„Die dauernde Anstrengung, nicht der Servilität zu verfallen…“

„Die dauernde Anstrengung, nicht der Servilität zu verfallen…“

 

Verjagte man morgen die Unternehmer, vergesellschaftete man die Fabriken, so änderte sich nichts an diesem grundsätzlichen Problem: die Notwendigkeit, eine maximale Anzahl von Produkten ‘auszustossen’, entspricht nicht den Lebensbedürfnissen der in der Fabrik arbeitenden Menschen”.[1]

Jedes Dorf hatte früher zumindest eine Fabrik, seine Fabrik. Da, wo ich bis zum zehnten Lebensjahr aufwuchs, standen die grauen Werkhallen der Fabrik am Rand eines Kanals, der auf der anderen Seite mit einer steinernen Böschung und einem hohen Drahtzaun die Strasse, den Milchladen und das Schulhaus vom Fabrikareal abgrenzte. Im rechten Winkel zur Schulhausstrasse und zum Kanal zog sich die Hauptstrasse hin, die zum Dorf  hinaus ins nächste Dorf führte. Gegen die Hauptstrasse war das Fabrikareal mit einem Eisengitter abgeschlossen, in dessen Mitte sich ein Tor befand. So war die Fabrik mit den Drahtzäunen, dem Kanal und dem Eisengitter völlig vom Dorf isoliert, obwohl sie mitten im Dorf war. Die Männer und die Frauen, die ich durch das Eisentor gehen sah, schlenderten nie, scherzten nie. Sie blickten zu Boden und gingen im Eilschritt.

Auf derselben Strassenseite wie das Schulhaus, der Fabrik gegenüber, reihten sich sechs ebenso graue Wohnhäuser hintereinander, mit schmalen Vorgärten, dreistöckig mit je zwei Eingängen und kleinen Fenstern. Dort wohnten die Arbeiterfamilien. Bei den meisten arbeitete der Vater auf dem Bau oder sonst irgendwo, die Mutter in der Fabrik. Etwa zwölf Kinder aus meiner Klasse waren Arbeiterkinder. Mittags erhielten sie im Kellergeschoss des Schulhauses einen Teller Suppe und ein Stück Brot. Das Ende der Strasse war unklar, von Unkraut  überwachsen, das Moor begann dort, dann der Weiher, an dessen Rand zu gehen gefährlich war. Der moorige Boden brach ein. Wo das Fabrikareal aufhörte und das Waisenhaus begann, weiss ich nicht mehr genau. Ein Waisenknabe war, als ich in die erste Klasse ging, im Weiher ertrunken. Seinen Tod brachte ich mit der Fabrik in Verbindung,  mit den  hohen Kaminen, mit dem schlechten Geruch, der über den Kanal durch die offenen Fenster des Schulzimmers drang und der auch an den Kleidern der Waisenkinder haftete, Sommer und Winter. Waisenhaus und Fabrik waren grau und finster, sie gehörten in meiner Wahrnehmung zusammen, eine Gegenwelt,  gekennzeichnet durch Gitter und durch Unglück, durch rissige, asphaltierte Höfe und durch eine Sirene. Diejenige auf dem Dach des Waisenhauses war die Kriegssirene, die bei Bombenalarm aufgeheult und die Dorfbevölkerung in die Luftschutzkeller getrieben hatte; diejenige auf dem Dach der ersten Halle gellte täglich mehrmals – wohl bei Schichtwechsel –  über das Dorf hinweg in die Schlaf- und Wohn- und Schulstuben hinein.

Von dort, wo ich wohnte, am Saum des Waldes über dem Dorf, da war die Fabrik nicht erkennbar, und trotzdem war die Fabrik  in meiner Wahrnehmung und in meiner Phantasie die dunkle, beunruhigende Nachbarschaft, der ich nicht ausweichen konnte. Ich lebte an ihrer Grenze, sie war für mich wie das beunruhigende Ausland, fremd und anziehend. Sie gehörte zur gleichen Weltkategorie wie das Waisenhaus, aber auch wie die Bahnhöfe mit den Eisenbahnzügen voller Flüchtlingskinder. Worin die Ähnlichkeit bestand, hätte ich nicht sagen können. Es waren nicht ähnliche Orte, aber sie lösten in mir ein ähnliches Gefühl aus. Ich war von Unruhe getrieben, mehr darüber zu wissen.

Die Sirene schrillte den Hügel entlang hoch und die russgeschwärzten Schlote überragten den Kirchturm. Später wurde mir bewusst, wie gerade dieses Bild für die Generation der damaligen Erwachsenen – allerdings nur für jene, die selber nicht ins Los der Fabrikarbeit eingebunden waren – Symbol für den Fortschrittsglauben sein mochte, für die einen mehr, für die anderen weniger, ein ebenso entfremdender und trügerischer Glaube wie jeder andere. In welchem Mass die Fabrikarbeit selbst entfremdend ist, wie sie die Existenz aufzehrt – die Lebensfreude und die Lebenszeit, die Schaffenskraft, die Kraft der Aufmerksamkeit, die Gesundheit der Augen, der Hände, der Beine, des Rückens, der Lunge, des Kopfes -, ohne dass sie im geringsten existentielle Nahrung bietet, all dies erfasste ich erst viel später.

Und der Lohn? – „Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben” war eine häufige Redewendung, die ich in der Kindheit hörte, doch trotzdem war der Lohn die einzige Rechtfertigung für die Fron, eine demütigende Rechtfertigung vor allem wegen der Tatsache, dass für die Arbeiter und Arbeiterinnen kaum eine Alternative zur Fabrik bestand, eine doppelt demütigende für die Frauen, da ihr Lohn bei der gleichen Arbeitszeit und bei der gleichen oder grösseren Erschöpfung noch knapper war als jener der Männer. Nichts Zusätzliches, nur gerade das Überleben vermochte er zu gewährleisten – „zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben”. Was in meiner Kindheit nur Ahnung war, die sich mit den regelmässigen Besuchen in einem der Arbeiterhäuser verdichtete, nachdem ich mich mit einer Klassenkameradin befreundet hatte, die mit ihren vielen Brüdern, einer unwirschen halbblinden Grossmutter und den Eltern, die ich allerdings nie sah, in einer der schlecht riechenden, dunkeln Wohnungen hinter dem Schulhaus lebte, versuchte ich später genauer zu erfahren. Dass ich später den Skandal von Armut, von Ausbeutung und Marginalisierung, kurz von systematischer Demütigung von Menschen zu durchleuchten und anzuprangern wünschte, war wohl nicht zuletzt durch die Wahrnehmungen der Kindheit vorbereitet worden.

Im Frühling und Sommer 1992, als im damaligen Jugoslawien schon der Krieg ausgebrochen war und ich mich entschlossen hatte, mich für die Flüchtlingshilfe einzusetzen, konnte ich mir ab und zu ermöglichen, quer durch die Schweiz zu reisen und Fabriken zu  besuchen. Monique Jacot hatte während zehn Jahren Fabrikarbeiterinnen fotografiert und wünschte, dass ich mich mit deren Arbeitsbedingungen auseinandersetze. So stellten sich mir Fragen, die weit hinter die damaligen Verhältnisse zurückwiesen: Wie kam es, dass sich in diesem bergigen und bäuerlichen Land die Industrien ansiedelten? Wann und wie setzte der Widerstand der Frauen gegen die Belastungen und Ungerechtigkeiten der Arbeit ein? Die lange Arbeitszeit, die Doppel- und Mehrfachbelastung von Mutterschaft, Haushalt und Fabrikarbeit sowie der viel geringere Lohn bei gleicher Arbeit als jener der Arbeiter hatten seit Flora Tristan[2] Generationen von Frauen zu Revolutionärinnen werden lassen. So entschied ich, sowohl in die Fabriken zu gehen und Gespräche zu führen wie mich mit den Aspekten der Frauenarbeit in der schweizerischen Wirtschaftsgeschichte zu befassen, insbesondere mit der Auflehnung der Frauen gegen die ihnen auferlegten Bedinungen. Nur eine knappe Zusammenfassung kann ich wiedergeben.

„Alles Erworbene bedroht die Maschine, solange

sie sich erdreistet, im Geist, statt im Gehorchen, zu sein.

(…)

Nirgends bleibt sie zurück, dass wir ihr  e i n  Mal entrönnen

Und sie in stiller Fabrik ölend sich selber gehört.

Sie ist das Leben, – sie meint es am besten zu können,

die mit dem gleichen Entschluss ordnet und schafft und zerstört.“[3]

Bald nachdem zwischen 1768 und 1784  John Watt die Dampfmaschine entwickelt hatte, führte deren Verbreitung auch in der Schweiz im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einer mächtigen industriellen Entwicklung. Es hatten sich hier schon seit dem Mittelalter, vor allem im Umkreis der Städte Basel und Schaffhausen, Genf, Zürich und St. Gallen, neben der bäuerlichen Erwerbs- und Lebensform gewerbliche und kaufmännische Traditionen herangebildet, die zur Entwicklung einer bedeutenden vorindustriellen Industrie geführt hatten.[4] Infolge der schweizerischen Rohstoffarmut eigneten sich hierfür nur wenige Industriezweige, insbesondere die Wollspinnerei und -weberei. Später, als der Flachsanbau einsetzte, kam die Leinenweberei hinzu, in der Zeit des Ancien Régime auch die Seidenweberei.

Die Leinenproduktion aus St. Gallen und aus dem benachbarten Appenzell war zum Beispiel schon im 16. Jahrhundert berühmt und fand Absatz auf allen grossen Messen in Frankreich, Österreich, in den Niederlanden und in Italien. Das bäuerliche Hinterland bot für diese Art von Textilproduktion die nötigen Arbeitskräfte, ob einzelne Mitglieder aus grossen Familien in die Städte zogen oder ob andere sich von städtischen Arbeitgebern zur industriellen Heimarbeit verpflichten liessen. Die Basler Posamenten-Industrie etwa beschäftigte nicht nur das eigene Untertanengebiet, sondern praktisch das gesamte Bistumsgebiet bis nach Solothurn.

Während in den deutschschweizerischen Städten die Zünfte dem vorindustriellen Aufschwung immer wieder Hindernisse in den Weg legten – Hindernisse, die etwa in Zürich zum Teil umgangen wurden, indem Frauen, die nicht der Zunftordnung unterstanden, als billigere Spinnerinnen und Weberinnen beschäftigt wurden -, gab es in der Stadt Genf, die noch lange nicht zur Schweiz gehörte, bedeutend weniger Missbrauch und Einschränkungen. Als zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Uhrmacher sich zunftmässig organisierten, geschah dies nicht in der antikapitalistisch-protektionistischen Weise der Deutschschweizerstädte, sondern mit einer arbeitsteiligen Zuständigkeitsordnung, die einen schnellen Erwerbsaufbau zuliess. Kapital und handwerkliche Fertigkeit wurden übrigens in Genf wie andernorts vor allem durch die erstmals 1550, erneut 1685[5] aus Frankreich und Italien geflohenen protestantischen Flüchtlinge mitgebracht, die damit den Reichtum der Städte, die sie aufgenommen hatten, begründeten. In Genf  war es auch möglich, dass sich eine Frau schon im 17. Jahrhundert zur bedeutenden Unternehmerin entwickeln konnte: Elisabeth Baulacre, die nach dem Tod ihres ersten Ehemannes eine kleine Werkstatt für die Herstellung von Gold- und Silberfäden, die in der Seidenweberei gebraucht wurden, weiterführte und auf so tüchtige Weise ausbaute, dass das Unternehmen bei ihrem Tod im Jahre 1693 eines der ertragreichsten in der ganzen Stadt war.

Die Bezeichnung „fabrique”[6] tauchte ebenfalls in Genf erstmals auf, im Zusammenhang mit der aufkommenden Uhrenindustrie. Sie diente für den Zusammenschluss verschiedener Spezialisten, Uhrmacher, Gehäusebauer, Emailleure, Graveure und anderer Handwerker, die sich bei der Herstellung der kostbaren Chronometer und Spielautomaten ergänzten. Erst im 18. Jahrhundert entstanden die ersten Fabriken im heutigen Sinn, auch in der Deutschschweiz, indem die verschiedenen Arbeitsgänge unter einem Dach vereinigt und auf diese Weise rationalisiert und maschinell beschleunigt wurden. Am stärksten veränderte dieses System die Textilindustrie, insbesondere als sich im Lauf des 17. Jahrhunderts die Baumwollverarbeitung in der Schweiz durchsetzte. Es bedurfte geschickter Handelsleute, damit das Rohmaterial von Ägypten oder Syrien über den Hafen von Livorno oder Marseille schliesslich auf dem Zurzacher Markt eintraf und seinen Weg in die Zürcher, Aargauer und schliesslich in die Glarner und St. Galler Manufakturen fand.

Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an etablierten sich dann überall in den Landgebieten Spinnereien, während sich die Webereien mehrheitlich in den Städten ansiedelten, auch in Gebieten, die bis zu diesem Zeitpunkt wenig Industrie gekannt hatten, etwa im Bernbiet, wo Langenthal zum Zentrum bedeutender Webereien wurde, oder in der Waadt, in Lausanne, wo die im Hinterland gesponnenen Garne verarbeitet wurden. In dieser Zeit kam auch der Baumwolldruck auf. Die „Indiennes” wurden Mode, und Genf gelang es, sich auf die Herstellung und den Vertrieb bedruckter Baumwoll- und Seidenstoffe zu spezialisieren. 1728 beschäftigte die Firma Fazy in Genf schon über 600 Arbeiterinnen und Arbeiter. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts breitete sich mit Genfer Hilfe diese Industrie auch in Neuenburg aus, wo bald ein Dutzend Unternehmen an die 2000 Männer und Frauen beschäftigten. In den Städten, wo die Zünfte – also der Staat – sich einmischten, so in Zürich und Bern, war diese Phase des industriellen Aufschwungs viel zögerlicher.

Die Schwankungen in der Produktion hingen jedoch von bedeutend mehr Faktoren als vom Einfluss der Zünfte ab: von Kriegen und anderen Katastrophen, von der ausländischen Produktion und Nachfrage, von Moden und Inflationen, von allgemeinen oder regionalen Wirtschaftskrisen und von technischen Innovationen. Ich kann hier nicht nachzeichnen, was als wirtschaftsgeschichtliches Forschungsgebiet ganze Bibliotheken füllt. Der grosse Umschwung geschah wie überall in Europa gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit der Einführung der Dampfmaschinen, die mit einem starken Wachstum der Bevölkerung zusammenfiel.[7] Dies bedeutete, dass billige Arbeitskräfte im Überfluss vorhanden waren, dass die Löhne gedrückt,  dagegen die Arbeitszeit und die Anforderungen an die Arbeitsqualität gesteigert werden konnten. Infolge dieses Überangebots nahmen auch Arbeitslosigkeit und Verelendung in den Städten wie auf dem Land auf gravierende Weise zu. Allerdings war die Armut in den industrialisierten Gebieten immer noch geringer als in den rein bäuerlichen. Statistiken zufolge machten die mit öffentlichen Geldern unterstützten Armen in den bäuerlichen Regionen bis zehn Prozent der Bevölkerung aus, während sie zum Beispiel im Kanton Zürich nur drei bis vier Prozent betrugen. Es bestehen genügend Aufzeichnungen, um zu wissen, dass um 1857 allein in der Schweizerischen Baumwollindustrie 12’813 Spinnerinnen beschäftigt waren, 48’900 Weber, 12’000 Baumwolldruckerinnen und -drucker und 16’000 Stickerinnen und Sticker. Man muss sich jedoch vorstellen, unter welchen Bedingungen die Fabrikarbeit geleistet werden musste: 13 bis 15 Stunden Arbeitszeit waren üblich, in der Textilindustrie bis zur Jahrhundertmitte sogar bis 18 Stunden.

1877 kam ein Schweizerisches Fabrikgesetz zustande, das die Arbeitszeit auf 11 Stunden begrenzte und die Arbeit von Kindern unter 14 Jahren verbot. Auch schrieb das Gesetz vor, dass Kinder zwischen 14 und 16 Jahren in Schule und Fabrik insgesamt nicht mehr als 11 Stunden eingesetzt werden durften. Doch auch so kannten Arbeiterkinder ständige Übermüdung und Erschöpfung. Zur Arbeitszeit kamen lange Wege, Kälte, spärliche und eintönige Ernährung, enge Wohnverhältnisse, sodann die Angst vor grober Rüge und vor Schlägen, vor Krankheit und Arbeitslosigkeit hinzu.
Das unbeschreibliche Elend wurde auch mit dem Fabrikgesetz nicht behoben. Allerdings sah dieses neben einem stärkeren Kinderschutz auch Verbesserungen zu Gunsten der Arbeiterinnen vor[8], etwa dass keine Frauen bei  Sonntags- und Nachtarbeit eingesetzt werden durften, dass solche, die ein Hauswesen zu besorgen hatten, eine halbe Stunde vor der Mittagspause entlassen werden mussten, sofern diese nicht eineinhalb Stunden betrug. Das Gesetz schrieb auch vor, dass Schwangere wenigstens zwei Wochen vor der Niederkunft, und Wöchnerinnen wenigsten sechs Wochen nach der Geburt nicht beschäftigt werden durften, dass Frauen ebenso wenig mit der Reinigung laufender Motoren, Transmissionen und lebensgefährdender Maschinen beauftragt werden durften.

Was allerdings das Gesetz vorschrieb, entsprach nicht der Umsetzung des Gesetzes. Im Bericht der Eidgenössischen Fabrikinspektoren vom Mai 1879 hält Fridolin Schuler fest, dass insgesamt nur 22 Fabriken mit einer „gehörigen Wöchnerinnenkontrolle” gefunden werden konnten, dass in der Mehrzahl der Kontrollen alle möglichen Ausflüchte billig genug waren, um die Nichtbefolgung der gesetzlichen Vorschriften zu erklären. Vor allem wurde die Armut der Frauen als Grund genannt. Schuler hält jedoch fest, dass von Seiten der Unternehmer, von denen er „sehr schroffe und wenig humane Äusserungen gehört habe”, wohl andere Gründe hierfür massgeblich seien: der Widerwille, eine Arbeiterin während acht Wochen zu ersetzen, die Einrichtung von Frauenkrankenkassen zuzulassen, die an Wöchnerinnen Unterstützungen zahlten, wie dies etwa in Glarus der Fall sei und den Frauen den Arbeitsunterbruch erleichtere. Auch würden von Seiten der Arbeiter die „lebhaftesten Proteste” laut, kleine Wochenbettsubventionen aus der Fabrikkrankenkassen zu entrichten.[9]

Fabrikgesetz hin oder her, auf den Arbeiterinnen lasteten neben den Härten der Fabrikarbeit eine Menge weiterer Frauensorgen und Frauenpflichten: das zumeist freudlose Eheleben, Schwangerschaften und Frauenkrankheiten, ein mürrischer und verbitterter Mann, der häufig einen Teil des dringend benötigten Zahltags vertrank. Dazu eine Schar – häufig kranker – Kinder, denen sie kaum eine gute Mutter sein konnten, da für sie weder Zeit noch Kräfte blieben, das tägliche Aufräumen und Kochen, das sie noch vor der Fabrikarbeit zu erledigen hatte, sowie das mühselige Waschen der Kleider, wofür die verheirateten Arbeiterinnen am Samstagnachmittag freigestellt werden mussten. Es waren so schändliche Lebensbedingungen und unweigerlich eine stete Auszehrung der Lebensfreude, ein so völliger Abbau aller existentiellen Ressourcen und ein solches Übermass an Müdigkeit, dass die meisten Arbeiterinnen vielfältig krank wurden, früh alterten und früh starben. Die ärztlichen Berichte von Paulette Brupbacher aus ihrer Praxis in Zürich-Aussersihl sind erschütternde Belege[10].

Flora Tristan, die in ihren 1843 erstmals erschienenen Schriften diese unwürdigen Zustände aufs genaueste  schilderte und auf diese Schilderung einen glühenden Aufruf zur Veränderung folgen liess, hielt fest: „Im Leben der Arbeiter ist die Frau alles. Sie ist ihr einziger Schutzengel. Wenn sie ihnen fehlt, fehlt ihnen alles”. Dass trotzdem der Mann häufig seine Frau mit grosser Verachtung behandle, empörte Flora Tristan. Sie kam zum Schluss, dass die Ursachen für diese folgenschweren Missstände gesellschaftlicher Art seien und die geistige, moralische und materielle Besserstellung der Arbeiterklasse nur erreicht werden könne, wenn die Frauen volle Rechtssubjekte würden: „Ich fordere Rechte für die Frau, weil ich davon überzeugt bin, dass alle Übel dieser Welt daher rühren, dass die natürlichen und unverbrüchlichen Rechte bislang vergessen und verachtet wurden, soweit es die Frauen betraf. Beginnt ihr nun zu begreifen, ihr, Männer, die ihr Skandal schreit, bevor ihr die Frage geprüft habt, weshalb ich Rechte für die Frau fordere – warum ich möchte, dass sie in der Gesellschaft dem Mann absolut gleichgestellt wird und sich dieser Gleichheit aufgrund des Rechtes, mit dem jedes menschliche Wesen von Geburt aus ausgestattet ist, erfreuen kann?” [11]

Die zweite Ursache, die Flora Tristan für die missliche Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter als entscheidend erkannte, war der Mangel an Bildung und Wissen. Sie schlug vor, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst Abhilfe schafften, nicht indem sie Forderungen stellten, sondern indem sie sich in einer „Universalen Arbeiter- und Arbeiterinnenunion” organisierten. Sie entwarf einen genauen Plan für deren Gründung, für die materielle Absicherung und das geistige Programm. Durch einen sehr kleinen Jahresbeitrag sollten alle Arbeiterinnen und Arbeiter dazu beisteuern, dass Häuser – „Paläste” nannte sie Flora Tristan – gebaut würden, in denen die alten, nicht mehr arbeitsfähigen Frauen und  Männer Aufnahme fänden, in denen die Kinder betreut würden und in denen Bildungs- und Weiterbildungskurse angeboten würden. Die Arbeiter- und Arbeiterinnenunion würde auf der unbedingten Gleichstellung von Frauen und Männern beruhen.

So schuf eine einzelne Frau in Frankreich ein Programm, das damals zwar als utopisch verschrieen wurde, das aber den Arbeiterinnen Hoffnung gab. Bis die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Schweiz die Kraft fanden, sich politisch zu organisieren, dauerte es noch lange. So wie es Flüchtlinge waren, die im 16. und 17. Jahrhundert durch ihr Kapital und ihr Wissen den frühindustriellen Aufschwung ermöglichten, waren es auch Flüchtlinge, die der gedrückten Arbeiterschaft in der Schweiz den Anstoss zu ihrer Organisation, zur Formulierung ihrer Forderungen und schliesslich zur Revolte gaben. Zwar bestand seit 1838 der in Genf gegründete Grütli-Verein, in dessen Rahmen sich die Arbeiterbewegung zu sammeln begann, doch erst Wilhelm Weitling, ein von der preussischen Polizei wegen kommunistischer Aufwiegelung gesuchter Schneidergeselle, formulierte den Widerstand gegen die Ausbeutung und das Elend der Arbeiterschaft. 1840 kam er nach Genf und begab sich von dort in die verschiedensten Schweizer Städte, immer gehetzt von der Polizei. Er erreichte jedoch weniger die Schweizer Arbeiterschaft als die deutschen Handwerksgesellen, die ebenfalls unter misslichen Bedingungen gehalten wurden. Die Zürcher Justiz verhaftete Weitling 1843 und verurteilte ihn wegen Gotteslästerung zu sechs Monaten Gefängnis, worauf sie ihn den preussischen Gendarmen auslieferte.

Weitere deutsche Revolutionäre, später auch polnische und russische Flüchtlinge suchten Zuflucht in der Schweiz, darunter bedeutende Sozialistinnen, etwa Zofia Daszynska und Rosa Luxemburg[12], die beide an der Zürcher Universität promovierten und sich für die internationale Vernetzung des Klassenkampfes engagierten. Eine andere russische Emigrantin, Rosa Reichesberg, kam über Wien als Studentin nach Bern, wo sie den Arbeiterführer Robert Grimm kennenlernte, den sie 1908 heiratete und von dem sie sich 1916 wieder scheiden liess.[13] Rosa Grimm zog nach Zürich, später nach Basel, eine kompromisslose und wortstarke Vertreterin politischer Agitation, die alle Zugeständnisse an die bürgerliche Gesellschaft ablehnte, in Verbindung und Übereinstimmung mit anderen führenden Sozialistinnen, etwa mit Rosa Luxemburg, mit Clara Zetkin, die um 1890 herum die proletarische Frauenbewegung in Deutschland gründete und der Bewegung der Arbeiterinnenvereine in der Schweiz wichtige Impulse vermittelte, oder mit Alexandra Kollontai, einer marxistisch-leninistischen Theoretikerin, die sich später als sowjetische Diplomatin profilierte. 1921 wurde Rosa Grimm Mitbegründerin der Kommunistischen Partei der Schweiz, näherte sich jedoch später wieder der SP an. 1941 trat sie definitiv der SP bei, da sie die stalinistische Terrorherrschaft als Verrat am Kommunismus empfand. Sie starb 1955.

Rosa Grimm wie auch die zweite „rote Rosa”,  Rosa Bloch-Bollag, waren nicht nur die einzigen Frauen im ersten Zentralkomitee der schweizerischen KP, sie hatten zusätzlich zu den Anfeindungen als „Kommunistinnen” und „Emanzen” unter schweren antisemitischen Angriffen zu leiden. Der Antisemitismus, verstärkt noch durch antisozialistische und frauenfeindliche Elemente, wuchs in jenen Jahren nicht nur in Deutschland zu einer immer bedrohlicheren Kraft an, sondern verbreitete sich auch in der Schweiz mit skrupellosen Verunglimpfungen und Aufhetzungen, insbesondere gegen jüdische Vertreterinnen und Vertreter des Kampfes um soziale Gerechtigkeit.  Auch Rosa Bloch stammte aus bürgerlichen, jedoch verarmten Verhältnissen, war mit dem Gründer des Zürcher Sozialarchivs, Siegfried Bloch, verheiratet und starb schon mit 42 Jahren an den Folgen einer Operation. Ob sie tatsächlich umgebracht wurde, wie ihr Mann vermutete, blieb ungeklärt. Tatsache ist, dass sie eine leidenschaftliche Vertreterin der Anliegen der Arbeiterinnen war, dass sie den Hungermarsch der Frauen von 1918 anführte und während des Ersten Weltkriegs unüberhörbar die Missstände der in Not lebenden Familien der eingezogenen Wehrmänner öffentlich anprangerte. Sie wirkte auch als einzige Frau an der Vorbereitung des Generalstreiks von 1918 im sogenannten „Oltener Komitee” mit. Dass sie im Bereich des Bürgertums eine Menge Feinde hatte, ist nicht erstaunlich.

Wenn schliesslich im Vorfeld und während des Ersten Weltkriegs auch in der Schweiz ein Erstarken und eine tatkräftige Organisation des proletarischen Widerstandes zustande kam, wenn die Arbeiterschaft gegen die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, unter denen sie leben und arbeiten musste, endlich aufstand,[14] war dies zu einem grossen Teil dem Beitrag der Frauen zu verdanken, vor allem der Unterstützung durch die Arbeiterinnen selber. Noch im Jahr 1870, als in Zürich einige Arbeiterführer, darunter Hermann Greulich, öffentlich den Zehnstundentag verlangten, wurde diese Forderung nicht nur von den bürgerlichen Parteien bekämpft, sondern auch von der Arbeiterschaft, da diese fürchtete, mit einer Verminderung der Arbeitszeit sänken die Löhne.

Die unter der Doppel- und Mehrfachbelastung leidenden Arbeiterinnen drängten jedoch auf eine Verkürzung der Arbeitszeit. 1887 wurde in Zürich ein „Arbeiterinnenverein” gegründet, allerdings weniger von Fabrikarbeiterinnen als von Dienstmädchen, Wäscherinnen, Büglerinnen, Putzfrauen und  Näherinnen, sodann von Studentinnen und Lehrerinnen, darunter Agnes Robmann und Marie Walter-Hüni. Um 1915 zählte der Verein 60 Mitglieder, alles unerschrockene Frauen, zu denen auch Arbeiterinnen gehörten, neben Rosa Bloch etwa Marie Härry oder Anny Klawa-Morf, die als Kind einer Heimnäherin schon mit sieben Jahren bis spät in die Nacht  Knöpfe an Herrenhemden annähte und am Samstag zu Fuss die Wochenproduktion dem Arbeitgeber abliefern musste, die sich zudem schon früh in der „Sozialistischen Jugend” engagiert hatte, wo sie im Zentralvorstand das einzige weibliche Mitglied war.

Lebensmittelpreise und Wohnungsmieten waren in jenen Jahren für Arbeiterfamilien ins Unerschwingliche angestiegen, nicht nur in Zürich, sondern überall in der Schweiz. Im Frühsommer 1918 gingen daher die Frauen an vielen Orten auf die Strasse und protestierten mit Hungermärschen gegen die unerträgliche Not, in Zürich zum Beispiel am 10. Juni. Das im Rathaus versammelte Kantonale Parlament weigerte sich jedoch, die Frauen anzuhören und schickte sie wieder zurück. Diese Arroganz der „Herren” erbitterte die notleidenden Arbeiterinnen noch mehr. Sie liessen sich nicht mehr abschrecken. Eine Woche später, am 17. Juni 1918, unterbreiteten sie dem Parlament ihre Petition, in der sie die niederen Löhne für Frauen- und Kinderarbeit anprangerten, ebenso die Wucherpreise für Grundnahrungsmittel und die fehlenden Unterstützungsleistungen während des Militärdienstes der Männer. Auch die Forderung nach Einführung des Frauenstimmrechts ertönte immer lauter. [15]

Für die Arbeiterinnen jener Zeit brauchte es grossen Mut, für die eigenen Rechte zu kämpfenAnny Klawa-Morf  hielt fest, dass „die Mädchen noch mehr als die Burschen angefeindet wurden, wenn sie sich politisch betätigten, und sehr schnell wurde ihnen nachgesagt, sie nähmen es mit ihrer Moral nicht so genau”.[16] Um aktiv zu sein, brauchte es Mut. Wuchs der Mut aus der Verzweiflung? Von Seite der Ehemänner oder der übrigen Arbeiter erfuhren die Frauen kaum  Solidarität. Diese verhielten sich zumeist feindlich oder kämpften ausschliesslich für die eigenen Rechte. Die Frauen mussten lernen, untereinander solidarisch zu sein und gemeinsam zu kämpfen. So wie der Zürcher Arbeiterinnenverein entstanden daher gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehrere kantonale Arbeiterinnenvereine. 1890 schlossen sich diese zum Schweizerischen Arbeiterinnenverband zusammen. Mit Hilfe dieser Vereine und des Verbands versuchten die Frauen, sowohl ihre politischen Forderungen zu formulieren wie für die lebenspraktischen Probleme Erleichterungen zu schaffen: es wurden zum Beispiel Koch- und Flickkurse, aber auch medizinische Beratung angeboten, in Zürich etwa durch die Ärztinnen Paulette Brupbacher und Betty Farbstein.

Erste Präsidentin des Schweizerischen Arbeiterinnenverbands war Verena Conzett-Huber. Obwohl aus ursprünglich bürgerlicher Familie, hatte sie vom zwölften Lebensjahr an in Seidenfabriken, Krawattengeschäften und in einem Modehaus  arbeiten müssen. Für Verena Conzett-Huber standen Versicherungsfragen im Vordergrund: noch als Kind hatte sie in der Stadt Zürich nicht nur die Cholera-Epidemie von 1867, sondern noch eindringlicher die plötzliche Armut ihrer Familie nach der Erblindung des Vaters und später weitere Schicksalsschläge erlebt. Als ihr Mann Conrad Conzett, ein leidenschaftlicher und selbstloser Sozialist, Buchdrucker und Redaktor der Arbeiterstimme auf tragische Weise starb, übernahm sie die Leitung der damals verschuldeten Druckerei und baute sie zu einem erfolgreichen Unternehmen aus, verminderte dabei aber nie ihr soziales Engagement. So verband sie zum Beispiel bei der Familienzeitschrift In freien Stunden, die sie für Arbeiterfamilien herausgab, mit dem günstigen Abonnement eine Unfallversicherung.

Schon 1893, an ihrem Dritten Delegiertentag, verlangte der Schweizerische Arbeiterinnenverband unmissverständlich die Einführung des Frauenstimmrechts. Die Arbeiterinnen in den kantonalen Vereinen wie im Schweizerischen Verband spürten jedoch, dass sie für die politische Durchsetzung ihrer Forderungen einer stärkeren Basis bedurften. So schlossen sie sich 1904 dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund an. Dieser setzte Margarethe Faas-Hardegger als Arbeiterinnensekretärin ein. Margarethe Faas-Hardegger, eine Anarcho-Syndikalistin, unerschrockene Rednerin, Organisatorin von Frauenstreiks und Herausgeberin von Die Vorkämpferin und L’Exploitée, wurde jedoch für die männliche Gewerkschaftsleitung zur Provokation, selbst für Hermann Greulich. 1908 wurde der Schweizerische Arbeiterinnenverband zum Austritt gezwungen und Margarethe Faas-Hardegger ein Jahr später entlassen. Sie schloss ihr Studium ab, liess sich scheiden, arbeitete als Publizistin und lebte von 1919 an mit ihrem Lebensgefährten und mit ihren Töchtern in einer, wie es damals hiess, „anarchistischen” Wohngemeinschaft im Tessin. Ihr Haus wurde zu einem Ort der Begegnungen und des Austauschs. In den dreissiger Jahren gründete sie ein Komitee für Waisenkinder aus dem Spanischen Bürgerkrieg, sie unterstützte Flüchtlinge aus dem faschistischen Italien und aus dem nationalsozialistischen Deutschland, sie kämpfte für die Einführung des Frauenstimm- und wahlrechts und sie beteiligte sich aktiv an der Vorbereitung des Schweizerischen Friedenskongresses von 1952. Kurz vor ihrem Tod im Jahre 1963 nahm sie noch am Ostermarsch für den Frieden teil[17].

Die Nachfolgerin von Margarethe Faas-Hardegger an der Spitze des Arbeiterinnenverbandes war die Lehrerin Marie Walter-Hüni. Sie förderte die Annäherung des Verbandes an die Arbeiterpartei, schliesslich im Jahre 1912 dessen Beitritt zur SPS. Es war eine kurze Mitgliedschaft, kam es doch schon fünf Jahre später zur Auflösung des Verbandes. Dessen Anliegen und Aufgaben wurden von den Sozialdemokratischen Frauengruppen aufgenommen und weitergeführt.

Ein Hauptzweck der politischen Organisation der Arbeiterinnen seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts war, die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit durchzusetzen. Schon Flora Tristan hatte festgestellt, „dass man in allen von Frauen und Männern ausgeübten Berufen das Tagwerk einer Arbeiterin um die Hälfte geringer bezahlt als das eines Arbeiters, oder dass sie die Hälfte weniger bekommt, wenn sie im Stücklohn arbeitet. Da wir eine schreiende Ungerechtigkeit nicht unterstellen mochten, kam uns zuerst der Gedanke, der Mann arbeite auf Grund seiner Muskelkraft doppelt so viel wie die Frau. Nun aber, genau das Gegenteil trifft zu. In allen Berufen, in denen es auf die Geschicklichkeit und Beweglichkeit der Finger ankommt, verrichten die Frauen fast die doppelte Arbeit wie die Männer. Beispielweise in den Druckereien beim Setzen (…), in den Baumwollfaden- und Seidenspinnereien, beim Verknüpfen der Fäden (…). Ein Drucker sagte mir eines Tages: ‘Man zahlt ihnen um die Hälfte weniger; das ist nur gerecht, da sie ja schneller arbeiten als die Männer; sie würden doch zuviel verdienen, wenn man sie gleich bezahlen würde’.”[18]

Auf diese abstruse  Logik, mit der ein Arbeiter die „schreiende Ungerechtigkeit” rechtfertigte, antwortete Flora Tristan: „Arbeiter, ihr habt nicht erkannt, welch verheerende Folgen sich für euch aus einer solchen Ungerechtigkeit ergeben würden, die zu Lasten eurer Mütter, eurer Schwestern, eurer Frauen und eurer Töchter geht. Die Industriellen sehen, dass die Frauen schneller und zum halben Lohn arbeiten und entlassen daher jeden Tag Arbeiter aus ihren Werkstätten, um sie durch Arbeiterinnen zu ersetzen. Und die Männer kreuzen die Arme und sterben Hungers auf dem Pflaster. So sind die Bosse in den Manufakturen in England vorgegangen. Wenn man diesen Weg einmal eingeschlagen hat, wird man bald die Frauen entlassen und sie durch zwölfjährige Kinder ersetzen. Wieder spart man die Hälfte der Löhne. Schliesslich geht man soweit, nur noch Kinder von sieben oder acht Jahren einzustellen. Lasst eine Ungerechtigkeit durchgehen, und ihr könnt sicher sein, dass sie tausend andere nach sich zieht”.[19]

Warum die Forderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit” keine Chance hatte, durchgesetzt zu werden, untersuchte in der Zwischenkriegszeit Alice Rühle-Gerstel, eine bedeutende sozialistische Psychoanalytikerin.[20] Sie kam dabei zu einem Schluss, der von der Begründung durch Flora Tristans Arbeiter nicht weit entfernt war: „Der Arbeiter war durch die Neuordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse gezwungen, seine Frau und Tochter in die Fabrik zu schicken, weil das eigene Einkommen zum Unterhalt der Familie nicht zulangte, oder, wie bei den Hauswebern, auch völlig versiegte. In der Fabrik aber trat der Arbeiter der Frau und Tochter seines Kameraden mit Misstrauen gegenüber als einer Lohndrückerin und Arbeitsstehlerin. Darum erscholl von Seiten der Arbeiter alsbald die Parole: Frauen raus aus der Fabrik! Solange aber die Frauen billiger arbeiten, bleibt diese Parole dem Unternehmer gegenüber wirkungslos. Der Lohnausgleich kann, wenn er erreicht wird, nicht durch einen Lohnzuwachs der Frauen herbeigeführt werden, sondern nur durch eine Lohnkürzung der Männer, bestenfalls durch einen Kompromiss zwischen diesen beiden Strebungen. Deshalb lehnten breite Kreise der Arbeiterschaft  die freiheitliche Forderung ‘Gleicher Lohn für gleiche Arbeit’ lange Zeit hindurch ab. (…) Auf dem Arbeitsmarkt  behandeln die Männer die Frauen wie fremde Einwanderer.”[21]

Dass es um die Lohnbedingungen der ausländischen Arbeiterinnen, der tatsächlichen „Einwandererinnen”, vergleichsweise noch schlechter bestellt ist, liegt auf der Hand. Der Grund hierfür mag, Alice Rühle-Gerstel zufolge, in der Tatsache nicht nur der männlichen, sondern zusätzlich der weiblichen einheimischen Rivalisierungsangst und Desolidarisierung liegen. Gerade für die Ausländerinnen gilt, was Alice Rühle-Gerstel zu ihrer Zeit für die Arbeiterinnen generell festgestellt hat: „Sie teilen nicht nur das proletarische Schicksal der Männer, sondern müssen es in doppelter Schwere ertragen. Die Industriearbeit der Frau ist Mussarbeit im schärfsten Sinn. Sie ist schlecht entlöhnt, sie stellt durch die räumliche und zeitliche Trennung von Berufsleben und Privatleben die Frau vor besondere Probleme. Sie bietet keine Aufstiegsmöglichkeit und wird gering gewertet. Die Unkollegialität der Männer, die Gegensätze zwischen Alten und Jungen, Verheirateten und Unverheirateten verschlechtern die Situation der Arbeiterin. Das Bewusstsein ihres Schicksals ist entweder überhaupt nicht vorhanden oder von Groll und Zorn, Hoffnungslosigkeit und Angst entstellt. So stellt sich die Beziehung der Arbeiterin zu ihrer Arbeit dar als eine müde, mutlose Resignation gegenüber einem verhärteten Schicksal”[22].

Bis heute hat sich die Frage der Lohngleichheit nicht gelöst, wie die aktuelle Erhebung der Lohnstrukturen für 1998 – 2006 durch das Bundesamt für  Statistik (BFS) beweist. Gemäss dieser Untersuchung sind die Frauenlöhne innerhalb der vergleichbaren Kategorien (gelernte/ungelernte Arbeiter und Arbeiterinnen) noch immer monatlich um wenigstens 10 Prozent tiefer angesetzt als die Männerlöhne, in einigen Branchen beträgt die Differenz sogar einiges mehr, am stärksten in jener der Textil- und Lederindustrie, wo sie 17,2 Prozent ausmacht.

Doch es sind nicht nur die schlechten Löhne, es ist vor allem der Zeitdruck sowie die nicht abbrechende ständige Aufmerksamkeit auch bei monotonster Arbeit, es ist diese fast mechanische Gehorsamsleistung, die das Gefühl des nicht gelebten, des entfremdeten und unwürdigen Daseins schaffen.

In den wenigsten Fabriken ist es möglich, dass die Arbeiterinnen während der Arbeit miteinander sprechen oder gar mal lachen können, dass sie sich Verschnaufpausen gönnen dürfen, die ihr Tagessoll nicht beeinträchtigen.

„Die Luft ist schwer von Farb- und Lackgerüchen.  (…) Jetzt stehe ich an der Maschine. Fünfzig Stück abzählen, sie nacheinander auf die Maschine legen, auf die eine Seite, nicht auf die andere, jedesmal einen Hebel bedienen, das Stück herausnehmen, ein anderes hineinlegen, noch ein anderes, jedesmal einen Hebel bedienen, das Stück herausnehmen, ein anderes hineinlegen, noch ein anderes, wieder zählen… Ich bin nicht schnell genug. Schon macht sich Müdigkeit bemerkbar. Man muss sich beeilen, verhindern, dass eine kurze Unterbrechung, eine Bewegung von der nachfolgenden Bewegung trennt. Schneller, immer schneller! Also ran! Ein Stück habe ich auf die falsche Seite gelegt. Wer weiss, ob es das erste Mal ist? Man muss aufpassen. Dieses Stück liegt richtig. Auch jenes. Wie viele habe ich in den letzten zehn Minuten geschafft? Ich bin nicht schnell genug. Ich beeile mich noch mehr. Allmählich verführt mich die Arbeitsmonotonie zum Träumen. Während einiger Sekunden denke ich an allerlei Dinge. Plötzliches Erwachen. Wie viele Stücke habe ich gemacht? Es sind bestimmt nicht genug. Nicht träumen. Sich noch mehr beeilen. Wenn ich nur wüsste, wie viele man schaffen muss. Ich blicke mich um. Niemand hebt den Kopf, niemals. Niemand lächelt. Niemand spricht ein Wort. Wie einsam man ist. Ich schaffe 400 Stücke in der Stunde. Wie soll man wissen, ob es genug ist? Wenn ich dieses Tempo wenigstens halten könnte! Klingelzeichen mittags, endlich. Alle stürzen an die Stechuhr, in den Umkleideraum, aus der Fabrik hinaus. Man muss essen. Glücklicherweise habe ich noch Geld. Aber man muss haushalten. Wer weiss, ob man mich hier behalten wird? Ob ich nicht in wenigen Tagen wieder arbeitslos sein werde? (…) Auch essen kostet noch Mühe. Diese Mahlzeit ist keine Entspannung. Wie spät ist es? Noch einige Augenblicke zum Schlendern. Doch man darf nicht zu weit weg: eine Minute verspätet an der Stechuhr bedeutet eine Arbeitsstunde ohne Lohn. Die Zeit verstreicht. Man muss wieder zurück. Hier ist meine Maschine. Meine Stücke. Man muss wieder beginnen. Sich sputen. Ich fühle, wie mich Anstrengung und Ekel ermatten. (…) Jetzt kommt der Meister. ‘Wieviel machen Sie? 400 in der Stunde? 800 sind nötig, sonst kann ich sie nicht behalten. Wenn Sie von jetzt ab 800 machen, könnte ich vielleicht einwilligen, Sie zu behalten?’. Er spricht leise. Weshalb sollte er auch laut sprechen, da er mit einem einzigen Wort Angst erzeugen kann? (…) Schneller. Das Tempo verdoppeln. Wie viele Stücke habe ich in einer Stunde geschafft? Schneller. Wie viele in der letzten Stunde? 650. Klingelzeichen. Stechuhr, sich anziehen, die Fabrik verlassen, der Körper ohne Kraft, das Hirn ohne Gedanken, das Herz erfüllt von einer stummen Wut und, vor allem, von Ohnmacht und Bedrückung. Denn die einzige verbleibende Hoffnung ist die auf noch einen weiteren Tag der nämlichen Art.”[23]

Die französische Philosophin Simone Weil  hatte in den Jahren 1934-35 ihren Beruf als Dozentin niedergelegt und in der Banlieue von Paris in Fabriken gearbeitet, sowohl an Werkzeugmaschinen wie am Fliessband, um das Los der Arbeiterinnen am eigenen Leib zu erfahren. Ihre Schilderungen der Arbeitsbedingungen und -abläufe sowie der vielfältigen Belastungen sind erschütternd. Was sie darstellt, stimmt mit meiner kindlichen Empfindung der Fabrik als einer Gegenwelt überein, deckt sich jedoch auch mit den Erfahrungen und Empfindungen einer grossen Anzahl von Arbeiterinnen, die ich befragt habe: äusserste Erschöpfung und Anspannung, ständige Gehetztheit, das Gefühl, ein Teil der Maschine zu werden, Verlust des Selbstwerts. „Zwang. Niemals etwas tun, selbst in Kleinigkeiten nicht, das nach einer Initiative aussieht. Jede Geste ist der Reflex auf einen Befehl, jedenfalls bei den Hilfsabeitern. An einer Maschine sind für eine Serie von Stücken fünf oder sechs einfache Bewegungen vorgeschrieben, die man mit maximaler Schnelligkeit stets wiederholen muss. Wie lange? Bis man angewiesen wird, etwas anderes zu tun. Wie lange dauert diese Serie von Stücken? Bis der Chef eine andere zuteilt. Wie lange bleibt man an dieser Maschine? Bis der Chef anordnet, sie zu wechseln. Jeder Augenblick ist ein Augenblick der Erwartung: der Erwartung eines Befehls. Man ist ein Ding, das dem Willen eines anderen ausgeliefert ist. Doch da es kein sichtbares Zeichen des Zwangs, Peitsche oder Kette, gibt, muss man sich selbst immer wieder in die geforderte Passivität versetzen.”[24]

Diese von den Fabrikarbeiterinnen geforderte „Passivität”, diese Arbeitsdisziplin, die zugleich höchste Aufmerksamkeit und Wachheit wie den Verzicht auf jegliche Eigeninitiative bedingt, ist die Voraussetzung für die Erreichung des Produktionsziels. Dieses besteht in nichts anderem, als dass eine „maximale Anzahl von Produkten ausgestossen werde”, wie Simone Weil schreibt. Auf dieses Ziel hin, zu keinem anderen Zweck, werden Arbeiterinnen und Arbeiter instrumentalisiert. Diese Instrumentalisierung macht das aus, was Simone Weil die „Sklaverei” nennt. Es sind mithin nicht die Eigentumsverhältnisse, sondern die Produktionsverhältnisse, welche die schmerzlichsten Folgen bewirken. Würden daher die Unternehmer verjagt und die Fabriken vergesellschaftet, notiert Simone Weil, änderte sich für die Arbeiterinnen und Arbeiter nichts, solange sich nichts am Ziel, d.h. an der menschenfeindlichen  Produktionsmaximierung, ändert. Unabhängig von der Eigentumsfrage  – das wurde ja nach der kommunistischen Revolution durch die Verhältnisse in der ehemaligen Sowjetunion und in den angegliederten Ländern genügend bewiesen – wird bei der Fabrikarbeit eine fremdbestimmte, nur auf die materielle Maximierung hin orientierte Unterwerfungsdisziplin erfordert.

Auch Simone Weil war sich im Klaren, dass nicht die Disziplin anzuprangern war, sondern deren Fremdbestimmung und Instrumentalisierung. „Human nenne ich jede Disziplin”, hält sie fest, „die wesentlich den guten Willen, die Energie und die Intelligenz des (oder der) Gehorchenden wachruft. Ich begann in der Fabrik mit einem geradezu lächerlich guten Willen. Ziemlich rasch bemerkte ich, dass nichts sinnloser war. Man rief in mir allein das wach, was durch brutalsten Zwang zu wecken war.  Den von mir dort geübten Gehorsam definieren folgende Kennzeichen: Zunächst wird die Zeiterfahrung auf die Dimension einiger Sekunden reduziert. (…) Ständig musste ich meine Aufmerksamkeit auf jene Bewegung begrenzen, die ich gerade zu machen im Begriff war. Ich durfte sie nicht mit anderen koordinieren, sondern nur bis zu der Minute wiederholen, da eine andere Anweisung mir eine andere Bewegung abverlangte. Es ist eine bekannte Tatsache, dass der Mut erlischt, wenn das Zeitgefühl sich auf die Erwartung einer Zukunft beschränkt, die man nicht zu beeinflussen vermag. Zudem verpflichtet der Gehorsam den ganzen Menschen. (…) Für mich konnte eine Anweisung Körper und Seele von Grund auf antasten, weil ich – wie viele andere – fast ständig am Ende meiner Kräfte war. Übermüdung durch Arbeit zerfrisst auch die ausserhalb des Betriebs verbrachte Zeit. Ebenso können kleine Lohnunterschiede in manchen Situationen das Leben selbst berühren. Unter solchen Bedingungen hängt man gänzlich von den Vorgesetzten ab, also muss man sich fürchten, und – noch ein peinliches Eingeständnis – es bedarf einer dauernden Anstrengung, um nicht der Servilität zu verfallen.”[25]

Ist  diese dauernde Anstrengung, dieser dauernde Zeitdruck auszuhalten? Ist das Gefühl der dauernden Erniedrigung auszuhalten? Nicht nur Simone Weil, auch die von mir befragten Arbeiterinnen sagen, dass sich nach einigen Jahren, manchmal sogar schon innert Jahresfrist Abstumpfung bemerkbar mache, dass man, wie Simone Weil in einem Brief an Boris Souvarine bemerkte, nach einiger Zeit „so weit sei, nicht mehr zu leiden (…). Meiner Ansicht nach ist dies der höchste Grad der Erniedrigung.”[26] Auflehnung und Streik sind Gegenmittel.

In den dreissiger Jahren war es für die Arbeiterinnen und Arbeiter ebenso gewagt und ebenso folgenschwer zu streiken wie heute, zumal Entlassungen und Arbeitslosigkeit noch schwerwiegendere Konsequenzen hatten, da das Sozialversicherungssystem noch weit weniger ausgebaut war.  Bei Aussperrungen, Entlassungen und anhaltender Arbeitslosigkeit waren Hunger und Verelendung in den meisten Fällen unabwendbar. Trotzdem wurden Streiks durchgeführt, wenn die Bedingungen untragbar wurden, wenn das Verhältnis zwischen Kräfteverbrauch, Zeitaufwand und Entlöhnung untragbar wurde. Die Streiks konnten das System nicht verändern. Unter dem Druck der Streikenden wurden von den Unternehmern oder den Konzernleitungen jedoch Zugeständnisse gemacht.

Die Geschichte der Streiks bildet eine Spur der kurzen, befristeten Selbstaufwertung der Arbeiterinnen und Arbeiter, bedeutete Rückgewinnung von Würde durch den Mut zum autonomen Handeln, eine Spur stärkender Atempausen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts streikten zum Beispiel im Kanton Zürich mehrmals die Seidenweberinnen, in Bern die Strickerinnen, in Möhlin die Arbeiterinnen einer Strumpffabrik, in den St. Gallischen Stickereibetrieben traten 1907 etwa 500 junge italienische „Nachseherinnen” spontan in den Ausstand, verlangten eine Lohnerhöhung und die Entlassung eines halben Dutzend Arbeiterinnen, die sich weigerten, der Gewerkschaft beizutreten.[27] Dabei ging es um Mindestlohngarantien,  die durch die Einstellung von nicht-organisierten „Lohndrückerinnen”  unterschritten werden konnten. Mit diesem „wilden Streik” setzten die jungen Arbeiterinnen ein Zeichen: Nachdem der Unternehmer sie in den Streiklokalen eingesperrt hatte, verliessen sie diese durch die Fenster. Die Fenster wurden darauf zugenagelt, worauf sich ein Jahr später alle Arbeiterinnen am „Fensterstreik” beteiligten, bis die Wiederöffnung der Fenster und  schliesslich auch die obligatorische Gewerkschaftszugehörigkeit der Arbeiterinnen durchgesetzt wurden.

Auch später zeigten sich die Frauen in der Textil- und Bekleidungsindustrie als unerschrockene Kämpferinnen. Als während des Zweiten Weltkriegs die Reallöhne der Arbeiterrinnen sanken und die Differenz zu den Männerlöhnen grösser wurde, gingen 1943 in Eriswil die Heimarbeiterinnen auf die Strasse, 1946 während sieben Wochen die Schappe-Arbeiterinnen in Arlesheim und Angenstein. Es gelang ihnen, allmählich auch die – zuerst ängstlichen und ablehnenden – Arbeiter für die Unterstützung des Streiks zu gewinnen, schliesslich eine dreissigprozentige Lohnerhöhung zu erreichen und das Zugeständnis der Fabrikleitung, die Gewerkschaft als Vertragspartnerin anzuerkennen. Bis 1947 folgten dann Streiks über Streiks, eigentlich immer dank der Initiative und dem Durchhaltewillen der Arbeiterinnen: in der Bindfadenfabrik Flurlingen, in den Tuchfabriken in Wädenswil, Bern und Schaffhausen, in der Spinnerei der Feldmühle Rorschach wie auch in den Baumwollfabriken von Uster.

Ausser in der Textil- und Bekleidungsindustrie waren es vor allem die Arbeiterinnen in der Tabakindustrie, die seit 1889 in den Kantonen Aargau und Waadt wegen der Forderung nach Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzung sowie nach der Gründung einer eigenen Gewerkschaft in den Ausstand  traten.  Anfang des 20. Jahrhunderts streikten auch in Chiasso 300 italienische Grenzgängerinnen und erreichten damit, dass ihr Lohn in Schweizerfranken und nicht in Lire ausbezahlt wurde. Die Streiks der schlecht bezahlten Tabakarbeiterinnen wiederholten sich und hatten häufig Aussperrungen und Entlassungen zur Folge. Als Antwort darauf gründeten sie unter anderem eigene Produktionsgenossenschaften,zum Beispiel im aargauischen Menziken, wo sie dem Tabakimperium der Firma Villiger die Stirn boten. Die kleine Genossenschaft Coop in Menziken konnte sich über mehrere Jahre halten.

Auch in Yverdon organisierten sich 1907 Zigarrenmacherinnen mit Hilfe von Margarethe Faas-Hardegger zu einer Genossenschaft, die bis 1914 Bestand hatte. Anlass zu dieser genossenschaftlichen Organisation hatte die Aussperrung von sieben Arbeiterinnen durch die Firma Vautier Frères gegeben, nachdem die Arbeiterinnen eine Gewerkschaft gegründet hatten. Darauf streikten 57 weitere Arbeiterinnen, um die Wiedereinstellung ihrer Kolleginnen zu verlangen. Doch die entlassenen Arbeiterinnen wurden auf eine schwarze Liste gesetzt, um deren Einstellung auch in anderen Fabriken zu verhindern. Selbst ihre Kinder wurden von den städtischen Krippen ausgesperrt. Margarethe Faas-Hardegger rief zu einem Boykott der Vautier-Zigarren auf, womit sie sogar Erfolg hatte. Der Machtkampf  entschied sich längerfristig zu Gunsten der Arbeiterinnen. 1909 unterschrieb die Firma Vautier einen Gesamtarbeitsvertrag  mit der Gewerkschaft der Lebens- und Genussmittelarbeiter. Den zwei Jahre vorher entlassenen Arbeiterinnen wurde ein Angebot zur erneuten Anstellung gemacht.

Ein ganz besonderer Streik muss noch in Erinnerung gerufen werden: der landesweite Frauenstreik vom 14. Juni 1991. Anlass dazu gaben erneut die ungleichen Frauen- und Männerlöhne. Eine Gruppe von Uhrenarbeiterinnen aus dem Vallée de Joux, die im Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV) organisiert waren, hatten von der Missachtung des seit über zehn Jahren in der Verfassung verankerten Gleichstellungsartikels die Nase voll. Ihr Antrag, auf diesen andauernden Affront mit einem Streik zu reagieren, wurde am 19. Oktober 1990 von Christiane Brunner, der damaligen SMUV-Sekretärin, übernommen und vom Kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes einstimmig gutgeheissen. Der Streikaufruf richtete sich erstmals nicht an eine bestimmte Gruppe von Arbeiterinnen, sondern an alle Frauen, ob sie erwerbstätig waren oder nicht. Alle Frauen, auch die Hausfrauen und Mütter, die Grossmütter und jungen Mädchen, die Einheimischen wie die Ausländerinnen wurden als Arbeiterinnen angesprochen.

Als knapp acht  Monate später, am 14. Juni 1991, der Streiktag anbrach, gingen überall in der Schweiz, in den Städten und Dörfern, an die 500’000 Frauen auf die Strasse – die grösste politische Demonstration, die je in der Schweiz stattfand. Es war ein Aufstand der Frauen aus allen Bevölkerungskreisen gegen die beruflichen und lohnmässigen Diskriminierungen, gegen die alltägliche Erfahrung von Gewalt und Erniedrigung, gegen die unverschuldete Armut der Alleinerziehenden, der Geschiedenen, der Arbeitslosen und der Alten. Es war zugleich für alle, die daran teilnahmen, ein unvergessliches Fest der Frauensolidarität. Allerdings sind schwerwiegende politische und soziale Ungleichheiten bis heute nicht behoben,  im Gegenteil. Auch werden Gleichstellungsbüros, die nach dem Frauenstreiktag in den grossen Städten und in den Kantonen eingerichtet wurden, als Folge von Sparmassnahmen und bürgerlichem Druck an verschiedenen Orten wieder geschlossen oder in ihrer Aktivität beschränkt. Insbesondere die vielfache Diskriminierung ausländischer Arbeitrinnen und Angestellter, gesteigert durch die erniedrigenden Bedingungen von asylsuchenden oder papierlosen Frauen ist revoltierend. Es wird in der Schweiz nicht der letzte landesweite Frauenstreik gewesen sein.

Alle Streiks, die stattfanden, richteten sich weniger gegen das Fabriksystem selbst als gegen die Bedingungen innerhalb des Systems, insbesondere hinsichtlich der Arbeitszeit und der Löhne, sowie gegen spezifische Folgen, zum Beispiel Aussperrungen und Entlassungen. Der Grund für die Bedingungen wie für die Folgen liegt jedoch im industriellen Maximierungsprinzip. In dessen Dienst steht die „Rationalisierung”. Rationalisierung bedeutete noch in den Dreissiger- und Vierzigerjahren Fragmentierung und damit Beschleunigung der Arbeitsprozesse durch das Fliessbandsystem, das heisst Perfektionierung des im 19. Jahrhundert eingeführten „Taylorismus”, durch welchen ungelernte und damit billigere Arbeitskräfte die Facharbeiter und -arbeiterinnen ersetzten. Der Amerikaner Frederick Winslow Taylor selbst hatte sein System als „wissenschaftliche Arbeitsorganisation” bezeichnet. Der Zweck dieses System war ausschliesslich die immer noch mehr zu steigernde Beschleunigung des Produktionstempos, damit die schier unbegrenzte Steigerung des Warenausstosses und des Gewinns.

Simone Weil hatte schon 1937 mit grosser Klarheit erkannt, dass dieses System die Entwicklung der Kriegsindustrie für die modernen Massenkriege ermöglicht hatte, dass der Krieg damit „den Triumph der Rationalisierung begründete”. Sie folgerte: „Ein solches System kann nur dann wissenschaftlich genannt werden, wenn man von dem Prinzip ausgeht, Menschen seien keine Menschen, und wenn man die Wissenschaft die Rolle eines Zwangsinstruments spielen lässt. Die wirkliche Rolle der Wissenschaft im Bereich der Arbeitsorganisation freilich ist die Entdeckung besserer Techniken. Doch ist es angebracht, den Wissenschaftern zu misstrauen. Nichts ist leichter für ein Unternehmen, als einen Wissenschafter zu kaufen, und wenn das Unternehmen der Staat ist, so ist für ihn nichts leichter, als diese oder jene wissenschaftliche ‘Regel’ durchzusetzen. Man sieht das jetzt in Deutschland.”[28] In welchem Ausmass ihre Warnung vor dem Naziregime, das sie während eines mehrmonatigen Aufenthalts in Berlin im Spätherbst 1932 kennengelernt hatte, berechtigt war, konnte damals noch nicht erahnt werden; heute wissen wir es.

Die Warnung sollte jedoch auch heute wieder ernst genommen werd. Inzwischen hat sich das Prinzip der „Rationalisierung” noch mehr zum Prinzip der Entmenschlichung entwickelt, buchstäblich zur allmählichen Entfernung der Menschen aus einem grossen Teil der Produktionsprozesse. Zwar ist Fliessbandarbeit in einzelnen Bereichen, etwa in der Lebensmittelindustrie, in den Schokoladefabriken[29] und anderswo, weiterhin üblich; selbst in Bereichen der Maschinenindustrie, etwa in den Wicklereien, braucht es die geschickten Hände der Arbeiterinnen. Ich habe jedoch geisterhafte Fabriken besucht, die von Arbeitsgeräuschen erfüllt sind, von Klopfen und Stampfen und durchdringendem Summen, aus denen – bis auf wenige Ausnahmen – die Menschen verschwunden sind. Roboter suchen Teile aus, fügen zusammen, schweissen, bewegen Hebel, hieven, befördern weiter, unablässig, Tag und Nacht, ohne Ermüdung, ohne Schwangerschaften, ohne Unfälle infolge Erschöpfung oder Ungeschicklichkeit, ohne Ansprüche auf Lohnverbesserung, auf kürzere Arbeitszeit und Arbeitslosenversicherung, computergesteuerte „Ersatzmenschen”, welche die Menschen aus Fleisch und Blut überflüssig machen.

Wieder sind es Wissenschafter – Ingenieure, EDV-Spezialisten, Techniker, Ökonomen -, welche diese Entwicklung vorantreiben. Wohin wird sie führen? Wie sollen die wachsenden Massen von Arbeitslosen wieder eine Beschäftigung finden? In deren Nutzloserklärung liegt ein schreckliches Gewalt- und Missbrauchspotential. Auch diesbezüglich sollten die dreissiger Jahre eine Warnung sein.

Es gibt allerdings Fabriken, in denen gerade Frauenarbeit noch immer erfordert ist, etwa wegen der feinen Finger und wegen der Sorgfalt bei der Arbeit, so in gewissen Sparten der Uhrenindustrie oder in der elektronischen Industrie, etwa bei der Herstellung  von Chips oder beim Zusammenfügen komplizierter Geräte; oder wegen der Kosten-Nutzen-Rechnung, in der sie noch immer als die billigsten „Produktionsmittel” erscheinen, nach wie vor in der Textil- und Bekleidungsindustrie. Da werden u.a. neue Formen der Akkordarbeit eingeführt, sogenannte „Inseln”, die eine Anzahl von Frauen auf Gedeih und Verderben von einander abhängig machen, da der Produktionserfolg und damit die Prämie vom – scheinbar selbstbestimmten – Tempo des Produktionsbeitrags einer jeden abhängt. Ob Frauen sich Pausen gönnen oder nicht, ob sie schon im Morgengrauen beginnen oder bis in die Nacht hinein arbeiten, ob sie ihre Gesundheit ruinieren oder nicht, dies alles ist –  scheinbar – ihr alleiniger Entscheid. Der Lohn ist jedoch so niedrig  und das Wissen der Arbeiterinnen um ihre Rechte so gering, dass sie sich einspannen und missbrauchen lassen – zum alleinigen Zweck der Produktions- und Gewinnmaximierung der Firma.

Es sind fast ausnahmslos Ausländerinnen, zum Teil aus weit entfernten Herkunftsländern, die in diesen Fabriken arbeiten. Da sie im Gastland kaum Möglichkeiten haben, Arbeitsplätze zu vergleichen, und da ihnen die gebotenen Bedingungen immer noch besser vorkommen als diejenigen in ihrem Herkunftsland oder als das Elend der Arbeitslosigkeit, ducken sie sich und arbeiten wie die Bienen, stumm und mit gekrümmten Rücken. Am Beispiel dieser Akkordnäherinnen zeigt sich, wenngleich mit scheinbar neuen Produktionstaktiken oder wenigstens unter neuen Bezeichnungen, die alte menschenverachtende Methode der Ausnützung von Armut, Unfreiheit und Unwissen: Instrumentalisierung unter der trügerischen Vorgabe von Vorteilen, die scheinbar den Arbeiterinnen zugute kommen. Dabei leiden diese nicht nur unter den Arbeitsbedingungen, unter dem Zeitdruck, unter der Vielfachbelastung als Fabrikarbeiterinnen und Hausfrauen, sondern zugleich unter der Feindseligkeit der einheimischen  Arbeiterinnen und Arbeiter, die sie als Lohndrückerinnen beschimpfen und sich von ihnen desolidarisieren. Der Schritt zum Rassismus mit seinen verhängnisvollen Auswirkungen wurde im gesamtgesellschaftlichen Bereich, insbesondere im politischen und wirtschaftlichen schon überschritten.

All dies ist nicht neu und ist nicht spezifisch für die Schweiz. Schon 1937 hatte Simone Weil geschrieben: „Daher werden die französischen Arbeiter die Einwanderung von Arbeitern aus übervölkerten Ländern so lange fürchten, wie die Ausländer gesetzlich zu Parias erniedrigt sind, aller Rechte beraubt.”[30] Zwischen den einheimischen Arbeiter und Arbeiterinnen einerseits, die wenig haben – wenig Sicherheit, wenig Selbstwertgefühl, aber immerhin Rechte – und die dieses Wenige ängstlich verteidigen, sowie andererseits denjenigen, die keine Rechte haben, die infolge ihrer Rechtlosigkeit alle Bedingungen anzunehmen gezwungen sind, besteht ein gefährliches, von Misstrauen und Missgunst geprägtes Verhältnis – analog zum Verhältnis zwischen Arbeitern und Arbeiterinnen im letzten Jahrhundert. Nicht die Tatsache der Migration ist daran schuld, sondern die Tatsache der ungleichen Lebens- und Arbeitsbedingungen für Einheimische und Migrantinnen. Simone Weil schrieb, es gehe nicht darum, „die Menschen entweder gefügig oder glücklich zu machen, es gehe darum, niemanden zu erniedrigen.”[31] Aber wie?

Es braucht dringend ernstgemeinte Anstrengungen von Seiten der Politik wie der Wirtschaft, um endlich Gleichberechtigung zwischen den Menschen zu schaffen, die im gleichen Land leben und arbeiten, unabhängig von deren Pass, von deren Herkunft und Geschlecht. Zusätzlich braucht es grosszügige Investitionen, damit das Gefälle an Lebensqualität zwischen den Armutsländern Osteuropas, Asiens sowie des Südens auf der einen Seite und, auf der anderen Seite, den Wohlstandsländern Europas, zu denen die Schweiz in vorderster Linie gehört, ausgeglichen wird. Wenn die Wirtschaft keine „Parias” mehr im eigenen Land schafft, wenn Arbeiter und Arbeiterinnen nicht mehr aus Not emigrieren und sich im Ausland nicht mehr verdingen müssen, um sich und ihre Familien zu ernähren, um den Kindern eine Ausbildung und eine bessere Zukunft zu ermöglichen, so ist schon viel erreicht. Die Politik, die ja immer der Wirtschaft hinterherhinkt, wird aus Gründen des Friedens, der unter allen Umständen anzustreben ist, die nationalen und internationalen Rahmenbedingungen schaffen müssen. Es gilt, die gleichen Rechte aller Menschen auf unwiderrufliche Weise in Verfassung und Gesetzesbestimmungen zu verankern sowie Privilegien und Missbräuche zu verhindern. Angesichts der explosiven Gegenwartsbedingungen, der erneut anwachsenden Revanchismen, Rassismen und bedrohlichen Verunsicherungen müssen diesen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zielen erste Priorität eingeräumt werden. Es ist dringend, dass zu deren Erarbeitung, Durchsetzung und Sicherung Frauen aller Berufskategorien, dass auch Arbeiterinnen, beigezogen werden.

Im Lauf meiner Recherchen fuhr ich auch ins Dorf meiner Kindheit zurück. Ich erkannte es kaum wieder. Die Stadt in seinem Rücken hat sich ausgedehnt, sie hat es verschluckt und zu einem Quartier unter weiterwachsenden Aussenquartieren gemacht. Die Fabrikgebäude stehen noch, doch sie dienen nicht mehr dem ursprünglichen Zweck. Die Mauern sind geweisselt, kleine Gewerbebetriebe, Büros, ein Kindergarten und Einrichtungen der Gemeindeverwaltung sind dort untergebracht. Im einst düsteren Innenhof stehen Tröge mit blühenden Büschen und Blumen. Der Kanal ist zugeschüttet, eine Reihe Platanen und Parkplätze säumen nun die Strasse. Das Moor wurde vermutlich schon vor Jahren trockengelegt, steht doch an seiner Stelle eine – auch schon wieder verlebt wirkende – Siedlung mit Kinderspielplätzen und einem Einkaufsladen. Weder das kleine Schulhaus noch das Waisenhaus stehen mehr, und die ehemals ärmlichn Arbeiterhäuser haben ihr Aussehen völlig gewandelt. In freundlichen Pastellfarben gestrichen, mit Balkonen und Vorgärten versehen, mögen sie zu begehrten Wohnobjekten der gut verdienenden Mittelklasse aufgestiegen sein. Ob noch Arbeiter und Arbeiterinnen leben, die ich als Kind durch das Eisentor ein- und ausgehen sah, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Möglicherweise fristen einige den Lebensabend in Altersheimen ihrer Herkunftsgemeinden. Auch entzieht sich meiner Kenntnis, wie viele bei der Schliessung der Fabrik arbeitslos geworden waren.

Wie ich das Dorf wieder verliess, wurde mir wieder bewusst, wie sehr eine Fabrik sich von anderen grossen „Arbeitseinheiten” unterscheidet, etwa von den mächtigen öffentlichen Verwaltungen oder von den modernen Büropalästen. Mit ihren Werkhallen und Lagerschuppen, mit den langen Korridoren und den engen Treppenhäusern, mit den Umkleideräumen und Vorgesetztenbüros, mit den vielfältigen atemgleichen Geräuschen der Maschinen – dem Rasseln und Stampfen und Hämmern, dem Surren und Sirren, dem Stöhnen und Quietschen -, mit den Gerüchen aus den Verarbeitungsprozessen, die sich mit jenen von Hunderten, manchmal Tausenden arbeitender Menschen mischen, wird die Fabrik zu einem kollektiven Organismus, einem – häufig – riesenhaften Produktionskörper, dem eine bestimmte Funktionsdauer und folglich eine genau bemessene Lebenszeit zukommt.

Was ich schon in meiner Kindheit ahnte, bestätigte sich im Lauf meiner Recherchen: Dass sich bei den Arbeiterinnen und Arbeitern, wohl nicht zuletzt infolge dieser „Körperlichkeit” der Fabrik, auf merkwürdige Weise Gefühle der Zugehörigkeit entwickeln, selbst wenn sie unter den Lohn- und Arbeitsbedingungen leiden, selbst wenn sie sich dagegen auflehnen. So erklärt sich einerseits, dass bei Aussperrungen und Entlassungen, zusätzlich zu den materiellen Ängsten,  verletzende Frustrationen entstehen; andererseits dass eine zweckentfremdete oder stillgelegte Fabrik eine besondere Trauer auslöst. Neulich streifte ich in Grenznähe durch eine kleinere, aber ehemals bedeutende Maschinenfabrik, in der eine Feuersbrunst gewisse Teile in russschwarze Ruinen verwandelt hatte. Zerbröckelnde Mauern, rostende Maschinenskelette sowie Katzenschwänze, Disteln und Brombeersträucher, die aus Bodenritzen wucherten, schufen ein Bild der organischen Zersetzung. Vor mir war der Leichnam einer Fabrik.

Im Anschluss an all diese Beobachtungen und Überlegungen kam ich zum Schluss, dass die Fabrik nicht nur „Gegenwelt”, sondern auch Ort der Beheimatung von Menschen ist. Wie aber kann sie, angesichts der Tatsache des Warenüberflusses in den hochindustrialisierten Ländern, auch angesichts der fortschreitenden Rationalisierungsmassnahmen, als dieser Ort erhalten bleiben? Was braucht es, damit die Folgeerscheinungen der Rationalisierung – Massenentlassungen, Erwerbslosigkeit und Selbstwertverlust eines wachsenden Teils der Bevölkerung – nicht zur sozialen Bedrohung werden?

Ich denke, dass die Fabrik einer Neubestimmung bedarf.  Nicht die Aufhebung und Stilllegung der industriellen Produktion sollte angestrebt werden, sondern eine Veränderung des Produktionsziels und damit der Produktionsverhältnisse. Es ist eine Aufgabe, die sich schon in den Dreissigerjahren stellte, deren Lösung heute jedoch unaufschiebbar ist: Es gilt, eine Produktionsweise zu finden, die von unternehmerischer Seite her nicht zu Verlusten führt, sondern tragbar ist. Diese neue Produktionsweise  müsste nicht auf die technischen Innovationen unserer Zeit verzichten, sie müsste nicht hinter unsere Zeit zurückfallen, aber sie müsste dem Lebensrhythmus der Arbeiterinnen und Arbeiter, ihrem Bedürfnis nach Mitverantwortung und innovativer Mitgestaltung gerecht werden. Was die Menschen gerne machen, machen sie auch gut, und der Nutzen kann der ganzen Gesellschaft zugute kommen.

Abhängigkeit von öffentlicher Fürsorge, von Sozialleistungen des Staates, von Psychotherapien und Invalidenrenten könnten durch ausreichende und menschengerechte Erwerbsarbeit in starkem Mass reduziert werden. Die Tabakarbeiterinnen, die zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts eigene Produktionsgenossenschaften schufen und diese während Jahren aufrecht erhielten, gaben ein Beispiel. Zugleich müsste die neue Produktionsweise einhergehen mit einer Verstärkung der regionalen Absatzmärkte.

Innovative Veränderungen sind vermutlich nur in kleinen Modellen zu realisieren, in Modellen, die sich der Entwicklung von Mega-Weltkonzernen und globalisierten Märkten entgegen stellen. Der heute herrschende Expansionstrend führt letztlich zu einer Lähmung der Produktion und zu einem Überschwemmen oder Austrocknen der Märkte; er  bedarf daher einer Gegenbewegung. Produktion und Markt müssen wieder der Dimension der Menschen in ihrem Zusammenleben und in der Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse  entsprechen.

 

[1] Simone Weil (geb. 1909 – gest. 1943). Rationalisierung. In: Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem. Übersetzt von Heinz Abosch. Edition Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1978. – S.W. hielt 1937 vor Arbeitern und Arbeiterinnen einen Vortrag, von dem kein Originalmanuskript erhalten geblieben ist. Der veröffentlichte Text ist die Wiedergabe der Aufzeichnung eines Zuhörers.

[2]cf. maw.  Kreative Vernunft. Zürich 2010. S. 29 ff

[3] Rainer Maria Rilke. Frankfurt a. M. 1955. S. 757

[4] Jean-François Bergier. Die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Benziger Verlag, Zürich/Köln 1983.

[5] als Ludwig XIV das Edikt von Nantes widerrief

[6] abgleitet vom lat. „faber“ – Handwerker; „fabrica“ – handwerkliche  Kunst, Werkstatt

[7] Im Lauf des 19. Jahrhunderts – von 1798 bis 1910 – nahm die Bevölkerung in der Schweiz um 220% zu (in England in der gleichen Zeitspanne um 390%, in Frankreich lediglich um 45%)

[8] Frauengeschichte(n). Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz. Hrg. Elisabeth Joris und Heidi Witzig. Limmat Verlag Genossenschaft,  Zürich  1986.

[9] Fridolin Schuler. Ausgewählte Schriften. Hrg. von  H. Wegmann, Karlsruhe 1905 – In Glarus wurde schon 1864 ein Kantonales Fabrikgesetz eingeführt.

[10] Paulette Brupbacher. Meine Patientinnen. Aus dem Sprechzimmer einer Frauenärztin. Büchergilde Gutenberg, Zürich 1953. – Paulette Brupbacher-Raygrodski (1880-1967) war die zweite Ehefrau von Fritz Brupbacher (1874-1945), die beide für die Gesundheits- und Sexualaufklärung wie für die Bildung der Arbeiterschaft von grosser Bedeutung waren.

[11] Flora Tristan (geb. 1803 – gest. 1844). Arbeiterunion. Sozialismus und Feminismus im 19. Jahrhundert. Aus dem Französischen übertragen und herausgegeben von Paul B. Kleiser. isp-Verlag, Frankfurt a.M. 1988. – cf.  maw. Kreative Vernunft. Vorkämpferinnen der Frauenrechte. Flora Tristan. Zürich 2010, S. 19 ff.

[12] cf. maw. Kreative Vernunft. Rosa Luxemburg.  Zürich 2010, S. 89 ff

[13] Brigitte Studer. Rosa Grimm. Als Frau in der Politik und in der Arbeiterbewegung – die Grenzen des weiblichen Geschlechts. In: Auf den Spuren weiblicher Vergangenheit. Beiträge der 4. Historikerinnentagung. Hrg.  Arbeitsgruppe Frauengeschichte Basel . Chronos Verlag,  Zürich 1988.

[14] Eine zeitgenössische Darstellung der Entwicklung der Arbeiterbewegung bis zu diesem Zeitpunkt verfasste Robert Grimm, während acht Jahren Ehemann von Rosa Grimm. In seiner Geschichte bleibt jedoch der Beitrag der Frauen unerwähnt: Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen. Limmat Verlag Genossenschaft, Zürich 1977. – Robert Grimm war an der Durchführung des Landesstreiks von 1918 massgeblich beteiligt; er wurde anschliessend durch ein Militärgericht zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt und schrieb seine Geschichte während der Haft. Während 44 Jahren gehörte er dem Nationalrat an.

[15] Bekanntlich wurde es auf Eidgenössischer Ebene erst 1971 eingeführt.

[16] Annette Frei. Die Welt ist mein Haus. Das Leben der Anny Klawa-Morf. Limmat Verlag Genossenschaft, Zürich 1991. – Von derselben Autorin auch: Rote Patriarchen. Chronos Verlag, Zürich 1987. – Eine kurze, sehr lebendige Darstellung der  Zürcher Arbeiterinnenbewegung und der dabei massgeblichen Frauen findet sich in: Chratz und Quer. Sieben Frauenstadtrundgänge in Zürich. Hrg. Verein Frauenstadtrundgang Zürich. Limmat Verlag, Zürich 1995.  –  Eine spannende Darstellung der industriellen Frauenarbeit findet sich auch im Handbuch , das 1986 von Elisabeth Joris und Heidi Witzig im Zürcher Limmat Verlag herausgegeben wurde: Frauengeschichte(n). Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz.

[17] Monica Studer. L’organisation syndicale et les femmes. L’action de Margarethe Faas-Hardegger à l’Union syndicale suisse (1905-1909). Lizenziatsarbeit, Manuskript, Universität Genf 1975. Und: Margarete Faas-Hardegger (1882-1963), Studienbibliothekinfo, 24. 9. 1994, S.12-15.

[18] Flora Tristan. Frankfurt am Main 1988, S. 128

[19] Flora Tristan. Frankfurt am Main 1988, S.128

[20] Alice Rühle-Gerstel. Die Frau und der Kapitalismus. Eine psychologische Bilanz. Verlag Neue Kritik, Frankfurt a.M. 1972 (Nachdruck der Erstausgabe von 1932). – Alice Rühle-Gerstel, 1894 in Prag geboren, hatte Philosophie und  Literaturwissenschaften studiert, wurde Adler’sche Psychoanalytikerin und Verfasserin zahlreicher Schriften, bis sie als Jüdin und Marxistin durch die nationalsozialistische Verfolgung nach Mexiko ins Exil gezwungen wurde, gemeinsam mit ihrem Mann Otto Rühle, mit dem sie die Schriftenreihe Am anderen Ufer – Blätter für sozialistische Erziehung und die Monatszeitschrift Das proletarische Kind herausgeben hatte. Nach dem Tod des Ehemannes nahm sie sich 1943 das Leben.

[21] Alice Rühle-Gerstel. Leipzig 1932,.S.277

[22] Alice Rühle-Gerstel. Leipzig 1932. S. 284

[23] Simone Weil. Leben und Streik der Metallarbeiterinnen. In: Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem, Frankfurt am Main 1978, S. 180. – Simone Weil hatte diesen Bericht unter dem Pseudonym S. Galois am 10. Juni 1936 in der Zeitschrift Révolution prolétarienne und am 15. Juli 1936 in den Cahiers de ‘Terre libre’ erstmals veröffentlicht.

[24] Simone Weil. Frankfurt a. M. 1978. S. 184.

[25] Simone Weil. Briefe an Auguste Detoeuf (1933-34). In: Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem. Frankfurt a. M. 1978, S. 198

[26] Simone Weil. Brief an Boris Souvarine (1935). In: Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem, Frankfurt am Main 1978, S. 39.

[27] Elisabeth Joris. Hartnäckig und eigensinnig. Die Frauenstreikbewegung in der Schweiz. In: Wenn Frauen wollen, kommt alles ins Rollen. Der Frauenstreiktag vom 14. Juni 1991. Hrg. Maja Wicki. Limmatverlag Genossenschaft.  Zürich 1991

[28] Simone Weil. Rationalisierung. In: Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem. Frankfurt am Main 1978. S. 241

[29] Zu den Bedingungen der Arbeiterinnen in der Schokoladefabrikation s. Marie-Thérèse Page. L’Ouvrière chocolatière de la Fabrique de Broc. Conditions de travail et vie quotidienne (1898-1939). In: Itinera. Auf den Spuren weiblicher Vergangenheit. Allgemeine Geschichtsforschende Gesellschaft der Schweiz. Bericht des zweiten Schweizerischen Historikerinnentreffens in Basel, Oktober 1984. Verlag Schwabe und Co., Basel 1985.

[30] Simone Weil. Arbeiterexistenz (30. 9. 1937). In: Fabriktagebuch und andere Schriften zum industriellen System. Frankfurt am Main 1978, S. 247.

[31] Simone Weil. Arbeiterexistenz. Frankfurt a. M. 1978. S. 248.

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