im Transit zwischen Dasein unter den Lebenden und Dortsein jenseits der Lebenden vollendet und schliesst, ist ein Faktum. Doch wie es sich vollzieht, bleibt geheimnisvoll und kann nicht auf Wissen beruhen; es stützt sich auf Ahnung und Deutung, vielleicht auf Glauben.

Julieta Schildknechts Bemühen besteht im Ertasten einer bildhaften Vermittlung dessen, was ihrem inneren Bild der schrittweisen Veränderung des Zusammenspiels von Körper und Geist nahe kommt. Licht, Dunkelheit und Licht sind die zentralen optischen Gegensätze, deren schwebend vibrierenden Zwischenphasen die Bilderfolge des letzten Zyklus entspricht. Im fotografischen Entschlüsseln ihrer inneren Bilder ergab sich für sie ein Veränderungsprozess, den sie selber staunend zur Kenntnis nahm. Die Möglichkeit bildhafter Darstellung des Nichtwissens liess sich ahnend erarbeiten, das Schwinden des Augenlichts im Übergang wachsenden Dunkels in ein anderes Licht wurde darstellbar, sachte und vage, nebelhafte  Annäherung an etwas Untrügliches, Transzendentes, dessen Heimat Hoffnung heisst.

 

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