Dangube – Weggestellte Menschen – abgestellte Zeit – Die bosnischen Flüchtlinge in slowenischen Lagern

Dangube

Weggestellte Menschen – abgestellte Zeit: Die bosnischen Flüchtlingen in slowenischen Lagern

Warten. Schlangestehen und Warten. Warten, dass etwas geschieht, dass der Teller gefüllt wird. Warten, dass der Tag vorbeigeht, Warten, dass der nächste Tag vorbeigeht, hundertmal der nächste Tag, bald tausendmal. Warten, dass ein Brief eintrifft, dass ein Visum eintrifft, dass ein Wunder eintrifft. Weiterwarten. Warten, dass die Hitze aufhört, dass der Regen aufhört, dass die Kälte aufhört, dass die Hitze, dass der Regen, dass die Kälte aufhört. Warten, dass der Krieg vorbeigeht, der ständig weitergeht, in der Heimat, im Kopf. Langezeit. Langeweile. Warten ohne Frist und Ende. Sinnloses Warten. Warten, dass das Warten vorübergeht. Warten wie Verdamnis: All dies bedeutet “dangube” in der Sprache der Flüchtlinge.

“Da ist die Reihe, die Menschen schlechtgelaunt.

Lärm. Töpfe.

Frühmorgens das erste Zeichen

deiner Nicht-Existenz. Wie ein Parasit

wartest du, nimmst entgegen

was irgendwer gekocht hat und dir reicht.

Du stehst in der Reih, die Bündel bewegen sich.

Zu zweit, zu fünft und so weiter.

Gedemütigt gehst du weg,

zurück in dein Zimmer,

das du mit dreissig anderen teilst, die sind wie du.

Reihen von Betten, militärgleich,

grau die harten Lacken und kein bisschen Schönheit”.

Raza Mehmedovic, bosnischer Flüchtling in Slowenien.

 

Schwesterland – Ausland

Slowenien hatte im ehemaligen Jugoslawien immer eine Sonderstellung innegehabt. Das kleine Land mit seinen knapp zwei Millionen Einwohnern hatte sich am Ende des Zweiten Weltkriegs selbst befreit, und auch zur Zeit des Titoimus gelang es ihm, fast bruchlos die Verbindung zwischen der Leichtigkeit des Westens und dem einengenden und zugleich bequemen “System” zu schaffen. Slowenien war daher für die Leute aus Bosnien immer das verlockende Schwesterland gewesen, und es gehörte zur Tradition, dass viele Männer aus dem kargen bosnischen Bergland nach Slowenien zogen, um sich während der Woche im Bergbau, in der Landwirtschaft oder in den Fabriken zu verdingen, etwa im Atomkraftwerk an der slowenisch-kroatischen Grenze, so wie zu Beginn des Jahrhunderts die Tessiner aus den armen Tälern, die sich im deutschschweizer Exil abrackerten.

Als 1991 der Krieg zwischen den – inzwischen unabhängigen – Teilrepubliken Serbien und Kroatien losbrach, war in Slowenien trotz der serbischen Angriffe nach wenigen Tagen der Friede wieder hergestellt. Die slowenische Vorstellung eines eigenen Nationalstaates verband sich mit Prosperität und Ruhe, nicht mit Revanchewünschen und Krieg. Trotzdem gewährte das kleine Land damals während Monaten Zehntausenden von kroatischen Flüchtlingen Unterschlupf. Und als vom Frühjahr 1992 an Bosnien-Herzegowina zum grossen Schlachtfeld wurde, und rund 70’000 kriegsvertriebene Menschen aus Tuzla, Jaice, Sarajewo, Prijedor, Banja Luka und aus unzähligen anderen Orten über die slowenische Grenze strömten, nahmen es auch diese auf. Das Schwesterland war zum rettenden Ausland geworden. Die Flüchtlinge wurden zum Teil in Privatfamilien, vor allem aber in den überall im Land verstreuten ockergelben Militärkasernen aus theresianischer Zeit und in den Barackendörfern ehemaliger Gastarbeiter untergebracht. Innerhalb weniger Wochen wurden 28 grosse Aufnahmelager organisiert.

“Ein bewaffneter Soldat kam und meldete Böses.

Fort aus dem Dorf, sagte er traurig.

Blond leuchtete sein Haar, das Gewehr hing schwer an der Schulter.

Maschinengewehre kläfften und krachten.

Frauen in Tränen, schluckzende alte Männer

ein grauenvoller Lärm,

das Gebrüll der Ochsen, das Gebell der Hunde und alles andere.

Das furchtbare Echo der Granaten war zu hören,

und jedesmal gefror unser Herz.

Kinder jeden Alters, verloren in Schrecken, die Kleinen schrien,

während Frauen Bündel packten und weinten.

Busse fuhren heran, die Menschen scharten sich zusammen,

drin war es stickig und eng, dass niemand sich rührte”.

Jozo Drazetic, 14 Jahre alt

 

Zwischenstation für die einen – Endstation für viele

 

Seit 1992 ist etwa die Hälfte der Flüchtlinge weitergewandert, nach Australien, in die USA, nach Kanada, Deutschland, Schweden oder, einige wenige, zurück nach Bosnien. Geblieben sind die Schwächsten, Frauen mit Kindern, Jugendliche im Ausbildungsalter, alte Menschen. Slowenien ist der kollektiv-jugoslawischen Vergangenheit überdrüssig, das Land will nicht ständig daran erinnert werden. Daher sind die Flüchtlinge hier doppelt lästig. Diejenigen, die nicht weiterwandern können, werden zwar versorgt, doch mehr als das Überleben wird ihnen nicht zugestanden: keine Teilnahme am öffentlichen Leben, keine Arbeitsmöglichkeit, keine Schul- und Bildungsmöglichkeiten für die Kinder: Weggestellte Menschen. Die Flüchtlingslager – offiziell heissen sie “Zentren” -, sind Orte der Abschottung, in denen das wirkliche Leben und die Zeit abgestellt sind. Dazu kommt, wie die Vertreterin des UNO-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) schon im Sommer erklärte, dass die vom UNHCR finanzierten Hilfsprogramme für die bosnischen Flüchtlinge in Slowenien nicht weitergeführt werden könnten, da die verfügbaren Mittel für die Flüchtlinge aus Ruanda eingesetzt werden müssten: Hierarchien des Elends.

Inzwischen hat für die bosnischen Flüchtlinge der dritte Winter begonnen. Monate und Jahreszeiten lösen sich ab, und trotzdem scheint die Zeit erstarrt zu sein. Überleben ohne Zukunft ist kein wirkliches Leben. Gegenwart lässt sich nur von der Zukunft her bestehen. Wenn Menschen das Unglück haben, aus ihrer Heimat fliehen zu müssen, verlieren sie das Recht auf Zukunft. Sie verlieren ihr Recht auf Selbstbestimmung, sie werden entmündigt und administriert, als hätten sie eine Schuld begangen. Sie werden bestraft für die Tatsache, dass ihnen Unrecht geschah. Ihre Klage ist die Klage Hiobs, und wie diese verhallt sie ungehört.

 

“Wieder ein Tag, der für mich als Flüchtling vergeht.

wieder fremde Gesichter von fremden Menschen.

Ich will hier nicht sein.

Seit Monaten dieser gleiche Gedanke.

Was früher war, bleibt alles erinnert

Warum der Krieg?

Warum die Tränen, das Leid?

Warum nicht Lachen und Glück?

Zu lange schon gehe ich auf fremder Erde,

zu lange schon wärmt mich die fremde Sonne.

All dies will ich nicht.

Was ich will, ist

durch die Strassen meiner Stadt gehen,

die Kirchenglocken hören und den Gebetruf am Abend.

Ich will einfach wieder nach Hause zurückkehren”.

Maja Jagnjac, 14 Jahre alt

 

Lagerbedingungen – so oder so

 

Es gibt zwischen den Lagern Unterschiede. In den einen wirken die Grasflächen zwischen den Häusern grau und versteppt, in den anderen freundlich. In den einen liegt überall Abfall herum, und schlechte Gerüche sind allgegenwärtig, in den anderen sind morgens und abends Putzequipen am Werk, und es blühen sogar Blumen in schmalen Rabatten. Die Persönlichkeit der Lagerleiterinnen und -leiter beeinflusst die Lebensbedingungen der Flüchtlinge beträchtlich. Ob die Menschen zu völliger Untätigkeit verurteilt seien, ob sie keinen Schritt aus dem Lagergelände tun dürfen oder ob sie eigene kleine Gärten anlegen und bei Angeboten von Schwarzarbeit, etwa für die Pfirsich- und Weinernte oder zum kurzfristigen Einsatz auf Baustellen, das Lager verlassen dürfen, verändert ihr Selbstwertgefühl beträchtllich.

Die Menschen leben zusammengepfercht, ohne die geringsten persönlichen Abgrenzungsmöglichkeiten, in den grossen Sälen der ehemaligen Militärkasernen mehrere Familieneinheiten zusammen, in den Barackenlager je eine Familieneinheit auf engstem Raum, machmal sechs bis acht Personen. “Familieneinheiten” sind nicht nur die  – zumeist unvollständigen – Kernfamilien; dazu gehören auch Verwandte verschiedenen Grades, Grosseltern, Schwägerinnen, Tanten, Cousins, Cousinen  und deren Cousins und Cousinen. Bewundernswert ist die Fähigkeit der Frauen, auch unter den unvorstellbaren Einschränkungen des Lagers, trotz des allgegenwärtigen Geruchs von Moder in den grauen, hässlichen Räumen eine Art privater Wohnlichkeit zu schaffen, sowohl durch die extreme Reinlichkeit und Ordnung, für die sie viel Zeit aufwenden, wie durch die Art und Weise, wie sie tagsüber die wackligen Eisenbetten als Sitzgelegenheiten herrichten, wie sie Photos oder eine Girlande oder eine Wachsblume als Wandschmuck benützen, wie sie Kartonschachteln in kleine Tische verwandeln, indem sie eine selbst gehäckelte Decke oder ein buntes Kopftuch darüber legen, um Gäste zu einer Limonade oder zu einem Kaffee einzuladen. Nach Beendigung des Besuchs verschwindet der “Tisch”, in dem die paar Habseligkeiten verstaut sind, wieder unter einem der Betten.

Auch für die Kinder sind die Bedingungen verschieden, obwohl allen die gleichen unverständlichen Einschränkungen auferlegt sind: offiziell weder Schulbesuch noch Berufsausbildung. Inzwischen hat allerdings die Initiative der Kinderpsychiaterin Anica Mikus Kos aus Ljubljana zu wirken begonnen: mit Lehrpersonal, das sie aus fähigen Frauen und Männern unter den Flüchtlingen rekrutiert und vorweg ausbildet, hat sie in allen Flüchtlingslagern Kindergärten und Primarschulen eingerichtet, auch wenn für diese mal helle, freundliche Räume, mal ein notdürftig eingerichtetes Zimmer zur Vefügung gestellt werden. “Kinder dürfen nicht zugleich um ihre Heimat und um ihre Zukunft geprellt werden”, sagt sie, und sie scheut keine Anstrengung, um sowohl bei der Regierung wie in der Bevölkerung unermüdlich Überzeugungsarbeit zu leisten und Geld zusammenzubetteln. Unter ihrer Leitung besucht ein kleines Team von Freiwilligen, die zum Teil selbst Flüchtlinge sind – ein Arzt aus Sarajewo, je eine Sonderpädagogin, eine Kindergärtnerin und eine Psychologin – in einem regelmässigen Turnus die Lager, berät die Verantwortlichen und die Flüchtlinge selbst. Dank ihren Bemühungen gelang es, dass einzelne Jugendliche nun gar die öffentliche Sekundarschule besuchen können, auch wenn jedes Zugeständnis davon abhängt, ob ein slowenischer Schüler oder eine slowenische Schülerin ihre Anmeldung zurückzieht. Die Jugendlichen aus den Flüchtlingslagern, so begabt sie auch sein mögen, sind Zweitklassanwärter und -anwärterinnen ohne Rechtsanspruch. Manchmal kommt es auch vor, dass bescheidene Ausbildungswünsche an niedersten Hürden scheitern, etwa am fehlenden Geld für ein Brille, sodass ein junges Mädchen, das schielt und gern Kellnerin geworden wäre, die  – ausnahmsweise zugestandene – Ausbildung nun doch nicht antreten kann. Die Pläne und Träume, selbst diese, gehören zur Vergangenheit.

“Nie vergesse ich die Tage und Nächte in Banja Luka

im Krieg.

Jeder Tag eine neue Wunde in meinem Herzen,

Und doch: wie schön bleibt Banja Luka in der Erinnerung,

am Ufer des Vrbas, gepriesen in vielen Gedichten

und berühmt ob seiner Pracht

und den grünen Gärten und alten bosnischen Häusern.

Unversehens aber wurden die Perlen gestohlen.

Die Stadt war nicht länger mehr mein.

Ich musste fort

und stand dorch erst am Anfang des Lebens,

fort aus den Strassen mit den Kastanienbäumen, die sie säumen,

fort von den Freunden, fort,

aus meiner Familie fort.

Wie eine Blume aus der Erde

wurde ich ausgerissen aus meiner Kindheit”.

Zinka Pjanic, 14 Jahre alt

 

Das kollektive und das einzelne Leiden – Sprache und Schweigen

Wo keine Zukunft ist, wird Erinnerung zur Grammatik des Wartens, schon für die Kinder. Eine Schar umringt mich, Kinder zwischen drei und zwölf Jahren, blonde und braune, lebhafte, gescheite, schüchterne, neugierige, ängstliche. Sie kritzeln auf meinen Block die Namen ihres Herkunftsorts in Bosnien: Dragan Drazetic aus Travnik, Sanel Mesic aus Prijedor, Tanja Srebro aus Derventa, Jelena, Anto, Marijan und Valentina Prslja aus Travnik, Almedina und Mirnesa Dedovic aus Kalesija, Amela, Elvis, Anel und Elvisa Hotic aus Kljuc, Semso Dedovic aus Kalesija, Armin Dautovic aus Tuzla, Asmira Azibasic aus Kalesija, Edina und Senka Mesic aus Prijedor, Ifeta Alijc aus Dobos, Shaman Nermin aus Maglaj, Asmir Dedovic aus Kalesija; Ivan Maric aus Banja Luka. Sie sind wie alle Kinder und zugleich anders: Flüchtlingskinder. Nie ist ihr Herz ohne Schatten. Sanel? Er hat noch drei kleinere Geschwister. Während Wochen hatte der Vater fast täglich telephoniert, die Mutter solle mit den vier Kindern nach Bosnien zurückkehren. Nun telephoniert er nicht mehr, Granatsplitter haben ihn getötet. Leila? Sie schreibt ihren Namen nicht auf den Block. Sie wurde mit ihrer Mutter in einem Gefangenenlager schwer maltraitiert, nächtelang war sie in einen Plastiksack eingeschlossen, leidet unter Nierenstörungen, Schlafstörungen, unter grossen Ängsten. Jelena, Anto, Marijan und Valentina? – vier von sieben Kindern, deren Vater vor kurzem aus dem Lager weggeschickt wurde, nachdem seine Brutalität der Frau und den Kindern gegenüber von der Lagerleitung nicht mehr toleriert werden konnte. Wo er heute ist, weiss niemand, wahrscheinlich wieder im Krieg, den er hinter sich lassen wollte, als er sich nach Slowenien zu seiner Familie absetzte, den er aber so wenig ablegen konnte wie sein gewaltzerstörtes Herz.

Die Erwachsenen zeigen Photos ihrer Häuser, aus denen sie verjagt wurden, von denen sie nicht wissen, ob sie noch stehen noch wer sie nun unrechtmässig bewohnt. Sie zeigen Hochzeitsbilder, Bilder von Ausflügen und Picknicks, Bilder vom Ehemann, Bilder von Brüdern, Schwägern oder Söhnen, von denen sie ohne Nachricht sind oder von denen sie wissen, dass sie nicht mehr leben. Alle Flüchtlinge leben in Trauer. Die Verluste sind das kollektive Leiden. Darüber sprechen sie tagtäglich, auch noch nach zweieinhalb Jahren, klagend, beschwörend, davon können sie nicht genug sprechen. Und ebenso sprechen sie über den anderen Teil des gemeinsamen Schicksals, über das auferzwungene Nichtstun, über “dangube”, diesen Diebstahl der Lebenszeit.

Worüber sie schweigen, hängt mit dem tabuisierten Teil des Leidens zusammen. Die Sexualität gehört dazu. Anfang dieses Jahres brachte eine unverheiratete Neunzehnjährige in einem der kleineren Lager ein Kind zur Welt. Die Schwangerschaft war geheimgehalten, das Kind zur Adoption weggegeben worden. Der Vater des Kindes, ein verheirateter bosnischer Arbeiter, emigirierte lange vor dessen Geburt nach Deutschland. Alle im Lager wissen davon, niemand spricht darüber, ebenso wenig wie über jene andere noch traumatischere Niederkunft eines sechzehnjährigen Mädchens, das vor zwei Jahren mit Hilfe seiner Mutter ein totes Kind geboren und buchstäblich weggeworfen hatte.

“Obdachlos sein ist schwer,

ein Flüchtling sein noch schwerer.

Tage und Nächte und Stunden sind schwer,

es ist schwer zu warten, dass irgendwer dir etwas gibt,

es ist schwer, tagtäglich traurig zu sein,

es ist nicht leicht, krank zu sein,

es ist nicht leicht, die Traurigkeit auszuhalten,

es ist schwer, die schwarzen Nachrichten zu hören

es ist noch schwerer zu vernehmen, dass deine Familie hungert,

du wirst krank, wenn das Schicksal so schwarz ist,

du wirst noch kränker, wenn dein Volk ermordet wird,

es ist schwer, wenn der Menschen Hoffnungsboot sinkt,

es ist hart, wenn du nicht in deiner Heimat bist, nicht in deinem Land,

es ist nicht leicht, wenn du alle Hoffnung verlierst,

es ist hart, wenn der Feind dir das Glück wegstiehlt,

es ist hart, wenn im fremden Land dich niemand versteht,

es ist hart, wenn dich niemand zu trösten vermag,

es ist nicht leicht, andere Gesichter glücklich zu sehen,

es ist nicht leicht, ein Flüchtling zu sein”.

Aida Supuk, 15 Jahre alt

 

Ein Heilmittel gegen “Dangube”?

“Dangube” ist eine Krankheit der Seele, eine Hungerkrankheit. So wie Mangel an Liebe in der frühen Kindheit zum Tod führen kann oder, falls nicht zum Tod, zu merkwürdigen Kompensationen, so kann Mangel an Lebenssinn und an erfüllter Zeit zu völliger seelischer Entkräftung führen, die sich zumeist als – eventuell tödliche – Depression (oder als deren merkwürdige Umkehrung, als hilflose Aggressivität) zeigt. In allen Flüchtlingslagern, die ich besucht habe, leiden die Menschen darunter. Es gibt allerdings ein oder zwei Heilmittel gegen “dangube”. Das eine ist die Hoffnung. Sie entsteht als Gegenkraft gegen Verzweiflung und Absurdität, man weiss nicht wie, als autonome, kaum beeinflussbare Überlebensreaktion des Herzens, als Liebe zum Leben. Das andere Heilmittel ist sinnvolle Tätigkeit.

In einem kleinen Lager nahe der kroatischen Grenze fiel mir ein junger Mann auf, Juso Dedovic, achtzehn Jahre alt, aus Tuzla. Wo er war, zog er wie ein Magnet die Kinder an. Wo sein Name fiel, wurde er mit Achtung und Liebe ausgesprochen, auch von den alten Frauen und Männern. Seit den ersten Wochen, nachdem er sich mit den übrigen Flüchtlingen im Lager eingefunden hatte, stellte er fest, wie sehr die Kinder unter den chaotischen Verhältnissen der Flucht und des Lagerlebens litten, und wie sehr die Mütter in dieser Situation überfordert waren. So begann er, sich um die Kinder zu kümmern. Nach kurzer Zeit wurde ihm in einer der Baracken ein Raum zur Verfügung gestellt, wo er nun täglich während fünf Stunden die Kinder beschäftigte, sie Sing- und Rollenspiele lehrte, mit ihnen zählte, zeichnete und malte. Er hatte dann Gelegenheit, an den von Anica Mikus Kos organisierten Ausbildungskursen teilzunehmen. Doch eigentlich bedurfte er keiner theoretischen Abstützung. Er selbst und seine Tätigkeit haben im Lager, wo die Väter fehlen, wo überhaupt männliche Vorbilder fehlen, eine unersetzbare Integrations- und Vorbildfunktion gewonnen, und dies nicht nur für die kleinen Kinder. In der Freizeit gesellen sich die grösseren Kinder zu den kleinen in den schon übervollen Raum und schauen fasziniert zu, wie Juso es schafft, von den ängstliche Dreijährigen über die draufgängerischen Vorschulbuben und -mädchen bis zu den schüchternen und begabten Überempfindlichen eine Gemeinschaft zu bilden, in der Rücksichtsnahme und Unbeschwertheit, Lachen und Lernen trotz Krieg und allgegenwärtigen Schatten möglich sind.

Juso Dedovic macht deutlich, wie viel ein einzelner Mensch auch in den kargsten Bedingungen zu verändern vermag. Hoffnung und sinnvolle Tätigkeit als Heilmittel gegen “dangube”: das eine bleibt Geheimnis, das andere kann den Flüchtlingen auch von aussen angeboten und ermöglicht werden, ob in Slowenien oder hier in der Schweiz, als Versuch einer Antwort auf ihre wichtigsten Fragen:

“Jenseits des Flusses strömt das Leben.

Die Menschen besuchen einander,

die Menschen arbeiten, werden älter.

Alles geschieht so, wie man annimmt, dass es

im normalen Leben geschieht.

Doch wir?

Wo sind wir in dieser Zeit?

Wo ist unser Platz?

Wo ist das Leben?”

Raza Mehmedovic, Flüchtling in Slowenien

(Übersetzung der Gedichte ins Deutsche durch maw)

 

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