Variationen der Leidenschaft – Ichlernen und Weltlernen – Existenzphilosophie als politische Theorie
Variationen der Leidenschaft – Ichlernen und Weltlernen – Existenzphilosophie als politische Theorie
Der Existenzphilosophie wie der gesellschaftlichen und politischen Theorie kommen in diesen letzten Jahren des ausgehenden Jahrhunderts komplementäre Aufgaben zu. Diese Aufgaben stellen sich aus den traumatisierenden Verlusterfahrungen der jüngsten Geschichte, die für die einzelne Existenz wie für das Zusammenleben der Menschen zu einer wiederholbaren totalen Bedrohung geworden sind. Was menschenverachtende gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Systeme bewirkt haben und weiter bewirken, muss auf die zugrundeliegenden Ursachen hin befragt und aufgearbeitet werden. Geschichtenerzählen, Fragen, die skeptische Dekonstruktion von – kognitiv und sprachlich scheinbar gesicherten – “aquis” fügen sich dabei zu einem sowohl epistemologisch wie politisch zu führenden Prozess der Theorie- und Herrschaftskritik zusammen. Im Mittelpunkt stehen die Paradoxien von Sicherheit und Freiheit, von Beobachten, Verstehen und Handeln, von Ohnmacht, Macht und Machtmissbrauch. Unverkennbar ist in methodischer Hinsicht der Einfluss der – von feministischen Fragestellungen her differenzierten und erweiterten – Psychoanalyse und einer genauen, auch das Alltägliche rezipierenden Historiographie. Zugrunde liegt vor allem das Bekenntnis zur Praxisverpflichtung der Philosophie.
Variationen der “Leidenschaft”: Unter “Leidenschaft” verstehe ich die rückhaltlose Zustimmung zur “condition humaine”, deren Ausdruck sich in der Philosophie und in der Dichtung, in politischen Entwürfen des guten Zusammenlebens wie im gelebten Leben des Widerstands gegen Menschenverachtung und Unterdrückung finden, mit der Erfahrung des Irrens und Scheiterns, der Nichtwiedergutmachung des Getanen und der Zeitlichkeit überhaupt, mit dem Streben nach Überwindung dieser Grenzen.
Ich will mit einer Darstellung der über Bilder und Sprache wirkenden Definitionsmacht beginnen, die in den Zusammenhängen der bedürfnisdefinierten einzelnen Existenz wirkt wie die Kolonialmacht in Bezug auf ein unterworfenens Land, als deren Zweck die Schaffung einer nach bestimmten Kriterien definierten, kontrollierbaren Identität angenommen wird. Diese zu sprengen ist Aufgabe und Weg der Emanzipation resp. der individuellen und kollektiven Dekolonisierung. Ich werde mich dabei mit der Frage nach den identitätenschaffenden Differenzen befassen, das heisst mit den Möglichkeiten einer Eigendefinition in der Pluralität der Beziehungen und Verhältnisse, in der nicht linearen, sondern häufig unterbrochenen Geschichte: mit dem Weg des schwachen, immer wieder geleugneten Ich zum Ich – unter den Bedingungen der Sprache, der Zeit und Zeitlichkeit sowie des gesellschaftlich und politisch strukturierten Zusammenlebens in technologisch und ökonomisch defnierten Räumen. Dabei haben Fragen der Zuteilung resp. der Überwindung geschlechts-, status- und herkunftsbedingter individueller, gesellschaftlicher und politischer Rollenschemata eine spezifische Bedeutung in Bezug auf – gesellschaftlich konstruierte – Bilder von “So-Sein” oder “Anders-Sein”, von Normerfüllung (“Eigenheit”, “Normalität”) und Fremdheit (Devianz). Im Blick ist die Analyse der entfremdenden, identitätskonstruierenden und ausgrenzenden Gesellschaft sowie das Projekt deren Veränderung zu einer die Pluralität der Differenzen gewährenden und diese Differenzen integrierenden Gesellschaft. Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht dabei eine neu zu formulierende Theorie der Grundbedürfnisse, deren Anerkennung als verpflichtende Begründung für die prioritäre Umsetzung der Grundrechte dienen könnte.
Als gesellschaftsanalytischer Modellfall von besonderer Prägnanz bietet sich die Schweiz in diesen Jahren der nationalen Depression an, nachdem sie sich nach jahrzehntelangen konservativen Verweigerungen – Verweigerung der Aufarbeitung der politischen Fehlentscheide und Schuld im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs, Verweigerung der politischen Gleichstellung der Frauen bis Anfang der Siebzigerjahre, Verweigerung gerechter Ausländerrechte und Kinderrechte, Verweigerung der politischen Integration in UNO und Europäische Union und zahlreiche sozio-kulturelle Verweigerungen – in identitätsdefinierte aussenpolitische Handlungsaporien sowie in eine innenpolitisch gefährliche Fragmentierung und Polarisierung der Gesellschaft hineinmanövriert hat. Verhängnisvoll erscheint mir die hinter allen Verweigerungen zutage tretende nationale Profitmaximierungsmentalität, die zum Primat der Wirtschaft vor der Politik und vor allem vor der Kultur geführt hat, resp. zum Verlust des – von einem breiten Kulturverständnis getragenen und schöpferisch-kritisch belebten – politischen Handelns. Die Tatsache der Krise allein macht die Erörterung des Politischen notwendig, auch in Hinblick auf die grossen bevorstehenden Projekte der schweizerischen Verfassungsrevision und einer zu schaffenden europäischen Verfassung. Diese Projekte geraten zu Potemkin’schen Übungen, wenn ein wachsender Anteil der Bevölkerung von jeglicher Partizipation am Politischen ausgeschaltet wird – durch Armut, Erwerbslosigkeit, Drogensucht und andere Süchte, durch den Ausländerstatus oder durch Ghettoisierung im Alter.
Von den Bedingungen des – weiblichen – Ichlernens zu jenen des sozialen und politischen Weltlernens (wodurch die je individuelle Zeitlichkeit zu einer geschichtlichen wird), resp. von der Analyse der vielfachen Entfremdung bis zu Theorien deren Überwindung: dies ist der – leitmotivische – Aufbau des Buchs. Vorgesehen sind
I. Teil Kolonisation und Widerstand. Zu Identität und Differenz des Ich (Dialektik von Sicherheit und Freiheit, Funktion der Sprache, Geschlechterrollen und Sexuallität, Verstehen und Handeln als – politische – Gegenmodelle der Freiheit zu Unterdrückung und Unterwerfung als Herrschaftsmodelle der Angst)
II. Teil Entfremdung und Grundbedürfnisse. Zu Partizipation und Pluralität in der Gesellschaft (Verlust des politischen und kulturellen Handelns durch die – zunehmend totalitäre – Priorität der Wirtschaft, Ausgrenzung durch Armut, Erwerbslosigkeit, Ausländerstatus, Alter sowie durch kompensatorische Bedürfnisstillung durch Drogen und andere Süchte, ein feministischer Katalog der Grundbedürfnisse / plurale Zeitmodelle als solidarische Sinnschaffung)
III. Teil Handlungsaporie durch nationale Verweigerungen. Die nationale Depression der Schweiz (Konservativismus als antifeministisches, antipluralistisches, antisolidarisches, rassistisches und letztlich antidemokratisch-ständisches Besitzwahrungsmodell, “Recht”schaffenheit und Unrecht auch heute in der Praxis der Asyl- und Ausländerpolitik, “Kultur” und “links” unter Subversionsverdacht, Polarisierung zwischen Bevölkerung und “Kulturschaffenden”, Verfassungsrevision als Kulturprojekt, die Neutralitätsfalle, Grenzen und Abgrenzungen zu Europa)
Zu jedem Teil Exkurse.
I. Teil – Kolonisation und Auflehnung
Zu Identität und Differenz: Dialektik von Sicherheit und Freiheit, Funktion der Sprache, Geschlechterrollen und Sexualität, Verstehen und Handeln als Gegenmodelle zu Angst und Repression
Auf die Welt kommen bedeutet, die einzige vollkommene Sicherheit verlieren, die es gibt: die pränatale Symbiose mit der Mutter. Fortan prägt das Bedürfnis nach Sicherheit die ganze weitere Entwicklung. Mit dem Bedürfnis nach Sicherheit werden alle materiellen und immateriellen Bedürfnisse zusammengefasst, die das personale Überleben sichern (Schutz vor Hunger, Kälte und Schmerz). Auch wenn Liebe, Aufmerksamkeit und Zuwendung der Mutter vermögen, beim neugeborenen Kind ein Grundgefühl des Vertrauens zu schaffen, das stärker ist als Verunsicherung und Angst, so ist doch unbestritten, dass das Kind fortan vom konditionalen Umfeld abhängig ist, dem auch die Mutter unterworfen ist, und dieses Umfeld ist nach wie vor patriarchal kolonialistisch, d. h. nach patriarchalen Herrschaftsinteressen strukturiert. Diese beinhalten die Festigung und Ausdehnung eines externen Entscheidungs- und Handlungsraums für die “Väter”, zu dessen Stärkung und Entlastung ein gut funktionierender interner Bedürfnisbefriedigungsraum geschaffen wird: die bürgerliche Ehe, die auch nach dem Scheitern des Bürgertums ihre normative Funktion behält. Selbst wenn sie schlecht funktioniert, wenn sie geschieden oder aufgehoben wird, selbst wenn ein Kind in nicht-bürgerliche Verhältnisse hineingeboren wird, eventuell gar “vaterlos” aufwächst, bleibt der defiziente oder absente Vater als Schatten, als Negativpräsenz übrig. Auch so sind es die patriarchal definierten ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, die nach wie vor den Entscheidungs- und Tätigkeitsraum der Mutter – ihren “oikos” (Hannah Arendt) – eingrenzen, Bedingungen, denen sie sich mehr oder weniger beugt oder gegen die sie sich mit mehr oder weniger Kraft und Veränderungsinitiative auflehnt, die jedoch immer auch für das Kind den konditionalen Rahmen der Regelsetzung darstellen, dem es sich von allem Anfang an fügen muss. Sein Bedürfnis nach Sicherheit wird entsprechend seiner Bereitschaft zur Regelbefolgung erfüllt.
Vergesellschaftung nach Herrschaftskriterien bedeutet Kolonisation. Die Kindheit ist daher der dunkle Erdteil der Kolonisation. Die Kolonisation setzt mit der Namengebung ein. Die Namengebung ist die erste Besetzung des Kindes durch die Eltern. Diese Besetzung erfolgt durch eine mächtige Projektion von Bildern und Geschichten – seien dies die vorbildhaften gelebten Geschichten verstorbener Angehöriger oder irgendwelcher Helden und Heldinnen, toter, vielleicht auch noch lebender; seien dies die heimlichen nicht gelebten Geschichten der Mutter oder des Vaters, die Traumgeschichten und Wunschgeschichten, die sich um ein Bild, resp. um einen Namen ranken oder die, auf einen Namen eingefärbt, auf das Kind geheftet werden wie eine definitive, nicht austauschbare, nicht abwaschbare Farbe, lange bevor das Kind beginnen kann, seine eigenen Geschichten zu wagen.
Der Name entspricht dem Bild, das die Eltern aus sich schaffen, aus dem ihnen gemässen Mass und Format, zumeist ein statisches, ein fixiertes Bild, das sie dem Kind als Vorgabe für sein Verhalten in der Welt auferlegen, eventuell ein Bild des unauffälligen, blassen und angepassten Verhaltens oder aber des ungewöhnlichen, auffälligen, vielleicht sogar des exotischen. Dieses Bild richtet sich in erster Linie nach geschlechtsspezifischen und standesspezifischen Eigenschaften, welche Vater oder Mutter für sich selbst oder für den Partner, resp. die Partnerin beanspruchen, oder welche sie vermissen und in einer kompensatorischen Projektion mit dem Namen dem Kind überziehen wie ein viel zu grosses Kleid. Bei Hannah Arendt wird Gebürtlichkeit der Freiheit gleichgesetzt, doch ausserhalb des existenzphilosophischen Modells, in welchem das Verhängnis der Sterblichkeit einer dialektischen Gegensetzung bedarf, eben jener der Freiheit, gibt es für das Kind zuerst vor allem die von den Eltern definierte, durch sie geschaffene Konditionalität, in welche es hineingeboren wird und in welche es hineinwächst. Aber indem das Kind in das kulturell und biographisch elternmassgeschneiderte Kleid hineingestellt wird, in das durch generationenlange Familiengeschichten, durch die persönlichen Wünsche oder Enttäuschungen der Eltern und durch gesellschaftliche Normen enggeheftete Identitätskorsett, ergibt sich die erste und die vorweg wichtigste Anforderung an die Freiheit: aus der gebürtlichen Potentialität in die Aktualisierung zu treten und dieses Korsett zu sprengen, d.h. die Bedingungen zu verändern und selbst zu handeln. Jede Auflehnung ist der Versuch einer Antwort auf diese Anforderung. So lässt sich sagen, dass das Bedürfnis nach Freiheit erst durch die Erfahrung der Unerträglichkeit der kolonialistischen Regelsetzung erwacht, obwohl es sich vermutlich auf ebenso ursprüngliche Weise komplementär zu jenem nach Sicherheit beim Kind vorfindet. Doch davon später.
Namengebung der Welt
In Fortsetzung der Namengebung des Kindes erfolgt durch die Eltern die Namengebung der Welt. Existenz ist immer zugleich Welthaftigkeit. Beide sind Gegenstand kulturell definierter, über Generationen konstruierter und wiederholter Beherrschungsstrategien. Es ist nicht so, dass irgendwo “das Ich endet und die Welt anfängt”, wie die amerikanische Konzeptkünstlerin Jenny Holzer 1991 an der Biennale von Venedig mit bronzenen Lettern auf einer Marmortafel festhält.
Das Kind selbst bietet Laute, Namen an für die Gesichter, die sich ihm zuwenden und für die Dinge, die es erblickt, die es ertastet oder kostet und hört, Laute und Namen in allen Sprachen der Welt, welche die Eltern zwar zur Kenntnis nehmen, sogar mit Entzücken, aber verwerfen und durch andere, “richtige” ersetzen, durch Namen, mit denen sie die Gesichter benennen und die Dinge bezeichnen. Die Gesichter neigen sich nicht zu und die Dinge bleiben unerreichbar, wenn sie nicht mit den richtigen Namen bezeichnet werden. Mit den Namen wird die Bedeutung der Dinge definiert. Daher kann selbst die Sprachvermittlung als eine Herrschaftsstrategie verstanden werden, nicht nur als “Sprachspiel” im Wittgenstein’schen Sinn. Augustinus hält in den “Confessiones” (I/8) fest: “Nannten die Erwachsenen irgend einen Gegenstand und wandten sie sich dabei ihm zu, so nahm ich das wahr und ich begriff, dass der Gegenstand durch die Laute, die sie aussprachen, bezeichnet wurde, dass sie auf ihn hinweisen wollten. (. . .) So lernte ich nach und nach verstehen, welche Dinge die Wörter bezeichnen (. . .) Und ich brachte, als nun mein Mund sich an diese Zeichen gewöhnt hatte, durch sie meine Wünsche zum Ausdruck”. Fügt man sich der Namengebung nicht, bleiben die Wünsche unerfüllt. Als ich sechs Jahre alt war und infolge eines schweren Unfalls einen ganzen Sommer im Krankenhaus verbringen musste, wünschte ich mir sehr, Früchte zu essen, die ich einmal gesehen, aber nie gekostet hatte, Früchte mit süssem Duft, mit pelziger Haut und roten Wangen. Ich nahm an, sie hiessen Aprikosen, da ich diesen Namen in Verbindung mit köstlichen Früchten gehört hatte, die ich wiederum auch nicht kannte. Die Erwachsenen brachten mir Aprikosen, in der Meinung, damit meinen Wunsch zu erfüllen, doch es waren nicht die Früchte, die ich zu essen wünschte. Den Namen “Pfirsich” kannte ich nicht, so dass mir den ganzen Sommer über und noch länger der Genuss dieser Früchte verwehrt blieb.
Mit der Namengebung, mit der die Kolonisierung der Existenz und Welthaftigkeit des Kindes einsetzt, nimmt gleichzeitig die Kontrolle seiner Bedürfnisse ihren Anfang. Die tatsächliche Stillung und Erfüllung der Bedürfnisse, aber auch deren verweigerte oder prekäre Erfüllung geschieht nie anders als in Verhältnissen der Abhängigkeit. Abhängigkeit aber bedeutet Unterwerfung und Unfreiheit, ein Verhältnis, dem das Kind zustimmen muss, um nicht Hungers zu sterben. Zu den dringendsten materiellen Bedürfnissen gehört jenes nach Nahrung wie jenes andere nach Entledigung von der Nahrung, nach Defäkation. Die Kontrolle sowohl der Nahrungseinnahme wie der Ausscheidungen, die gewissermassen die Kontrolle der Sexualität vorwegnimmt, schafft grosse Macht, und noch viel mehr Macht schafft die Koppelung der Erfüllung der materiellen Bedürfnisse mit der – genügenden oder der ungenügenden – Erfüllung des Bedürfnisses nach Anerkennung und nach Liebe. Die Erfüllung dieser wichtigsten immateriellen Bedürfnisse wird mit einem komplizierten konditionalen System verknüpft, in welchem Beschämung und die Erzeugung von Scham beim Kind über sein ungenügendes Verhalten – ungenügend in Hinblick auf die namen- und vorbildverknüpfte normative Erwartung der Eltern – eine wichtige Rolle spielen. Beschämung und Scham sind interne Konstrukte der Erniedrigung, die auf der Seite der Eltern wettgemacht werden durch unerreichbare Grösse sowie durch Güte, jedoch zumeist durch ein konditionales Zugeständnis von Güte. Für das Kind wird klar, dass das So-und-nicht-anders-sein-Sollen, aus welchem das Identitätskorsett geschaffen ist, nie erfüllbar ist, dass es immer in der Schuld bleiben wird. So zeigen sich als Möglichkeiten des Verhaltens vor allem zwei, resp. eine häufig nicht eindeutige Kombination von zwei Möglichkeiten: Anpassung, d.h. Unterwerfung unter die nicht erfüllbare Norm, oder Auflehnung und der Versuch der Eigendefinition der Norm.
Die Bemächtigung des Wortlosen durch die Worte
Da über die Sprache, über Namengebung und Weltbenennung, die erste Kolonisation erfolgt, muss der Widerstand gegen die Kolonisation auch über die Sprache Gestalt annehmen – eine schwierige Aufgabe, da im gleichen Mass, in welchem die Sprache Herrschaftssystem und damit Entfremdungssystem ist, sie auch Regel- und Orientierungssystem ist, selbst für die Lokalisierung und Benennung der Erinnerungen. Gibt es überhaupt Erinnerungen an Erfahrungen, die der Sprache vorangingen? – ich meine Erfahrungen, die mit uns selbst zu tun haben (andere sind nicht erinnerbar). Ich vermute, dass wir über keine verfügen. Denn selbst wenn sich sprachlose Erfahrungen in der Erinnerung erhalten konnten, versuchen wir, sie sprachlich wiederzugeben, bezeichnen sie als Erfahrungen der Wärme oder der Kälte, des Schreckens oder des W ohbefindens, als Dunkel oder als Helligkeite, als rot, grün, scharf, leer, schwammig und so weiter. Träume, Fieberphantasien und andere Nachterfahrungen prägten sich auf diese Weise ein, früheste Erfahrungen der Berührung oder der Verlassenheit, des Alleinseins, des Leidens. Wir wissen nicht, wie und wann sich die Worte in uns festsetzten, wie wir anfingen, sie zu gebrauchen. Doch ich nehme an, dass sich die angelernten Worte schnell des Wortlosen bemächtigten, dass seither – eventuell aus der Notwendigkeit der Identitätsfindung – auch das Sprachlose und Unausgesprochene in ein Wortkleid gesteckt werden kann. So früh und so unausweichlich wurden wir durch die Sprache in die Welt eingebunden, dass für alles, was uns selbst angeht, eigentlich nur die Namen und Pronomina, die Attribute und Prädikate, die “Pfui” und “Brav” zur Verfügung standen (vielleicht auch heute noch stehen), die den eigenen Bildern und Empfindungen, die das Beziehungsgeflecht hierarchisch ordneten, übergestülpt wurden, und die unsere ersten Tätigkeiten als anarchisch und unerlaubt oder als ordentlich und mithin als erlaubt klassifizierten. Zustimmung erhielt vor allem ein Verhalten des Gehorsams, resp. der regelkonformen Rollenausführung, analog zu jenem der konservativ definierten mütterlichen Pflichterfüllung, die ja darin bestand, den familiären “Status” zu erhalten und zu pflegen, zu dulden, zu verstehen und nicht zu handeln.
Wir (ich meine die Frauen) waren das “es”: das Kind, das Mädchen. “Es” schläft, hiess es, “es” trötzelt, “es” ist ein liebes Kind oder eben “es” ist kein liebes Kind. Dem lieben Kind – dem fleissigen, bescheidenen und gehorsamen Kind, demjenigen, das nicht maulte, das schwieg, wenn die Erwachsenen sprachen, das nicht neugierig war, das zum Schlafen die Händchen über der Bettdecke faltete, dem lieben Kind taten die bösen Tiere und Riesen nichts im Wald und eines Tages würde der Prinz kommen und “es” wachküssen, wenn “es” nur lange genug vor sich hindämmerte. Die Märchensprache war nicht anders als die reglementierte Sprache der grossen und kleinen Herrschaftsstrukturen – derjenigen von Familie, Schule und Gesellschaft-, in die wir eingebunden waren. Realität und Fiktion unterschieden sich nicht in der Sprache. Verdinglichung und Entwürdigung über die Sprache gehörten zur alltäglichen Eigen- und Fremdwahrnehmung. Wohin konnte die Phantasie entfliehen? Und vor allem:
Wie konnten wir mit dieser Sprache lernen, “Ich” zu sagen und mit diesem “Ich” die eigene Subjektivität, den eigenen Handlungswillen, das heisst die eigene Person in der aktiven Selbstwahrnehmung zu meinen – nicht das “es”, mit dem wir – als Objekte – bezeichnet wurden? Wie kamen wir dazu, die Diminutive abzuschütteln, mit denen wir behängt wurden, wie gelang es, die Sprache unserem Bedürfnis gefügig zu machen, unserem Phantasien und unserer Erfahrung, auch unserem Körper, unserem eigenen Blick? Wie kamen wir dazu, eigene Erkenntnis und eigene Bedürfnisse gegen die sprachbeherrschende Autorität der Erwachsenen zu formulieren, Erlebnisse so zu verarbeiten, dass sie Erfahrung wurden, die befähigten, Wahres von Unwahrem zu unterscheiden, Widerstand zu realisieren gegen ungenügende oder unrichtige Erklärungen, gegen Anweisungen und Befehle, die gegebenen Bedingungen zu verändern und zu handeln, kurz: Subjekt zu sein – und nicht Objekt? “Versteh doch“, hiess es während der ganzen Kindheit, und mit dem “Verstehen” war das Gehorchen gemeint, d.h. die Unterwerfung unter die Herrschaftsinteressen.
Wie liess sich (lässt sich) die Beziehung zwischen der subjektiven Innenwelt des Verstehens und der Sprache (die zugleich Instrument der Kolonisation und eigene Sprache ist) aufbauen, diese innerweltlich-sprachliche Spiegelbildlichkeit, diese nicht irgendwann gefestigte, sondern ständig kontroverse, ständig sich verändernde und in Frage gestellte Beziehung? So schnell kann sie abbrechen. Manche von uns, die glaubten, die Sprache – “ihre” Sprache – gefunden zu haben, sind wieder verstummt. “Schmal ist die Identität der Sprache”, sagt Herta Müller in einem Interview, das im November 1992 im deutschen Magazin “Spiegel” veröffentlicht wurde. Auch die eigene Sprache wird schnell zum fremdbestimmten Objekt gemacht, so dass sie in der geforderten Spiegelbildlichkeit zur Fratze expontiell gesteigerter Entfremdung wird.
Der Weg zur eigenen Sprache ist Nachtweg oder Tagweg, Schmerzensweg fast immer. Irren, Missverständnis, Unverständnis und Enttäuschung verunsichern und sind doch die Regel. Manchmal gibt es Nischen, die sich unversehens öffnen. “Zu wissen, dass die Zeit eine Einbildung ist und nichts mich zur Eile drängt. Ich möchte einmal wirklich schauen dürfen und die Dinge so sehen, wie sie sich uns nie zeigen” schreibt Marlen Haushofer. Manchmal aber sind diese Nischen trügerische Rastplätze. Wer unbekümmert den Schritt hinein wagt, fällt ins Leere. Die Liebe?
Liebe – ein Wortkleid wofür?
“Liebe” ist so ein Wortkleid, das im Lauf der Kolonisation vielem übergestülpt wurde, vorweg, immer wieder. Die Liebe gehört zum Erfahrungsbereich des “oikos”, zu jenem des Bedürfnisses nach Sicherheit. Von frühester Kindheit an steht die Liebe daher in Konflikt zum Bedürfnis nach Freiheit. Erste Regelverletzungen des Kindes, Ausdruck des Bedürfnisses nach Freiheit, werden zu verhindern versucht, indem die Regelbefolgung als Ausdruck der Liebe des Kindes zu Mutter oder Vater dargestellt wird, und sie werden, falls sie trotzdem stattfinden, je nach der – mehr oder weniger konditional gewährten – Liebe der Eltern verziehen oder nicht verziehen. “Liebe” ist das transparenteste und zugleich das am dichtesten gewobene, verwirrendste Wortkleid, das die die unterschiedlichsten, ja widersprüchlichsten Inhalte umhüllt. Ob das Wortkleid stimmt oder nicht, ob es übereinstimmt mit der eigenen – vielleicht auch trügerischen – subjektiven Erfahrung, wer weiss es, wenn selbst das sprachsuchende, ichsuchende “es” von Bedeutung zu Bedeutung tastet – von der “Rippe Adams” und der “Trennungsagonie” bei Silvia Plath zum “schönen Beischlaf” bei Elfriede Jelinek zum “Lebewohl” und Verzicht aus Grossmut bei Karoline von Günderrode zur “Lust am Taumel” bei Friederike Mayröcker bis zu den Blicken meines Kindes bei allen, die ein Kind geboren haben, zum verklärten und selbstsicheren “man mari, oh oui, man mari, man mari” meiner Mutter. “Die Liebe ist die Zeit und der Raum, in denen sich das ‘Ich’ das Recht nimmt, aussergewohnlich zu sein”, hält Julia Kristeva fest. “L ‘amour se revele en se retirant”, schreibt die todkranke Gillian Rose in “Die Arbeit der Liebe” und meint jene unmögliche “Ökonomie des Eros”, die nach allen Verzehrungen, Rückzügen und Verlusten als dasjenige bleibt, was das gelebte und geteilte Leben bedeutet – eine “Ökonomie”, die jedoch wie jede Ökonomie vor allem Kontrolle der Ressourcen, Disziplin bei deren Verbrauch und Verzicht auf die Unmässigkeit der Leidenschaft erfordert: letztlich Verzicht auf die symbiotische “plenitude” und damit auf die Stillung des ganzen Verlangens (wohl nicht zuletzt auf die totale Erfüllung des Bedürfnisses nach Sicherheit) – aus Klugheit, so wie das skeptische Eingeständnis des Nichtwissens in der Philosophie? Doch ist, was in der Philosophie Voraussetzung und Ziel ist, realisierbar in der Liebe? Oder ist auch die Liebe unstillbare Leidenschaft des Wissenwollens und des Nichtwissens?
Und wie geht es dabei dem “gewöhnlichen” Ich? Demjenigen, das mir im Angstraum entgegenblickt, das “von mir weggeführt wird in einem Sträflingskleid”, wie Hilde Domin in einem Gedicht schreibt? – Spiegelbild des “es”, des gedemütigten Objekts, das dem um seine “schmale Identität” bangenden Subjekt ständig zum Verwechseln ähnlich ist? Wie eine Stärkung verstehe ich daneben das Bekenntnis Rosa Luxemburgs, das sie während des Gefängnisaufenthaltes in einem Brief an den fernen Geliebten festhielt: “Aber ich schreibe ja eigentlich nur für eine Person: für mich selbst. Die Zeit, als ich die “Akkumulation” schrieb, gehört zu den glücklichsten meines Lebens.”
Meine älteste Tochter zeichnete als Fünfjährige einen Vogel und schrieb dazu “Der Vogel gehört niemant” – Ausdruck der Sehnsucht, nicht geheissen, nicht “weggeführt” und enggeführt zu sein, sondern in der eigenen Freiheit respektiert zu sein, neidlos, auch im Aufschwung, im Flug über den Wolken, in den taumelnden Irrflügen, in den abstürzen. Immer schon geschah die Einbindung und damit die Kontrolle im Mantel der Liebe, die Sehnsucht aber richtete sich nach der Autonomie, das heisst nach Befreiung, schon die Sehnsucht des Kindes. Doch zugleich zeigte sich grosse Scheu davor und Angst vor Schuld, und daraus Angst vor Liebesverlust. Unablegbare Kindheit? – ständig wiederholte Antike? Liegt nicht hierin, im unentscheidbaren Sowohl-als-auch des Bedürfnisses nach Liebe (resp. nach Sicherheit: “jemandem gehören”) und des Bedürfnisses nach Freiheit (“niemanem gehören”) der Kern aller Aporien? Und letztlich die Begründung für die Frage, ob Handeln und Beobachten, resp. Verstehen kompatibel seien?
Das Ich vor dem Unsagbaren und die Pflicht zu sprechen
Kann die Sprache als Mittel der Be-freiung dienen? Konnte sie als Weg aus der Kolonisation in die Autonomie dienen? – als Training für die eigene Bedeutungsgebung? Auch wenn Auflehnung und Versuche der eigenen Definition der eigenen multiplen Differenz – die nicht aus dem Ungenügen in Bezug auf die normative Erwartung der Eltern verstanden sein wollte, sondern aus der Dringlichkeit des eigenen Bedürfnisses -, auch wenn diese Versuche seit der frühesten Kindheit den Weg der Befreiung anzeigten, so war es in der Zeit der Auflehnung, dass er sich festigte – und zugleich sich erstmals in seiner bedrohlichen Brüchigkeit zeigte. Die Zeit der Auflehnung war die Zeit der ersten Retrospektion auf die Kindheit, die Zeit der – noch unaussprechbaren – Wahrnehmung grosser Leerstellen, die nicht einmal den Namen eines Gefühls – etwa der Angst – beanspruchen konnten. Keine Benennung war möglich, da diese Leerstellen mit Verweigerung besetzt waren, mit Verschlüsselungen, mit mehrdeutigen Chiffren. Die Sexualität gehörte dazu. Und alles, was mit Hitler zu tun hatte. Aber nicht einmal diese Chiffren wurden ausgesprochen.
Für die Leerstellen gab es nur Gerüche und Bilder: die Gerüche des Elternschlafzimmers und die Gerüche der Flüchtlinge, der Kinder aus den Kriegsländern. Dann, nach dem Krieg, an der Hand des Vaters, den Gang in den Kinosaal, wo das Kind über die Bilder mit einmal alles zur Kenntnis nehmen musste, alles aufs eine Mal, die Bilder der äusserlich – und scheinbar – so normalen, durchschnittlichen Männer in Uniformen und ohne Uniformen aus dem Gerichtssaal in Nürnberg und, mit diesen in Verbindung, die unauslöschbar entsetzlichen, zutiefst traumatisierenden Bilder aus den Vernichtungslagern, welche die Allierten zum Zweck der Dokumentation der unaussprechbaren Verbrechen, die fortan den Namen Auschwitz trugen, gemacht hatten, Berge von ausgemergelten Toten, und Tausende von ausgemergelten Toten, die noch lebten, deren Blicke auf das Kind im Saal gerichtet waren. Sprachlosigkeit auch nachher, ein entsetzlicher Klotz aus Sprachlosigkeit und Entsetzen in der Brust des Kindes, eine Eiseskälte und ein kaum mehr zu beruhigendes Zittern im ganzen Leib, das alle gelernten Wörter zum Verstummen brachte. Wie zur Mutter davon sprechen, die, wie dem Kind schien, nur die Sprache des Liebseins und der Märchen kannte, wie zur Grossmutter, die häufig weinte wie ein Kind, wie zum Vater, der selber die Sprachlosigkeit vorlebte? Ein unausrottbares Misstrauen gegen Männer in Uniformen oder in anderen straffen, überkorrekten Anzügen sass fortan tief im Kind. Und eine nie mehr heilbare Angst – aber Angst wovor? Zutiefst und atembeklemmend vor dem Tod. Und vor dem todbringenden, todschaffenden Bösen, vor Zynismus und Gewalt.
Was galt das schmale eigene Ich vor so viel Gewalt? Oder war gerade diese Frage verfänglich? Durfte sie überhaupt so gestellt werden? Musste nicht das Kind sein Ich verteidigen, als den unantastbaren Kern? Keine Identifikationsmöglichkeit gab es mehr mit der Welt der Erwachsenen, weder über die Sprache noch über ein Vorbild. Fortan kannte das Kind das peinigende Gefühl des Alleinseins und begann zu ahnen, dass es letztlich nur zwei Zustände gibt – Alleinsein und Nichtalleinsein, und dass beide unablösbar miteinander verbunden sind, jeder die schmerzende Begleit- und Kehrseite des anderen. Geschah hier der Bruch, der zur späteren leidenschaftlichen Skepsis gegenüber allen fertigen Lehrangeboten und doktrinären Handlungsmodellen führte, zugleich aber zum unstillbaren Bedürfnis zu wissen? – von Bugen Kogons frühem Dokument über den “SS-Staat und das System der Konzentrationslager” zu den nach und nach erscheinendenn Berichten von überlebenden aus den Vernichtungslagern und Ghettos, zu den rabbinischen und philosophischen Deutungen von Geschichte und Jenseits der Geschichte bis zu den Freundschaften mit einzelnen Frauen und Männern, die mit ihrem gelebten Leben Zeugnis dafür ablegen, dass das Böse – die gemeine, zynische Gewalt – nicht das Ganze ist. Gerade sie wägen die Sprache sorgfältig ab, sprechen selten von den Jahren des unerklärbaren Überlebens inmitten des Todes, prüfen die Worte auf ihre Tragfähigkeit, sehen sich vor, bevor sie ‘‘Hunger“, “Schmutz“, “Fieber” sagen, oder “Durst“, “Eiseskälte“, “Verhöhnung“, “Erschöpfung“, bedeutet doch jedes Wort in seiner Trivialität eine relative Wahrnehmung, ausser für diejenigen, die dessen absolute Bedeutung kennen, und diese ist nicht aussprechbar. Die Sprache entzieht sich, da, wo da das Leben erstickt wird.
Sarah Kofman bestand auf der Pflicht aller, die das Grauen der entsetzlichen, unmenschlichen Gewalt erkannt haben und sich ihm widersetzen, zu sprechen, auch wenn zu viele oder zu wenig Wörter verfügbar seien, auch wenn die Wörter durch den totalitären Verrat selber verletzt worden seien. “Ich“ war für Sarah Kofinan so ein Wort. Im Herrschaftsbereich der Nazis gab es nur die Töter-Ich, während für die “Untermenschen” kein Ich mehr galt und kein Eigenname, kein Gesicht, kein Blick, keine Geschichte, keine Beziehung, kein Bedürfnis, keine W elthaftigkeit. Bloss eine Nummer galt, die in die Körper eingebrannt wurde und die von bellenden Stimmen in die Baracken und über die Appellplätze gebellt wurde. Sarah Kofmans letztes schmales Werk vor ihrem Suizid im Jahre 1994 war eine vorsichtige, selbst im Nachlesen schmerzlich fragmentierte Spurensicherung ihres eigenen Ich über das Erzählen des Erinnerbaren aus der Kindheit (Rue Ordener) und aus der Zeit des Heranwachsens (Rue Labat), über das Benennen der Leerstellen, der Brüche, der sprachlos gebliebenen Verluste, der Deportation und der Tötung des Vaters in Auschwitz, über das Nachspüren der traumatisierenden Identifikationsdiffusion zwischen Mutter und Wahlmutter – eine Spurensicherung über die Sprache, nachdem sie mit grosser Sorgfalt und vorbildlichem Respekt in ihrem ganzen Werk den V ersuch der Rückgewinnung des Ich in den Erzählungen der überlebenden aus den Lagern und den Stätten der Vernichtung, der Vernichtung der ungezählten individuellen Ich und des Menschheits-Ichs, zu analysieren und zu verstehen versucht hatte. Philosophie, Psychoanalyse und feministische Fragestellungen waren für Sarah Kofman komplementäre Möglichkeiten der Identitätsbefragung und -findung, so wie die “hilfreiche Hand”, die im Lager genügte, um das “eigene ‘Ich’, das kein ‘Ich’ mehr sein konnte, zu ergänzen “, wie sie in “Erstickte Worte” schreibt. Das Schreiben, das Zuhören, das Verstehen und das Sprechen werden bei Sarah Kofman zur Möglichkeit, die Bilder aus der Sprachlosigkeit zu befreien und das Unsägliche zu benennen, damit das Ich seinen/ihren Platz und Namen in der eigenen Geschichte und in den Beziehungen der Welt wiedergewinnen kann.
Auch Hannah Arendt beharrte auf dem “Geschichte– und Geschichten-Erzählen” als Korrektiv zur verflachenden, so leichthin alles erklärenden und zugleich alles zudeckenden Theorie. Es genügt ihr zufolge nicht, das Zustandekommen des Missbrauchs von Macht theoretisch zu erklären. Das Leiden, das der Missbrauch schafft, muss erzählt werden. Mit dem Erzählen werden die Leidenden zu Subjekten der Geschichte. Allein dies verhindert – nun gemäss Walter Benjamin – dass die jeweils Herrschenden, die Sieger – sich auch der Historiographie bemächtigen: “Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört… Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein” (Über den Begriff der Geschichte, VI/ VII).
Verstehen, um weiterzuwissen: Lesen
Um mein Ich zu stärken, war es nötig zu verstehen, ohne mich zu unterwerfen. Mit anderen Worten: Ich musste verstehen, um weiterzuwissen. Das bedeutete in erster Linie, die Wörter der Erwachsenensprache verstehen, resp. die Wörter der vielen codierten Sprachen mit all ihren Bedeutungen und Auslassungen unterscheiden lernen. Den Intonationen lauschen und kombinieren war das eine, das hatte mehr mit Gefühl zu tun als mit Verstand; präzise und unerbittlich fragen, nachfragen, war das andere. Vieles war nicht zu verstehen, oder ich meinte zu verstehen. Mit Befriedigung fand ich Jahrzehnte später in Wittgensteins “Philosophischen Untersuchungen” (§§ 150 – 155) genau diese Bedeutung von verstehen wieder, quasi als Bestätigung meines Eigensinns. Dem Verstehenwollen und Verstehenmüssen diente auch das Lesen. Lesend fand ich vorweg Angebote von Antworten auf das, was ich nicht wusste.
Mit dem Lesen wurde das Alleinsein zum Nicht-Alleinsein, damit verbrachte ich die Zeit zwischen Kindheit und Auflehnung, resp. dem Bruch mit der Kindheit. Bücher waren im Elternhaus in reichem Mass vorhanden, während der Kriegs- und Nachkriegsjahre mehr Bücher als Essen. Wörter, die mir neu waren, schrieb ich in meine Blindbände auf, ganze Textpassagen merkte ich mir und wiederholte sie im Gehen. Lesenderweise nahm ich an Begegnungen, Gesprächen und Abschieden teil, die mir im gelebten Leben vorenthalten wurden, wie ich dachte, und ich lernte Landschaften und Städte kennen, Hotels und Strassen, die mir später, als ich reisen konnte, plötzlich wiederbegegneten, ja selbst Gesichter, in die ich auf Bahnsteigen und in Cafes irgendwann plötzlich blickte, verwirrt, manchmal erschreckt, da mir immer erst im nachhinein bewusst wurde, dass diese Gesichter den Bildern entsprachen, die ich mir beim Lesen von Frauen und Männern gemacht hatte, mit denen ich mich tage- und nächtelang auseinandergesetzt hatte, die sich mir nicht entzogen hatten, die, nachschlagbar und nachlesbar, meinen Phantasien standgehalten, die ich mit dem, was sie sagten und taten, mit ihrem Handeln und ihrer Ohnmacht, als Vorbilder gewählt hatte. Wien, Moskau, Prag, Triest, Paris, Deauville, Warschau, London, Berlin, Florenz hatten die Farbe von Bucheinbänden und den Geruch von Papier und Staub, ich brauchte keinen Pass für die Grenzübergänge, kein Eintrittsbillet in die grossen Trauerspiele und Komödien, nichts und niemand konnte mich davon abhalten, verstehen zu wollen. Ich weiss noch, wie ein Grauen mich erfasste, als ich, schon kein Kind mehr, das erstemal von den Bücherverbrennungen durch die Nazis erfuhr, dass ich sofort verstand, dass sich diese Gewalt sowohl direkt wie stellvertretend gegen die ganze Wirkkraft der dem Verstehen zugrundeliegenden Sprache und damit des sprachgewordenen Lebens richtete, um zu verhindern, dass die Menschen weiterwussten.
Die Blindbände, schön gebundene Bücher ohne Text, waren ein Geschenk des Vaters. Die Bezeichnung war unklar, vieldeutig und wurde mir nicht erklärt. Ich verstand sie auf meine Weise. Blind bedeutete für mich, dass ich aus mir heraus schreiben musste, quasi ohne zu schauen, und dass ein Band nicht nur in die Zöpfe geflochten wurde, sondern auch Buch bedeutete, war der Beginn ungezählter Sprachtauschspiele, Übersetzungsspiele, Alliterationen und Worträtsel. Nie war mir das Alleinsein ängstigender oder beschwerlicher als das Nicht- Alleinsein, nie erschien mir ein Weg lang, da ich mich “im Kopf’ ständig mit Sprache begleitete und den Rhythmus oder die Art des Gehens damit koordinierte, mit einzelnen Worten und ganzen Texten, mit Passagen aus Gedichten, mit Dialogen. Aus der gleichzeitigen Erfahrung der Kindheitskolonisation über die Sprache wie der Sprachverweigerung durch die Erwachsenen erwuchs im fragenden und verstehenden Rückzug etwas Drittes: die – immer wieder beunruhigende – Notwendigkeit der eigenen Sprachgewinnung und des eigenen Ausdrucks, und aus der Notwendigkeit die Lust an der Sprache und an den – wie mir schien – unbegrenzten Möglichkeiten des versuchten Verstehens oder des neuen Verstehens mit Hilfe der Sprache.
Es wäre jedoch falsch zu behaupten, dass das Schreiben zur Lust geworden wäre. Das Schreiben wurde früh schon zur Arbeit. Und Arbeit – hierin stimme ich mit Marx und mit Hannah Arendt überein – gehört nicht zum Reich der Freiheit, sondern zu jenem der Notwendigkeit. In der Arbeit wird das Ich bis an die Grenzen der erschöpfendsten Unterordnung strapaziert. Dabei aber kommt jene Erfahrung von Wirklichkeit zustande, die vielleicht alle Schreibenden kennen. Virginia Woolf sprach davon in einem Vortrag, den sie 1928 in Cambridge hielt und in welchem sie die Frauen aufforderte zu schreiben, um “in Gegenwart der Wirklichkeit zu leben“, wobei es auch ihr nötig schien zu klären, was “Wirklichkeit” heisst. “Es scheint etwas sehr Erratisches, etwas Unzuverlässiges zu sein”, führte sie aus, “bald findet man es auf einer staubigen landstrasse, bald auf einem Fetzen Zeitungspapier am Strassenrand, bald als Gänseblümchen in der Sonne. Es beleuchtet eine Gruppe von menschen in einem Zimmer und prägt ein paar beiläufige Sätze. Es überwältigt einen, während man unter den Sternen nach Hause geht, und macht die stumme Welt wrklicher als die Welt der Sprache – und dann, da ist sie wieder, in einem Omnibus im Getöse von Piccadilly. Manchmal scheint sie auch in Formen zu wohnen, die uns zu .fremd sind, als dass wir erkennen könnten, welches ihre Natur ist. Aber was immer sie berührt, sie fixiert es und macht es dauerhaft”. Virginia W oolf sagte anschliessend, es sei das Glück der Schreibenden, mehr als andere Menschen in Gegenwart dieser Wirklichkeit zu leben, da es schliesslich ihr Geschäft sei, sie zu finden, zu sammeln und mitzuteilen. Diese – sprachgewordene – Wirklichkeit sei es, die “übrigbleibt, wenn die Hülle des Tags in die Hecke geworfen wird “
Die ‘‘Hülle des Tags”, das wechselnde Lieben und Hassen, die Aufregungen, Kurzweiligkeiten und kurzwelligen Erschütterungen des Tages, der Dunst und Staub der Strassen, selbst das Fremde – all dies ist “abwerjbar”? Und nicht-abwertbar? Was unaustauschbar, was notwendig ist? Besteht nicht die Gefahr eines – mehr oder weniger rigiden – Essentialismus? Kann die Gefahr vermieden werden, wenn das Notwendige die Arbeit bedeutet – die “Arbeit der Liebe” (nach Gillian Rose), die Arbeit des Überlebens, die Arbeit der Befreiung und jene der Gerechtigkeit, die Arbeit des Kindergrossziehens, die Arbeit des Schreibens, der Kunst überhaupt? Ist all diese “Arbeit” letztlich, was “Kultur” heisst?
Schreiben in den Grenzen des Ichs
“Das vertraute Gesicht eines Wortes, die Empfindung, es habe seine Bedeutung in sich aufgenommen, sei ein Ebenbild seiner Bedeutung – es könnte Menschen geben, denen das alles fremd ist. (Es würde ihnen die Anhänglichkeit an die Worte fehlen). – Und wie äussern sich diese Gefühle bei uns? – Darin, wie wir Worte wählen und schätzen. – Wie finde ich das richtige Wort? Wie wähle ich unter den Worten? Es ist wohl manchmal, als vergliche ich sie nach feinen Unterschieden ihres Geruchs: Dies ist zu sehr… , dies zu sehr … , – das ist das richtige. Aber ich muss nicht immer beurteilen, erklären; ich könnte oft nur sagen: ‘Es stimmt einfach noch nicht.’ Ich bin unbefriedigt, suche weiter. Endlich kommt ein Wort: ‘Das ist es!’ Manchmal kann ich sagen, warum. So schaut eben hier das Suchen aus, so das Finden. ” So schildert Wittgenstein (in den “Philosophischen Untersuchungen”) die Arbeit des Schreibens. An den “Philosophischen Untersuchungen” hatte er sechzehn Jahre lang gearbeitet.
1945 hielt er sie für abgeschlossen. “So schaut eben das Suchen aus”… Über die Sprache dachte er seit seiner Teilnahme als österreichischer Freiwilliger am I. Weltkrieg nach, über die Richtigkeit, über den Sinn und über die Grenzen des Sagbaren, über das Ich und über die Welt. Die Infragestellung drängte sich durch die Absurdität der Gewalt auf, und diese wiederum hatte nur zustandekommen können durch die kaum mehr auflösbare vorausgegangene strukturelle Gewalt – Militarismus, Kolonialismus, Bourgeosie und Patriarchalismus, die Selbstmorde seiner zwei Brüder, breitester Antisemitismus, Nationalismus und Massenverelendung, dann der Krieg. Die erste Fassung des “Tractatus” entstand bekanntlich in den gefechtfreien Stunden an der Front in Galizien und später an der italienischen Front. Als Anfang November 1918 der Waffenstillstand zwischen Österreich und Italien zustandekam, wurde Wittgenstein mit rund 500’000 weiteren Soldaten als Kriegsgefangener interniert. Während der Gefangenschaft bemühte er sich verzeifelt, für sein Buch einen Verleger zu finden, stiess jedoch “auf grosse Schwierigkeit”, wie er selbst schrieb. Nach einer weiteren Absage notierte er: ‘‘Meine Arbeit ist entweder ein Werk ersten Ranges, oder sie ist kein Werk ersten Ranges. Im zweiten – wahrscheinlicheren – Falle bin ich selbst dafür, dass sie nicht gedruckt werde. Und im ersten ist es ganz gleichgültig, ob sie zwanzig oder dreissig Jahre früher oder später gedruckt wird”.
Als Bertrand Russel schliesslich die kleine Schrift, die er als genial einstufte, 1921 in einer philosophischen Zeitschrift in England auf Englisch publizierte, war diese Erstveröffentlichung von so vielen Druckfehlern und Unsorgfältigkeiten verunstaltet, dass Wittgenstein sich nicht freuen konnte. Aus der im Krieg erlebten entsetzlichen Vereinzelung und Todesnähe ergab sich für ihn die zwingende Notwendigkeit einer Sinngebung – über das Schreiben. Das Schreiben machte den Grenzpfad der Verzweiflung begehbarer, jene Grenze, die er als das denkende, erfahrende Ich verstand, das “nicht Teil der Welt”, sondern “eine Grenze der Welt ist”, wie er im “Tractatus” festhält, wobei zugleich die Sprache sich als Grenze zeigt. “Was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein”, folgert er, das heisst, ohne Sinnrelation zwischen dem Ich und der Welt.
Ich habe mich oft gefragt, woraus sich der Widerstand gegen Wittgensteins Werk aufbaute, woran die Ablehnung lag, die er erfuhr? Vielleicht daran, dass die 60 Seiten Text, die Wittgenstein in fünf Jahren geschaffen hatte, etwas ganz Neues waren, hermetisch verschlüsselte Dichtung, dabei zugleich Logik und Ethik, “steng philosophisch und zugleich literarisch, es wird aber doch nicht darin geschwafelt”, wie er in einem Brief festhielt? Es war ein Text, der erschreckte, der aus unabwendbarer Notwendigkeit entstanden war, für den es nicht Variationen oder Eventualitäten des Entstehens gab, sondern nur die eine zwingende Form. Gewiss, ein so unbedingter Sprachwille liess sich schlecht mit der üblichen, aus Erfolgskalkül und Trendanpassung entstandenen und leichthin verlegten Literatur vereinbaren. Wittgenstein war jener Mensch im Sturm, “der sich nur mit Mühe auf den Beinen hält”, der sich aber weigert, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Als er in jenem selben Jahr 1921 seinen Entschluss bekanntgab, auf jede Konformität zu verzichten und als Volksschullehrer in einer der ärmsten und verlassensten Gegenden Österreichs zu wirken, schrieb ihm seine Schwester Hermine, er komme ihr vor wie einer, der eine derbe Kiste mit einem Präzisionsgerät öffnen wolle. Darauf antwortete ihr Wittgenstein, sie dagegen erinnere ihn an einen Menschen, “der aus einem geschlossenen Fenster schaut und sich die sonderbaren Bewegungen eines Passanten nicht erklären kann”, da man hinter der schützenden Scheibe nicht wissen könne, “welcher Sturm draussen wütet, und dass dieser Mensch sich vielleicht nur mit Mühe GZ(f den Beinen hält”.
Auch was Franz Kafka über die “Zwangsarbeit” und über das “unendliche Glück” des Schreibens in seinen Briefe an Felice und an Milena unaufhörlich thematisiert, was er als quälende Erfahrung in seinen Tagebüchern festhält, ist genau dies: die unausweichliche Notwendigkeit zu schreiben und zugleich die Bitterkeit vor der Ohnmacht des Schreibens, vor der sich entziehenden Sprache, vor dem Ungenügen der Wörter und Sätze. “Kein Wort fast, das ich schreibe, passt zum anderen, ich höre, wie sich die Konsonanten blechern aneinanderreihen, und die Vokale singen dazu wie Ausstellungsneger. Meine Zeifel stehn um jedes Wort im Kreis herum, ich sehe sie früher als das Wort, aber was denn! ich sehe das Wort überhaupt nicht, das erfinde ich. Das wäre ja noch das grösste Unglück nicht, nur müsste ich dann Worte erfinden können, welche imstande sind, den Leichengeruch in eine Richtung zu blasen, dass er mir und dem Leser nicht gleich ins Gesicht kommt. Wenn ich mich zum Schreibtisch setze, ist mir nicht wohler als einem, der mitten im Verkehr auf der Place de l’Opera fällt und beide Beine bricht. (..) Das viele Leben schmerzt ihn, denn er ist ja ein Verkehrshindernis, aber die Leere ist nicht weniger arg, denn sie macht seinen eigentlichen Schmerz los.” (TB 15. 12. 1910). Am darauffolgenden Tag notiert er: “Dass ich so viel weggelegt und weggestrichen habe, ja fast alles, was ich in diesem Jahr überhaupt geschrieben habe, das hindert mich jedenfalls auch sehr am Schreiben. Es ist ja ein Berg, es istfünfmal so viel, als ich überhaupt je geschrieben habe, und schon durch seine Mase zieht es alles, was ich schreibe, mir unter den Füssen weg.” Dann am 27. 12. 1910: “Meine Kraft reicht zu keinem Satz mehr aus. Ja, wenn es sich um Worte handeln würde, wenn es genügte, ein Wort hinzusetzen und man sich wegwenden könnte im ruhigen Bewusstsein, dieses Wort ganz mit sich erfüllt zu haben.” Wenn Kafirn jedoch einen Tag oder gar zwei-drei Tage nicht schrieb, so geriet er in einen Zustand der kaum aushaltbaren existentiellen Bedrohung, aus der er um des Überlebens willen schreibend herausfinden musste. ”Ich ziehe, wenn ich nach langer Zeit zu schreiben anfange, die Worte wie aus der leeren Luft. Ist eines gewonnen, dann ist eben nur dieses eine da und alle Arbeit fängt von vorne an.” Am 16. 1. 1922, nach einem vollständigen Zusammenbruch, notierte er: “… die Jagd geht durch mich und zerre isst mich. (.) ‘Jagd’ ist ja nur ein Bild, ich kann auch sagen, ‘Ansturm gegen die letzte irdische Grenze’, und zwar Ansturm von unten, von den Menschen her, und kann, da auch dies nur ein Bild ist, es ersetzen durch das Bild des Ansturms von oben, zu mir herab. Diese ganze Literatur ist ein Ansturm gegen die Grenze”.
Wenn es Kafka allerdings gelang, den schmalen Grenzpfad zu finden, auf dem die Sprache sich ihm nicht enzog, sondern erschloss, konnte er ein Werk in einem Zug vollenden. So entstand die Erzählung “In der Strafkolonie” in drei Tagen, vom 15. bis zum 18, 10. 1914, während er vorher und nachher, das heisst vom August 1914 bis zum Januar 1915, gleichzeitig fieberhaft am “Prozess” arbeitete. Ohne Zweifel sind diese Werke “dans le vrai”, wie Kafka selbst Flaubert zu zitieren pflegte, “ils sont dans le vrai “: Werke ohne Zugeständnis an die Trivialität, das heisst an den Geschmack der Zeit, an die Gefälligkeit. Schon am 7 .1.1904 hatte er an den Freund Oskar Pollak geschrieben: “Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich. “
Die schwere Arbeit des Schreibens, die Notwendigkeit? Ob es für alle, die schreiben, zutrifft? Ich weiss nur, dass mir neben Wittgenstein und Kafka eine grosse ungeordnete Reihe glühender, sich verzehrender Schreibender einfällt, Schriftstellerlnnen und Dichterlnnen aus allen Jahrhunderten – Rahel Varnhagen, Karoline von Günderrode, Gustave Flaubert, Heinrich Heine, Virginia Woolf, Sylvia Plath, Robert Walser, Walter Benjamin, Simone Weil, Else Lasker-Schüler – nur einige wenige, ungezählte mehr liessen sich nennen, deren Werk nicht irgendwie entstand, sondern aus dem Ich-definierten Müssen, aus der Unentrinnbarkeit des Suchens: aus Notwendigkeit.
Und die Freiheit? Im Schreiben, in der Philosophie, in der Kunst überhaupt zeigt sich Freiheit nur aporetisch, nur als Paradox, jedoch in allen Variationen der Leidenschaft. Gerade weil “Freiheit” hier im Sinn von “Möglichkeit der Wahl gänzlich anderer Lebensoptionen” total nicht ist (hierin besteht ja die Definition der Notwendigkeit, deren Ausdruck die Arbeit ist), ist sie und wird sie im Mangel total ausgeschöpft, verteidigt und erfordert. Es handelt sich wohl um das merkwürdigste Paradox der Freiheit.
Aufgebrochene Eindeutigkeit des Geschlechtlichen
Rückzug und Auflehnung, Unterwerfung und Befreiung waren wechselseitige und gleichzeitige Erscheinungen der Konstituierung des ständig in Frage gestellten Ichs. Die Sprachgewinnung war der eine geheime Weg, die Auseinandersetzung mit der Sexualität, mit Geschlecht und Geschlechterrollen der andere. Auch dieser zweite Weg war durch die Erwachsenen scheinbar genau definiert und zeigte sich zugleich voller Vieldeutigkeiten. Dabei waren es gerade die genauen Definitionen, die sich als unerträglich zeigten, da sie sich, wenn auch noch auf unverstandene, bedrohliche Weise, als Leerstellen, als Defizienz des Ichs zur Schau stellten, buchstäblich, etwa die Männer in den makellosen, straffen Anzügen oder die Frauen in rollenspezifischen Kleidern der Unterwerfung, als die ich vor allem Korsette und Schürzen betrachtete. So ging die Suche nach der eigenen Sprache einher mit der Suche nach neuen Geschlechtsbildern, nach Vorbildern, weiblichen Vorbildern vor allem, damit auch in den nächtlichen Phantasien irgend ein Weg tragfähiger werden könnte.
Es war in jener Zeit, als auf Kinoplakaten erstmals Marlene Dietrich mit Hosenkostüm, Filzhut und Zigarette zwischen den schön geschminkten Lippen erschien. “Ein Mannsweib”, hiess es, die Verwirrung war enorm, die Männer empörten sich, weil ihnen mit eleganter Parodie ihre Gesten gestohlen wurden, die Frauen in Röcken und Schürzen empörten sich, weil sie bei der Verführung durch Travestie nicht mithalten konnten, insgeheim aber beneideten Frauen und Männer den Ausdruck von Freiheit, der sich im Kostümwechsel anzeigte. Vor allem wir jungen Frauen – denn in der Suche nach Vorbildern war ich nicht allein -, die den Mief der traditionellen Gesellschaft nicht mehr ertrugen, die wir uns gegen die mit den weiblichen Geschlechtsrollen und -kleidern verbundene Kolonisation aufbäumten ( obwohl einzelne die Rollen teilweise schon internalisiert hatten) und, weil die mütterlichen Identifikationsbilder fehlten, grosse Schwestern suchten, waren von der Leichtigkeit der weiblich-männlichen Selbstinszenierung angetan. Das wirkte einerseits wie eine Parodie und wie eine spielerische Dekonstruktion des bedrohlich Männlichen, andererseits wie ein neuer, differenter, uneindeutiger Weiblichkeitsentwurf. Hosen zu tragen galt fortan als Zeichen der Befreiung. In den Internaten, in die ich während Jahren eingesperrt wurde, waren Hosen verboten, obwohl, zum Beispiel, zugelassen wurde, dass sich einmal monatlich, beim Tanzen in der abgedunkelten Halle, Mädchenpaare bildeten, die, eng umschlungen, Verschmelzung ohne definierte Geschlechterrollen erlebten. Für die streng beobachtenden Nonnen war Geschlechtlichkeit mit dem Kostüm konnotiert und allein die rollendefinierte Heterosexualität sündhaft. In der von uns unausgesprochen genutzten Ambiguität ergab sich trotz aller Verbote und Kontrollen die Möglichkeit von Freiheit (nicht nur in der Wahl der Tanzpartnerin, sondern in der Ambiguität selbst) und von – erstmals erfahrener – stechender, schneidender, sich krümmender Lust. Die Frage, was daran männlich, was weiblich war, stellte ich mir nicht.
Dass mit den Hosen für die Frauen noch nichts gewonnen war, zeigte sich bald. Die Hosen wurden zur Mode degradiert, die emanzipatorische Bedeutung wurde durch den Kommerz erledigt. Der Kostümwechsel allein genügte nicht, da ging es ja nach wie vor um binäre Modelle, es brauchte mehr. Ich spürte, dass jedes herrschaftsdefinierte resp. unterwerfungsdefinierte Bedeutungskorsett gesprengt werden musste, in der Sprache, in den hierarchisch ausgerichteten Rollenzuteilungen der Geschlechter, vor allem jedoch im Selbstverständnis der Geschlechter, aber wie? Es galt, eine neue weiblich-männliche Lebensform zu finden, die einem Menschenbild der gleichen Akzeptanz jeder Art von Differenz gerecht werden konnte. Gleichzeitig aber war in jener – moralisch entmündigten – Nachkriegsaufbauzeit die Kontrolle einer strikten Befolgung der traditionell normierten Geschlechterollen unerbittlich. Sie wurde zur Garantie einer unaufhaltsamen “efficiency”. Die Kontrolle wirkte wie Terror. Sie liess den Widerstand verstummen oder, im Gegenteil, feuerte ihn an. Wie aber liess sich für ein anderes Menschenbild kämpfen, wenn es unter all den Opfern, Mitläufern und Mitläuferinnen, unter den Tätern und Täerinnen keine Vorbilder gab? – an den Gymnasien auch kein entsprechendes Fach, an den Universitäten ebenso wenig, auch im Fach Philosophie nichts.
Hing dieser Terror eventuell mit der Unterdrückung der Sexualität hinter den – gesellschaftlich scheinbar so eindeutig klassifizierten – Geschlechtern und Geschlechterrollen zusammen, mit der gleichzeitigen Tabuisierung und Dämonisierung der Sexualität? Denn die Sexualität war – neben Hitler und der Judenvernichtung – die eigentliche Leerstelle, um die herum während der Kindheit all das Schweigen aufgebaut wurde. Und zunehmend verstand ich, dass ich die Leerstelle füllen musste, aber wie? Da von der Sprache her nur “Liebe” zur Verfügung stand, galt es zuerst auseinanderzzuhalten, was der Anteil der Sexualität, was der Anteil der Sublimation, was der Anteil der bedingungslosen, lebenserhaltenden Beziehungsarbeit in der Liebe ist. Und vor allem wollte ich wissen, warum Sexualität zugleich tabuisiert und dämonisiert wurde. Wegen der damit verbundenen Lust? – denn die Lust und das Verlangen nach Steigerung der Lust wurde tatsächlich zum Motor. Doch warum sollte die Lust tabuisiert sein? Weil in der Lust das so prekäre Ich sich fraglos-grenzenlos als Ich empfindet? (Noch hatte ich Freud nicht gelesen). Oder weil – auf unausgesprochene Weise – der Väter- und Müttergeneration bewusst war, dass alles schöpferische Handeln aus der Sexualität (und – eventuell – aus deren Sublimation) erwächst, als Ausdruck der rückhaltlosen Affirmation? Mit anderen Worten, dass die Sexualität, vergleichbar der Vernunft, Bedingung der Möglichkeit des nach Erkenntnis strebenden schöpferischen Handelns ist? Voraussetzung dafür, etwas zu verändern in der Welt? Auch Zeugung ist Veränderung der Welt, und jedes Schöpfertum ist Veränderung. Und gerade dies galt es zu verhindern? – bedeutete doch für diese Elterngeneration “richtiges Handeln” die Erfüllung des Notwendigen in hierarchisch- autoritären Strukturen der Ein- und Unterordnung, und eben nicht Verändern. Und die Gewalt in der Sexualität? – der Missbrauch der Schwächeren (Frauen, Kinder) durch die Stärkeren? Hinter den vielen individuellen, biographischen und situativen Erklärungsmöglichkeiten für sexuelle Gewalt scheinen mir zwei Gründe von massgeblicher überindividueller Bedeutung zu sein: der eine hat resultiert aus der Ich-Schwäche, aus der Nicht-Akzeptanz, ja aus der Verachtung des eigenen Ich (und mithin des anderen Ich, insbesondere des weiblichen Ich) zahlreicher konventionell zu Härte und “Männlichkeit” erzogener Männer, eine Schwäche, die durch pure physische Kraft – durch rücksichtslose Unterwerfung und Gewalt – kompensiert wird; der zweite aus der generationenlangen Tabuisierung und Verhinderung nicht nur des weiblichen Bedürfnisses nach Lust, sondern auch nach (sexueller) Selbstbestimmung. Zutiefst erschreckend ist die Tatsache, dass in der durch das Patriarchat pervertierten, zynisch gewordenen Zivilisation Unterwerfungshaltung aus Angst Gewalt generiert – anders als bei den meisten Tieren, wo sie Nachsicht und Milde bewirkt. Ich bin daher der Ansicht, dass es – von der Tatsache der Gewalt her – keinen Gradunterschied des Verbechens zwischen Vergewaltigungen in der Ehe, oder im Krieg, oder in den Parkhäusern, Kellern und Vorstadtgehölzen gibt. Ich kam zu diesem Schluss, als die Verbrechen der Massenvergewaltigungen an Frauen im jüngsten Jugoslawienkrieg bekannt wurden und alle möglichen ethno-spezifischen Erklärungen konstruiert wurden (z.B. Frauenraub und – missbrauch zum Zweck der Demütigung der feindlichen Männer). Nein, diejenigen Männer, die Frauen (und Kinder) im Krieg schänden, tun dies nicht aus “taktischen” Gründen, sondern weil sie Frauen (und Kinder) generell nicht als paritätische Individuen respektieren, eventuell auch, weil das Ausmass ihrer eigenen Selbstverachtung und Liebesunwert-Empfindung unerträglich ist. Wer es im Krieg tut, tut es auch zu Hause oder in den zivioen Verstecken der Städte und Dörfer, es ist dasselbe Verbrechen und muss nach denselben Massstäben geahndet werden. Merkwürdig erschien mir, dass von allen Verbrechen, die im Jugoslawienkrieg (vor allem im Krieg um Bosnien) begangen wurden, die Massenvergewaltigungen während Monaten die stärkste Medienbeachtung fanden, bedeutend mehr als, zum Beispiel, die systematischen Aushungerungen ganzer Städte, die Massenexekutionen und Folterungen von Männern, die systematische Zerstörung der Kultur des Zusammenlebens durch Deportationen, Vertreibungen und Umsiedlungen von Hundertausenden von Menschen ( die sog. “ethnischen Säuberungen”). Sowohl in den allgemeinen Medien wie in den frauenspezifischen erinnerte die Ausführlichkeit, mit der die Vergewaltigungen thematisiert wurden, an beinah voyeuristische Wiederholung. Dabei fiel, mit wenigen Ausnahmen, die plakative, platte Sprache auf, die Unfähigkeit, die Vergewaltigungen anders als unter den quantitativen Aspekt der Häufung von “Greueltaten” zu schildern. Allerdings haben diese Schilderungen eine grose Frauensolidaritätsbewegung bewirkt: Frauengruppen sind aus allen Ländern, auch aus der Schweiz, nach Belgrad und nach Zagreb gereist, Hilfsprojekte für vergewaltigte Frauen wurden entworfen, bei mir im Büro (ich arbeitete damals bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, der Dachorganisation der Hilfswerke) trafen täglich Angebote von Psychotherapeutinnen für Psychotherapien mit vergewaltigten Frauen ein, ein Arzt und eine Ärztin riefen an und boten ihre Bereitschaft an, Abtreibungen vorzunehmen, Familien riefen an und wollten unerwünschte Kinder adoptieren, und so weiter.
Warum weckten die Vergewaltigungen diese starken Solidarisierungen, während die schweren seelischen Traumata der anderen Kriegsopfer – etwa jene der Kinder oder der alten Menschen – in viel geringerem Mass oder überhaupt kaum Beachtung fanden? Ich vermute, dass die Vergewaltigungen der einzige Aspekt von Gewalt in diesem Krieg sind, der sich mit äussersten Gewalterfahrungen in unserer zivilen Gesellschaft messen lässt, dessen psychische und körperlliche Folgen – insbesondere – Frauen nachvollziehen können, währen der ganze Krieg in seiner Gewaltsummierung jede Vorstellung übertrifft, damit aber auch den gefühlsmässigen Nachvollzug und eine wirkliche Solidarisierung verunmöglicht. Die Möglichkeit, diese Verbrechen als Opfer (potentielle oder tatsächliche) nachzuvollziehen, erklärt weitgehend, scheint mir, sowohl den breiten Platz in der Frauenpresse wie die Solidarisierungskampagnen der Frauen.
Dass gerade diese an Frauen begangenen Verbrechen auch in der allgemeinen Presse einen viel breiteren Platz einnehmen als alle anderen Kriegsverbrechen, hat meiner Ansicht nach vor allem damit zu tun, dass es sich um Schilderungen brutalster Sexualität handelt, die, neben aller Abscheu, die diese auch bei Männern wecken mag, eine – kulutrell zwar geächtete, aber trotzdem vorhandene – Geilheit bewirkt, die in allem Voyeurtum aktiv ist und die gemeinhin als Sensationslust bezeichent wird. Man muss sich die Horden von Journalisten und Journalistinnen, Kameraleuten, Photographen und Photographinnen etc. in den Aufnahmelgern und -kliniken vorstellen. Dass dabei die Opfer definitiv zu Opfer gemacht werden, dass ihnen jede Subjektwürde genommen wird, wird vor lauter lüsterner Solidarisierung skrupellos weggesteckt – quasi als Marktpreis. Wo beginnt die Mittäterschaft? – die Mittäterinnenschaft?
Die Bürgertumsfalle
Als ich in der Zeit der Auflehnung begann, wie viele der gleichen Generation, unsystematisch nach sprachfähigen Vorbildern der Herrschaftskritik zu suchen, nach Vorbildern des Muts zur Eigendefinition, begann ich zu ahnen, dass es nur Rollen gibt, nichts “Eigentliches”, resp. dass das “Eigentliche” das “Uneigentliche” ist – einfach die Existenz in ihren unentwegten Lernprozessen vom Ich zur Welt und wieder zum Ich, im Rollenprobieren und -aufführen, im ständigen Vorweg-Vorbei-Vorweg-von Neuem, so wie in Kafkas Naturtheater von Oklahoma, wo jeder und jede eingestellt wird und eine Rolle spielt. Doch ich begann auch zu ahnen, dass es schlecht ist, mir durch die autoritären Regisseure der kleineren und grossen Bühnen Rollen zuschreiben zu lassen, dass es besser ist, die Rollen allein zu suchen, selbst wenn ich dabei Vorbilder nachahmte, denn “(. . .) ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund”, wieder gemäss Kafka (aus dem Bericht für eine Akademie).
Nicht zuletzt aus diesem Bedürfnis heraus wählte ich das Studium der Philosophie, vertiefte mich in zuerst curriculummässig in die antiken Quellen und in den mächtigen Literaturfundus der grossen Denker vom ausgehenden Mittelalter bis in dieses J ahrhunert, dann suchte ich nach den Denkerinnen, entdeckte Vita und Werk der George Sand, befasste mich eingehend mit den politischen und privaten Leidenschaften Rosa Luxemburgs, stiess irgendwann auf Olympe de Gouges, auf Flora Tristan, auf Rahel Varnhagen, verschlang die Werke Simone Weils und Hannah Arendts und kehrte immer wieder zu diesen zurück, versetzte mich in die Fussstapfen Mary W ollstonecrafts, deren Schrift “Vindication of the Rights of Women”, die 1792 in London als erbitterte Kritik an der systematischen Entwürdigung und an der organisierten Bevormundung der Frauen erschienen war, zum Nachvollzug aufrief Mary Wollstonecraft’s Feststellung, dass “der Begriff eines Geschlechtscharakters die Moral zerstört”, bot sich als Schlüssel zu Fragen an, die mich auf diffuse Weise bedrängten. Hätte alles Entsetzliche, was “Auschwitz” beinhaltet, verhindert werden können, wenn die Frauen und Männer meiner Elterngeneration gegen die geschlechts- und schichtspezifische Kolonisation ihrer eigenen Kindheit aufgestanden wären, gegen die Rollenmuster und Unterwerfungserwartungen, wenn die Männer sich zur Wehr gesetzt hätten gegen die Forderung, “hart” zu sein, sich bedingungslos einer äussern Autorität zu unterwerfen, mit gedankenloser Präzision Befehle auszuführen, eigene Stärke aus der Verachtung und Quälerei der Schwächeren zu schöpfen? – wenn die Frauen, statt “fraulich mild” zu schweigen, weil “Schweigen Gold war”, wie sie gelehrt wurden, laut gegen die Unerträglichkeit ihres Missbrauchs als Dienerinnen der Männer, als Verschönerinnen des Hauses, als ewig duldende und tröstende Mütter der harten Männer protestiert und die Verachtung ihrer selbst, die damit verbunden war, als unerträglich deklariert hätten, statt diese Verachtung zu internalisieren, zu somatisieren, an die Töchter weiterzugeben und die Söhne mit dem Frauenbild der Unterwerfung dem Vaterland zu überlassen? Warum diese Unterwerfung? Und warum die Reproduktion der Unterwerfung bei den Töchtern (und – in patriotisch-militaristischer Hinsicht – bei den Söhnen)? Warum dieser individuell wiederholte, kollektive Masochismus der Frauen in meiner Elterngeneration? Im enggeschnürten Rollenkorsett verdorrten deren Talente, wurden sie flügellahm und traurig, fromm oder verbittert, je nach Veranlagung – und stimmten dieser entsetzlichen Lebenserstickung sogar noch zu. Im alters- und schichtspezifischen Umkreis meiner Mutter und Grossmütter kannte ich nicht eine Frau, die nicht unter – zum Teil schweren – Depressionen sowie unter verschiedenen körperlichen Beschwerden litt – ausschliesslich Frauen aus dem Bürgertum. Das Bürgertum, die bürgerliche Ehe und Familie waren das kulturelle Korsett, das ein Ausmass an subtiler weiblicher Repression schuf, an struktureller Repression, wie sie sich sonst in keiner gesellschaftlichen Schicht vorfand, weder in der Arbeiterschaft noch in der Landwirtschaft. Die eine Grossmutter starb an “gebrochenem Herzen”, wie es hiess, ohne dass meine Mutter und meine Tanten den Lebensstil ihres Vaters offen zu kritisieren gewagt hätten. Und als ich mich einmal wegen männlicher Unerträglichkeit bei meiner Mutter beschwerte, in der Hoffnung, dass sie meine Auflehnung unterstützte, antwortete sie seufzend, dazu hätte sie “halt auch ja gesagt, indem sie ja zur Ehe gesagt” habe.
Sigmund Freuds Psychoanalyse war gewissermassen Produkt und Spiegel dieser – privat – sprachfähigen, jedoch in ihrem Ichwert zutiefst verletzten, ins Private eingeschnürten, zur Stützung der hypostasierten männlichen Identität ganz und gar instrumentalisierten Klasse von Frauen. Bertha Pappenheim war eigentlich weniger Freuds erste “Analysandin” als ein – für die Methode der Psychoanalyse maieutisch wirkendes – Beispiel der weiblichen Ichbefreiung aus den rollendefinierten Ankettungen. Gerade weil ich erlebte, wie in konservativen Schichten diese Strukturen bis in die jüngste Zeit aufrechterhalten wurden, vermochte ich, die Bedeutung der Psychoanalyse als Methode der privaten wie der gesellschaftlichen Herrschaftszertrümmerung zu erahnen, sowie, gerade deshalb, die Gründe für deren Ablehnung in rechtsbürgerlichen Schichten: nicht Psychoanalyse, sondern Psychiatrie, nicht Bereiung, sondern Kontrolle, Zähmung und Züchtigung.
1973 starb Ingeborg Bachmann, die in “Todesarten” in verschiedenen knappen Erzählungen festhielt, mit welch unmerklicher Gewalt das weibliche Ich, das nach Männerdiktat und gesellschaftlicher Usanz unterwürfig und gesichtslos sein soll, nach und nach vernichtet wird. Etwa um die gleiche Zeit tötete sich meine engste Freundin mit der Militärpistole ihres Mannes, in ihrer Ausweglosigkeit überzeugt, es sei besser, tot zu sein als lebendig, da es ja gar nicht gelingen konnte, das eigene Glücksverlangen zu erfüllen. Und die Kinder? “Die sollten nicht durch das Unglück der Mutter leiden müssen“, war ihre Antwort, “besser keine Mutter. ” Sie war aus “reichem Haus” gewesen, ihre eigene Mutter, eine früh verwitwete Geschäftsfrau, hatte ich als pflichtbewusst, aufopfernd und als gänzlich freudlos kennen gelernt. Jahrelang verwahrte ich in meinem Kasten eine dunkelblaue Strickjacke der toten Freundin als Dokument meiner Schuld, selber überlebt zu haben. Die Jacke glühte in meinen Händen, Beweis, dass Frauen dieser Schichte, welche privat oder politisch eine Form der Auflehnung suchten, noch in unserer Zeit auf grausame Weise zur “Paria” gemacht wurden und, gebrochen, beschädigt, schliesslich zu früh aus dem Leben schieden. Flora Tristan hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts für sich die Paria-Bezeichnung gewählt, nachdem das Gericht, bei dem sie Klage gegen ihren Ehemann Andre-Francois Chazal eingereicht hatte wegen Missbrauchs ihrer zwölfjährigen Tochter, wegen zweimaliger Entführung ihres Sohns und wegen eines Mordanschlags auf sie mit der Schusswaffe, sie verurteilte, die Ehe verlassen zu haben. “Ich war Frau, ich war Mutter, aber die Gesellschaft hat mir das Herz gebrochen. Jetzt bin ich nicht mehr Frau, nicht mehr Mutter, ich bin die Paria“, schrieb sie. Und nicht weniger heftig, wenngleich anders im Ton, formulierte Rahel Varnhagen in ungezählten Briefen die gleiche Erbitterung, so etwa an Pauline Wiesel (am 8. Juni 1826): “Keine Freiheit. Wollen Sie noch mehr wissen? Oft wundere ich mich, dass ich lebe, dieselbige bin und so weit von mir abkam . . . Man ist nicht frei, wenn man in der bürgerlichen Gesellschaft etwas vorstellen soll: eine Gattin, eine Beamtenfrau usw. ” – heute wie damals. Ich erinnere etwa an Iris von Roten und an die extremen Diffamierungen, die sie – auch und besonders von Frauen – zu erleiden hatte, nachdem sie 1958 ihr Buch “Frauen im Laufgitter” veröffentlicht hatte. Es gab zum Glück auch andere Beispiele.
Furchtlos gegen die Komplizität des Schweigens
Im Frühling 1989 hielt ich mich längere Zeit in Sizilien auf, um journalistisch den Kampf der Frauen gegen die Mafia zu dokumentieren. Es war dies, wie mir schien, eine der bedeutendsten Frauenrevolutionen in der europäischen Geschichte.
Während Generationen hatte für die sizilianischen Frauen das Gesetz des Schweigens gegolten, nicht aus eigenem Willen, sondern aus Einschüchterung durch das Gesetz der Gewalt und aus tradierter, sprachlos gewordener Resignation. Scheinbar gab es keinen Ausweg aus dem Frauenschicksal des Duldens, der Angst, des Schweigens, der lebenslangen Trauer um verschwundene Söhne, um ermordete Ehemänner, Väter und Brüder, scheinbar gab es keine Alternative zur erniedrigenden, sprachlosen Rechtlosigkeit. Allein die Unterwerfung unter die “omerta” schien “Sicherheit” zu gewähren. Ende der achtziger Jahre aber fanden Frauen den Weg zueinander, von denen jede einzelne genug der Einschüchterung und Gewalt ertragen hatte, von denen jede einzelne nicht länger Kinder auf die Welt stellen wollte, die, bevor sie erwachsen waren, als Instrumente eines skrupellosen Erpressungs- und Machtsystems den Müttern entfremdet, zu verbrecherischen Zwecken missbraucht und durch das System bedenkenlos “erledigt” wurden, wenn sie sich nicht widerstandslos duckten und anpassten. Als am 15. April 1989 nach einem elfmonatigen Prozess das Geschworenengericht von Palermo 82 angeklagte Mafia-Verdächtige, darunter einige notorische Mafia-Häupter, wegen scheinbar “ungenügender Tatbeweise” freisprach, ging nicht nur eine Welle der Bitterkeit und Resignation durch die sizilianische Öffentlichkeit. Aus der Unerträglichkeit dieses – letzlich gesellschaftlich legitimierten und allein aus Gründen der “omerta” möglichen – Urteils sprang auch ein Funke des Aufbegehrens und der zum Widerstand entschlossenen Unerschrockenheit von Frau zu Frau. Es waren Mütter und Ehefrauen, zugleich Töchter und Schwestern von Männern, die zum Teil Opfer, zum Teil aktive Mittäter des mafiosen Systems waren, Frauen, die das Gesetz der Angst nicht mehr ertrugen, die bereit waren, ihre vier Wände und das Schweigen aufzugeben und vor Gericht Zeugnis abzulegen. Sie entschlossen sich zu diesem Schritt, weil sie die Verlogenheit einer aus Einschüchterung und Gewalt gezimmerten “Sicherheit” nicht mehr mittragen wollten. Sie zogen die Unsicherheit des Widerstandes aus Verzweiflung vor und entdeckten, dass aus der veränderten Öffentlichkeit, die sie mit diesem Schritt schufen, eine neue Sicherheit erwuchs: die Sicherheit, “richtig” zu handeln, nämlich in Übereinstimmung mit den innersten eigenen Bedürfnissen, zudem eine Sicherheit, die aus der – vorher nicht erlebten – Solidarisierung mit anderen Frauen erwuchs.
Was der Feminismus im Bereich der öffentlichen und öffentlich-rechtlichen sowie der wirtschaftlichen, insbesondere der sozialen und lohnmässigen Diskriminierungen der Frauen zu korrigieren versucht hat, unterstützte ich, seit ich erwachsen war. Als Bewegung der Emanzipation der “Rechtlosen”, d.h. der durch die Frauen erkämpften Selbstzuschreibung von Rechten, der Verteidigung von Subjektwürde, von eigener Handlungskompetenz und von selbstbestimmtem Leben entsprach er meinen eigenen Bedürfnissen. Trotzdem befand ich mich selbst der Frauenbewegung gegenüber ständig in jener skeptischen Abgrenzung, die mich erfolgreich vor jeder Religions- oder Parteizugehörigkeit beschützte. Es ist der – vielfach nach wie vor binär und pauschal definierte – Frauen/Opfer-Männer/Täter-Diskurs mit dem damit verbundenen feministischen “Revanchismus” sowie die nicht mehr qualitativ, sondern nur noch geschlechtlich begründete politische Interessenklüngelei, die ich falsch und störend, ja gar verhängnisvoll und unemanzipatorisch fand und finde. Jede fundamentalismusähnliche Borniertheit kann mich in die Flucht treiben. Dieser reduzierte und zugleich redundante “Feminismus” hat, wie sich dies in der Praxis zeigt, auch wenig mit wirklicher, gelebter Solidarität zu tun. Trotz meiner Kritik und zeitweiligen Distanz halte ich jedoch Feminismus als Theorie der Herrschaftskritik und Frauenbewegung als Menschenrechtsbewegung für unerlässlich. Die Geschichte der jahrhundertelang verfestigten weiblichen Verachtung und Unterdrückung sowie deren Folgen und Wiederholungen müssen heute ebenso ernsthaft untersucht werden wie jene des Antisemitismus, der Zigeuner- und Jenischenverfolgung sowie anderer Rassismen und Kolonialismen, jedoch nicht allein aus frauenspezifischen Gründen, sondern auf Grund einer fortgesetzten Notwendigkeit gesellschaftsanalytischer, herrschaftskritischer Arbeit. Deren Ziel ist die Dokumentation der Folgen von Herrschaft über das Erzählen von Geschichten; deren Zweck die Sensibilisierung für jede Art von systematischer Diskriminierung oder Minderachtung von Differenz heute, resp. für die Erkenntnis der zu fordernden Anerkennung der pluralen Differenz in jedem Menschen und zwischen den Menschen, mit dem Anspruch der gleichen zivilen und politischen Rechte für alle. Ich bin jedoch überzeugt (wie auch Christina Thürmer-Rohr, Frigga Haug und andere), dass, ohne eine ebenso genaue Untersuchung des Beitrags, den die Frauen als Täterinnen zur Unterstützung des patriarchalen Systems geleistet haben, und sei es allein durch ihre Erziehung von Söhnen und Töchtern wieder zu geschlechtsspezifischen Vertretern und Vertreterinnen des Systems, dieses System sich nicht ändern wird. Wer nur als Mädchen oder als Junge, als Frau oder als Mann sozialisiert wird, lernt nie, den so widersprüchlichen und komplexen Menschen in sich – und in den anderen – zu verteidigen.
Neulich bemerkte ich zu meiner jüngsten Tochter, die offiziellen Personalausweise dürften, um emanzipatorischen Vorstellungen zu genügen und um – letztlich – menschenrechtskonform zu sein, die Rubrik “Geschlecht” ebenso wenig enthalten wie die Rubrik “Religion”, da Geschlecht und Religion die Intimität des einzelnen Menschen betreffen, die unbedingt zu schützen sei. Zudem sei die Deklarationspflicht im Grunde genommen nicht nur unethisch, sondern auch überflüssig, da nur die Weise des gelebten Lebens – die Beziehungen, die eingegangen und gelebt werden, sowie die Verantwortung und die Pflichten, die daraus folgen – die Richtigkeit oder Falschheit der Deklaration bestätigen könnten. Meine Tochter lachte und stellte mit der realistischen Einschätzung ihrer Generation fest, darauf könne ich noch zweihundert Jahre warten, das sei eine pure Utopie, auch wenn ich mit meiner Forderung und deren Begründung recht habe. Leider muss ich ihrer Einschätzung zustimmen. Solange “Identität” als Hypostase verstanden wird, als mit lauter Grossbuchstaben geschriebenes SELBST, als handle es sich dabei um ein vergegenständlichtes Gut, um einen “Besitz”, den ein Mann oder eine Frau ( oder eine Familie oder ein Volk) einmal erwirbt und in der Folge verteidigen muss, solange wird tatsächlich auch in der Geschlechterfrage ( ebenso wenig wie in der Rassismusfrage) ein Fortschritt zu erwarten sein. Adornos stimmt noch heute, dass “Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wiederholt sich noch in jeder Kindheit“ – wiederholte sich auf jeden Fall noch in meiner Kindheit und liess die Auflehnung dagegen zu einer Notwendigkeit werden.
Es handelte sich jedoch um mehr als um meine individuelle Auflehnung und um jene einiger gleichaltriger junger Frauen, es war eine Epoche der Auflehnung, die Epoche der Dekolonisation.
Der Versuch der kollektiven Dekolonisation
Zurück zu “1968”. Damals und in den voraus- und nachfolgenden Jahren zeigte sich eine kollektive Übereinstimmung unter den jungen Nachkriegs-Erwachsenen in der Infragestellung der rechthaberisch besetzten Weltbilder sowie aller Macht- und Unrechtpositionen der Vätergeneration und der “Mutterländer”. Diese Übereinstimmung zeigte sich im Widerstand gegen den von de Gaulle kolonialistsich geführten Algerienkrieg, im Widerstand gegen den Vietnamkrieg der USA, in der Unterstützung der Black Power-Bewegung gegen die Rassensegregation in den USA, im Widerstand gegen die Antimarxismus-Hysterie und ihren Meinungsterror auch hier in der Schweiz, gegen neu einsetzenden Antisemitismus und andere Rassismen, in der Revolte gegen die mangelnde Mitsprachemöglichkeit der Studierenden in den Universitäten, der Arbeiter und Arbeiterinnen in den Fabriken, sie zeigte sich in der Frauenbewegung gegen die jahrhundertealte Geschlechterhierarchie, in der Bewegung gegen atomare Aufrüstung und in der Bewegung der “Blumenkinder” gegen die Domination durch die “harten, erfolgreichen Väter” – lauter “Bewegungen”, deren gemeinsamer Grundtenor kritisch, antiautoritär und – alles in allem – in Hiblick auf eine mögliche gesellschaftliche Veränderung optimistisch war. Die Hippiebewegung etwa war nicht zuletzt eine Feminisierungsbewegung der jungen Männer, resp. ein kollektiver Versuch der Geschlechterdiffusion, mit Witz und Poesie, mit Musik, Locken, Kostümvielfalt, Promiskuität und LSD. Dass der Versuch nach wenigen Jahren in sich zusammenfiel, hatte nicht nur mit den Wasserwerfern der Polizei und dem gesamten übrigen Druck des “Vätersystems” zu tun, sondern auch mit der Tatsache, dass selbst die Hippies, indem sie ein wenig älter wurden, in ihren Kommunen die üblichen Unterwerfungs- und Herrschaftsstrukturen reproduzierten, gegen die sie eigentlich aufgestanden waren. Die Revolte, die zu einer gründlichen Dekolonisation angesetzt hatte, entpuppte sich – leider – als Episode.
Als im Herbst 1996 die algerische Schriftstellerin Assia Djebar in die Schweiz kam und ihr neues Buch “Le blanc d’Algerie” sowie einen Film “La Zerda ou les chants de l’oubli” präsentierte, den sie 1982 geschrieben und produziert hatte, wurde die Begegnung mit ihr und ihrem Werk zu einem Stück Erinnerungsarbeit in Bezug auf die erschütternde Erfahrung der Unabtrennbarkeit von individueller und kollektiver Geschichte. Dieser Film, aus Archivaufnahmen zusammengebaut, schildert die generationenlange Geschichte der maghrebinischen Kolonisation, eine Geschichte der nationalen kulturellen Fremddefinition, eine über unzählige Menschengeschichten sich fortsetzende und sich vervielfachende Geschichte der Beherrschung über die Sprache und über die Kontrolle der Bedürfnisse, eine Geschichte der mangelnden Anerkennung, der Unterwerfung und der unendlichen Demütigung. Die Demütigung, das wurde deutlich, bestand und besteht in der Verunmöglichung der Eigendefinition der Bedürfnisse und der Art und Weise deren Erfüllung, mithin der Eigendefinition der Differenz. Verun-möglichung bedeutet, im Sinn des Wortes, Unterbindung von Möglichkeit. Was als Möglichkeit unterbunden wird, soll nie Realität werden. Zumeist resultiert Verunmöglichung aus dem Missbrauch von Macht, als Folge von Herrschaft. Dass jede externe Definitionsmacht Missbrauch generiert und in Herrschaft ausartet, wurde mir bei der Betrachtung des Films in der Abfolge der Bilder einmal mehr klar.
Ich erinnere mich, wie eine ähnliche Erschütterung von Frantz Fanon’s Buch “Les damnes de la terre” ausgegangen war, diesem Manifest des 1924 in der Französischen Kolonie Martinique geborenen Bauernsohns, der in Frankreich Philosophie und Medizin studiert hatte, während des Zweiten Weltkriegs in der Resistance mitkämpfte und anschliessend als Psychiater in Algerien während drei Jahren eine psychiatrische Klinik leitete, worauf er in einem öffentlichen Brief an den französischen Generalgouverneur demissionierte und sich der Algerischen Nationalen Befreiungsfront anschloss. 1961 erschien Fanon’s Buch in Paris, mit einem Vorwort von Jean Paul Sartre, in welchem dieser die europäischen Länder, die “Mutterländer”, aufruft, sich in Fanon’s Buch zu vertiefen, damit sie verstehen, was auf sie zukommt, nämlich die Frucht der Demütigung: die während Generationen zurückgehaltene Wut, die sich lange nicht als Gewalt gegen das “Mutterland” und dessen Herrschaft zu richten wagte, sondern im kolonisierten Land internalisiert und in sog. “Bruderkriegen” ausgetragen wurde. Sartre schrieb im Vorwort, dass “der Bruder, der sein Messer gegen seinen Bruder erhebt, glaubt, das verabscheute Bild ihrer gemeinsamen Erniedrigung ein- für allemal zu tilgen”. Er versuchte deutlich zu machen, worum es Fanon ging: um die Notwendigkeit, eine kollektive Neurose zu heilen, die von den Kolonialherren durch die Einführung des “Eingeborenenstatus” geschaffen worden war, eines Status der Unmündigkeit, jenem ähnlich, der für die Kinder defininiert wird. Das zutiefst Neurotisierende daran war, dass mit dem “Eingeborenenstatus” zugleich der Status des “Menschen” verlangt und verleugnet wurde, mit anderen Worten, dass von den Kolonisierten einerseits verlangt wurde, dass sie sich wie Angehörige des “Mutterlandes” bewegten, kleideten, arbeiteten, marschierten, als Soldaten kämpften, Steuern bezahlten, auch Schulen besuchen und studieren durften, dass sie sich aber andererseits immer ihrer Abhängigkeit und ihrer Minderwertigkeit bewusst bleiben sollten. Wollten sie den Status von “Menschen” im Sinn des “Mutterlandes” erlangen, mussten sie zu Komplizen der Kolonisierung werden, um festzustellen, dass sie auch dann noch minderrangig blieben.
Politisches Handlungsrezept Gewalt
Um die kollektive Neurose zu heilen, gibt es, nach Frantz Fanon, nur die Gewalt. Fanon rief mit seinem Buch zur Gewalt auf, zum Mut zur Gewalt: “Die Dekolonisation, die sich vornimmt, die Ordnung der Welt zu verändern, ist, wie man sieht, ein Programm absoluter Umwälzung. Sie kann nicht das Resultat einer magischen Operation, eines natürlichen Erdstosses oder einer friedlichen Übereinkunft sein”. Und Fanon fuhr fort, dass so, wie sich die Kolonisierung unter dem Zeichen der Gewalt abspielte und erzwungen wurde, sowohl äusserlich in der Organisation des Landes, wie innerlich in den Köpfen der Kolonisierten, die Dekolonisation nur durch Gewalt erfolgen könne. Nur über die Gewalt könne der Prozess der Rückgewinnung der zur Folklore denaturierten, fremdbeherrschten eigenen Kultur und der politischen sowie der ökonomischen Unabhängigkeit eingeleitet werden, dieser Prozess der Identitätsfindung, der letztlich unabschliessbar ist.
Als Fanon’s Buch in den sechziger Jahren erschien, wirkte es wie ein Fanal. Ich war damals knapp über zwanzig. Der im Buch enthaltene Aufruf zur Gewalt, die Gewalt selbst erschreckte mich, und den Entscheid für die Gewalt, wie Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und andere Frauen ihn im Umfeld der europäischen Stadtguerillas einige Jahre später umsetzten, konnte ich nur als Ausdruck einer aporetischen Verzweiflung verstehen. Auch sie mussten doch wissen, dachte ich, dass die ‘‘Massnahme “, die sie immer wieder aus Bertold Brechts “Lehrstücken” zitierten, ein Verhängnis war, die Fortsetzung aller Verhängnisse, unter denen sie selbst litten, dass es eben nicht so war, dass “nur mit Gewalt diese tötende Welt zu ändern ist, ·wie jeder Lebende weiss”. Ich ahnte jedoch, dass der mit Gewalt verbundene Aufstand der kollektive Ausdruck der Sprachlosigkeit war, der jenem glich, den ich seit meiner Kinderzeit als Notwendigkeit der Auflehnung empfand, für die ich, je nach den Möglichkeiten, über die ich vorweg verfügte, nach einem eigenen Ausdruck suchte, dabei aber nie meine Skepsis gegenüber alleinrichtigen Rezepten aufgab, auch nie meine Skepsis gegenüber “clans”, Parteien und ähnlichen durch Zugehörigkeit definierten Kollektiven. Lieber übte ich Ungehorsam allein, auch Widerspruch und Fluchten (“fugues”), suchte allein nach künstlerischen, resp. symbolischen oder literarischen Formen des bildnerischen und sprachlichen Ausdrucks, internalisierte allerdings auch die Gewalt, etwa durch einen schweren Unfall und anderes mehr, war stets nach Eigendefinitionen aus und nach Gegenentscheiden zum Bild, dem ich hätte entsprechen müssen, insbesondere durch die Abkehr von der von den Herkunftskreisen vertretenen Bürgerlichkeit, welche die Kolonisierung der Frauen als Programm aufrechterhielt, damit durch Zustimmung zu Programmen der Auflehnung gegen Herrschaft und gegen den Missbrauch von Menschen in allen Bereichen, nie aber zur Gewalt. Gewalt konnte kein Gegenentscheid zur erlittenen Gewalt sein. Und als ich Kinder geboren hatte und daraus für mich mit fünf Menschen ein unauflöslicher Vertrag entstand (auch mit jener schwer behinderten Tochter, die kurz nach der Geburt starb), bestand dieser in der Zustimmung zu meinen Kindern als Subjekten, nicht als kolonisierbaren Objekten, daher in der Zustimmung zu ihrem Recht auf Irrtum und auf Lust in selbst gewählten Tätigkeiten und Beziehungen, auch in der Zustimmung wiederum zu ihrer Auflehnung, selbst zu ihrer zeitweisen Ablehnung meiner Zustimmung. Zustimmung schliesslich zur Auflehnung der Kolonisierten im eigenen Land und anderswo – der Frauen, der Fremden, der Armen -, kurz Zustimmung zu Programmen der Subversion von Herrschaft, zu Programmen der Eigendefinition. Immer deutlicher schälte sich heraus, dass das Private vom Politischen nicht zu trennen war, und das Politische nicht vom Privaten, und ich wurde zwar nie und in keiner Partei Mitglied, aber “une femme politique”, die sich schreibend und redend im öffentlichen Leben einmischte.
Zwischen Fanatismus und offener Perspektive
Diese Art der Zustimmung wird als “Engagement” verstanden. Engagement ist ebenso nah dem Fanatismus wie der Leidenschaft, resp. der offenen Perspektive. Immer wieder fragte ich mich, wie und wodurch es zur einen, wie zur anderen Entwicklung kommt. Und nochmals befasse ich mich mit Ulrike Meinhof, mit Rudi Dutschke: an welcher Weggabelung entschieden sie sich je anders? Dutsche etwa war kurz vor dem Mauerbau aus der damaligen DDR nach Westberlin gezogen und begann dort 1961 zu studieren (im Osten hatte er wegen seiner Militärdienstverweigerung keinen Studienplatz bekommen). Durch seinen Einsatz im Kampf gegen die Unterdrückung kritischer Meinungsäusserung sowie gegen die Kälte eines Systems, das allein durch Marktinteressen und durch Waffengewalt bestimmt war, wurde er zum Wortführer und immer mehr zur eigentlichen Symbolfigur der antiautoritären Studentenbewegung, die sich nach der Erschiessung des Studenten Benno Ohnesorg durch einen Berliner Polizisten ( am 2. Juni 1967) zu einer breiten Protestbewegung entwickelte. Im Zusammenhang mit dem Internationalen Vietnamkongress, der im Februar 1968 in Berlin stattfand und an welchem sich Intellektuelle aus der ganzen Welt gegen den amerikanischen Krieg in Indochina vereinten, wurde Rudi Dutschke durch die Behörden und Springerpresse zum gefährlichen Volksfeind erklärt. Die Hetze gegen den damals 28jährigen war gnadenlos. Im April des gleichen Jahres wurde er durch einen fünf Jahre jüngeren, ebenfalls aus der DDR stammenden Arbeiter, Josef Bachmann, niedergeschossen. Rudi Dutschke überlebte, tauschte mit dem Attentäter Briefe aus, in denen er ihn von der Notwendigkeit des gleichen Kampfes zu überzeugen suchte, starb jedoch 1979 an den Folgen des Attentats. Josef Bachmann beging im Februar 1970 Selbstmord.
Und Ulrike Meinhof? Am 8. Mai 1976 wurde sie in ihrer Zelle im Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart-Stammheim tot aufgefunden, nach langer Einzelhaft am Ende ihrer Kräfte, eine Philosophin, Pädagogin und Journalistin, eine Atomwaffengegnerin, die zur RAF- Terroristin geworden war, für die Mächtigen eine Staatsfeindin, für viele Sprach- und Machtlose eine Kämpferin für Demokratie und Menschenwürde, für viele ihrer linken Zeitgenossinnen und Zeitgenossen das tragische Opfer einer fanatisch verhärteten und damit inhuman gewordenen Theorie des richtigen Handelns, die sich nicht mehr über Sprache, sondern über Gewalt durchzusetzen versuchte und damit selbst zum Instrument von Unrecht wurde – entgegen den Intentionen des ursprünglichen Engagements.
1963 hatte Rudi Dutschke in einem Tagebucheintrag festgehalten: “Entfremdung ist für mich auch Starrheit des Denkens, Geschlossenheit des Denkens. Die Befreiung des Menschen ist nur durch wirkliche Einsicht in die notwendigen Gegebenheiten des gesellschaftlichen Lebens möglich. Eine Änderung der Besitzverhältnisse ist nicht gleichbedeutend mit der Aufhebung der Entfremdung”. Ein Jahr früher hatte Ulrike Meinhof in “konkret”, der Zeitschrift, für die sie als freie Journalistin und als Chefredaktorin gearbeitet hatte, einen kurzen Text veröffentlicht, der berühmt werden sollte. Er trug den Titel “Die Würde des Menschen”. Sie hielt darin fest, dass der Verrat am Grundgesetz durch die Einführung des “Notstandsgesetze” zu einer – parlamentarisch abgesegneten Tatsache geworden war, nachdem schon 1956 durch die “Wehrartikel”, d.h. die atomare Aufrüstung der BRD im Rahmen der NATO, das Bekentnis zu einer unbedingten Friedenspolitik hinfällig geworden war. Und sie schloss: “Die Würde des Menschen ist wieder antastbar geworden”. Die Wiedergutmachung dieser Verletzung war das Ziel ihres Engagements; es führte sie in den Fanatismus.
Nochmals, warum? Warum spitzte sich Ulrike Meinhofs Engagement in die Ausweglosigkeit von Gewalt, Gegengewalt und Terror zu, und Rudi Dutschkes Engagement versuchte sich als politisches Handeln (im Sinne Hannha Arendts), das heisst über die Sprache, zu realisieren? Liegt die Erklärung vieleicht in Rudi Dutschkes Satz, dass die Starrheit des Denkens Entfremdung bewirkt? – ja Entfremdung ist? Verhindert diese Starrheit die Frage nach der Angemessenheit der Mittel sowie nach der zeitlichen Terminierung, mit denen und innerhalb derer ein Ziel erreicht werden soll?
Ich frage mich, ob die Vorstellung einer in Freiheit sich konstituierenden gerechteren Gesellschaft, letztlich die Vorstellung eines bessern Lebens nicht nur für sich selbst, sondern für alle, dann aufhört, eine Brücke in die Zukunft zu sein, wenn jedes Mittel zur Verwirklichung dieser Vorstellung gerechtfertigt erscheint, wenn die Ungeduld der Realisierung zum Zwang wird, wenn damit verschiedene Optionen des Handelns nicht mehr in Betracht fallen. Die Brücke hält nur dank der federnden Elastizität der ständigen kritischen Rückfragen an das eigene Handeln, dank der ständigen Erwägung der Richtigkeit und Angemessenheit der Mittel. Entfremdung bedeutet im tiefsten Sinn Verlust dieser Möglichkeit der Infragestellung der eigenen Definition, das heisst Verlust der Freiheit, unter verschiedenen Optionen des Handelns abzuwägen und die je – vielleicht nur vorläufig – bessere, aber immer wieder korrigierbare zu wählen. Engagement ohne Skepsis entwickelt sich zu einer immer engeren Spirale des missionarischen Eifers, der Orthodoxie und Orthopraxie, zur verzweifelten Ausweglosigkeit. Wie aber soll die Kraft zur ständigen Infragestellung auch der eigenen Überzeugung, geschweige fremder Überzeugungen, erhalten bleiben? – die Kraft zum skeptischen Widerstand und zur widerständigen Skepsis?
Im Lauf meiner existenz- und gesellschaftsanalytischen Arbeit stellte ich fest, dass, wenn Ermattung überhandnimmt und die Kraft zum Widerstand abhanden geht, das Gefühl für die Bedeutung der Realität, auch das Gefühl für den Rythmus der Zeit, selbst das Gefühl für Recht und Unrecht verloren geht. Die Unterwerfungszugeständnisse, die in solchen Zeiten gemacht werden, demütigen die Menschen vor sich selber in einem Mass, dass sie sich klein und ohnmächtig fühlen. Was Rudi Dutschke als Entfremdung bezeichnet, findet sich in den Frühschriften von Marx, vor allem in den “Ökonomisch-philosophischen Schriften” als ausführlich thematisiert (nicht erst im “Kapital”) und trifft nicht nur für die kollektiven Zusammenhänge zu, sondern für jede Existenz. Der Verlust der Widerstandskraft bedeutete Verlust der Liebe zum Leben. Bevor jedoch das Übermass an Entfremdung zur Lähmung führt, kann es eine Krise verursachen, die, statt in Unterwerfung einzumünden, wiederum zur Eigendefinition führen kann. Die persönliche Emanzipation, die nie ein für allemal geschieht, entspricht dem Prozess der Dekolonisierung. “Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, schreibt Adorno in den “Minima Moralia”. Der Prozess um das “richtige Leben” ist der Weg zur Autonomie, resp. der Weg zu einer eigendefinierten Identitäts- oder besser Identitätenfindung durch Zustimmung zur eigenen Differenz und zur Differenz der anderen in einer zwar kolonial geplünderten, jedoch wiederaufbaubaren Welt.
Plurale Identitäten
Ich spreche ausdrücklich von “Identitäten”, auch wenn es sich um die einzelne Existenz handelt. Selbst wenn “Identität” im Singular verwendet wird, in den üblichen Verwendungen, etwa in der Rede von Identitätspapieren, von Identitätsbestätigung bei Warenkontrollen, von Identitätserziehung, Identitätskrise, Berufsidentität, weiblicher/männlicher Identität, von kultureller Identität etc. wird deutlich, dass der Identitätsbegriff zwar alles andere als eindeutig ist, jedoch gebraucht wird, als wäre er eindeutig. Dabei ist festzuhalten, dass “Identität” einerseits immer ein relationaler Begriff ist, d.h. ein Verhältnis darstellt, dass er andererseits ein Verhältnis der Gleichheit, resp. der Obereinstimmung vorgibt, obwohl das dem Wort “Identität” innewohnende “idem” ( eadem, idem), resp. “derselbe”, “dasselbe”, “dieselbe” sich letztlich nur in der mathematischen Gleichung a = a findet. Schon völlig zufällig ist die Bedeutung von Identität etwa beim Vergleich von Waren und Warendeklarationen, oder von Person und Personalausweis. (Falsche Papiere waren häufig fürs Überleben von Menschen unerlässlich, so etwa bei meiner Freundin Janina Kapczynska, die diesen – christlich polnischen – Namen seit ihrer Rettung aus dem Warschauer Ghetto beibehielt und ihren ursprünglich jüdischen Namen Maria Rajbenbach, der mit der Erinnerung an die Quälereien verbunden bleibt, erst wieder auf ihren Grabstein einmeisseln lassen will).
Die (in Verhältnissen sich herstellende) referentielle Bedeutung von Identität bietet den pluralen Gebrauch – Identitäten – für das eine Ich an, um einen doppelten Zweck zu erreichen: zugleich die Korrektur der als Fremddefinition bedrohlichen Identitätshypostasierung und die als Prozess verstandene Eigendefinition im Rekurs auf die eigene Geschichte. Über die rekonstruierbare und erzählbare individuelle Geschichte lässt sich die Identitätspluralität im selben Ich belegen, in der ich mich als das gleiche handelnde oder leidende, resp. als das gleiche aktive oder passive Subjekt wiedererkenne, jedoch je nach den Verhältnissen, in denen ich mich befinde, in einer immer wieder erkennbaren Subjektdifferenz – etwa als Tochter meiner Eltern, als Enkelin meiner Grosseltern, als Zeitgenossin inmitten der heute lebenden Nachkriegsgenerationen, als Mutter meiner Kinder, als Partnerin in Liebesverhältnissen, als Lehrende, als Philosophin, als Staatsbürgerin, als Angehörige von Basisgruppen im Flüchtlings- und Asylbereich, als Ausländerin und Fremde im Ausland etc. -, in jedem dieser Verhältnisse handle “ich” nach Kriterien, die häufig untereinander nicht kompatibel sind, die sich sogar widersprechen, die jedoch meiner jeweiligen Identität im jeweiligen Verhältnis ensprechen mögen, resp. diese geradezu herstellen. Diese Subjektpluralität konstituiert sich durch die allmählich im Lauf der Dekolonisierung gewonnene Vielzahl des Ichsagens in der Vielzahl der erzählbaren Geschichten, als handelnd oder leidend, als widerständig oder als unterworfen, als aktiv oder als passiv sich/mich wiedererkennend, in der Pluralität der Ichs diese unterscheidend und zugleich diese von den anderen Ichs unterscheidend. Daraus folgt etwa, dass das Ich sich als Subjekt in dialogischen Verhältnissen erkennt, wo es als Du angesprochen wird, oder dass es sich in referentiellen Verhältnissen erkennt, wo es als Er oder als Sie dargestellt und referiert werden kann, jedoch auch in der Referenz immer als Subjekt erkennbar bleibt. Denn ob als Ich in der Selbstreferenz, als Du (respektive als Ihr oder Sie) in der dialogischen Referenz, oder als Er und Sie in der indirekten Referenz, immer kann das Subjekt auch in dieser Puralität der Verhältnishaftigkeit als Subjekt des Handelns oder Erleidens erkannt – und anerkannt werden, oder kann ihm das Erkennen, resp. das Anerkennen verweigert werden. Eine der schwierigsten Anerkennungen – vor allem für das weibliche Ich, aber nicht ausschliesslich für das weibliche Ich – zeigt sich bei der geschlechtlichen Identitätspluralität, d.h. bei der Anerkennung der pluralen Äusserungen geschlechtlicher Differenz im eigenen Ich, ob diese sich als morphologische, als hormonale, als psychologische oder als referentielle und soziale Differenz zeige, ob in der Gestalt und im Bild, das die Gestalt vermittelt, ob im Selbstbild, ob im Begehren und in den vielen Sprachen des Begehrens, ob in den gelebten Verhältnissen, wie auch immer. Mir scheint, dass es das Ziel der Identitätsfindung sein müsste, Geschlechtlichkeit als Bedingung der Möglichkeit eines schöpferischen, sinnvollen, damit selbstdefinierten Lebens in Beziehungen zu verstehen, in einer Art der vorausgesetzten (transzendentalen) Verknüpfung mit Vernunft resp. mit Freiheit, der so die Anerkennung der Individualität und ihrer Bedürfnisse, resp.die Anerkennung der Differenz, zukäme. Ich frage mich, ob das seit Freud behauptete Zwanghafte der Geschlechtlichkeit nicht eine der schwerwiegendsten Folgen generationenlanger Kolonisation der Kindheit und des Erwachsenwerdens ist.
Vieles dieser zu leistenden Arbeit der Identitätsfindung, wie sie sich etwa bei Luce Irigaray, bei Judith Butler, bei Muriel Dirnen, bei Jessica Benjamin oder, wieder ganz anders, bei Gilligan Rose findet (die sogar ihren Namen änderte), hat, vermute ich, mit den fehlenden Müttern und Vätern als Identifikationsfiguren des sprachfähigen, selbstdefinitionsfähigen Widerstandes gegen deren eigene demütigende Kolonisation zu tun, vor allem aber des fehlenden Widerstandes gegen eine von entsetzlichstem Herrschaftsmissbrauch – von Auschwitz – gezeichnete Welt, eine Welt der hypostasierten patriarchalen Verachtung aller Differenz, der gegenüber die Väter und die Mütter in die Sprachlosigkeit fielen oder, eventuell, gar in die Komplizenschaft. Die feministische Arbeit der jüngsten Jahre ist daher gekennzeichnet durch Trauer, sodann durch das Bemühen, über die Geschlechts- und Geschlechterdifferenz hinaus die Notwendigkeit der Anerkennung der unendlichen Pluralität von Differenz im Bild des Menschen nachzuweisen und anzunehmen, auch jener Differenz, die als Fremdheit und als immer wieder andere Fremdheit erschreckt.
Aus der Nicht-Übereinstimmung von Können und Sollen die Frage nach der Freiheit
Der existenzphilosophische Ansatz in der Befragung pluraler Identität impliziert somit vor allem die Frage nach der Wahl des Handelns und jene nach der Legitimierung dieser Wahl. Wie komme ich dazu, so zu handeln, wie ich handle? Dabei wird vorausgesetzt, dass ich im Prinzip gut handeln will. Wie aber weiss ich, was gut handeln bedeutet? Worauf stützt sich meine Wahl? Die im Prozess der Dekolonisation oder Emanzipation geschehende Ablösung von einer externen normativen Definitionsmacht (jener der Eltern, der Religion, des Staates, einer politischen Führungsgestalt etc) durch meine interne eigene Definitionsmacht ( ev. die internalisierte externe Definitionsmacht) befähigt mich noch nicht zur Wahl eigener Kriterien des guten Handelns, resp. selbständig bestimmter Normen, verpflichtet mich aber, dies zu versuchen und solche zu benennen. (Zu diesen Kriterien gehört u.a. der – auf einer nicht weiter hinterfragten Subjekt- und Vernunftdignität begründete – kategorische und praktische Imperativ). Die Nicht-Übereinstimmung von Können und Sollen liegt der existenzphilosophischen Frage nach der die Identitäten mitentscheidenden Wahl des Handelns zugrunde. Sie mündet ein in die Frage nach der Freiheit und wird dadurch zur ethischen Frage. Die Ablehnung dieser Frage, resp. die Ablehnung der Verantwortung für die Handlungsdefinition wiederholt und verstärkt die durch die ursprüngliche Kolonisation geschaffene Ich-Entfremdung. Wie soll ich mich in der Selbstbefragung als dasselbe Subjekt erkennen, wenn ich mich in der Begründung des Handelns nicht erkenne, resp. wenn ich mich nicht immer wieder als fremddefiniert und damit auch als leidendes Subjekt (nicht notwendigerweise als Objekt) erkenne?
In einer theoretischen Zusammenfassung liesse sich sagen, dass alle nicht prozesshaft, sondern ontologisch (aus dem “Sein” und “So-Sein”) definierten Identitätstheorien, sowohl die religiösen wie die politischen, der Legitimation und der Aufrechterhaltung von Herrschaft dienen. Dass sie eine Disziplinierungsfunktion gegenüber dem bedrohlich Wilden der Existenz beanspruchen, gegenüber dem Anarchischen, das möglicherweise allein schon Kindsein oder Weiblichkeit beinhaltet, letztlich gegenüber der Freiheit des Ich-hungrigen Subjekts. Dass sie letztlich jedes Sosein an einem “Sein an sich”, an einem absoluten Sein messen, dessen Normativität die freie Konstituierung des Ich verhindern soll. Diese Theorien einer hypostasierten, starren Identität liegen ebenso der patriarchalen Geschlechterordnung zugrunde wie den einseitig auf Gehorsam und Unterordnung ausgerichteten Erziehungstheorien. Sie machen auch die Normativität der Assimilationsforderung Fremden gegenüber aus, wie u.a. Zygmunt Bauman (Modeme und Ambivalenz) nachweist. Sie sind Fundament und Zweck aller Kolonisierungsprogramme und aller Nationalismen. (Auf die Dialektik von jüdischer Emanzipation und Assimilation gehe ich später gesondert ein).
Normativ geforderte Identität und Gleichschaltung sind nicht weit voneinander entfernt. Auf deutliche Weise zeigt sich diese Tendenz in den rassistischen Parolen und in den Gleichschaltungsforderungen antifreiheitlicher politischer arteien, auf extreme Weise in totalitären Systemen. Identität im konventionellen Sinn konstituiert sich vor allem durch das Konstrukt von Gleichheit, damit durch die hypostasierte Ungleichheit mit jenen ( oder jenem), die ( oder das) “anders” sind ( oder ist). Nicht “fremd” ist unvereinbar mit “gleich”, sondern “anders”. Während “fremd” durch Kennenlernen und Kenntnis “bekannt” wird, bleibt “anders” die unveränderliche Differenz zur hypostasierten Gleichheit oder Identität. Im Unterschied zu Zygmunt Bauman meine ich, dass sich das Phaenomen der kollektiven Identität als Zugehörigkeit zu einer grösseren Einheit von “Gleichen” durch den Gegensatz von “gleich” und fremd” nicht genügend erklären lässt, sondern dass es sich erst durch die Unverträglichkeit und den Ausschluss der “anderen” als der Nicht-Dazugehörenden kennzeichnet. Da “Dazugehören” in den meisten Fällen als etwas Erstrebenswert gilt, d.h. mit positiven Werten besetzt ist, wird die Differenz resp. die Divergenz oder das Anderssein negativ bewertet, als minderwertig oder als bedrohlich.
Das Nicht-Dazugehören wurde seit ältester Zeit mit Ausgrenzung der “anderen”, eventuell mit Sanktionen verbunden, z.B. mit dem Barbaren- und ev. Sklavenstatus bei den Griechen, mit Exkommunikation resp. “ewiger Verdammnis” durch die katholische Kirche (wobei zum Ausschluss aus der Gemeinde, resp. aus den für die Gleichen geltenden, Sicherheit verleihenden Bedingungen des gelebten gesellschaftlichen Lebens, der Ausschluss aus der Gemeinde des Jenseits kam – eine wohl nicht mehr zu überbietende Geste totaler Herrschaft), mit dem Cherem in der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde ( der sich jedoch in keiner Weise auf die messianische Met-Zeit erstreckte), mit öffentlichem Pranger, mit Landesverweisung resp. Ausbürgerung in jüngerer Zeit, mit Enterbung resp. Ausschluss aus der Familie, mit Ausschluss aus einem Verein, mit gesellschaftlicher Diffamierung ( subtielr Ausgrenzung innerhalb der Gesellschaft) wie “der/die ist kein/e echte/r Schweizer/in”, etwa bei den Armeegegnern/-gegnerinnen, bei den Kommunisten/Kommunistinnen, Atheisten/Atheistinnen bis zu gesellschaftlichem Ausschluss durch Entmündigung, Psychiatrisierung, Inhaftierung etc., schliesslich bis hin zum tödlichen Ausschluss, den die Rassegesetzen bewirkten, bis zum “J” in den Pässen, zum Judenstern und zur Selektionsrampe, bis zur Vernichtung des “unwerten” Lebens und bis zur “ethnischen Säuberung”. Während “Fremden” gegenüber seit ältesten Zeiten Gastpflicht besteht, wird die Ausgrenzung derjenigen, die als “anders” qualifiziert werden, ebenfalls seit ältester Zeit als legitimen Schutz des/der “Identischen” resp. “Gleichen” und daher nicht als unethisch verstanden. Das mag als diffuse, aus einem mythischen Hintergrund wirkende Komponente für das implizite, aus dem Schweigen, aus der Indifferenz und aus der Nicht- Intervention sich herausbildende Einverständnis nicht nur des Grossteils der christlichen deutschen und polnischen Bevölkerung, sondern auch der französischen, holländischen, österreichischen etc. mit der Deportation und Vernichtung der Juden und der Zigeuner gewirkt haben, nicht nur bei der gewöhnlichen Bevölkerung, sondern auch bei den verantwortlichen politischen und militärischen Verantwortlichen. “Juden” und “Zigeuner” waren nicht “Fremde”, sondern sie wurden als “anders” verstanden und definiert. Der im 19. Jahrhundert sich wechselseitig stärkende Nationalismus und Rassismus als doppeltes Konstrukt hypostasierter Identität gab dem diffusen, auf der Folie der “Christlichkeit” herausgebildetem Empfinden ein Programm, das im Nationalsozialismus zum Menschenvernichtungsprogramm wurde, das, offen deklariert, quasi im Angesicht der Welt, die Deportation, die unbeschreibliche Quälerei und die Tötung von Millionen von Menschen – je ein einzelner und eine einzelne und ein einzelner und eine einzelne millionenfach – nicht nur zuliess, sondern legitimierte.
Dass dies geschehen konnte und von der ganzen Welt zugelassen wurde – die Umkehrung von grösstem Unrecht, von schwersten und entsetzlichsten Verbrechen in Recht – war der nicht mehr gutzumachende europäische Zivilisationsbruch. Dass im jüngsten europäischen Krieg, im Jugoslawienkrieg, wieder “ethnische Säuberungen” von den “Warlords” in aller Öffentlichkeit deklariert und, elektronisch dokumentiert, als Gemetzel an Hundertausenden von Menschen durchgeführt wurden, macht deutlich, dass der einmal zugelassene Bruch allen späteren verbrecherischen Wiederholungen eine vorauseilende Legitimation gibt.
Ich bin daher überzeugt, dass, ohne eine gründliche und sorgfältige Dekonstruktion der hypostasierten geschlechtlichen, nationalen, religiösen, “ethnischen” und wie immer definierten “Identität”, jeder scheinbare emanzipatorische Fortschritt in eine neue Reaktion und Repression führt. Meine Hoffnung – nicht Utopie – ist, dass die Erkenntnis und Erfahrung der Relationalität jeder Existenz, die Erfahrung der gegenseitigen Abhängigkeit in der gleichzeitigen Welthaftigkeit, deutlich werden lässt, dass jeder Mensch zugleich Ich und Du und Er und Sie ist, in der Vielfalt der Differenzen seines/ihres eigenen Werdens als Kind, als Heranwachsende und als Heranwachsender, als Erwachsene und Erwachsener, als alter Mensch und in der Pluralität der Verhältnisse, in denen jede Existenz sich vorweg aktiv und passiv, handelnd und leidend in einer Subjektpluralität befindet, dass sich daher jede Identitätshypostasierung als unsinnig erweist. Sodann, dass die jede Existenz auszeichnenden Grundbefähigungen Vernunft, resp. Geistigkeit, sowie Körperlichkeit mit der ihr je eigenen Geschlechtlichkeit – als transzendentale Befähigungen zur Freiheit erkannt werden, oder, mit anderen Worten, als Bedingungen der Möglichkeit frei gewählter, sinnvoller Menschlichkeit. Diese existentiellen Grundbefähigungen gestatten den Menschen, in Verhältnissen zu leben, Beziehungen einzugehen, mit anderen Menschen in der Welt zu leben, schöpferisch zu sein und sich, je nach Lebensphase, mehr oder weniger als Frau oder als Mann zu fühlen sowie soziale Rollen und Aufgaben zu erfüllen, im Eingeständnis der Fülle immanenter und sich vorweg entwickelnder Differenzen.
In den grossen Städten ist allmählich den Phaenomenen der Geschlechtsdiversität gegenüber – etwa der Homosexualität oder der Travestie gegenüber – eine grössere Toleranz festzustellen. Allerdings heisst Toleranz noch nicht Akzeptanz im Sinn anerkannter Gleichberechtigung des vielfach Differenten. Toleranz ist letztlich nicht viel mehr wie eine kollektive “Laune” des Geltenlassens, die bei veränderten Prämissen schnell wieder ändern kann. Alice Rühle-Gerstel machte schon 1932 darauf aufmerksam (“Die Frau und der Kapitalismus. Eine psychologische Bilanz”), dass auch in der homosexuellen Liebe von Frauen sich vor allem heterosexuelle Muster finden, resp. hierarchische Muster von “oben” und “unten”, von “männlich-aktiv” und “weiblich-passiv”. Dies hat sich in der Regel bis heute nicht verändert, da noch immer die Vorstellung der multiplen Differenz in jedem einzelnen Menschen, die allein Parität in den Verhältnissen ermöglicht, in der Praxis zu Gunsten binärer Modelle, die immer Über- und Unterordnung beinhalten, aufgegeben werden. Gerade in jüngster Zeit, wohl nicht zuletzt infolge der wirtschaftlichen Rezession, zeigt sich sogar wieder ein regressiver Trend in der Verstärkung eindeutig definierter, konservativer Geschlechterrollen. Gleichzeitig nehmen rassistische Phaenomene wieder zu, Phaenomene der “ethnisch” definierten, als unverträglich deklarierten “Andersartigkeit”, deren angstbesetzten, zumeist gewalttätigen Ausgrenzung. Was “Verstehen” und “Weiterwissen” im Individuellen zum Auflösen von Aporien befähigt, müssste in gesellschaftliche Prozesse umgesetzt werden können.
Die hypothetisch-postulative Formulierung zeigt die Komplexität an. Freiheit kann nur von vielen wahrgenommen werden, wenn ein genügender Handlungsraum besteht, um Prozesse des Wandels, die immer auch Irrtümer generieren, angstfrei zuzulassen. So wie die individuelle Freiheit das Gegenmodell zur Angst ist – Angst vor dem Verlust von Sicherheit – ist die kollektiv gewährte und auch für Minderheiten (die als “anders” gelten) garantierte Freiheit das politische und gesellschaftliche Gegenmodell zur Angst. Doch wem schon die eigene Freiheit “ungeheuer” ist, erscheint die Freiheit der “anderen” als grösste Bedrohung.
Ich nehme an, dass tatsächlich im innersten Zentrum aller Ängste die Angst um das flüchtige, von Leiden und Tod bedrohte eigene Leben hockt, eine archaische und zugleich je aktuelle existentiale Angst. Während Jahrhunderten konnten Krankheiten und Sterben weder erklärt noch kontrolliert werden, und bis auf den heutigen Tag lassen sie sich nicht überwinden, trotz aller Beschwörungen und Jenseitsversprechungen der Religionen und trotz aller von Medizin, Biochemie und anderen Wissenschaften entwickelten Techniken und Methoden der Lebens”rettung” und Lebensverlänerung, trotz Gentechnologie und Organtransplantationen. Sterben und Tod stellen sich allem Wissen und allen technischen Fortschritten als letzte Grenze entgegen, die nicht gebannt und nicht überwunden werden kann. Mir scheint, dass, je raffinierter die Lebensverlängerungstechniken sind, je ängstigender Zeitlichkeit und Sterblichkeit empfunden werden. Seit beinah alle biologischen, chemischen und physikalischen Prozesse als steuerbar und kontrollierbar oder als vorhersehbar gelten, seit beinah alles, bis vor kurzem noch Unmögliche, nicht nur möglich, sondern machbar oder verhinderbar erscheint, wird die Tatsache des Todes zum definitiven ganz “Anderen” – und die Angst vor dem Tod wird zur Angst schlechthin.
Verstehen, weiterwissen, handeln aus Freiheit sind die drei Schritte, die dem Ichlernen und dem Weltlernen aufgegeben sind. Das Ziel, vorweg wie insgesamt, ist die Überwindung der Angst.
II. Teil – Das Problem der Entfremdung und die Erfüllung der Grundbedürfnisse
Zu Ausgrenzung, Sinndefizienz und kompensatorischer Bedrüfnisstillung, zu Partizipation und Pluralität in der Gesellschaft: ein feministischer Katalog der Grundbedürfnisse und neue Zeitmodelle
Ich nehme nochmals Rudi Dutschkes Tagebucheintrag von 1963 auf: “Entfremdung istfür mich auch Starrheit des Denkens… Die Befreiung der Menschen ist nur durch wirkliche Einsicht in die notwnendigen Gegebenheiten des menschlichen Lebens möglich. Eine Aufhebung der Besitzverhältnisse ist nicht gleichbedeutend mit der Aufhebung der Entfremdung”. Ich teile Dutschkes Einschätzung, nicht nur für die Sechzigerjahre, sondern übernehme sie auch für heute. Doch, lässt sich einwenden, ist der Entfremdungsbegriff als Instrument für die heutige Gesellschaftsanalyse noch tauglich? Ist er auch tauglich, um eine Theorie der Grundbedürfnisse – der “notwendigen Gegebenheiten des gesellschaftlichen Lebens”: zu entwickeln? Da ich diese Meinung vertrete, will ich einen kurzen historischen Exkurs einfügen, der zugleich die Begriffspräzision und die Begriffsweite von “Entfremdung” deutlich machen soll, auch die enge Konnotation mit anderen frühen Bedürfnistheorien.
Im Jahr 1841 hatte der damals 23jährige Karl Marx in Jena seine Doktorarbeit eingereicht, noch nicht über die erschreckenden Mangelfolgen des Fortschritts, über die er drei Jahre später im Exil in Paris schreiben wird, sondern über die “Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie im allgemeinen”. Das Studium der Antike bot Marx die breite propädeutische Vorbereitung zum Studium des Menschen – der Natur des Menschen, wie er schrieb – und der Gesellschaft. Wären die Zeitbedingungen damals freier und ruhiger gewesen, weniger von antidemokratischen und antijüdischen Kräften beherrscht, hätte nicht polizeitstaatliche Repression die freiheitshungrige Jugend in Auflehung und Aufruhr versetzt, würde sich vielleicht der Wunsch des Rabbinersohns nach einer akademischen Karriere erfüllt haben. So aber wurde er zum politischen Journalisten und zum Redakteur der “Rheinischen Zeitung” in Köln, schliesslich zum Emigranten, der ab 1843 in Paris begann, zusammen mit Arnold Ruge und weiteren Emigranten die “Deutsch-Französischen Jahrbücher” herauszugeben und sich über die Fehlentwicklung der Gesellschaft den Kopf zu zerbrechen. So entstanden die – für die heutige Fragestellung überaus bedeutungsvollen – “Philosophisch-ökonomischen Manuskripte. Allerdings hat Marx trotz seiner breiten Kenntnisse der antiken Literatur übersehen, dass sich gerade in der griechischen Mythologie eine kleine Geschichte findet, welche die Brücke zwischen seinem eigenen wissenschaftlichen und seinem gesellschaftsverändernden Bedürfnis schlagen könnte, und welche zugleich seiner Entfremdungstheorie als Theorie der Verletzung, ja der Negation der menschlichen Bedürftigkeit, resp. der wichtigsten Grundbedürfnisse wie als Theorie deren notwendigen Einforderung eine – buchstäblich klassische – Abstützung verleiht, auch wenn es als kühn erscheinen mag, sie in diesem Zusammenhang zu verwenden. Ich nehme mir die Freiheit, in Fortsetzung der sokratischen Freiheit, Geschichten neu zu erzählen.
Eros – Kind der Bedürftigkeit?
Die Geschichte handelt von Eros und findet sich in Platons “Symposion” (was weniger “Gastmahl”, denn “Trinkrunde” bedeutet). Sokrates hat sie den mit ihm um die Tafel versammelten jungen Männern erzählt, als Korrektur der irrigen Meinungen über die Natur des Eros, wobei Sokrates wiederum die Geschichte von Diotima vernommen hatte, der Seherin aus Mantineia. Diotima zufolge war Eros keineswegs vornehmer Abstammung, wie ständig erzählt wurde, und weder war Zeus sein Vater noch Aphrodite seine Mutter. Es verhielt sich völlig anders. Als Aphrodite zur Welt kam, wurde zu ihrer Ehre im Olymp ein grosses Fest gefeiert, zu welchem alle Götter und Göttinnen geladen wurden. Nur Penia, die Bedürftigkeit, hatte keinen Zutritt zum Fest. Da bemerkte sie, die ausgeschlossen war, wie Poros, der göttliche Wegefinder, müde vom Essen und vom Nektar, sich im Schatten eines Baumes ausruhte. Sie legte sich neben ihn und empfing von ihm den Eros. Daher ist der Eros, führt Sokrates aus, “zuerst immer arm und bei weitem nichtfein und schön, wie die meisten glauben, vielmehr rauh, unansehnlich, unbeschuht, ohne Behausung, auf dem Boden immer umherliegend und unbedeckt,schläft vor den Türen und auf den Strassen im Freien und ist, der Natur seiner Mutter gemäss, immer der Dürftigkeit Genosse. Und nach seinem Vater wiederum stellt er dem Guten und dem Schönen nach, ist tapfer, keck und rüstig, ein gewaltiger Jäger, allezeit irgend Ränke schmiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben lang philosophierend, (. . .) und weder wie ein Unsterblicher geartet noch wie ein Sterblicher, bald an demselben Tag blühend und gedeihend, wenn es ihm gut geht, bald auch hinsterbend, doch auch wieder auflebend nach seines Vaters Natur. Was er sich aber schafft, geht ihm immer wiederfort.”
“Entfremdung” in den frühmarxistischen Schriften
Hier hätte Marx einhaken können, er war ja Philosoph, und die Geschichte wird in der Regel, wie es auch Platon tat, benutzt, um zu erklären, was Philosophie sei und auf welchen göttlichen Ahnen die Philosophierenden sich berufen könnten – eben auf Eros. Ist jedoch Philosophie, dieser Ausdruck unstillbaren Hungers nach Erkennen und Wissen, nicht ebenso sehr Ausdruck der existentiellen Entfremdung wie jeder andere – immaterielle – Hunger, oder doch gewiss eine dessen sublimierten Formen, wie die Kunst? Wenn ich vorn auf Gillian Rose’s “Ökonomie des Eros” verwies und mich mit ihr einverstanden erklärte für das Erkenntnisstreben in der Philosophie, nicht aber für das gelebte Leben, so mag dies hier nun klarer erscheinen. Dass das Schöne und das Gute, wonach die Menschen mit aller Inständigkeit streben, vorweg verloren geht, dass alle Anstrengungen vergeblich sind, dass sie um das Resultat ihres Strebens, ihrer Arbeit betrogen und ständig in die Bedürftigkeit zurückgeworfen werden, ist das entsetzliche Leiden, das Marx in den sog. “Pariser Manuskripten” von 1844 als “Entfremdung” bezeichnet.
Der Begriff stammte ursprünglich von Hegel, der in seinen “Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte” festhielt, dass die menschliche Geschichte zugleich die Geschichte der Entfremdung des Menschen sei. Der Mensch sei nie, was er sein sollte, und er sollte sein, was er sein könnte. Eine knappe und radikale Formel, welche Hegels Kritik an der – dem Wesen nie gerecht werdenden – Existenz zusammenfasst. Etwa hundert Jahre später schrieb Walter Benjamin im Exil in Paris in seinem Essay über den “Begriff der Geschichte”, dass “niemals ein Dokument der Kultur sei, das nicht zugleich eines der Barbarei sei”. Und einige Zeilen weiter, dass “die Tradition der Unterdrückten uns darüber belehre, dass der ‘Ausnahmezustand’, in dem wir leben, die Regel sei”. Für den jungen Marx, wiederum hundert Jahre früher, ebenfalls als Emigrant in Paris, wurde der Entfremdungsbegriff zum Instrument seiner Gesellschaftskritik, der es ihm erlaubte, die Folgen einer durch ausschliessliches Profitstreben und zunehmende Arbeitsteilung geprägte Entwicklung herauszuarbeiten, resp. die Negativfolgen in der Dialektik des Fortschritts. “Entfremdung” bei Marx heisst Abkoppelung des Menschen vom Produkt seiner Arbeit, damit Entzweiung des Menschen mit sich selbst, Zerstörung seiner Individualität, Versklavung, ja Verdinglichung des Menschen. Marx zielte mit seiner Kritik nicht einfach auf höhere Löhne ab oder auf gleiche Einkommen für alle ( das war eine Forderung von Pierre Joseph Proudhon, welche dieser im 1840 erschienen Werk “Qu’est-ce que la propiete?” erhoben hatte), wie er immer wieder falsch interpretiert wurde, er zielte schon gar nicht auf eine Aufhebung der Freiheit ab, wie dies der totalitäre Bolschewismus durchsetzte, im Gegenteil: Marx strebte in diesen frühen Werken nach einer Wiederherstellung sinnhafter Existenz, oder, wie Erich Fromm in einem Kommentar festhielt, nach “einer geistigen Emanzipation des Menschen, nach seiner Befreiung aus den Fesseln der wirtschaftlichen Bestimmtheit, um ihn zu befähigen, zur Einheit und Harmonie mit seinen Mitmenschen und der Natur zu finden”.
Indem Marx die Entfremdung der Menschen untersucht, thematisiert er indirekt die Frage der Grundbedürfnisse. Deren massive Nichterfüllung erzeugt jenes geistige, materielle und soziale Elend, insbesondere jene Phaenomene der Verlassenheit und der Sinnlosigkeit, die Marx als “Entfremdung” diagnostiziert. Marx stellt fest, dass die Menschen einander gegenseitig ständig neue Bedürfnisse suggerieren, doch handelt es sich dabei um unechte, um sekundäre oder tertiäre Bedürfnisse, zu deren Erfüllung in erster Linie Geld, viel Geld erfordert ist. Dahinter steht das manipulative, egoistische und auf Bereicherung ausgerichtete Bestreben, das durch die Erzeugung sekundärer Bedürfnisse immer weiter von der Erfüllung der Grundbedürfnisse wegführt. Im III. Manuskript von 1844 finden sich diese Einsichten klar formuliert: “Jeder Mensch spekuliert darauf, dem anderen ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen, um ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten. (. . .) Mit der Masse der Gegenstände wächst daher das Reich derjremden Wesen, denen der Mensch unterjocht ist, undjedes neue Produkt ist eine neue Potenz des wechselseitigen Betrugs und der wechselseitigen Ausplünderung. Der Mensch wird umso ärmer als Mensch, er bedarf umso mehr des Geldes, um sich des feindlichen Wesens zu bemächtigen, und die Macht seines Geldesfällt gerade in umgekehrtem Verhältnis als die Masse der Produktion, das heisst seine Bedürftigkeit wächst, wie die Macht des Geldes zunimmt. Das Bedürfnis des Geldes ist daher das wahre, von der Nationalökonomie produzierte Bedürfnis und das einzige Bedürfnis, das sie produziert. Die Quantität des Geldes wird immer mehr seine einzige mächtige Eigenschaft; wie es alles Wesen auf seine Abstraktion reduziert, so reduziert es sich in seiner eigenen Bewegung als quantitatives Wesen. Die Masslosigkeit und Unmässigkeit wird sein wahres Mass. “
Von der Raffinierung zur Verwilderung und Verrohung der Bedürfnisse
Marxens Analyse erfasst alle Bereiche der in – willkürlich geschürte – Gelüste oder in Ausbeutung pervertierten Grundbedürfnisse, der materiellen ebenso wie der psychischen und der sozio-politischen. Entfremdung ist das Resultat sowohl der “Raffinierung” wie der “Verwilderung” und “Verrohung”, ein völliger Verlust der Untrüglichkeit im Wissen, was wirklich not tut. Marxens Text liest sich wie eine prophetische Klage: “Selbst das Bedürfnis nach freier Luft hört beim Arbeiter auf, ein Bedürfnis zu sein, (…) Licht, Luft etc., selbst die einfachste tierische Reinlichkeit hört auf, für den Menschen ein Bedürfis zu sein”. Der Arbeiter lebe in miefigen Kellerwohnungen, in “Höhlenwohnungen”, die er sogar bezahle, aus Angst, aus diesen hinausgeworfen zu werden. “Die rohesten Weisen der menschlichen Arbeit kehren wieder, wie die Tretmüle der römischen Sklaven (. .. .) “, und “die Vereinfachung der Maschine, der Arbeit wird dazu benutzt, um den erst werdenden Menschen, das Kind, zum Arbeiter zu machen, wie der Arbeiter ein verwahrlostes Kind geworden ist. Die Maschine bequemt sich der Schwäche des Menschen, um den schwachen Menschen zur Maschine zu machen. ” Marx erkennt, dass die Sinnentleerung der menschlichen Arbeit die Sinnentleerung der menschlichen Existenz nach sich zieht. Immer wieder betont er, dass das dem Arbeiter ( die Arbeiterin vergisst er systematisch) zugestandene dürftige Überleben, das keine Sinnlichkeit und nicht den geringsten Luxus zulasse, nicht genügen könne. “Je weniger du isst, trinkst, Bücher kaufst, ins Theater, auf den Ball, zum Wirtshaus gehst, denkst, liebst, theoretisierst, singst, malst, flehtest etc., um so mehr sparst du, um so grösser wird dein Schatz, den weder Motten noch Staub fressen, dein Kapital. Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äusserst, um so mehr hast du, um so grösser ist dein entäussertes Leben, um so mehr speicherst du auf von deinem entfremdeten Wesen. “
Im Zentrum von Marxens Kritik steht unmissverständlich die mit dem kapitalistischen Ziel der Profitsteigerung verbundene Überflussproduktion, die Verführung des einen Teils der Menschen zur Anhäufung von Überflüssigem und die Instrumentalisierung des anderen Teils zu dessen Herstellung, ein sinnloser Abtausch von Lebensqualität gegen Quantität der Sachen ( oder der Sicherheit), sei es in der Akkumulation, sei es in der Fliessbandproduktion. Was das Ausmass an Entfremdung betriffi, meint Marx, dass “Verschwendung und Ersparung, Luxus und Entblössung, Reichtum und Armut gleich” seien. So oder so ist eine trostlose menschliche Verarmung der Fall. “Und nicht nur deine unmittelbaren Sinne wie Essen etc. musst du absparen, auch Teilnahme mit allgemeinen Interessen, Mitleiden, Vertrauen etc., das alles musst du dir ersparen, wenn du ökonomisch (d.h. durch das kapitalistische System definiert, M. W.) sein willst, wenn du nicht an Illusionen zugrunde gehen willst. ” Marx erkennt, dass das sinnentleerte Leben, das seinen eigenen Wert nur nach quantitativen Kriterien, resp. nur in Geldkategorien misst, auch ausschliesslich nach quantitativen Kriterien gemessen wird und dadurch wertlos, ja überflüssig wird. “Sogar das Dasein des Menschen ist ein purer Luxus, und, wenn der Arbeiter ‘moralisch’ ist(..), wird er ‘sparsam’ sein an Zeugung. Die Produktion der Menschen erscheint als öffentliches Elend.”
Marx spürt schon in der Anlage des Kapitalismus jene menschenverachtende totalitäre Tendenz heraus, die sich in der Kombination von Imperialismus und Rassismus verdichten und im Faschismus, insbesondere im Nationsozialismus aufs entsetzlichste zuspitzen wird, mit der Quälerei und der beispiellosen Erniedrigung, schliesslich der industriellen Tötung von Millionen von überflüssigen, “unwerten Leben”, millionenfach ein Mensch und ein Mensch und ein Mensch, dessen/deren Menschsein geleugnet wurde und dessen/deren Tötungsaufschub höchstens vom eventuellen Profit, den er oder sie noch erbringen konnte, abhing. Hannah Arendt hat in ihrer 1955 erschienen Analyse des Zustandekommens des Nationalsozialismus (“Urspünge und Elemten totaler Herrschaft”) eben dies als entscheidend herausgearbeitet: dass ein totalitäres System sich dadurch kennzeichnet, dass es Menschen für überflüssig erklärt. (Der zugespitzte Neoliberalismus und sein Popanz “Markt” tut heute dasselbe, ein neues totalitäres System, das Millionen von Menschen für überflüssig erklärt – und wiederum leisten alle Demokratien der Welt Beihilfe. Ich komme noch eingehend darauf zurück).
Der durch den Kapitalismus, für den bei Marx zumeist die Chiffre “Privateigentum” steht, geschaffene Ungleichwert menschlichen Lebens, mit der Konsequenz dessen Wertlosigkeit, könnte nur über eine radikale Umkehr korrigiert werden. Was als “Abschaffung des Privateigentums“ später in der programmatischen Realisierung zu verhängnisvoller Gewalt und zu einer ideologischen Aporie führte, entsprach ursprünglich – nicht in der Konsequenz – Marxens Konzept der Gleichheit. Dieses Konzept lag seinem ursprünglichen, noch in keiner Weise parteimässig verfestigten Kommunismus zugrunde. Er bezweckte damit nichts anderes und nicht geringeres als die Aufhebung der Entfremdung, resp. die Restitution des gleichen Menschseins in jedem Menschen, dessen Werthaftigkeit ( oder “Würde”, wie es in der Menschenrechtserklärung von 1948 heissen wird) keiner anderen Begründung als derjenigen des Menschseins selbst bedarf, oder, mit anderen Worten, die sich in der Reflexion des Bewusstsein, im Selbstbewusstsein, konstituiert. Ebenfalls im III.Manuskript von 1844 findet sich diese Absicht klar formuliert: “Die Gleichheit ist nichts anderes als das deutsche Ich = Ich in französische, das heisst politische Form übersetzt. Die Gleichheit als Grund des Kommunismus ist seine politische Begründung und ist dasselbe, als wenn der Deutsche ihn sich dadurch begründet, dass er den Menschen als allgemeines Selbstbewusstsein fasst. “
Negation des menschlichen Selbstwerts- Verdinglichung der Menschen
Marx war sich im Klaren, dass das wichtigste Grundbedürfnis des Menschen die Anerkennung und der Respekt seines Selbstwerts als Mensch ist (seiner Würde, wie wir heute sagen), und dass alle übrigen Grundbedürfnisse, deren Mangel er im entfremdeten Leben als schwerwiegendes Leiden, als Verarmung und als Verelendung diagnostiziert, sich aus diesem ersten und wichtigsten Grundbedürfnis ableiten – etwa das Bedürfnis nach Wissen, nach Bildung, nach Partizipation an den überindividuellen, den allgemeinen Interessen, nach Vertrauen, nach Musse, Erholung und nach Schönheit. Die “Verdinglichung” der Menschen, d.h. deren Degradierung zu Marktobjekten, ist die Folge der Aberkennung menschlichen Selbstwerts. Marx war sich jedoch im Klaren, dass mit der Erkenntnis dieser Tatsache für das tatsächliche Leben der Menschen noch nichts gewonnen war, resp. dass die Philosophie nicht genügt, um die Entfremdung aufzuheben. Er schreibt, in Fortsetzung der oben zitierten Erläuterung von “Gleichheit”: “Um den Gedanken des Privateigentums aufzuheben, dazu reicht der gedachte Kommunismus vollständig aus. Um das wirkliche Privateigentum aufzuheben, dazu gehört eine wirkliche kommunistische Aktion. Die Geschichte wird sie bringen undjene Bewegung, die wir in Gedanken schon als eine sich selbst aufhebende wissen, wird in der Wirklichkeit einen sehr rauhen und weitläufigen Prozess durchmachen. Als einen wirklichen Fortschritt müssen wir es aber betrachten, dass wir von vornherein sowohl von der Beschränktheit als dem Ziel der geschichtlichen Bewegung und ein sie überbietendes Bewusstsein erworben haben.”
Wenn wir das, was der damals sechsundzwanzigjährige Emigrant in Paris wie ein Visionär vorauszusehen glaubte – den “rauhen und weitläufigen Prozess”, aber auch die “Beschränktheit als das Ziel der geschichtlichen Bewegung” mit demjenigen Prozess vergleichen, der 1918 begann und 1989 zu Ende kam, so müssen wir feststellen, dass Marxens Entwurf und die sowjetkommunistische Realität sehr verschiedene, sehr ungleiche Konzepte beinhalteten. Von Gleichschaltung, von Entmündigung und Unfreiheit, vom Terror der Gesinnungskontrolle findet sich nichts in den marxistischen Frühschriften, die, wie ich erstn neulich erfuhr, innerhalb des sowjetrussischen Herrschaftsbereichs während langer Zeit gar nicht verfügbar waren, resp. gar nicht gelesen wurden durften. Die Entfremdung der Menschen wurde auch im sowjetkommunistischen System vorweg generiert und petrifiziert, da, nicht anders als Kapitalismus, der einzelne Mensch zu einem ihm selbst fremden Zweck instrumentalisiert wurde, sei es zur Steigerung des – staatskapitalistischen – Mehrwerts, sei es zum ideologischen Zweck der Herrschaftssicherung. Weder wurde die extreme – zutiefst entfremdende – industrielle Arbeitsteiligkeit aufgehoben-, das eigentliche Instrument der kapitalistischen Mehrwertakkumulation, noch wurde die Abhängigkeit vom Geld zum Motor und Ziel einer eventuell dadurch tatsächlich zu verbessernden Existenz, noch wurden die anderen systembedingten Mängel behoben, die den Menschen in die Ungleichwertigkeit und in die Wertlosigkeit versetzen, im Gegenteil. Die Einsicht drängt sich auf, dass die realkommunistische “Abschaffung des Privateigentums” etwas ganz anderes war als das, was Marx als Aufhebung von Entfremdung – als “Negation der Negation” – entworfen hatte, ja dass das marxistische Konzept überhaupt noch nie realisiert wurde.
Was sich allmählich zu realisieren beginnt, ist höchstens jene von Marx im I. Band des “Kapitals” als Bedingung für das “Reich der Freiheit” geforderte Reduktion der Arbeitszeit, dies jedoch nicht gemäss der ursprünglichen sozialistischen Zielsetzungen einer Befreiung aus dem “Reich der Notwendigkeit” mit seinen heteronom definierten Zwecken, zu deren Erfüllung die Menschen mit all ihren Energien und und all ihrer Lebenszeit/Arbeitszeit instrumentalisiert werden, sondern infolge jener dem Kapitalismus eigenen Masslosigkeit, die sich die Fortschritte in der Technologie und die globale Flexibilisierung der Produktion zunutze macht, um Menschen zur Kurzarbeit zu verurteilen oder sie ganz aus dem Arbeits- und Erwerbsprozess auszuschalten. Damit geschieht die Verkürzung der Arbeitszeit auch wieder unter dem heteronomen Diktat jener weniger, welche für sich selbst auf Kosten der vielen eine Profitsteigerung anstreben – und kann daher in den wenigsten Fällen als Befreiung von der Arbeit und als Möglichkeit einer autonom gewählten Tätigkeit verstanden werden, wie Marx dies als wirklichen Fortschritt und letztlich als Erfüllung eines wichtigsten Grundbedürfnisses postuliert hat.
Die gesteigerte Entfremdung der Frauen: weibliche Bedürfnistheorien
Doch zurück zum 19. Jahrhundert: Was Marx zwar nicht ausser acht liess, aber nur eher beiläufig untersuchte, vermutlich weil er sich selber innerhalb des patriarchalen Herrschaftssystems nicht zum Gegenstand der Selbstkritik machen wollte und daher auch das Patriarchat nicht als (Herrschafts)System der Entfremdung untersuchte, ist die Tatsache der zusätzlichen Entwertung und “Wertlosigkeit” der Frauen. Wenn tatsächlich die Arbeit (mithin der Arbeitslohn) das Konstituens des Kapitalismus ausmacht, wie Marx immer wieder festhält, so hätte der so viel geringere Arbeitslohn der Frauen (und der wiederum noch viel geringere der Kinder) für die gleiche Arbeit ihn eigentlich zutiefst beunruhigen müssen. Dem aber war nicht so. Er setzte sich zwar vehement, vor allem im I.Band des “Kapitals”, gegen die industrielle “Vermarktung” der Kinder und der jungen Frauen ein, doch er machte den zusätzlichen systemimmanenten Affront des Kapitalismus – jenen der geringeren Frauenlöhne und der noch viel geringeren Kinderlöhne – in diesem Sinn nicht zum Thema, entsprach doch der geringere Arbeitslohn jener generellen Minderwertigkeit der Frauen, die das patriarchale System propagierte resp. heute noch propagiert. (Hierauf geht Alice Rühle-Gerstel mit besonderem Nachruck ein).
Marxens Nachlässigkeit erscheint umso signifikanter, als er, der damals in Paris lebte, direkt oder über Arnold Ruge die Arbeiten der 1844 in Bordeaux gestorbenen Flora Tristan kennen musste, dieser unermüdlich kämpferischen, furchtlosen französisch-peruanischen Frühfeministin und Frühsozialistin, deren Leben ich eigentlich erzählen müsste, damit die Bedeutung ihrer theoretischen Arbeit und ihrer Versuche einer tatsächlichen Veränderung der Lebenszusammenhänge der Arbeiterinnen und Arbeiter klar würde.
Nur so viel: Flora Tristan, 1802 geboren, verfügte über kein akademisches Studium wie Marx, ja sie hatte nicht einmal die öffentliche Grundschule besuchen können. Sie wurde von ihrer Mutter unterrichtet, mit der zusammen sie in Paris in grösster Armut lebte. Weder war der früh verstorbene Vater als ihr legitimer Vater anerkannt noch konnten sie oder ihre Mutter etwas von dessen beträchtllichem Vermögen erben, da die in einem spanischen Kloster heimlich geschlossene Ehe ihrer Eltern durch den französischen Staat nicht anerkannt wurde. Flora Tristan kannte die unbeschreiblich elenden Lebens- und Wohnverhältnisse des französischen Industrieproletariats aus der Nähe, auch jene in London, wohin sie dreimal gereist war, und ebenso die Armutsverhältnisse in Peru, dem Herkunftsland ihres Vaters, das sie während zweieinhalb Jahren bereist hatte. Sie erkannte nicht nur die Gesetzmässigkeit von Menschenverachtung und Ausbeutung durch den Kapitalismus, sondern ebenso deren Verdoppelung für Frauen durch die entwürdigende Geschlechterhierarchie, die sich auch im Proletariat ungeschmälert durchsetzte. “Jeder Proletarier hat noch eine Frau, die er unterdrücken kann”, schrieb sie in ihrem letzten, kurz vor dem Tod fertiggestellten Buch “Union ouvrière” (“Arbeiterunion”). Für sie stand fest, dass Frauen einer guten Bildung bedurften, um ihre Lebensverhältnisse und ihre Rechtsverhältnisse zu verbessern. Und ebenso stand für sie fest, dass Lernen und Wissen nicht geschlechtsspezifische Bedürfnisse, sondern Grundbedürfnisse aller Menschen sind. Dass allein durch deren Erfüllung die schreckliche Demoralisierung der Arbeiterschaft korrigiert werden könnte – das, was Marx als deren “Verrohung” bezeichnet -, vertrat sie nicht nur in diesem letzten Buch, sondern in all ihren Werken (“Peregrinages d’une Paria”, “Promenades dans Londres” etc.). Sie kämpfte für die Errichtung von sog. “Arbeiterpalästen”, einer Art Volkshäuser, die allen Arbeiterinnen und Arbeitern gemeinsam gehören würden, in denen die Kinder und die nicht mehr arbeitsfähigen alten Menschen eine Obhut fänden, wo vielfältige Weiterbildung angeboten würde und wo die in prekären, engen und hässlichen Wohnverhältnissen lebenden Menschen einen Ort der Musse und der Erholung fänden.
Bildung statt Fürsorge
Flora Tristan nahm damit in feministischer Weise Ideen auf, die der mit ihr befreundete Robert Owen in seiner Fabrikanlage im schottischen New-Lanark schon verwirklicht hatte, wobei auch Owen ein Erziehungs-, Arbeits- und Wohnkonzept für Arbeiterfamilien und Waisenkinder weiterführte und verbesserte, das sein Schwiegervater, David Dale, 1784 mit der Errichtung seiner “cotton-mills” begründet hatte. Robert Owen übernahm deren Leitung im Jahre 1799, nachdem er eine Tochter Owens geheiratet und die “cotton-mills” gekauft hatte. Er erbaute in deren Mitte jene “Neue Anstalt”, die er als Ort und als Hort der Sozialisation für die kleinen Kinder im Vorschulalter wie als eine Art Gemeinschaftshaus für die grösseren Kinder und die Erwachsenen konzipierte, damit die Regeln des guten, rücksichtsvollen Zusammenlebens und eine ständige Weiterbildung unter einem Dach geübt und praktiziert werden konnten. In seiner 1817 erstmals erschienen Schrift “Eine neue Auffassung von der Gesellschaft” hielt Owen fest, dass allein über eine sorgfältige und ausreichende Erziehung auch der ärmsten Bevölkerung eine Verbesserung der Gesellschaft zu erreichen war. “Den Knaben oder Mädchen soll in der Schule gelehrt werden, gut zu lesen und das Gelesene zu verstehen, eine gute leserliche Hand geläufig zu schreiben und die Grundregeln des Rechnens richtig zu lernen, so dass sie imstande sind, sie zu verstehen und leicht anzuwenden. Den Mädchen soll auch gelehrt werden zu nähen, zuzuschneiden und nützliche Kleidungsstücke für die Familie herzustellen, (. . .) auch sollen sie lernen, wie man auf sparsame Weise gesunde Nahrung zubereitet und ein Haus sauber und gut in Ordnung hält. (. ..) In vielen Schulen wird den Kindern der armen und arbeitenden Klassen niemals gelehrt, das Gelesene zu verstehen; die Zeit, welche mit diesem Scheinwerk von Unterricht verbracht wird, ist deshalb verloren. In anderen Schulen lernen die Kinder, infolge der Unwissenheit ihrer Lehrer, ohne Nachdenken zu glauben, und so lernen sie niemals, zu denken oder richtig zu schliessen. Diese jammervollen Methoden müssen unfehlbar den jugendlichen Geist für eine klare, einfache und vernünftige Unterweisung untüchtig machen.” Owen setzt somit bei Erwachsenen und Kindern die gleiche Ernsthaftigkeit im Wissenwollen voraus. “Kann der Mensch im Besitz der Vollkraft seiner geistigen Fähigkeiten über irgend einen Gegenstand sich ein vernünftiges Urteil bilden, wenn er nicht vorher alle ihn betreffenden Tatsachen, soweit sie bekannt sind, gesammelt hat?( . .) Nach denselben Grundsätzen sollten auch die Kinder unterrichtet werden. “
Flora Tristan’s wie Robert Owen’s Postulaten stand somit jene “Gleichheit” Patin – Gleichheit des gleichen Menschseins -, die Marx zur Begründung seines gesellschaftsverändernden Konzepts anführte, jedoch mehr noch – was bei Marx fast ausschliesslich mit der Reduktion der Arbeitszeit in Verbindung gebracht wurde – die Freiheit resp. die Möglichkeit, das eigene Leben aus eigenem Impuls und aus eigener Verantwortung zu verändern und selbst Optionen des Handelns zu formulieren, unbhängig von Geschlecht, Stand, Klasse, Herkuft, was immer. Was bei Robert Owen auffällt, ist sein moralisierendes, auch idealisierendes Konzept einer besseren Menschheit, während bei Flora Tristan dieser Ton wegfällt. Ich empfinde es als frauenspezifisch, dass sie nie in jene paternalistisch-moralisierende Distanz zu den Fragen des Proletariats geriet, die sich bei vielen männlichen Theoretikern findet, dass sie auch nicht in abstrakter Sprache für die Aufhebung der Entfremdung kämpfte, sondern ganz konkret für gerechte Löhne, für anständige Wohnverhälntisse, für Sicherheit bei der Arbeit, für den Schutz der Kinder, und vor allem und immer wieder für die Unverfügbarkeit und Eigendefinition der Frauen. Ihr Werk, das aus der Erfahrung der Entrechtung der Frauen, insbesondere der Frauen des Proletariats, sowie aus der Erfahrung skrupelloser männlicher Gewalt heraus entstanden war, liess den Rahmen der individuellen Erfahrung trotzdem weit zurück und machte die Lebens- und Arbeitbedingungen der Frauen überhaupt sowie deren Bedürfnis nach Änderung dieser Bedingungen zum Thema.
Flora Tristans Analyse der Gründe und Zusammenhänge der materiellen und moralischen Verelendung war gewiss nicht so erschöpfend wie diejenige von Marx und Engels, doch verfiel sie auch nicht einer pauschalen, irrealistischen Idealisierung der Arbeiterklasse wie andere Frühsozialisten. Sie war eine Wegbereiterin in der unerschrockenen frühfeministischen und sozialistischen Überzeugungsarbeit, die von anderen bedeutenden Frauen weitergeführt wurde, von Rosa Luxemburg insbesondere und von Clara Zetkin in Deutschland, von Rosa Bloch und Rosa Grimm in der Schweiz und von zahlreichen anderen Frauen. Auch waren ihr andere Frauen vorausgegangen, aus deren Werk sie Ermutigung schöpfte. Mary Wollstonecraft und Olympe de Gouges waren hinsichtlich der Formulierung weiblicher Rechtsansprüche und damit wichtigster Bedürfnisse bedeutende Vorbilder.
Auch auf Mary Wollstonecraft habe ich schon im I.Teil hingewiesen. 1759 an einem unbekannten Ort in England geboren, hatte sie ausser der Grundschule ebenfalls keine weitere Bildung genossen, sondern sich im Selbststudium, neben Lohnarbeit als Gesellschafterin und Erzieherin, mehrere Sprachen und ein grosses Wissen angeeignet. Als 1791 der französische Minister Talleyrand eine Schrift über öffentliche Erziehung publizierte, in welcher die Erziehung der Mädchen, die ja als nicht-bildungsfähige menschliche Geschöpfe galten, lediglich in ein paar knappen Paragraphen gestreift wurde, schrieb Mary Wollstonecraft innerhalb weniger Wochen eine Entgegenung, in welcher sie nicht nur Talleyrand, sondern auch Rousseau und dessen in “Emile” niedegelegte Erziehungstheorie aufs eindrücklichste angriff und widerlegte. Sie hielt fest, dass Frauen und Männer einander ebenbürtig seien, dass diese Ebenbürtigkeit jedoch nicht länger durch Erziehung und Bildung vorweg zunicht gemacht werden dürfe. Theoretische und praktische Forschritte in der Gesellschaft seien wirkungslos, solange die Frauen in allen privaten und öffentlichen Bereichen unterdrückt würden. Der Begriff eines “Geschlechtscharakters” zerstöre die Moral. Auch könnten Kinder nur zu menschlichem Respekt erzogen werden, wenn schon ihre Mütter in diesem Geist aufgewachsen seien. Des weiteren gebe es keine Vernunftargumente dafür, dass die eine Hälfte der Menschheit die andere von jeglicher Regierungsverantwortung ausschliesse, auch keine Erklärung, dass es Vernunftargumente für die Rechte der Männer, aber keine für die Rechte der Frauen gebe usw.
Die “Promenades dans Londres”, die “Union ouvrière” und die “Vindication of the Rights of Woman” als weibliche und damit als allgemein menschliche Bedürfnistheorie zu bezeichnen, ist, scheint mir zulässig, da Rechte ja nur eine Umsetzungsmöglichkeit haben, wenn die ihnen zugrunde liegenden Grundbedürfnisse anerkannt sind. Bei beiden Autorinnen geht es um das Grundbedürfniss der Anerkennung des gleichen Menschseins, unabhängig von Geschlecht und Herkunft, sowie, davon abgeleitet, um das gleiche Grundbedürfnis nach Lernen, nach Bildung und nach Partizipation an den Entscheidungen, die das Zusammenleben der vielen betreffen (um die sog. Regierungsverantwortung). Es geht im Grunde genommen um das Bedürfnis, selbst “ich” zu sagen, ohne dass das Ich durch die einschränkende Konditionalität der patriarchalen Gesellschaft geleugnet wird.
Das Recht auf die Tribüne
Auf unmissverständliche Weise findet sich diese Bedürfniserklärung in der “Declaration des droits de la femme et citoyenne”, die Olympe de Gouges als Antwort auf die “Männerrechtserklärung” von 1789 (Tieclararion des droits de l’homme”) veröffentlicht hat und wofür sie 1793 mit dem Tod auf dem Schaffott zahlen musste. Auch Olympe de Gouges, als Marie Gouze, 1748 in Südfrankreich geboren, offiziell die Tochter eines Metzgers, inoffiziell diejenige eines Herzogs, mit sechzehn Jahren verheiratet und mit siebzehn Mutter eines Sohnes und Witwe, war kaum zur Schule gegangen, so dass sie, als sie furchtlos mit ihrem Kind nach Paris kam, kaum ihren Namen fehlerfrei schreiben konnte. Sie schlug alle weiteren Heiratsangebote aus, sie schärfte ihren Geist in einigen der fortschrittlichen Salons, vor allem aber auf der Strasse, wo die revolutionäre Unrast immer mehr um sich griff Als sie 1780 zu publizieren begann, brannten ihr die Themen buchstäblich unter den Fingern: die Sklaverei, die Rechtlosigkeit der Frauen, die Schuldenhaft, die unbeschreiblichhen Zustände in den Armenspitälern, in den Gebäranstalten und Waisenhäusern, das Elend der übervölkerten Faubourgs – die ganze Palette sozialen und politischen Unrechts. Alles in allem veröffentlichte sie an die dreissig Theaterstücke und buchstäblich ungezählte Streitschriften, Manifeste, öffentliche Anklagen, Briefe und Plädoyers. Sie bezichtigte öffentlich die revolutionären Machthaber als eine blutrünstige Verbrecherbande, worauf diese Olympe zur Zielscheibe ihrer Angriffe machten. Doch Olympe lies sich nicht einschüchtern, auch nicht, als sie nach ihrer “Frauenrechtserklärung” und einem öffentlichen Plädooyer für die zum Tod verurteilte Königin selbst verhaftet, von Gefängnis zu Gefängnis transportiert und selbst zum Tod durch die Guillotine verurteilt wurde. Da ihr ein Anwalt versagt wurde, verteidigte sie sich selbst in einer stolzen Rede, die zugleich eine erneute Anklage Robespierre’s war.
Das Erstaunliche an Olympe de Gouges’ “Frauenrechtserklärung” ist, dass diese Frau des 18. Jahrhunderts nicht einfach die “Männerrechtserklärung” in die weibliche Form übersetzte, sondern dass sie begriff, dass politische Grundrechte nicht genügen, um ein Leben in Würde zu garantieren, dass es gleichzeitig der Garantie der wichtigsten Persönlichkeitsrechte bedurfte. Auch sie schrieb ja nicht aus einer Elfenbeinturmdistanz, sondern aus der Erfahrung der vielfachen alltäglichen Diskrimierung. So verlangte sie, zum Beispiel, dass der für Frauen nachteilige Ehevertrag abgeschafft und durch einen Vertrag ersetzt werde, der sowohl für den Fall der Ehe wie für den Fall des Konkubinats (das dadurch legalisiert wurde) die gleichen Bedingungen für Männer wie für Frauen enthalten würde. Sie verlangte Rechtsschutz für ledige Mütter bei der Vaterschaftsermittlung, verbunden mit der Anerkennung der gleichen Mutterschaftswürde wie bei verheirateten Frauen. Sie vertrat den Rechtsanspruch von Frauen und Kindern auf Zahlung von Alimenten im Fall einer Scheidung, sodann das Rechts auch unehelicher Kinder auf die väterliche Erbschaftsfolge. Die “Declaration des droits de la femme et citoyenne” drückt in allen Artikeln das Grundbedürfnis nach Anerkennung der gleichen Würde aus, ganz konkret, in allen Bereichen, in denen der Alltag und die traditionelle Rechtspraxis diesem Bedürfnis Hohn sprachen. Ebenso wenig wie Mary Wollstonecraft erlebte sie jedoch eine solidarische Haltung der Frauen. “Les femmes veulent etre femmes et n’ont pas de plus grands ennemis qu’elles-memes”, stellte sie zutiefst enttäuscht fest. ”Malheureusement le plus grand nombre se joint impitoyablement au part le plus fort. “Die stärkste Partei ist jedoch immer diejenige der Machthabenden. Selbst eine Frau wie Germaine de Stael, die Tochter des – noch vor-revolutionären Finanzministers Necker -, die über eine viel breitere intellektuelle und gesellschaftliche Abstützung verfügte als Olympe, zog es vor, die traditionelle männliche Position gutzuheissen, indem sie sich auf das – patriarchale – Konstrukt des Geschlechtscharakters berief: “On a raison d’exclure les femmes des affaires publiques et civiles”, schrieb diese, “rien n’est plus opposé a leur vocation naturelle”.
In welchem Mass noch ein gutes Jahrhundert später Olympe de Gouges’ Unerschrockenheit als Bedrohung empfunden wurde, beweist das Gutachten, das 1904 ein gewisser Dr. Guillois im Auftrag des französischen militärischen Gesundheitsdienstes über die “Frauen der Revolution” machte. Darin wird Olympe de Gouges als Geisteskranke qualifiziert, als Hysterikerin, die von einem krankhaften Narzissmus und von der ‘‘paranoia rejormatoria“ heimgesucht gewesen sei.
Die Friedensbewegung gegen Aufrüstung und Krieg
Eine wichtige Linie darf nicht vergessen werden, wo die erlebte Unrechtspraxis zu einer Formulierung wichtiger Grundbedürfnisse geführt hat. Ich meine die Friedensbewegung, die noch im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem durch die hartnäckige Initiative von Frauen zu mächtigen Manifestationen gegen Menschenverachtung und Gewalt wurde, damit zu Manifestationen für ein friedfertiges Zusammenleben. Dabei ging es, denke ich, im Grunde um das Bedürfnis nach Respekt vor jeglicher Differenz im gleichen Menschsein, dessen Erfüllung unvereinbar ist mit menschenverachtender Gewalt – mit imperialistischer, kolonialistischer, rassistischer Gewalt. Robert Owen hatte in seiner 1817 erschienen, oben zitierten Schrift festgehalten, dass “die Kunst des Kriegs nutzlos gemacht würde, wären alle Menschen zu vernünftigen Wesen erzogen”. Es ging tatsächlich um das den Geboten der Menschlichkeit zugrundeliegende Gebot des vernünftigen Lebens. In der Friedensbewegung gelang es den Frauen, sich weltweit zu solidarisieren, auch wenn es – leider – eine Solidarisierung der Ohnmacht war: Schon vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten sich Frauen aus allen Ländern Europas zusammengeschlossen, unter Einschluss der Frauenbewegungen Englands und der USA, ja selbst Brasiliens, Australiens, Britisch-Indiens und Japans, um gegen die Aufrüstung und gegen die Kriegsvorbereitungen öffentlich Widerstand zu leisten. Am 15. Mai 1899 fand in Den Haag die erste Internationale Friedensdemonstration der Frauen statt; am gleichen Tag veranstalteten überall in der Welt Frauenorganisationen Kundgebungen gegen den Krieg. Besonders stark war die feministische Friedensbewegung in Russland, obwohl nach Erlassen der zaristischen Polizei öffentliche politische Versammlungen nicht gestattet waren, schon gar nicht solche von Frauen. In Spanien und in Japan gingen die Frauen an diesem Tag überhaupt das erstemal organisiert mit einem politischen Anliegen auf die Strasse. In Amerika schlossen sich l ‘250’000 Frauen den Kundgebungen an.
Der Bericht, den die deutsche Pazifistin Margarete Lenore Selenka für die Erste Internationale Friedenskonferenz in Den Haag verfasste, liest sich heute mit Staunen. Er ist ein Dokument für die Effizienz jener Kraft, die Frauen in allen Ländern bewog, sich zusammenzuschliessen, nicht nur, um gegen die Kolonialkriege – zum Beispiel die Burenkriege – und gegen das Wettrüsten in Europa aufzustehen, sondern um gegen jede Art der Verachtung und Minderachtung menschlichen Lebens Einspruch zu erheben – ihres eigenen Frauenlebens, für das sie die gleichen beruflichen und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten und die gleichen politischen Rechte forderten wie die Männer sie selbstverständlich für sich beanspruchten, des Lebens von Kindern, für welche sie Gesetze gegen Ausbeutung und für das allgemeine Recht auf Schulung und Bildung durchsetzten, des Lebens von Arbeitern und Arbeiterinnen, für die sie gesetzlich geregelte Arbeitszeit, Schutzbestimmungen am Arbeisplatz und Arbeitslosengelder verlangten. Sie protestierten, gingen auf die Strasse, organisierten Versammlungen, hielten Reden und schrieben Manifeste, Briefe und Bücher, sie kämpften gegen Gewalt und Prostitution, gegen Verwahrlosung, Alkoholismus und Tuberkulose, sie gründeten und leiteten Schulen, Waisenhäuser, Kinderbetreuungsheime, Frauenbildungsstätten, Parteihochschulen und vieles mehr. Sie kamen aus allen Schichten der Gesellschaft, waren religiös oder nicht religiös, katholisch, protestantisch oder jüdisch, waren Sozialistinnen, Kommunistinnen oder Parteilose, verheiratete Frauen oder unverheiratete. Feministinnen waren sie alle. Sie hiessen – um nur (in alphabetischer Reihenfolge) einige zusätzliche Namen jener Generation zu nennen, die ich noch nicht erwähnt habe, zum Teil berühmte, zum Teil vergessene Namen – Anita Augspurg, Josephine Butler, Verena Conzett-Knecht, Hedwig Dohm, Caroline Farner, Margarethe Faas- Hardegger, Emmy Freundlich, Marie Goegg-Pouchoulin, Claire Goll, Gertrude Guillaume-von Schack, Lida Gustava Heymann, Marie Humbert-Müller, Käthe Kollwitz, Alexandra Kollontai, Selma Lagerlöf, Berta Lask, Rosa Mayreder, Helene von Mülinen, Frida Perlen, Emma Pieczynska-Reichenbach, Adelheid Popp, Alice Rühle-Gerstel, Meta von Salis-Marschlins, Olive Emilie Albertina Schreiner, Toni Sender, Helen Stöcker, Bertha von Suttner, Gertrud Johanna Woker, Mathilde Wurm und weitere mehr.
Wir wissen es heute: Mit dem Krieg von 1914-1918 war der erste weltweite Beweis erbracht, dass mit gezielter nationalistischer Hetzpropaganda Millionen von Menschen zu gefügigen Werkzeugen gemacht werden konnten, dass Millionen von Menschen sich – entgegen aller anerzogenen religiösen Gebote und moralischen Normen – in den Dienst der Machtphantasien skrupelloser Staatschefs und Generäle sowie der nicht weniger skrupellosen Bereicherungsinteressen einzelner “Rüstungsbarone” einspannen liessen, dass sie sich zum erbärmlichen Töten und Getötetwerden buchstäblich berauschen liessen. “Zum systematischen Morden muss bei normal veranlagten Menschen erst der entsprechende Rausch erzeugt werden”, stellte Rosa Luxemburg fest. “Der Bestialität der Praxis muss die Bestialität der Gedanken und Gesinnung entsprechen, diese muss jene vorbereiten und begleiten. “
Nicht die Tatsache der Bereitschaft zur moralischen Verführung – der Verführung zum Hassen und Töten – und zur politischen Überlistung waren neu; nur weil dies immer schon so war, gelang überhaupt die “Gesinnungsvorbereitung”, von der Rosa Luxemburg spricht. Zur “Weltenwende” wurde der Erste Weltkrieg, weil er den Kodex der Angst zum weltweiten Instrument der Repression werden liess. Weil er die Grammatik der Entwertung des einzelnen Menschenlebens und, in der Konsequenz, die Entwertung millionenfachen Menschenlebens länderübergreifend, kontinenteübergreifend – sowohl durch die Mittel der elektronischen Propaganda wie jener mächtiger Waffensysteme – zum Zweck staatlicher Machtinteressen quasi programmatisch für die weitere Zukunft festlegte. Weil damit Sprachlosigkeit und Gewalt als – quasi legitime – ultima ratio sich durchsetzten, nicht einmal mit dem Vorwand der Regelung von Konflikten, sondern in der Durchsetzung von Interessen. (Die mit dem Kriegsende einsetzende Trauergeschichte des Völkerbundes erbringt dafür den Beweis). Der Erste Weltkrieg wurde zur “Weltenwende “, weil er die philosophische Errungenschaft der Aufklärung – den Anspruch des einzelnen Menschen auf Subjektwürde, auch dann, wenn er Objekt ist-, weil er diese Errungenschaft, die die bürgerlichen Revolutionen in Amerika und in Frankreich, die auch den Kampf gegen das Sklaventum beflügelt hatte, defintiv zur Farce werden liess. Seither ist es schwer, gegen die millionenfach erwiesene Tatsache der Bereitschaft der einzelnen Menschen zur Entmündigung den Beweis für die unverzichtbare Würde selbstverantwortlichen Handelns anzutreten.
Ist “Hoffnung” ein politischer Begriff?
“Bleibt Hoffnung in dieser angsterfüllten Welt?” fragte Theodor W. Adorno Jahrzehnte später, nachdem der Zweite Weltkrieg alle Erfahrungen des Grauens und der Entmenschlichung des Ersten Weltkriegs in einem nicht mehr vorstellbaren, nicht mehr beschreibbaren Ausmass hinter sich gelassen hatte. Als selbst die Tatsache von Abermillionen von Ermordeten und von Abermillionen von gequälten Überlebenden, von elternlosen Kindern, von Verstümmelten und Vertriebenen die Frage der Verantwortung und damit der Sühne höchstens auf der Stufe der Helfershelfer, der instrumentalisierten Willfährigen, stellte, weil die verantwortlichen Machthabenden und deren Nachfolger sich entweder aus dem Staub gemacht oder in den alten Konfigurationen konstruierter Feindschemata schon wieder neue Kriege führten, weil auch diese geführt und nicht durch die Aufarbeitung früherer Kriege verhindert werden wollten, in Korea, in Afrika, in Vietnam, in Iran und Irak – Hunderte von Kriegen seit dem Zweiten Weltkrieg, Kriege zwischen Nationen, zwischen Grossmächten und kleineren Staaten, im Innern von Nationen gegen Minderheiten – bis nun zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien, dessen Zeugen und Zeuginnen wir mit Entsetzen und Ohrnacht oder mit wachsender Indifferenz geworden sind.
Wo müssen aktuelle Bedürfnistheorien ansetzen? Darf überhaupt von “Hoffnung” gesprochen werden? Mir scheint, “Hoffnung” sei ein ausschliesslich religiöser Begriff, der, ausser der eschatologischen Bedeutung, die ihm eigen ist – der Ausrichtung auf Erlösung im Jenseits, in einer Meta-Zeit -, philosophisch und politisch nur in Analogie verstanden werden kann. Wenn Adorno fragt, ob es “Hoffnung” in dieser Welt gebe, so mag er darunter ‘‘Aufschub” verstehen, wie Walter Benjamin die “Hoffnung” des Angeklagten in Kafkas “Prozess” auslegt. ‘‘Aufschub” bedeutet eine neu gesetzte Frist, in der ein anderes Handeln einsetzen könnte. Es gibt tatsächlich auch heute Ansätze echter Friedensarbeit, welche sich die schwierige Aufgabe zum Ziel setzen, aus den Aporien der Gewalt hinauszuführen und der Unterdrückung jener menschheitlichen Grundbedürfnisse entgegenzuwirken, deren Erfüllung eine Zusammenleben der vielen verschiedenen Menschen ermöglichen würde. Eine Beispiel ist die arabisch-jüdische (und zugleich christlich-jüdisch-muslimische) Gemeinschaftssiedlung Neve Shalom oder Wahat al-Salam, die, in der Mitte zwischen Ramallah und Tel Aviv auf dem Westufer des Jordan gelegen, 1972 vom Dominikanermönch Bruno Hussar gegründet wurde ( er starb 1996), und in der seither gleich viele Kinder aus beiden Völkern und aus allen drei Religionen gemeinsam aufwachsen, von gleich vielen Lehrern und Lehrerinnen beider Kulturen vom Kindergarten an in beiden Sprachen unterrichtet werden und gemeinsam die Feste der drei Religionen feiern – dies seit mehr wie zwanzig Jahren. Dem Unterricht für die Kinder der Siedlung folgen auch Kinder aus den umliegenden arabischen Dörfern und jüdischen Siedlungen. Mit einem gemeinsamen Schulbus werden sie abgeholt und zurückgebracht. Und zugleich werden seit fünfzehn Jahren in Neve Shalom/Wahat al-Salam eine Art Seminare abgehalten, drei- bis fünf Tage lang, die “Friedensschule” heissen und die gleichviel Jugendlichen und Erwachsenen beider Völker offenstehen. Seit Bestehen dieser “Friedensschule” haben über zehntausend Jugendliche und mehrere tausend Erwachsene aus beiden Völkern die wechselseitigen Ängste, Vorstellungen und Ärgernisse hier zur Sprache gebracht und diskutiert, sie konnten Vorurteile abbauen und ein friedliches, aller Differenzen bewusstes Umgehen miteinander als die bessere Option kennenlernen und üben.
Das gewaltfreie Umgehen mit Konflikten, das Leben mit Differenzen und Konflikten schrittweise und vorbildlich zu vermitteln, im Sinn einer modellhaften und auf die politische, soziale und private Praxis übertragbaren Aktivierung der kreativen Vernunft, muss das Ziel von Bildungs- und Friedensarbeit sein. Dies würde erlauben, Eros, dem Kinder der Penia und des Poros, einen Platz überall im sich fortsetzenden Alltag, aber auch auf den grösseren Bühnen zu sichern. Denn allmählich müssten wir (“wir” im Sinn des pluralen Menschheits-Ichs) wissen, dass sich nur die wenigsten Konflikte lösen lassen, nur die geringsten, sowohl im politischen wie im privaten Zusammenleben. Vor allem müssen wir lernen, die Angst vor Konflikten zu durchschauen, auch die Vorstellung von ausschliesslichen Entweder-Oder-Lösungen zu durchbrechen. Wir müssen lernen, Konflikte und Differenzen als Anforderung an die kreative Vernunft in die Normalität des Zusammenlebens der vielen – auf welcher Ebene auch immer – einzubauen. Dies würde, scheint mir, nach und nach erlauben, Entfremdung abzubauen, statt immer wieder neue Entfremdung zu generieren, und den wichtigsten Grundbedürfnissen der Menschen in allen Bereichen – in jenen der materiellen Lebenssicherung, wie mit jenen der psychischen, der sozialen und politischen Zusammenhänge – gerecht zu werden.
Unersättlichkeit statt kreative Vernunft?
Im Mass, in dem Armut, Erbwerbslosigkeit und Gewalt zunehmen, klinkt sich die Jugend und ein Teil der Erwachsenengesellschaft aus der “Welt” aus. Drogen, Akohol, Tabak, Glückspiel und Medikamente sind nur ein Teil der Süchte und Süchtigkeiten, in die sie fliehen, weitere kommen hinzu: Magersucht, Esssucht, Erotomanie und Sexsucht, Arbeitssucht (Workaholics), Kaufsucht, Sammelsucht, Fernseh- und Unterhaltungssucht, Risikosucht, Erfolgssucht, Geschwindigkeitssucht, Bereicherungssucht, Gewalt- und Zerstörungssucht, Herrschsucht, Gerechtigkeitssucht usw. – alles Phaenomene der Unersättlichkeit, die häufig auch kombiniert auftreten, die sich oft während Jahren verdichten und steigern und zunehmend schwerer steuerbar sind, sodass ein zusätzliches Phaenomen, dasjenige der Abhängigkeit, auftritt. Menschen aus allen Herkunfts- und Altersschichten, Männer und Frauen, junge und alte Menschen und solche in den “besten Jahren”, selbst Kinder, immer mehr Kinder weisen irgend ein Suchtverhalten auf Was haben diese unterschiedlichen Phaenomene gemeinsam, resp. haben sie überhaupt etwas gemeinsam?
Meine These ist, dass die Entfremdung heute so allumfassend und allbeherrrschend geworden ist, dass das Leiden übermächtig wird. Süchte verstehe ich als Phaenomene der Unersättlichkeit, ob diese sich in der Einverleibung oder Anverleibung von Stoffen zeige, oder in der Unterwerfung und Konditionierung der eigenen Psyche, des eigenen Körpers oder jener anderer Menschen, mit welchen die Aufhebung resp. die Befreiung von Entfremdung bezweckt wird. Meine zweite These ist, dass es untaugliche Versuche sind, da unsere ganze Gesellschaft in all ihren Bereichen Entfremdung vorweg generiert, dass es mithin einer Veränderung der Gesellschaft bedarf, damit Menschen ihre Grundbedürfnisse stillen können – nicht nur die materiellen, sondern insbesondere die psychischen und die sozialen-, damit nicht schwerwiegende Mangelerfahrungen entstehen, die sie durch Unersättlichkeit zu kompensieren suchen.
Was der junge Marx in den”Philosophisch-ökonomischen Manuskripten” von 1844 und später im “Kapital” unter Entfremdung versteht, ist bekannt. Ich will nicht dabei verweilen, sondern zu einer kurzen Bestandesaufnahme der entfremdenden, seelisch krankmachenden Entwicklungen in der heutigen post-industriellen Gesellschaft übergehen, in welcher die von Marx thematisierte Sinnentleerung noch weiter fortgeschritten ist.
Welche Entfremdungserscheinungen stellen wir heute fest? Entfremdung des Menschen von sich selbst, vom eigenen Bild, von den eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten infolge gesellschaftlich normierter und durch überall gegenwärtige Werbung weit verbreiteter Erfolgs- und Glücks- und Schönheitsbilder, aber auch infolge einer in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen tatsächlich oder latent spürbaren Gewalt, Entfremdung daher von der eigenen Emotionalität, von der eigenen Körperlichkeit und von der eigenen Sexualität, von den eigenen Schwächen und Kräften; Entfremdung von der eigenen Geschichte, von den eigenen Lebensetappen mit ihren Hoffnungen und ihrem Versagen, auch mit dem Bestehen von Schwierigkeiten und Prüfungen durch eine von Angeboten überbordenden “Kultur” der Zerstreuung und des Vergessens; Entfremdung auch vom eigenen Zeitrhythmus durch das externe Zeitdiktat einer vorweg gesteigerten Beschleunigung aller Arbeitsleistungen und Tätigkeiten, mit ständiger Gehetzheit und Gestresstheit der Menschen als Folge; Entfremdung vom Wissen um Raumverhältnisse resp. um Distanz und um Nähe durch die extreme Beschleunigung der Transporte, vor allem aber der Kommunikation ( diese erfolgt schon mit Lichtgeschwindigkeit), so dass Ereignisse und Erkenntnisse veralten und “wertlos” werden, bevor sie erzählt oder sonst irgendwie vermittelt werden können, Entfremdung daher vom Wert des gelebten Lebens und der eigenen existentiellen und kognitiven Erfahrung; Entfremdung vom Wissen um die Unterscheidung von Grundbedürfnissen und Sekundär- und Tertiärbedürfnissen, da das eminente Bedürfnis nach Geld alle anderen Bedürfnisse überdeckt, ein Entfremdungsgrund, den schon Marx aufgedeckt hat, der heute mit der Käuflichkeit aller Güter in einer von Werbung und Angeboten beherrschten Welt durch die Unterschiedslosigkeit, mit welcher der Wert und die Notwendigkeit all dieser Güter angepriesen wird, exponentiell angewachsen ist; Entfremdung insbesondere hinsichtlich des Bedürfnisses nach Sicherheit und Unverletztheit der eigenen personalen Integrität und jener der Menschen, die man liebt und für die man sich verantwortlich fühlt, vor allem jener der Kinder, durch das Gefühl einer aktuellen oder einer untergründigen ständigen vitalen Bedrohung; Entfremdung von der Sprache, resp.vom Sinn und von der Bedeutung der Wörter durch deren Denaturierung durch Werbung und Propaganda; Entfremdung von den anderen Menschen und von sinnschaffenden Beziehungen, da Beziehungen immer weniger als gemeinsames verpflichtendes Projekt, sondern als Teil der konjunkturbedingten, austauschbaren Güterwelt verstanden werden und da sie in unendlich vielen Fällen von der allgegenwärtigen Gewalt infiziert sind; Entfremdung von der Natur durch die überhandnehmende Künstlichkeit der Welt, in welcher perfektionierte Machbarkeit, “virtual reality” die eigentliche Natur verdrängt, die ohnehin durch rücksichtslose Ausbeutung und Verschmutzung allmählich völlig verarmt und erstickt; Entfremdung vom Produkt der Arbeit – der zentrale Kritikansatz von Marx – durch die Folgen der extremen Arbeitsteiligkeit und Rationalisierung, damit Entfremdung von der Arbeit selbst, da diese allein nach Profitmaximierungskriterien erfolgenden Standortkriterien angeboten oder entzogen wird, nach Kriterien der zu steigernden share- holder-values und nicht nach den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen, mit dem Resultat, dass Menschen von einem Tag auf den anderen für überflüssig erklärt werden; Entfremdung von der Gesellschaft, da diese sich nicht mehr nach solidarischen, sondern ausschliesslich nach ökonomischen Kriterien, nach Rentabilitätskriterien definiert, so dass die Gesellschaft selbst zum “Unternehmen” wird, wo die Rede von “zu vielen” Menschen, von Übervölkerung, von Oberalterung, von Überfremdung, von ”Massen” arbeitslosigkeit, von “Überlastung” des Sozialstaates zwar scheinbar bedenkenlos in aller Mund ist, potentiell aber jeden einzelnen Menschen existentiell bedroht, da jeder und jede einmal Kind ist und eventuell alt, krank oder invalid werden kann, und in jedem Ausland Ausländer oder Ausländerin ist, heute aber Kranke und Invalide, alte Menschen, Kinder und nicht-zahlungskräftige Ausländer und Ausländerinnen, insbesondere Flüchtlinge “zu teuer” sind resp. nicht rentieren und daher, gemäss der Logik der kapitalistischen, neo-liberalen Ökonomie, eigentlich wegrationalisiert werden müssten – kurz, Entfremdung in allen Bereichen der individuellen Existenz und der Gesellschaft, damit überhandnehmende Sinnentleerung, das Gefühl des Ungenügens in allen Bereichen, der fragmentierten, für wertlos, für austauschbar und für überflüssig erklärten Existenz, der umfassenden Fremddefinition durch häufig benennbare, häufig aber durch nicht mehr benennbare Mächte, das Gefühl des Ausgeliefertseins, der Isolation, der Bedrohung.
Hauptursache der Entfremdung: Instrumentalisierung der Menschen
Nicht alle Menschen sind sich des Ausmasses an Entfremdung gleich bewusst, viele leiden scheinbar nicht unter der Tatsache, dass Gewalt und Geld, Hektik und Stress, Propaganda und Werbung alles bestimmen. Viele verdrängen und/oder kompensieren die eigene Instrumentalisierung erfolgreich. “Instrumentalisierung” bedeutet, dass Menschen zu einem ihnen selbst fremden Zweck gebraucht, behandelt, ev. missbraucht werden, sowohl Menschen, über welche in demütigenden Untergebenen- und Abhängigkeitsverhältnissen verfügt wird (so in besonderem Mass Kinder, gerade auch in wohlhabenden Verhältnissen, deren Existenz häufig in erster Linie der Prestigesteigerung der Eltern dient), aber auch Menschen, die scheinbar Macht besitzen, die aber auf Grund ihrer Fähigkeiten innerhalb eines Systems zu einem ihnen fremden Zweck eingesetzt, resp. instrumentalisiert werden. Kant hat in seiner “Kritik der praktischen Vernunft” das Instrumentalisierungsverbot als ‘‘praktischen Imperativ” erklärt und diesem (neben dem kategorischen Imperativ) die Bedeutung einer wichtigsten ethischen Maxime verliehen. Heute jedoch ist die Nichtbeachtung und Verletzung dieser ethischen Maxime die Regel. Allein die Befolgung des Instrumentalisierungsverbots würde dagegen bedeuten, dass die Würde der Menschen intakt bliebe. Dazu aber bedürfte es einer anderen, einer solidarischen, nicht nach Profitmaximierungskriterien strukturierten Gesellschaft, in welcher der gleiche Wert jedes Menschen auf Grund der gleichen Menschheit in jedem Menschen respektiert würde. Sachen dürfen instrumentalisiert werden. Indem Menschen instrumentalisiert werden, werden sie daher den Sachen gleichgemacht, werden verdinglicht, für austauschbar und, je nachdem, für wertlos erklärt. Entfremdung und Instrumentalisierung haben die gleichen Folgen, resp. die Instrumentalisierung der Menschen ist die schwerwiegendste Entfremdungsursache.
Wenn ich eben sagte, dass viele Menschen diese Tatsachen erfolgreich verdrängen und/oder kompensieren, heisst das nicht, dass sie unentfremdet leben. Instrumentalisierung geschieht partout. Es gibt kein unentfremdetes Leben und keine uninstrumentalierten Menschen. Marx entwickelte seine Theorie als Theorie der Befreiung von Entfremdung. Er glaubte an die Realisierung dieser Theorie in einem echten Sozialismus, der den Menschen erlauben würde, alle ihre Grundbedürfnisse selbsttätig und in paritätischer Gegenseitigkeit zu befriedigen. Dieser Sozialismus wurde nie Wirklichkeit, wird es wohl kaum je werden. Nach Marx wäre Aufhebung der Entfremdung Glück. Doch “Glück ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten”, schrieb Freud in seinem Essay “Das Unbehagen in der Kultur” von 1929/30, und er fuhr fort, dass “was man im strengsten Sinn Glück heisst, der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse entspricht und seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich ist. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet, dass wir nur den Kontrast intensiv geniessen können, den Zustand nur sehr wenig”. Dagegen seien die Möglichkeiten, Unglück zu erfahren, vielseitig. Das Leiden drohe sowohl vom eigenen Körper her, sodann von den unerbittlichen und zerstörenden Kräften der Aussenwelt her, sodann aus den Beziehungen mit anderen Menschen. In welchem Mass Menschen anderen Menschen schwerstes Leid zufügen können, tiefste Demütigungen und unerträgliche Schmerzen, Zerstörung der körperlichen und seelischen Integrität durch Torturen jeder Art, wissen wir von Überlebenden der polnischen Ghettos und der nationalsozialistischen Vernichtungslager, der Vernichtungskriege in Vietnam, in Kambodscha, in afrikanischen Ländern, der Folterkeller in den türkischen und anderen Polizeistationen und Gefängnissen überall in der Welt, der Gefangenenlager im noch kaum zu Ende gegangenen Krieg im ehemaligen Jugosalwien, wissen wir auch von den Überlebenden schwerer, häufig fortgesetzter sexueller und anderer Gewalttaten und den dadurch entstandenen Traumatisierungen in unserer Gesellschaft. Freud folgerte, dass es “kein Wunder sei, wenn unter dem Druck dieser Leidensmöglichkciten die Menschen ihren Glückanspruch zu ermässigen pflegen, wie ja auch das Lustprinzip selbst sich unter dem Einfluss der Aussenwelt zum bescheidenen Realitätsprinzip umbildet, wenn man sich bereits glücklich preist, dem Unglück entgangen zu sein, das Leiden überstanden zu haben, wenn ganz allgemein die Aufgabe der Leidvermeidung die der Lustgewinnung in den Hintergrund drängt.”
Leidvermeidung als oberstes Ziel?
Ist also ‘‘Leidvermeidung“ das oberste Ziel? Nichts Neues, liesse sich einwenden, die Stoiker, insbesondere die Epikuräer waren schon dieser Meinung, und gewissermassen war dies die massgebliche Linie des Utilitarismus seit Hume und Bentham. Freud jedoch untersucht die verschiedenen Möglichkeiten der Leidvermeidung aus seiner medizinischen und analytischen Praxis. Als eine der ersten bezeichnet er die “Intoxikation”, und zwar als die “roheste, aber auch wirksamte Methode”, mit der durch Zuführung von körperfremden Stoffen bewirkt werde, dass Lustempfindungen geschaffen würden, oder dass die Menschen zur Aufnahme von Unlustregungen untauglich würden. Betrachten wir unsere Gesellschaft, so steht diese “roheste” Methode tatsächlich an erster Stelle, von Alkohl und Nikotin über alle möglichen legalen und illegalen Drogen, auch die heute modischen sog. Designer-Drogen, etwa Prozac und Ecstasy, zu den in den Apotheken käuflichen Psychopharmaka, den von Hausärzten/- ärztinnen verschriebenen Amphetaminen, Antidepressiva, Schlafmitteln und anderen Mitteln bis zu den vor allem in der Psychiatrie eingesetzen Neuroleptica usw. Die Frage stellt sich, ob die Methode der Intoxikation für die Leidverminderung tatsächlich wirksam sei. Die Erfahrung aller, die sich über Intoxikation Glück oder wenigstens Leidvermeidung verschaffen wollen, ist, dass dies nach relativ kurzer Zeit nicht einmal mehr als episodische Erfahrung möglich ist, dass sich im Gegenteil das Leiden ins Unerträgliche steigert.
Intoxikation ist eine kompensatorische Methode des scheinbaren Glücksgewinns, die nicht allein über die Einnahme “körperfremder” Stoffe zu realisieren angestrebt wird, sondern auf unterschiedlichste Weise, bei den “Workaholics” etwa durch suchthaft selbstzugefügte Arbeitsüberlastung, bei anderen Menschen durch Raserei auf den Strassen, oder durch übertriebenes Training im Sport, durch suchthaftes Hungern oder suchthaftes Essen, durch ständige Zerstreuung usw.
Und die Rolle der Psychotherapie?
Die Frage stellt sich, ob es nicht wirksame, weniger rohe, nicht-kompensatorische Methoden gibt. (Übrigens rechnen Marx und Freud auch die Religionen zu den Kompensationen; Marx bezeichnet sie als “Opium”, Freud als Wahn. Ausgenommen davon ist, meine ich, jene nicht instutionalisierte Religiosität, die ich mit dem Begriff der “Hoffnung” anvisiert habe, als ein – vielleicht absurder – Rekurs auf eine nicht benennbare Transzendenz). Gibt es Methoden der Rückgewinnung einer sinnhaften Existenz, ohne dass diese kompensatorisch seien und ohne dass sie in Bezug auf die entfremdete Gesellschaft systemerhaltend wären? Wo steht zum Beispiel die Psychotherapie als Suchttherapie? Fällt sie eventuell auch in die Religionsfalle? Tröstet sie eventuell auch über die unerträgliche Existenz mit Heilsversprechungen hinweg? Ist sie auch Teil eines grossen Kompensationsangebots? Oder kann sie, im Gegenteil, den entfremdeten, instrumentalisierten, leidenden Menschen helfen, die ihnen gerechten, nicht- kompensatorischen Methoden der Leidverminderung oder gar des Glücks selber zu finden? – Methoden, die das Leiden der Seele wirklich heilen? Ist das überhaupt möglich? Stehen Therapeuten und und Therapeutinnen nicht unter dem gleichen Erfolgsdruck, der heute auf allen Tätigkeiten lastet? Welches sind Zweck und Ziel ihrer Tätigkeit? Therapieren sie die Leidenden, damit diese nachher in der entfremdeten Gesellschaft sich wieder besser einpassen können und wieder störungsfrei funktionieren? Stehen auch die Therapeuten und Therapeutinnen unter einem Normdiktat? Arbeiten sie mit an der Herstellung einer gesellschaftlich definierten “Normalität” der Menschen? Werden sie mithin selber durch das System instrumentalisiert? Was verstehen Psyhotherapeuten und -therapeutinnen unter “normalen” oder “gesunden” Menschen? (Wir wissen, wie gefährlich diese Kategorie für ungezählte Menschen unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurde). Können sie dazu beitragen, dass der einzelne Mensch zu seiner/ihrer eigenen Norm findet, zur Selbstdefinition seiner/ihrer Bedürfnisse, zu einem gelingenden Leben mit den eigenen Schwächen, Möglichkeiten und Talenten?
Suchttherapien kosten Geld, schaffen daher Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten. Suchttherapien sind in der heutigen Zeit mit den Folgelasten des in Leiden verkehrten Fortschritts zur – mehr oder weniger – lukrativen Erwerbsmöglichkeit und damit zu einem Teil des Systems geworden. Sie bedürfen geradezu der Leidenden, d.h. jener Leidenden, die eine Therapie auch bezahlen oder die über Programme der öffentlichen Hand daran teilhaben können. Was geschieht mit den anderen? Werden sie vor allem in die psychiatrischen Ambulatorien und Kliniken verwiesen, da dort die Behandlung auf jeden Fall durch die Krankenkassen bezahlt wird? Und was geschieht mit den Suchttherapieprogrammen bei einer Verknappung der öffentlichen Mittel oder bei einer Liberalisierung der Drogen? Wird angenommen, dass die verschiedenen Süchte dann erträglicher sind? resp. wurden die Therapien nur infolge günstiger konjunktureller Voraussetzungen als notwendig erachtet oder nur als die bessere Option im Vergleich zur Repression, eine Option, die scheinbar wegfallen kann, wenn es keine Repression mehr gibt?
Oder aber wird eine weitere Option ins Auge gefasst? Könnte diese beinhalten, dass Menschen zum Widerstand gegen die scheinbar unausweichlichen Zwänge der Gesellschaft befähigt werden? Vielleicht gar zur Subversion? Dass die unter bestimmten Strukturen und Situationen Leidenden befähigt würden, aus diesen Strukturen auszusteigen, diese Situationen aktiv zu verändern? Könnte Psychotherapie als Suchttherapie tatsächlich ein Gegenmodell zur entfremdenden Gesellschaft sein und das bewirken, was im idealen Fall der vertrauensvolle Austausch unter Freunden oder Freundinnen bewirkt, nämlich Hilfe und Unterstützung zu einem gelingenden Leben? Könnte Therapie zu einem anderen Wort für Kultur werden, im Sinne Freuds?
Statt Therapien Partizipation – wie und wo?
Marx hatte die Folgen des Fortschritts, die allen Menschen im Sinn einer Entlastung von schwerer Arbeit zugute kämen, als Befreiung begrüsst. Und Kant, gute fünfzig Jahre früher, hatte die Aufklärung als Programm des Mündigwerdens der Menschen definiert, resp. der Befreiung aus Zwängen und Fremdefinitionen, einer Befreiung zum Selberdenken und zum eigenen Urteilen und Handeln. Auch Freud erwog als anderen, besseren Weg als jenen der Intoxikation oder anderer Methoden der Leidverminderung, dass der Mensch als Mitglied der menschlichen Gemeinschaft “mit allen am Glück aller arbeite”, mithin zum Zustandekommen einer solidarischen Gesellschaft, zu einer solidarischen Kultur beitrage und dadurch selber von dieser getragen werde.
Waren Kant, Marx und Freud einfach naive Träumer? Die Frage stellt sich, ob der Preis des Fortschritts tatsächlich Leiden sein muss. Wie können jedoch Menschen so fragen, deren ganze Existenz seit der frühesten Sozialisation von Gewalt und von der Nicht-Erfüllung der Grundbedürfnisse geprägt ist? “An Fortschritt glauben heisst nicht glauben, dass’ ein Fortschritt schon geschehen ist. Das ist kein Glaube“, schreibt Kafka, und die dichterische Antönung auf Religiosität (nicht Religion) öffnet wiederum ein Fenster auf die Meta-Zeit. Aber, was die Jetztzeit betrifft, lässt sich ein Lernprozess für die ganze Gesellschaft postulieren? – denn es ist offensichtlich, dass die einsichtslose Weiterentwicklung der Negativfolgen des Fortschritts sowie einer weiteren einseitigen Steigerung von Gewinnmaximierung die Gesellschaft zerstört. Kann das Mündigkeitstraining der Menschen als wichtigstes Ziel angestrebt werden, ein Training des beziehungsfähigen Lebens, nach Kriterien der je subjektiven Möglichkeiten und Bedürfnisse der Menschen und nicht der gesellschaftlichen Normierung, mithin auch ein Training des selbständigen Verzichts auf kompensatorische Glücksangebote?
Die Bedingungen der Entfremdung, unter denen Menschen in der heutigen Gesellschaft leben, führen tatsächllich zu unerträglichen psychischen und sozialen Mangelerfahrungen und zu einem daraus wachsenden Leidensdruck, welcher der Entlastung bedarf Entlastung aber durch Intoxikation oder durch andere Methoden der kompensatorischen Leidverminderung oder eventuell des Lust- und Glückgewinns führen in jene Zirkel der Unersättlichkeit, die wir als Sucht bezeichnen und die gerade das Gegenteil des angestrebten Zwecks bewirken, nämlich keine – auch nur annähernde – Befreiung aus den Bedingungen und Folgen der Entfremdung, sondern zusätzliche Verstrickung in deren Folgen und dadurch Verstärkung der Unfreiheit und des Leidens.
Bedürfniserfüllung aus der Veränderung der Ursachen?
Was bleibt also zu tun? Die Antwort, scheint mir, ergibt sich aus dem im Suchtverhalten angestrebten Zweck. Dieser kann nur durch die Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen, durch Veränderung der Gesellschaft selbst erreicht werden. Eine Erfüllung nicht nur der matriellen, sondern auch der pychischen und sozialen Grundbedürfnisse kann nicht durch Therapien, sondern nur durch Rückbesinnung auf die Grundbedingungen sinnhafter Existenz in der Pluralität der Menschen geschehen: durch eine andere Kultur. Dazu gehört ein Bildungswesen, das mit Sorgfalt der Diversität und Differenz der Kinder und Jugendlichen gerecht wird und das nicht auf Grund normierter Leistungskriterien verhängnisvolle Wettbewerbsmodelle mit der Dichotomisierung von Starken und Schwachen, Gefälligen und Schwierigen, Reichen und Armen etc. vorwegnimmt, das nicht Differenz mit Ausschluss bestraft, sondern das dem vielfältigen Hunger nach Realitätserfahrung und nach Gruppenzugehörigkeit gerecht wird. Dazu gehört eine Rückbesinnung auf den Wert der menschlichen Beziehungen. Es ist tatsächlich verhängnisvoll, dass Beziehungen heute Warencharakter haben, dass Menschen nach einigem Verbrauch ersetzt werden wie Strümpfe. Beziehungen eingehen, pflegen und erhalten, sowohl mit den Liebes- oder Lebenspartnern und -partnerinnen, mit Kindern und jungen Menschen, mit Fremden und nahen, mit alten Menschen, im Freundes-/Freundinnen- und Bekanntenkreis, nachbarschaftliche Beziehungen unterhalten, sich mitverantwortlich fühlen für die Qualität des Zusammenlebens im Quartier, im Dorf, in der Stadt, all dies kann Entfremdung vermindern, bedarf jedoch der Zeit, resp. einer grösseren Langsamkeit im Alltagstempo sowie im Ablauf der geforderten Arbeitsleistungen. Diese grössere Langsamkeit kann erreicht werden, wenn die Vollarbeitszeit auf die Hälfte der heutigen Arbeitszeit reduziert wird, eine längst fällige Reduktion, datiert der Achtstundentag als soziale Errungenschaft doch aus den dreissiger Jahren. Die Halbierung der Vollarbeitszeit hätte nicht nur den Vorteil, die den Menschen und den Beziehungen zwischen den Menschen dringend benötigte Musse zu schaffen, sondern auch die Probleme der Arbeits- und Erwerbslosigkeit, damit der Marginalisierung, der “Entwertung” und Entmündigung durch Fürsorgeabhängigkeit von Hundertausenden von Menschen zu lösen. Bei der Verteilung und Reinvestition des gesellschaftlichen Mehrwerts müssten in massgeblicher Weise die jungen Menschen und die Frauen mitbestimmen können. Das heisst, dass die politische Mitbestimmung demokratisch auf andere Weise als nach dem herkömmlich strukturierten patriarchalen Parteienverhältnis geschehen müsste, dass demokratische Entscheidungsmacht, deren Veränderung und Korrektur nicht nach Massgabe der geldstärksten Propagandafabrikation, hinter der die Partikulärinteressen weniger stehen, zustandekommen dürfte, sondern gemäss dem Zusammenschluss der vielen, deren Vorstellung von Lebensqualität die gleiche Lebensqualität für die Schwächsten in der Gesellschaft miteinschliesst, der Kinder, der alten Menschen, der Fremden, insbesondere der Flüchtlinge, der Invaliden und Kranken oder ganz einfach jener, die nicht fähig sind, sich für die Erfüllung ihrer Bedürfnisse zu wehren.
Vielleicht könnte so jene “Technik der Lebenskunst” einzeln und gemeinsam geübt werden, auf die Freud in seinem oben zitierten Essay hinweist, nachdem er alle Methoden der Leidverminderung als ungenügend nachgewiesen hat? Keine Utopie, meine ich, sondern ein Projekt, welches eine Schritt für Schritt zu realisierende Linderung der Entfremdung zum Ziel hat, so dass diese ertragbar würde, nicht auf kompensatorische Weise, sondern im Zugeständnis der nicht aufhebbaren Unvollkommenheit aller Formen und Gestalten des Zusammenlebens, jedoch im Wissen um die notwendige Sorgfalt im Vermeiden jeder Art von Instrumentalisierung von Menschen.
Und die zunehmende Armut?
Dass Armut keine unvermeidbare gesellschaftliche Notwendigkeit ist, wirkt nach wie vor als Provokation. Nach wie vor ist es eine Provokation zu sagen, dass sie von der Welt, von jedem Land und von jeder Gesellschaf geschaffen wurde und geschaffen wird. ökonomisch gesprochen ist sie das Resultat eines bestimmten Verteilungs- und Investitionsschlüssels des gesellschaftlichen Mehrwerts, der letztlich mit der – noch immer aus dem griechischen “oikos”- System tradierten – Annahme zu tun hat, dass ungleiche Rechte eben “naturgegeben” seien. Moralisch gesprochen ist sie die Schuld jenes Teils der Welt, der im Überfluss lebt, der diesen Überfluss vergeudet und verschwendet, ob für private oder für militärische und andere nicht- gemeinwohlfördernde öffentliche Zwecke, die Schuld jenes Teils der Welt, der eifersüchtig und schlau sein Eigentum verteidigt und die Augen verschliesst vor jenem anderen Teil der Welt, vor jenen Menschen, “die im Dunkeln leben”, wie Bertold Brecht schrieb, welche die Chancen der Freiheit nur in der Theorie haben, tatsächlich aber weder die Möglichkeit zu lernen und sich Wissen anzueigenen noch so zu arbeiten, dass sie sich und die Ihren ohne Not ernähren können, die keinen Ort haben, wo sie sich wirklich erholen können, keinen Ort, wo es schön ist, die auch keine Aussicht auf echte Erleichterung und nachhaltige Veränderung ihrer Situation oder jener ihrer Kinder haben. Ich meine mithin nicht jene Armut, die als Erfahrung eines geringeren Einkommens und einer Verknappung der Mittel über kürzere oder längere Zeit, aber als befristete Erfahrung viele Menschen kennen, sondern jene andere, die in Frankreich als “grande pauvrete”, als “grosse Armut” bezeichnet wird und die von den Menschen selbst wie eine ungerechte lebenslängliche Verurteilung empfunden wird.
Ich hoffe, dass in den Fragen der Armut eine Bewusstseinsveränderung – eine nachhaltige Veränderung – tatsächlich erfolgt, dass eine breite Bewegung entsteht, welche das unzumutbare Unglück, die Unerträglichkeit der Armut aufdeckt und zu deren Bekämpfung aufruft – eine Bewegung, wie in den siebziger Jahren Black Power in den USA zur Bekämpfung der Rassendiskriminierung, oder wie Greenpeace zur Bekämpfung der Zerstörung der Weltressourcen. Armut bedeutet die Zerstörung der Handlungs- und Freiheitssressourcen einer ganzen Menschheit. Ich rechne daher mit einer wachsenden Beunruhigung bei immer mehr Menschen, dass Armut weltweit der am meisten verdrängte und zugleich der grösste und ständig sich noch vergrössernde Menschenrechtsskandal ist, eine Verletzung der körperlichen und seelischen Integrität von insgesamt Milliarden von Menschen. Und ich rechne mit einer Aktivierung des gemeinsamen Kampfs der Armen sowie der Nicht-Armen und Weniger-Armen für eine Beseitigung der Ursachen und der Folgen der Armut.
Ich spreche nicht von Hoffnungen, auch nicht von Träumen, sondern von Zielsetzungen. Diese Zielsetzungen will ich nun begründen.
Armutserfahrungen – Begründung des Kampfs
Als ich siebzehn Jahre alt war, damals in der sechsten Klasse des Gymnasiums, meldete ich mich während der Sommerferien für einen Pro Juventute-Einsatz. Ich wurde in den Solothurner Jura in ein kleines Dorf geschickt, in eine Familie mit neun Kindern und einem blinden, pflegebedürftigen Grossvater, deren Armut ich während fünf Wochen teilte, wobei ich versuchte, die übermüdete, überanstrengte Hausfrau zu entlasten. Ich bewunderte sie: Sie klagte nie, sie hatte ihre Kinder und ihren Mann gern, sie versuchte, trotz der Enge und Morschheit des Häuschens, wo sie lebten, trotz der entsetzlichen Geldknappheit, trotz der Winterhilfe-Kleider, die kaputt waren, bevor die Kinder sie trugen, trotz des kargen und monotonen Essens, trotz alledem einen Grundton des “guten Lebens” zu vermitteln.
Als ich erwachsen war, lernte ich die Armut in den Aussenbezirken und in den Schächten der Untergrundbahnen der grossen Städte kennen, in Barcelona zum Beispiel die Armut der arbeitslosen Landarbeiter, die mit ihren Familien aus Andalusien zugezogen waren, als Illegale am Rand der Stadt lebten und keine Chance hatten, irgend eine Arbeit zu finden, da sie weder lesen noch schreiben konnten. Oder in den nördlichen Banlieues von Paris die Armut der illegalen Immigranten und Immigrantinnen aus Ländern des Maghreb und des Ostens Europas. Aber auch in der Schweiz konnte ich ihr nicht ausweichen. Ende der achtziger Jahre begann das Schweizerische Arbeiterlnnenhilfswerk (SAH), Lese- und Schreibkurse für Erwachsenen zu organisieren Überall wurden sie angeboten, in den Städte und auf dem Land. In kurzer Zeit waren alle Kurse ausgebucht, die Nachfrage war enorm. Ich war damals als Journalistin verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit beim SAH und machte zahlreiche Interviews mit Frauen und Männern, die sich für diese Kurse angemeldet hatten, funktionale Analphabetinnen und Analphabeten, die von Kindheit an nur auf der Schattenseite der Gesellschaft gestanden hatten, Frauen und Männer meiner Generation, aus einem hoch entwickelten Land, deren Biographien nicht anders lauteten als jene, die wir aus Fürsorgechroniken aus dem letzten Jahrhundert kennen, auch kaum anders als jene von Taglöhnerinnen und Taglöhnern aus Brasilien oder aus einem der vielen anderen Armutsländer der Welt.
Was erfuhr ich aus diesen Lebensgeschichten? Da waren zumeist schon sehr beengte bis trostlose elterliche Verhältnisse gewesen, Überarbeitung von Vater oder Mutter oder Arbeitslosigkeit, Krankheit, manchmal Alkoholismus, Hilfsarbeit schon im Kindesalter von den frühen Morgenstunden bis in die Nacht hinein, Botengänge, Mitarbeit im Stall oder auf dem Hof, frühe Verantwortung für Geschwister oder fremde Kinder, eine enge Küche, in der die Schularbeiten beim besten Willen nicht gut gemacht werden konnten, Unpünktlichkeit und Unregelmässigkeit des Schulbesuchs, Rückstände, Rügen und Schläge durch den Lehrer, Gespött der übrigen Kinder, Kleider von der Winterhilfe, die zu gross oder zu klein waren, nie neue gute Schuhe, eine ständige Erfahrung der Minderwertigkeit, Abkapselung, Scham, hilflose Wut, häufig Fremdplazierungen, selten zum Guten des Kindes, manchmal schlimmste Ausnützung, selbst sexuelle Ausnützung. Eine Frau, zum Beispiel, lernte ich kennen, die als Verdingkind mit zwölf – dreizehn Jahren täglich während des Kirchenbesuchs der Bäuerin durch den Bauern missbraucht wurde, und da war keine Möglichkeit, über Gewalt und Not zu reden, da der Bauer es eingerichtet hatte, dass sein eigener Bruder zum Vormund des Mädchens ernannt wurde, da gab es keine Möglichkeit, Freundschaften zu pflegen, einen Beruf zu erlernen, dagegen wurde sie, wie viele, weitergereicht von einer Hilfsarbeit zur anderen, wurde in fremden Haushalten plaziert, wie viele, die als Mägde bei Bauern; als Hilfsarbeiterinnen in kleinen Fabrikationsbetrieben, als Hilfskräfte im Gastgewerbe, in Wäschereien für einen kleinen Lohn arbeiteten, so wie die Männer als Handlanger auf dem Bau und als Knechte in der Landwirtschaft, dann kam es zumeist zur frühen Heirat im gleichen Milieu, zu frühen und zahlreichem Schwangerschaften, und unversehens ging die bedrängte Jugend über in eine Ehe, die sich kaum von jener der Eltern unterschied, und das Unglück nagte an ihnen, den eigenen Kindern, die sie nun in die Welt stellten, nicht ein besseres Leben bieten zu können, als sie es selbst erfahren hatten. Krankheiten stellten sich ein, Betreibungen und Pfändungen, immer wieder erfolglose Stellensuche, Fürsorgeabhängigkeit, Wut, Kraftlosigkeit, Demütigung um Demütigung. Kein bisschen Schönheit, keine Freude. Dann plötzlich, von irgend jemandem aufgeschnappt, bot sich diese Möglichkeit, noch lesen und schreiben zu lernen, und plötzlich keimte die Hoffnung auf, vielleicht doch noch aus dem immer gleichen Kreis heraustreten zu können, vielleicht doch noch eine Chance zu haben, eine Stelle, eine bessere Stelle finden zu können, sich wehren zu können, geachtet zu sein.
Das hat mich bei all diesen Menschen, die in Armut leben und deren Leben ich kennenlernte, am meisten berührt: der Mangel an Achtung, der Mangel an Anerkennung, der Mangel an Glück, vor allem aber das Leiden über diesen Mangel. Für viele empfand ich grosse Bewunderung. Sie schufen sich eine eigene Würde, so wie jene Familie im Solothurner Jura, die ich als Schülerin kennenelernt hatte. Andere aber waren gebrochen. Woher sollten sie die Kraft zu einer Veränderung nehmen? Ihre Auflehnung mündete häufig in Wut, wodurch sie nicht selten in Situationen gerieten, in denen sie straffällig wurden – ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit und eigenen Verletztheit.
Die gleiche existentielle Bedürftigkeit aller Menschen
Wenn ich sage, Armut sei ein Menschenrechtsskandal, so begründe ich dies mit der Nichterfüllung der Grundbedürfnisse. Menschenrechte, Grundrechte haben ihre Allgemeingültigkeit in der Tatsache der gleichen existentiellen Bedürftigkeit aller Menschen. Diese Bedürftigkeit ist dergestalt, dass sie nur durch die Aufmerksamkeit der anderen Menschen und durch ihre Bereitschaft, sie zu stillen, das heisst durch ihr Handeln, ertragen werden kann, ob es sich um den physischen Hunger handle oder um den geistigen, um das Bedürfnis nach Erhaltung und Förderung des körperlichen Leben oder um das Bedürfnis nach Erkenntnis, nach Bildung, nach Liebe, nach Respekt, nach Partizipation an den Entscheiden, deren Folgen viele betreffen, ein ganzes D01f oder eine ganze Stadt, nach Partizipation an der politischen und sozialen Verantwortung, ob es sich um das Bedürfnis nach Schönheit, nach Erholung und nach sinnhafter Arbeit handle. Niemand kann diese Bedürfnisse allein stillen, jedes Kind, jede Frau und jeder Mann ist dafür auf andere Menschen angewiesen.
Das Verhältnis von Bedürftigkeit und Würde, resp. von Grundbedürfnissen und Grundrechten spiegelt eine existentielle Grundbedingung, die normativen Charakter hat, resp. die ein handlungsanweisendes Sollen beinhaltet. Simone Weil stellt diese Grundbedingung mit dem Inselparadigma dar (in “Enracinement”). Angenommen, ein Mensch lebte völlig allein im Universum, so hätte dieser Mensch keine Rechte, wohl aber Pflichten. Er befände sich gewissermassen in einer Grundverpflichtung sich selbst und seinen primären Bedürfnissen gegenüber. Er wäre zwar nicht in der Lage, diese alle zu stillen, und trotzdem gälte die Verpflichtung, sich darum zu bemühen, aus Respekt vor seiner Person. “La notion d’obligation prime la notion de droit” ist Simone Weils lakonische Folgerung, die auch für die Tatsache des Zusammenlebens vieler Menschen gilt. Die Grundpflichtigkeit erhält auf Grund der Vielheit der Menschen den Charakter der Reziprozität. Mit anderen Worten: Indem ich die Grundbedürfnisse der anderen anerkenne und zu deren Stillung beitrage, erwerbe ich mir das Recht, dass meine eigenen Bedürfnisse anerkannt und gestillt werden. Da dies für alle Menschen so gilt, da bei allen die gegenseitige und wechselseitige Anerkennung derje gleichen Bedürftigkeit vorausgesetzt ist, wird der Anspruch auf Erfüllung der Gundbedürfnisse zum Menschenrecht.
Von “universellen” Menschenrechten kann nur die Rede sein, wenn tatsächlich niemand davon ausgeschlossen ist: wenn der Gesellschaftsvertrag, den jede staatliche Verfassung darstellt, die Erfüllung der Grundbedürfnisse garantiert. Nun ist es jedoch so, dass dieser Anspruch noch in keiner Verfassung garantiert ist, sodass die universelle Menschenrechtserklärung Rethorik bleibt. Und der praktische Anspruch scheint nur für Menschen zu gelten, die “im Licht” stehen, die über Mittel, über Geld und Publizität verfügen, damit sie ihre Rechte geltend machen können. Der gleiche Anspruch geht bei den Armen ins Leere. Sie verfügen weder über Publizität noch über andere Druckmittel. Es ist, als seien ihre Stimmen tonlos, obwohl sie einen riesigen Chor darstellen. Sie erfahren Verachtung statt Achtung, abgewendete Blicke statt Aufmerksamkeit, höchstens Fürsorge statt Partizipation. Selbst die Fürsorgeleistungen werden unter neoliberalen Bedingungen zunehmend reduziert oder von “Erfolgsleistungen” abhängig gemacht.
In Zürich und andernorts, zum Beispiel, wurden und werden durch das Fürsorgeamt seit einigen Jahren für Frauen und Männer, die in Armut leben, zunehmend Befähigungsprogramme geschaffen, Umlern- und Weiterlernangebote, die aus den Engpässen von Arbeitslosigkeit, Fürsorgeabhängigkeit und Selbstwertverlust herausführen sollen, die Kenntnisse und Selbstvertrauen vermitteln sollen. Arme sollen nicht weiter Almosenempfängerinnen und Almosenempfänger sein, sondern, indem ihnen Hilfe und Anleitung zur Selbsthilfe geboten wird, sollen sie sich selbst die Möglichkeit schaffen, die einseitige Abhängigkeit zu verändern. Doch es braucht dazu nicht nur diese Programme, es braucht bei den Armen Mut, vor allem aber braucht es Ermutigung durch die Gesellschaft. Diese aber fehlt zumeist. So ist es häufig der Mut der Verzweiflung, der hinter dem Entschluss steht, sich für Kurse und Weiterbildungsprogramme zu melden, da die heutige Arbeitsmarktsituation Menschen, die keine Erfolgszeugnisse vorzeigen können, deren Curriculum nicht Effizienz verspricht, sondern von Misserfolgen gezeichnet ist, schon kaum mehr eine Einstiegschance gewährt. Ist es da verwunderlich, dass viele, die sich ein Herz genommen haben, ihre Situation zu verändern, nach kurzer Zeit resignieren? Ich kenne zum Beispiel eine knapp vierzigjährige Frau, die in armen ländlichen Verhältnissen aufgewachsen war, als Sechzehnjähre in einem Gasthaus zu arbeiten begann, schwanger wurde und eine Tochter zur Welt brachte. Diese wurde schon bald nach der Geburt in einem Kinderheim untergebracht, wo sie aufwuchs, während die Mutter zunehmend alkoholabhängig wurde, häufig die Stelle wechselte und immer weniger belastbar war. Vor drei Jahen hat sie sich entschlossen, einen Maschinenschreibkurs zu absolvieren, “vor allem wegen der Tochter”, sagte sie mir, die nun achtzehn Jahre alt wird. Doch der Kurs verhalf ihr nicht zur erhofften Lebensveränderung, da heute auch für einfache Büroarbeiten nicht Maschinenschreiben, sondern Computerkenntnisse erfordert sind. Sie fand schliesslich eine Wohnmöglichkeit und eine Arbeit in einem Heim für Männer, die zwischen die Maschen der Gesellschaft gefallen sind. Sie hat dort einen “Unterschlupf’ gefunden, wie sie mir sagte, aber ihren Entschluss, in diesem Heim zu arbeiten, hat sie aus Resignation getroffen. Sie hat den Weg “in der Welt”, in der Stadt, nicht geschafft.
Ein Menschheitsskandal
Armut – ein Menschheitsskandal. Es sind weltweit Millionen von Menschen, es ist zumindest die Hälfte der Menschheit, die Opfer der Kälte, der Härte und Indifferenz der anderen Hälfte sind, allein in der Schweiz, nach offiziellen Statistiken, an die 500’000, die unter dem sogenannten “Existenzminimum” leben, die ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen können. Die Zahlen wachsen schnell an: 1994 waren es gesamtschweizerisch insgesamt 245’000 Menschen, die Sozialhilfe brauchten, doppelt so viele wie 1990. Innerhalb von zwei Jahren, von 1994 bis heute, hat sich die Zahl wieder verdoppelt. Um zu wissen, was diese Zahlen bedeuten, müssen wir unsere Vorstellungskraft anstrengen, müssen wir uns 500’000mal je ein einzelnes Leben vorstellen, ein Leben der ständigen Erniedrigung, des ständigen Leidens. Es ist tatsächlich der Folter vergleichbar.
Die aufwühlendste Tatsache ist, dass, wer arm ist, keine Freiheit wahrnehmen kann. Wer arm ist, lebt allein unter dem Gesetz zwingender Notwendigkeiten, zwingender “Notdurft”, wie Hannah Arendt die blosse Subsistenzerhaltung nennt. Ein Leben ohne Freiheit ist ein Leben der Unterdrückung. Was aber sind die Folgen eines Lebens in Unterdrückung, in Unfreiheit und in ständigem Leiden? Es sind Hoffnungslosigkeit und Bitterkeit, es sind tiefe Depressionen, das heisst ein allmähliches Absterben der Lebenskräfte – oder es ist Auflehnung, eventuell sogar aggressive Auflehnung, Auflehnung, die in Gewalt übergeht, wie sie immer wieder in grossen Städten, in New York, in Paris, Marseille, London und anderswo auffiammt, wie sie jedoch immer durch die viel mächtigere Gegengewalt des Staates, durch Polizeigewalt, durch Waffengewalt erstickt wird, ohne dass deren Ursachen verändert würden. Darum aber muss es in diesem Jahr gehen: um die Veränderung der Ursachen der Armut. Die Folgen der Armut werden sich dann von selbst verändern. Wenn, wenn … Solange mit “wenn” argumentiert wird, geschieht nichts. Daher haben überall in der Welt die Armen begonnen, sich zu wehren, statt länger stumm zu dulden. Sie haben begonnen, für die Erfüllung ihrer Grundbedürfisse und ihrer Rechte zu kämpfen. statt auf eine Veränderung zu warten, die doch nie erfolgt.
Die vierte Welt sagt der ersten den Kampf an
Der Impuls ist nicht neu. Schon vor rund 160 Jahren schrieb der französische Frühsozialist Auguste Blanqui: “Sehen Sie, das ist der Krieg der Armen gegen die Reichen. Allen Besitzenden muss daran liegen, den Ansturm abzuwehren. Dies ist der Krieg zwischen den Reichen und den Armen. Die Reichen haben es so gewollt, denn sie sind die Angreifer. Schlechtfinden sie nur, dass sich die Armen zur Wehr setzen. ” Der Aufstand, den ich meine, ist allerdings kein Krieg, auch keine Revolution mit Gewaltcharakter, es ist eine Bewegung mit demokratischem Charakter, eine starke Bewegung des Widerstandes gegen Unrecht: eine Menschenrechtsbewegung. Aus dieser Bewegung heraus haben sich Organisationen gebildet, von denen ich zwei kurz vorstellen will: “ATD Vierte Welt” und “Kairos Europa”.
Vor gut dreissig Jahren, 1965, wurde der schweizerische Verein ATD Vierte Welt gegründet, im Anschluss an die Vereinigung der Obdachlosen in einer Banlieue von Paris, in Noisy-le- Grand, die 1956 erfolgt war. Den Anstoss zur Gründung hatte ein katholischer Geistlicher gegeben, der selbst in grosser Armut in Frankreich aufgewachsen war, Josephe Wresinski (1917 -1988), Sohn eines polnischen Immigranten mit deutschem Pass, aus dem ehemals deutschen Poznan, der im damaligen Frankreich als “Deutscher” suspekt war und daher, trotz eines Diploms als Maschineningenieur, keine Arbeit finden konnte, sowie einer spanischen Lehrerin, die in Frankreich nur als Putzfrau Arbeit fand. Josephe Wresinski hatte erstmals “grosse Armut” als Menschenrechtsverletzung deklariert und zu einer weltweiten Bewegung der Armen zur Überwindung der Armut aufgerufen – zu einer Basisbewegung, die mich mit Trauer an die frühsozialistischen Bewegungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts erinnert, die doch dasselbe Ziel anstrebten. Haben zwei Jahrhunderte nichts vermocht? Tatsache ist, dass die Ideale von 1789 – Freiheit, Gerechtgkeit (resp. Geichheit), Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit – nach wie vor Privilegien einzelner Bevölkerungsschichten statt allgemeine Rechte sind.
Die Armen aus Noisy-le-Grand hatten ihrem Zusammenschluss erstmals den Namen gegeben, der in der Folge in verschiedenen anderen Ländern überall in der Welt aufgegriffen wurde: “Aide a toute détresse – Quatrième monde”. Ich stiess darauf erstmals 1985, als ein Buch von Helene Beyeler-von Burg erschien “Schweizer ohne Namen. Die Heimatlosen von heute”, ein aufwühlendes Buch, das aus der Arbeit von ATD heraus entstanden war. Mit dem Namen, den die Armen ihrer Organisation gaben, verbanden und verbinden sie ein ganzes Programm: Sie waren gewillt, die Hierarchie der Welten deutlich zu machen, indem sie sich nach der Ersten, Zweiten und Dritten Welt als Vierte Welt konstituierten, als “unterste” Welt, gewissermassen als eigenen Kontinent, der zugleich Teil aller anderen Kontinente und Welten ist. Mit der Unterstützung von Freiwilligen (Volontairen und Volontairinnen) aus anderen gesellschaftlichen Schichten versuchten sie nach und nach, die eigenen Lebensverhältnisse zu verändern. Doch zugleich gaben sie sich eine öffentlich hörbare Stimme. Am 17. Oktober 1987 enthüllten sie auf dem Trocadero in Paris, auf diesem zentralen Platz, eine Mahntafel, die den Armutsopfern gewidmet ist und auf der die Überwindung der Armut als Menschenrechtsverletzung gefordert wird. Fortan wurde der 17. Oktober zum Tag der Überwindung der Armut. Ende der achtziger Jahre versammelten sich dann Delegationen von ATD aus allen Ländern in Strasbourg, beim Europarat, berieten, wie sie ihren Anspruch auf Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse und ihrer Rechte formulieren und beim Europarat vorbringen wollten. Es ist ATD sogar gelungen, beim Sitz der UNO in Genf und New York einen Beobachterstatus zu erlangen, bei verschiedenen UNO-Organisationen, so beim UNICEF oder beim UNHCR Einfluss zu nehmen und zu erreichen, dass das Jahr 1996 zum Jahr der Armut erklärt wurde: zum Jahr der Verringerung, ja der Überwindung der Armut. In der Schweiz hat ATD Vierte Welt ein Zentrum in Treyvaux im Kanton Fribourg. Vieles, was sonst utopisch erscheint, realisiert sich dort: Familienferien für Menschen, die in grosser Armut leben, dieAusbildung von Freiwilligen, Weiterbildung im Rahmen einer “4.Welt-Universität” und mehr.
Die zweite Bewegung, die mir auffiel, nennt sich “Kairos Europa” (“Kairos” bedeutet bekanntlich “Zeitpunkt” oder “der richtige Moment”, gewissermassen, wenngleich überhaupt nicht explizit, eine Anwendung des Arendt’schen Mottos ‘‘ganz gegenwärtig zu sein”). Die Bewegung wurde 1989 im Anschluss an die “Ökumenische Versammung” in Basel gegründet, und zu den Initianten und Initiantinnen gehörten Frauen und Männer, die es ernst meinten mit der Gerechtigkeit, u.a. von der Theologischen Bewegung für Solidarität und Befreiung, vom FriedensdorfFlüeli-Ranft, vom Ökumenischen Friedensnetz Basel, vom Romero-Haus in Luzern und weitere mehr. Die schweizerische Kairos-Europa Gruppe gehört zu einem lockeren Netz von heute rund 500 Gruppen, die seit dem September 1993 in Bruxelles ein europäisches Sekretariat haben. 1992 war ein Kristallisationsjahr gewesen, einerseits weil es das 500. Erinnerungsjahr an die “Entdeckung” resp. die Kolonisierung der sog. Neuen Welt war, die in Folge dieser Geschichte zur Dritten Welt wurde. Andererseits nahm 1992 in Westeuropa der EG (resp. EU)-Binnenmarkt seinen Anfang. “Kairos Europa” machte es sich zur Aufgabe, den Blickpunkt der Benachteiligten dieser Markt- und Machtkonzentration zu übernehmen und zu formulieren, gemeinsam mit diesen selbst. Die Sozialcharta der Europäischen Union, zum Beispiel, wird mit den Augen und Interessen der Arbeitslosen und sozial Ausgegrenzten, mit den Augen der auf diesem Markt diskriminierten Frauen untersucht, das Schengener Abkommen mit den Augen von Asylsuchenden und Flüchtlingen, die Abkommen zur europäischen Agrarpolitik mit den Augen der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern usw. An Pfingsten 1992 wurde daher in Strasbourg ein “Parlament von unten” gebildet, an dem rund 800 Frauen und Männer aus 52 Ländern teilnahmen, Langzeitarbeitslose, Obdachlose, Migrantinnen und Migranten, Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeiter, Asylsuchende, Kleinbauern und -bäuerinnen und weitere in grosser Armut lebende Menschen. Sie bildeten fünf Arbeitsgruppen, die je ein – nicht gestilltes – Grundbedürfnis ausleuchteten: Nahrung, Wohnung, Arbeit, freie Wahl des Wohnortes und kulturelle Identität. Die Arbeit dieser Arbeitsgruppen war die “Aufarbeitung von Leidensgeschichten”. Unmittelbar nachher, ebenfalls im Juni 1992, trafen sich in Luzern wiederum die rund 3 00 Mitglieder von Kairos- Europa Schweiz, um eine Standortbestimmung vorzunehmen und Aktionen gegen die soziale Ausgrenzung zu erörtern. Diese sollten vor allem an der Basis organisiert werden, in den religiösen Gemeinden und Pfarreien. Wichtige Bewusstseinsarbeit sollte damit verbunden werden, etwa hinsichtlich der Vorurteile, die armen Menschen entgegengebracht werden, hinsichtlich der Zusammenhänge von Ausgrenzung, hinsichtlich des Verhaltens der Nicht- Armen den Armen gegenüber und mehr.
Die beiden Bewegungen haben zwar religiöse Gründungsimpulse gehabt, sind jedoch in ihrer Ausrichtung sekuläre Bewegungen. Es ist den Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften gewiss nicht abzusprechen, dass sie sich für eine Veränderung der Gründe und Folgen der Armut einsetzen, im Gegenteil. Es gibt an vielen Orten diesbezüglich ein erfreuliches, längst nötiges Umdenken, hatten doch gerade die Kirchen während allzu langer Zeit den Armen die falschen Tugenden gepredigt (etwa Demut in der Annahme von “Gottes Willen”). Ungerechtgkeit, Demütigung, wirtschaftliche und kulturelle Not können nicht “Gottes Wille” sein. Auch dienten die “mitleidvollen Gaben”, wie sie zum Habitus der Kirchen und der Gläubigen gehörten, ja kaum dazu, die Armut zu verändern, sondern eher, die Armen in ihrer Armut, in ihrem “Stand” zu fixieren, resp. die ständische Hierarchie, zu der eben auch die Armut gehörte, aufrechtzuerhalten, gleichzeitig dienten sie der Gewissensberuhigung der mitleidvoll Gebenden. Aber die Armen wollen kein Mitleid, sondern ein Ende der Ausgrenzung. Ich sage es nochmals: Sie wollen Gerechtigkeit und volle gesellschaftlliche und politische Partizipation.
Es genügt jedoch nicht, dass die Bekämpfung der Armut Sache der Religionen ist, schon gar nicht heute, wo Erfindergeist und Technologie es ermöglichen, die meisten Probleme zu lösen. Die Verringerung und Überwindung der Armut muss ein vorrängiges politisches Ziel sein, nicht nur einer linken Politik, sondern der Politik überhaupt. Eine Gesellschaft ist nur so stark wie ihre schwächsten Glieder es sind. Die Erfahrung und politischen Folgen der grossen allgemeinen Armut und Verelendung in den dreissiger Jahren infolge der enormen Inflation und Arbeitslosigkeit müsste genügen, damit nicht länger gezögert wird. Es braucht, unter anderem, dringend neue Arbeitszeitmodelle, damit Arbeit nicht zum seltenen Privileg von wenigen wird, damit nicht länger eine zunehmende Zahl von Menschen ihre Existenz als wertlos erleben, ferner neue Partizipationsmodelle dank einer Verstärkung der Bildungs- und Weiterbildungsangebote, vor allem aber neue Verteilungsmodelle des kollektiven Mehrwerts und eine Verfassungsgarantie für die Erfüllung der Grundbedürfnisse.
Es gibt genug Fachleute, die in der Lage sind, praktische Umsetzungsmöglichkeiten dieser Modelle zu erarbeiten. Was jedoch vorgängig gestärkt werden muss, ist die Einsicht in die politische Dringlichkeit dieser Aufgabe, sodann der politische Willen, aus der Einsicht die politischen und sozialen Konsequenzen zu ziehen. Das bedeutet im Klartext, dass diejenigen, die nicht in Armut leben, bereit sein müssen, den Gürtel enger zu schnallen, damit diejenigen, die in Armut leben, weniger eingeengt leben können. Alle diese politischen Forderungen haben jedoch nur eine Chance, verwirklicht zu werden, wenn das Menschenbild enthierarchisiert wird, d.h. wenn die Verschiedenheit der Menschen nicht länger als Wertverschiedenheit gilt, sondern als Varietät des gleichen Menschseins, der, nach Kant, gleichen “Menschheit” in jedem einzelnen Menschen.
Die Armut der Frauen
Ich musste – wollte – zuerst die Unerträglichkeit der Armut überhaupt schildern, bevor ich auf die besondere Armut von Frauen eingehe. Sie ist auf anschauliche Weise eine Folge des hierarchisierten Menschenbilds, das dem konventionellen Geschlechterverhältnis in allen Schichten der Gesellschaft zugrundeliegt.
Eine besondere Armut? Es sind gemäss allen Statistiken und Armutsstudien tatsächlich mehr Frauen als Männer, die unter dem Existenzminimum leben, zugleich aber verwendet der Grossteil der in Armut lebenden Frauen ihre Energie vor allem darauf, die Armut zu verbergen. Im Strassenbild in den grösseren Städten der Schweiz treten sie kaum in Erscheinung, in den Obdachlosenunterkünften sind sie seltener als die Männer, und falls sie dort unterkommen, wirken sie häufig eher wie Pensionärinnen. Auch mit den spärlichsten Mitteln gelingt es vielen, die sichtbare Verelendung, ja Verwahrlosung aufzuhalten, nicht nur die äussere, die mit der Erscheinung zu tun hat, sondern auch die innere, die mit der sozialen Kompetenz korreliert ist. Da bei Dreivierteln der Scheidungen die Kinder bei der Mutter bleiben, jedoch bei einem ebenso grossen Prozentsatz Frauen und Kinder nach der Scheidung ärmer sind als vor der Scheidung und ärmer als die Männer nach der Scheidung, bedeutet für viele Frauen Scheidung zugleich Armut. Bis zur jüngsten Revision der AHV hatte eine Scheidung vor allem katastrophale Folgen im Alter, vor allem für Frauen ohne eigenes Einkommen. Seit kurzem werden nun Haus- und Erziehungsarbeit als rentenberechtigt gewertet – ein grosser Fortschritt, der nicht gefährdet werden darf Doch nicht erst im Alter, zumeist schon im aktiven Leben beeutet Scheidung für viele Frauen, dass sie von diesem Augenblick an auf Sozialhilfe angewiesen sind, auf staatliche Alimentenbevorschussung, auf stundenweise, schlecht bezahlte Arbeit, falls sie überhaupt Arbeit finden. Noch immer ist es in der Schweiz so, dass die Arbeit von Frauen bis zu einem Drittel schlechter bezahlt wird als die Arbeit von Männern – gleichwertige Arbeit-, um welche Arbeit es sich auch handle, um sogenannt “unqualfizierte” oder um “qualifizierte” Arbeit, um Fabrikarbeit oder um intellektuelle Arbeit. Aber Arbeitszeit ist Lebenszeit, d.h. die Geringerwertung der Arbeitszeit von Frauen bedeutet zugleich die Geringerwertung der Lebenszeit von Frauen. Es ist ein offener Skandal, der jedoch von einem Teil der Arbeitgeberseite kaltblütig fortgesetzt wird. Und da die Löhne der Frauen tiefer sind, da sie infolge von Familienrücksichten und aus anderen Gründen häufiger die Stelle wechseln müssen, sind sie auch bei den Arbeitslosenentschädigungen benachteiligt, da diese ja nach Lohnprozenten und Dauer der Anstellung ausgerechnet werden. Dazu kommt, dasss in der Schweiz wichtige soziale Absicherungen, wie die Mutterschaftsversicherung, noch immer ausstehen und von bürgerlicher Seite auch weiterhin torpediert werden. Laut der Auskunft der der Leiterin der Fachstelle für Schuldenfragen im Kanton Zürich führt auch die Tatsache der häufigen Konsumkredite zu einer weiteren Zunahme der Armut von Frauen, nicht weil diese sich häufiger verschulden würden als Männer, im Gegenteil, sondern weil sie nach Trennungen und Scheidungen auf den Kredit- und Abzahlungsverträgen sitzenbleiben, die sie mitunterschrieben haben, manchmal noch jahrelang, nachdem die Männer sich aus dem Staub gemacht haben.
Gestützt auf die Erfahrungen der Armutsbekämpfung in der Dritten Welt, bei der spürbare Erfolge an der Basis über Frauenbildungs- und Unterstützungsprojekte erzielt werden, sollten auch bei uns die Mittel zur Veränderung der Lebensbedingungen analog eingesetzt werden. Frauenprojekte in Nicaragua, in San Salvador oder in Burkina Faso, von denen ich Kenntnis habe, konnten erreichen, dass Frauen ihre Vereinzelung durchbrechen und sich, zum Beispiel, in Produktions-, Verkaufs- oder Weiterbildungskollektiven zusammenschliessen. Es ist nötig, dass Frauen sich in stärkerem Mass miteinander und untereinander solidarisieren, aus welcher sozialen Schicht, aus welchem Land sie auch kommen, Einheimische und Ausländerinnen.
Das Umverteilungsprojekt
Die Veränderung der Armuts- und Unrechtsbedingungen auf demokratischem Weg ist keine Utopie. Die Frauen sind mehr als die Hälfte der Bevölkerung, und da in der anderen Hälfte auch ein Teil der Männer die grossen sozialen und kulturellen Diskriminierungen als unerträglich empfindet, könnten neue Arbeitszeitmodelle, fortschrittliche Sozialversicherungen, Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten, könnten in sozialer und kultureller Hinsicht ganze Strukturveränderungen auf politischem Weg erreicht werden.
Nicht nur die Armut, auch die Bekämpfung der Armut ist eine Frage der Verteilung – der Umverteilung – von bezahlter und unbezahlter Arbeit sowie des kollektiven Mehrwerts. Dass zusätzliche Quellen für die Erfüllung der wachsenden Aufgaben gefunden werden müssen – sei dies zum Beispiel über die Besteuerung der Kapitalgewinne oder des Verbrauchs der nicht- erneuerbaren Energien – muss ernsthaft mitberücksichtigt werden. Meine Vorstellung und Forderung ist, dass in allen Kantonen und auf Bundesebene zu diesem Zweck aus allen Schichtender Bevölkerung, mithin unter Einbezug von Vertreterinnen und Vertretern der aktiven Anti-Armutsbewegungen, innovative “brain pools” geschaffen werden, welche die verschiedenen kurz- und längerfristigen Massnahmen zur Armutsbekämpfung untersuchen, ausformulieren und für deren demokratische Umsetzung kämpfen, nicht zuletzt für die Errichtung einer konjunkturunabhängigen Existenzsicherung, d.h. eines gesicherten Grundeinkommens für alle Menschen, die in unserem Land leben. Zusätzlich müssen, parallel zur Globalisierung des Marktes, Massnahmen zur Globalisierung von Kriterien der Lebensqualität durchgesetzt werden, auf nationaler wie auf transnationaler Ebene, damit auch die Phänomene der Migration – zumeist Folgen von unerträglicher Armut – berücksichtigt werden. Die Umsetzung dieser Massnahmen erscheint mir dringend, soll das 21. Jahrhundert nicht zum Katastrophenkommentar der Unterlassungen dieses Jahrzehnts werden
Braucht es heute einen feministischen Katalog der Grundbedürfnisse?
Trotz meiner immer wieder spürbaren Skepsis “dem” Feminismus gegenüber, bin ich der Meinung, dass emanzipatorische Projekte nach wie vor Gegenstand feministischer Politik sein sollten, zumal in allen Bereichen, in denen Frauen politische Verantwortung übernehmen, sich in zunehmendem Mass Verhinderungsversuche gegen emanzipatorische Veränderungen spürbar werden, das heisst gegen Veränderungen, die aus der patriarchalen “mancipatio”, aus der patriarchalen Verfügungs- und Interpretationsmacht zu mehr Freiheit und zu mehr Eigenbestimmung, damit zu mehr personaler Würde und damit zu mehr Lebensqualität herausführen sollen. Diese Verhinderungsversuche konzentrieren sich meiner Beobachtung nach auf drei grundsätzliche Zusammenhänge, die in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit analysiert werden müssen, damit Veränderungen erreicht werden, eben nicht im “utopos”, nicht im “nirgendwo” einer fernen Zukunft und nicht allein in den Phantasien, sondern – von der Vorstellung einer lebenswerten Zukunft her – in der unmittelbaren Gegenwart, d.h. in der vorweg zu gestaltenden gesellschaftlichen und politischen Praxis.
Bei den drei Zusammenhängen, geht es um Verteilungsprobleme, hinter denen Grundbedürfnisse und Grundrechtsprobleme stehen. Es geht um die Frage der Bedürfnisinterpretation und um die Verteilung der öffentlichen Finanzen, sodann um die Definition von Macht und um die Verteilung von Macht, schliesslich um das Menschenbild sowie um die Definition und Zuteilung des Werts der Zeit.
Die Frage der Bedürfnisinterpretation und die Verteilung der öffentlichen Finanzen
Die von Hannah Arendt in “Vita activa” erarbeitete Unterscheidung der Bereiche menschlicher Organisation – den politischen und den gesellschaftlichen – sowie der Merkmale dieser Unterscheidung sind im wesentlichen seit der Antike die gleichen: die “polis”, der Bereich des politischen Entscheidens und Handelns, ist gekennzeichnet durch Freiheit, durch gleiche Rechte und durch Sprachbefähigung. Dass dieser Bereich bis in die jüngste Zeit ausschliesslich den Männern zustand, daran hatten auch die grossen Revolutionen nichts geändert: von “liberte, egalite, fraternite” waren die Frauen ausgeschlossen, und erst recht die Kinder und “das Gesinde” (damals die Sklaven, heute Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen, Migranten und Migrantinnen, Flüchtlinge). Von gleichen Rechten sind diese “Ungleichen” auch heute noch weit entfernt, obwohl selbst in der Schweiz die Frauen seit 25 Jahren über das Stimm- und Wahlrecht verfügen. Doch die formale Rechtsgleichheit ist noch keine Garantie für tatsächlichen Einfluss auf die politischen Verhältnisse. Die verfassungsmässige und gesetzliche Ermächtigung, Rechte auszuüben, genügt nicht, solange es nicht zu einer breiten, spezifischen Selbstermächtigung kommt, welche die Rechte erst wirksam werden lässt: es bedarf der “Sprachfähigkeit”, es bedarf der Fähigkeit, die eigene Stimme, die eigenen Foderungen vernehmbar zu machen und auf nachhaltige Weise mit anderen Stimmen zu verbinden. Den “Feministinnen” der “ersten Stunde”, die noch keine Rechte hatten, war dies auf vorrangige Weise bewusst, scheint mir, den Pazifistinnen, den Kämpferinnen gegen Armut und gegen Ausbeutung von Kindern und Frauen in den frühkapitalistischen Produktionsprozessen, in der Landwirtschaft und in den privaten Haushalten. Sie haben Rede- und Debattierzirkel eingerichtet, haben das öffentliche Reden geübt und sich gegeseitig dazu ermutigt, und zum Zweck der Veränderung der Misstände haben sie in erster Linie Bildungspostulate formuliert oder selbst Bildungs- und Weiterbildungsstätten insbesondere für Arbeiter und Arbeiterinnen eingerichtet. Die emanzipatorischen Veränderungen müssen im Bereich des “oikos” – der Gesellschaft – geschehen, wo während Jahrhunderten allein der Haushaltvorstand, der “pater familias”, das Recht der Bedürfnisdefintion und -interpretation der Familienmitglieder wahrnahm, ganz nach seinem Gutdünken und nach seinen Eigeninteressen. Als Mitglied der “polis”, des politischen Gremiums der “Sprachfähigen”, und zugleich als Haupt des “sprachlosen Haushalts”, bestimmte er (oder bestimmt noch immer), was die Frau braucht, was die Kinder brauchen und was “das Gesinde” braucht, immer in Abhängigkeit davon, was er selbst braucht.
In Analogie mit diesem “Familienmodell” bestimmt der Staat oder dessen Funktionäre auf den verschiedenen Ebenen, in welcher Höhe wer welche Sozialleistungen braucht oder nicht braucht, das heisst wem welche Lebensqualität zusteht. Dieses Modell hat bis zu den pervertiertesten Ausformulierungen im totalitären Staat alle Arten von gesellschaftlichen und politischen Realisierungen vorzuweisen, nicht nur in vergangenen Zeiten, sondern auch heute, auch hier in der Schweiz, trotz, ich wiederhole, trotz Frauenstimm- und -wahlrecht und trotz zögerlicher Vertretung der Frauen in eidgenössischen, kantonalen und Gemeindelegislativen und -regierungen. Die reaktionären Kräfte verstehen sehr wohl, worum es geht. Sie versuchen, die in den letzten Jahren erstarkten Stimmen der Frauen im öffentlichen Raum zu übertönen und diejenigen Frauen, die sich zu ihrer “Sprachfähigkeit” bekennen und diese in den Dienst der noch stummeren und rechtloseren Mitglieder der Gesellschaft stellen, zu diffamieren und auszuschalten. Die ständige Verlächerlichung und Verunglimpfung der “Feministinnen” durch die Boulevardblätter, die gehässigen Attacken auf Bundesrätin Ruth Dreifuss sowie auf Parlamentarierinnen, die sich für eine effektive Verbesserung der Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV) für Frauen oder für die Mutterschaftsversicherung einsetzen, sind im grösseren Zusammenhang nur als besonders schrille Töne zu bezeichnen.
Die Attacken und Verunglimpfungen sollen von massgeblichen Tatsachen ablenken: einerseits von der Tatsache der erschreckend wachsenden Armut, der zunehmenden Zahl von Sozialhilfeempfängern und -empfängerinnen in unsrem Land (Ende 1993 gesamtschweizerisch rund 180’000 Personen, Ende 1994 schon über 300’000), wobei die – wiederum in starkem Mass systembedingte – Pauperisierung der Frauen und junger Menschen besonders ins Gewicht fällt, andererseits aber von der Tatsache, dass auch heute noch nur dank der unentgeltlichen Leistungen der Frauen im Haushalt, bei der Kindererziehung und bei der Betreuung von kranken und alten Menschen, dank all dieser enormen Leistungen im sogenannt “informellen Sektor”, der laut der Wirtschaftswissenschafterin Mascha Madörin etwa 2, 5 % des Bruttosozialprodukts ausmacht, die bürgerlichen Abstriche in der Sozialpolitik nicht zu einem sozialen Notstand führen. Dass mit der 10. AHV-Revision dieser sogenannte “informelle Sektor” endlich als rentenberechtigt anerkannt wird, erklärt die giftige rechtsbürgerliche Reaktion, nicht nur in den Angriffen auf die “subversiven” Feministinnen, sondern im handfesten Gegenschlag der Erhöhung des Frauenrentenalters.
Es steht fest, dass, solange Frauen ihre Bedürfnisse nicht selber definieren und interpretieren, diese nach männlichen Eigennutzkriterien bestimmt und ausgelegt werden, ob im Rahmen und Zusammenhang des privaten oder öffentlichen Haushalts. Die Kriterien für die Verteilung und Zweckbestimmung der öffentlichen Finanzen sind dafür Abbild und Konsequenz. Die amerikanische Feministin Nancy Fraser weist dies in ihren (1989 in Amerika, 1994 in Deutschland erschienenen) Untersuchungen für die Verhältnisse in den USA nach. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung gelten im Prinzip auch für Europa und für die Schweiz.
Doch welches sind die Bedürfnisse der Frauen? Lassen sich diese überhaupt unter einen Nenner bringen, angesichts der enormen Verschiedenheit der Lebensentwürfe und Lebensbedingungen von Frauen, allein schon in der Schweiz, geschweige in Europa (inklusive Ost- und Südosteuropa mit den heute kaum durchschaubaren und für die nächste Zukunft kaum einschätzbaren Destabilisierungen, mit Krieg und mit bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen in vielen Ländern), geschweige in den anderen so verschiedenen Kontinenten. Meiner Ansicht nach sollen in erster Hinsicht die unterschiedlichen Bedürfnisse der Frauen in ihrer Besonderheit, das heisst gemäss ihrer spezifischen Priorität, Sprache und Forderung werden. Denn es ist vor allem die Frage der Priorität, welche die Unterschiede ausmacht. Die Bedürfnisse selbst, wie dies auch die Untersuchungen der deutschen Wirtschaftswissenschafterin Susanne Schunter-Kleemann in den meisten europäischen Ländern beweisen, haben eigentlich ausnahmslos mit Grundrechtsmängeln zu tun, das heisst mit der ungenügenden rechtlichen Anerkennung, Absicherung und Erfüllung der Grundbedürfnisse.
Tatsache ist, dass die universale Erklärung der Grundrechte wertlos ist, wenn diese nicht durch die verfassungsmässigen oder gesetzlichen Garantien der einzelnen Staaten oder transnationaler Verbände einklagbar werden. Solche Garantien kommen jedoch nur durch die Anerkennung der wichtigsten Bedürfnisse als universellen Bedürfnissen zustande. Daher sollten sich die Frauen trotz aller Differenzen in der Prioritätenfrage zu einer gemeinsamen Erklärung ihrer wichtigsten, unverzichtbaren Bedürfnisse einigen, so wie dies an der Interntionalen Frauenkonferenz in Nairobi und in Peking geschah, damit in den einzelnen Ländern die Forderungen und Vorstösse der Frauen nach Realisierung und nach öffentlicher Finanzierung ihrer spezifischen Rechtsansprüche mehr Durchsetzungskraft haben. Dabei scheint mir unbestreitbar zu sein, dass ein feministischer Katalog der Grundbedürfnisse zugleich die Bedürfnisse der heutigen Menschheit erfasst, insbesondere der sprachlosen, in ihrem Überleben zutiefst bedrohten Menschheit, der Kinder, der Hungernden und Verfolgten.
Noch während des letzten Weltkriegs wurden Vorarbeiten dazu durch Simone Weil geleistet. In “L’enracinement”, ihrem letzten Werk, das sie 1943, kurz vor ihrem Tod im Exil in London vollendet hat und das 1948 durch Albert Camus veröffentlicht wurde ( ein überaus widersprüchliches Werk, das zugleich wichtige emanzipatorische Impulse vermittelt, aber auch höchst reaktionäre), macht sie deutlich, dass Grundbedürfnisse nicht nur die materielle Existenzsicherung betreffen, sondern ebenso sehr geistiger Art sind, dass sie den Hunger nach personalem Respekt, nach Wissen, nach Bildung, nach Freiheit, nach Sicherheit, nach Verantwortung, nach sinnvoller Arbeit, nach Frieden, nach zwangsfreier und demütigungsfreier Einordnung in kollektive Zusammenhänge betreffen, insbesondere auch den Hunger nach Schönheit. (Auf nicht-explizite Weise greift sie damit die früh-marxistischen Entfremdungsursachen auf). Wenn ich mir zum Beispiel Lebensbedingungen vergegenwärtige, wie ich sie in Flüchtlingslagern gesehen habe, wo die Menschen zwar ein Dach über dem Kopf haben und den Hunger stillen können, wo aber kein bisschen Schönheit, kein bisschen Freiheit, keinerlei sinnvolle Arbeit, kein bisschen Sicherheit ist, weiss ich, in welchem Ausmass Millionen von Erwachsenen und Kindern in der Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse auf unerträgliche Weise zu kurz kommen. Die hilflose kompensatorische Suche nach Erfüllung mündet häufig in – internalisierte oder externalisierte – Gewalt ein.
Die Definition von Macht und die Verteilung von Macht
Gewalt hat nicht zuletzt mit einem Macht- und Handlungsdefizit zu tun, im Sinn der Machtdefinition Hannah Arendts, die ich teile. Macht haben bedeutet, der Sprache mächtig sein, das heisst der Kunst des Argumentierens, des Überzeugens und Verhandelns, der Bündnisbildung und der Druchsetzung von Entscheiden. Unter Macht verstehe ich Handlungskompetenz in jeder Hinsicht, nicht nur Sprach-, sondern auch Urteils- und Sachkompetenz. Das Kernproblem der Macht besteht darin, dass Sach- und Handlungskompetenz nicht notwendigerweise mit Gerechtigkeitskompetenz, resp. mit moralischer Kompetenz verknüpft ist.
Da während Jahrhunderten Macht ausschliesslich patriarchale Macht bedeutete und immer zugleich Herrschaft, das heisst ein System von Machtmissbrauch implizierte, ist für Generationen von Frauen (und für Generationen von Feminismustheorien) der Machtbegriff negativ besetzt. Macht und Missbrauch von Macht sind jedoch nicht dasselbe. Missbräuche können nur aufgedeckt, benannt und verhindert werden, wenn sie nicht mit der Machtausübung selbst verwechselt werden. Macht als Kompetenz verstanden, ist positiv. Leider gilt, dass Frauen dem Missbrauch von Macht Vorschub leisten, sowohl im privaten wie im öffentlichen Bereich, solange sie auf einer negativen Defiition und Auslegung des Machtbegriffs beharren. Missbrauch von Macht kann nicht durch Abstinenz von Macht korrigiert werden, sondern allein durch eine andere Art der Machtausübung, durch Macht im Dienst des “bien commun”, des Allgemeinwohls, das sich am Wohl der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft misst.
Es ist dringend, dass Frauen in Bezug auf den Machtbegriff umdenken, dass sie Macht nicht fürchten, dass sie ihren Anspruch auf Macht geltend machen und gewillt sind, Macht auszuüben, zumal Macht, die mit öffentlichen Ämtern in demokratischen Verhältnissen zusammenhängt, immer als Mandat auf befristete Zeit verliehen wird. Zum Mandat gehört auch, dass die Art und Weise der Machtausübung rechenschaftspflichtig ist. Doch da Macht mit Kompetenz verknüpft ist, wird auch dieser Rechenschaftspflicht vorweg durch das Handeln selbst Genüge getan.
Da es darum geht, die Gegenwart von der Zukunft her zu verändern, ist feministische Machtpartiziation dringlich und unaufschiebbar. Konzepte einer lebenswerteren, einer friedlicheren und gerechteren Gesellschaft, in welcher die Differenz von Geschlecht, Alter, Pass und Stand nicht zu einer Differenz von personalem Respekt, von Handlungsmöglichkeiten und Rechten, kurz von Lebensqualität führt, solche Konzepte lassen sich nur verwirklichen, wenn Frauen in den machtausübenden Gremien mitreden, wenn sie selbst Macht ausüben und wenn sie gewillt sind, Bündnisse einzugehen mit jenen Männern, welche die gleichen emanzipatorischen Ziele anstreben. Das heisst zugleich: wenn sie Machtmissbrauch nicht länger dulden, sondern eine andere Art des politischen Handelns vorschlagen und vorleben.
Die erste Voraussetzung besteht darin, die Forderung ernst zu nehmen, die eigenen Bedürfnisse zu prüfen, sie selber zu definieren, zu interpretieren und zu formulieren. Die zweite, den eigenen Widerspruch zu “dem, was ist”, zu ergründen und zu begründen. Die dritte, den Schritt in die Öffentlichkeit zu wagen und “laut zu sagen, was ist”, nach einem Wort Rosa Luxemburgs. Die vierte, den Mut, den dieser Schritt in die Öffentlichkeit kostet, nicht zu verlieren, sondern ihn als Motor zu benützen, um die eigene Kompetenz in Hinblick auf eine emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft einzusetzen. Als Ansporn dienen einmal mehr jene Frauen, die ohne Theorie und ohne andere Vorbereitung als die gelebte, die erfahrene Unerträglichkeit der Verhältnisse gewagt haben, eine Gegenmacht zu diesen Verhältnissen herzustellen, etwa Olympe de Gouges, die, selbst nicht einmal des Schreibens fähig, die Hintansetzung der Frauen im Bereich der Bildung und der politischen Mitsprachemöglichkeiten nicht ertrug, die der Revolution der Männer von 1789 die Menschenrechtserklärung der Frauen entgegenstellte und dafür mit dem Leben zahlte; oder Flora Tristan, die im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts als eine der ersten das Bedürfnis und das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung, auf Scheidung und auf Namensgebung der Kinder, kurz, die feministische Postulate mit sozialistischen verband; oder Bertha von Suttner, die Friedenkämpferin im Gemetzel des Ersten Weltkriegs, oder Rosa Luxemburg, die furchtlose Mahnerin gegen die Instrumentalisierung der Menschen in der undustriellen Produktion wie im Krieg, sodann in jüngster Zeit die Frauen in Sizilien, die öffentlich das Gesetz der “omerta” brachen und gegen die Mafia aufstanden, oder die Frauen in Sarajewo, in Belgrad, in Moskau und anderswo, die eine Gegenstimme zur Kriegspropaganda und zur nationalistischen Aufhetzung vernehmen lassen und damit eine moralische Gegenmacht darstellen.
Die Art und Weise, wie Macht ausgeübt wird, hängt zutiefst mit dem Menschenbild zusammen sowie mit der Einschätzung vom Wert der Zeit.
Von der Ungleichwertung von Menschen zur Ungleichwertung der Zeit
Der persönliche, gesellschaftliche und politische Alltag, auch die rechtsstaalichen Verhältnisse, wie sie heute gelten, führen zu einer ständigen Konfrontation mit der offensichtlichen Ungleichwertung und Entwertung von Menschen. Es gibt wohl kaum jemanden, der diesbezüglich von der eigenen Initiation des Unrechts und des Leidens verschont geblieben wäre. Es lassen sich dafür jedoch nicht einfach Strukturen (z.B. das Patriarchat) oder Systeme (z.B. der Kapitalismus) verantwortlich machen; letztlich erfolgt in allen Strukturen und Systemen, wie sie auch seien, die Ungleichwertung und Entwertung von Menschen durch andere Menschen. Dass dies geschieht, hat unzählige Gründe, die sich jedoch, wie mir scheint, auf zwei hauptäschliche Stränge zusammenfassen lassen: einerseits spielt die so häufige individuelle narzisstische Selbstüberschätzung mit, bei der pathologische Erscheinungen der Ich-Schwäche, die als unerträglich empfunden werden, durch Verachtung anderer Menschen kompensiert werden; andererseits verhindert eine weit verbreitete, schichtenübergreifende Lern- und Aufklärungsresistenz die Infragestellung von Vorurteilen, da deren Veränderung ja Konsequenzen nach sich ziehen würde. Tragisch ist, dass diese gehäuften individuellen Menschenverachtungsmuster durch ein – implizit rassistisches – Gesellschaftssystem, das sich aber auf demokratische Weise vorweg als Rechtssystem konstituiert, quasi legitimiert werden. Die, zum Beispiel, öffentlich nicht nur geduldete, sondern praktizierte Verachtung und die daraus folgende Diskrimierung von Menschen, die als “Randständige” bezeichnet werden, von Armen und Fürsorgeabhängigen, von Menschen, die aus körperlichen oder aus psychischen Gründen den heute geforderten Effizienzkriterien nicht genügen können, von Asylsuchenden, insbesondere von sogenannten “Illegalen” prägt die gesamte schweizerische Realität. Es bräuchte eigentlich nicht des Hinweises auf das so knapp zustandegekommene positive Resultat der Antirassismus-Abstimmung oder auf die desaströse Zustimmung der Mehrheit der Stimmenden zu den Zwangsmassnahmen im Ausländerbereich, ebenso wenig bräuchte es der Erinnerung an die fehlende Unterzeichnung wichtiger internationaler Konventionen durch die Schweiz, etwa der Kinderrechtskonvention oder der Sozialcharta. Die asyl-und flüchtlingspolitischen Tatsachen könnten genügen. Sie sind em Hohn auf alle Grundrechtsdeklarationen, und dies nicht nur in der Schweiz, sondern in allen Ländern Europas. Ausser für die ganz wenigen Menschen, die als Flüchtlinge anerkannt werden und die damit eine Art von “normalem” Ausländerstatus erhalten, gelten für die meisten, das heisst für Tausende von Menschen, eine Vielzahl von genau definierten Bedingungen, die als “Status” L oder F oder mit anderen Abkürzungen bezeichnet werden und die alle eine Vielzahl von Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung bedeuten: Arbeitsverbot, ständige Zumutung von Untätigkeit, Verbot des Zusmmenlebens von Familien, kollektive Wohnverhältnisse, die nicht die geringste Privatheit zulassen, demütigende Taschengeldzuteilungen, die pro Tag in Zürich nicht einmal für einen Kaffee oder für eine Tramfahrt reichen, keine freie Berufswahl für Jugendliche, vor allem aber ständig aufrechtgehaltene Unsicherheit bezüglich der Dauer des Aufenthalts, bezüglich einer möglichen Rückschaffung ins Land, in dem Leben und Sicherheit so gefährdet waren, dass Flucht und Exil unausweichlich wurden, vor allem auch ständiges Misstrauen jeder Erklärung und jedem Bedürfnis gegenüber, ständiger Vorwurf des Schmarotzertums, ständige Entwertung und Herabsetzung der menschlichen Person. Alle diese Verletzungen menschlicher Grundbedürfnisse und Grundrechte, die durch Gesetze, durch Weisungen eidgenössischer oder kantonaler Ämter und durch eine allgemeine Praxis legitimiert werden, bedeuten letztlich, dass überhaupt kein Verlass auf irgendwelche Deklarationen universeller Rechte besteht. Wo es eine einzige Ausnahme gibt, gibt es keine Universalität der Rechte. Wo es aber keine Universalität der Rechte gibt, kann letztlich jede Willkür und jedes Verbechen als legitim erklärt werden.
Räumlichkeit und Zeitlichkeit: Abschaffung des Warencharakters der Zeit
Ruth Klüger, die als Kind zuerst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz deportiert worden war und auf wunderbare Weise überlebte, sagte einst in einem Gespräch, sie sei eine überzeugte Feministin, weil Feminismus Humanismus bedeute. In diesem Sinn könnte Feminismus als emanzipatorisches Projekt heute neu definiert werden, indem das bedingungslose und uneingeschränkte Bekenntnis zum gleichen Wert eines jeden Menschen die politischen Konzepte und alles zwischenmenschliche, gesellschaftliche und politische Handeln bestimmen würden. Forderungen, welche die spezifische Rechts- und Lebenssituation von Frauen betreffen, lassen sich nur auf glaubwürdige Weise formulieren, wenn sie alle Diskriminierten einschliessen. Dies betrifft nicht zuletzt die Forderung nach einer existenzgerechten Wertung der Zeit und damit nach einer entsprechenden Abgeltung der Arbeitszeit, das heisst nach einer Wertung, die nicht standesmässig und einkommensmässig unterschiedlich definiert ist, sondern die universalen Kriterien zu genügen vermag. Das bedeutet, dass der Warencharakter der Zeit abgeschafft werden muss.
Diese – revolutionäre – Forderung leitet sich aus der Grundrechtsforderung ab, dass jedem Menschenleben der gleiche Wert und der Respekt zukomme. Es ist absurd, die sogenannt “universale” Erklärung der Menschenrechte gutzuheissen, gleichzeitig aber zuzulassen, dass die Zeit – Lebenszeit/Arbeitszeit – jedes Menschen mit jeder Art von Ungleichheit gewertet wird. Für einen vorläufig aufgenommern Flüchtling, zum Beispiel, wird während Jahren Lebenszeit als Zeit der Untätigkeit, als “leere” Zeit und damit als wertlos gewertet, eine Woche erschöpfender Arbeit am Fliessband gilt als gleichviel “wert” wie eine einzige Stunde eines Bankgeneraldirektors oder eines Marketingmanagers. Da jede Existenz zeitlich bestimmt ist, da jeder Existenz auf gleiche Weise die ungleiche Frist zwischen Geburt und Tod als Sinnauftrag aufgegeben ist, erscheint mir die monetäre Ungleichwertung der Zeit, das heisst deren Verwandlung zur wertlosen oder wertvollen Ware, Ursache der tiefsten Entfremdungen zu sein und damit schwerwiegendster individueller und kollektiver Leidenserscheinungen, Depressionen und kompensatorischer Selbstwertbestätigungen, Drache von Sinnleere, von Verzweiflung und Gewalt. “Wenn ich einen Gott anerkenne, so ist es die Zeit”, schrieb Franz Schubert in einem Brief, doch seit dem Beginn der Modeme hat der transzendente Gott seinen Platz dem monetären Gott räumen müssen, und der Gott der Zeit ist der Geldwert der kapitalisierbaren Zeit. Solange der Warencharakter der Zeit nicht aufgehoben ist, ist der Warencharakter der menschlichen Existenz nicht aufgehoben, der nicht nur das antike und moderne Sklaven-/Sklavinnentum bewirkt hat, sondern der letztlich jedes Verbrechens, das die menschliche personale Integrität verletzt oder zerstört, erklärt. Sachen dürfen gebraucht und verbraucht, ersetzt und ausgetauscht, für überflüssig erklärt und vernichtet werden – Menschen nicht.
Die Reflexion über den Wert der Zeit muss eingerückt sein in die breitere Reflexion über die existentialen Bedingungen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Ich will hier nicht auf alle Zeit- Theorien unserer westlichen Philosophiegeschichte eingehen, von der platonischen und aristotelischen über diejenigen von Augustinus, Galilei, Newton, Descartes, Kant, Kierkegaard, Bergson, Minkowski, Einstein bis zu denjenigen der verschiedenen Existenzphilosophen und – philosophinnen sowie der zeitgenössischen Physiker mit ihren Berechnungen des Raum-Zeit- Kontinuums unter Berücksichtugung der Unschärfetheorien usw. Wenn ich von Räumlichkeit und Zeitlichkeit als “existentialen Bedingungen“ spreche, meine ich damit Möglichkeiten, sich als Mensch in Verhältnisse zu setzen: “Räumlichkeit” bedeutet das Verhältnis zur Welt, bedeutet W elthaftigkeit resp. In-der-Welt-sein – in keiner Weise ein einfaches Verhältnis, sondern ein überaus widersprüchliches, da das “Hier” des einzelnen Menschen immer auch das “Hier” vieler anderer Menschen ist, und In-der-Welt-sein daher sowohl der Grenzen, der abgrnezung wie der Überwindung der Grenzen bedarf “Zeitlichkeit” versteht sich als das existential paradoxe Verhältnis zu Notwendigkeit und Freiheit, zu Sterblichkeit und Gebürtlichkeit (Befähigung zum Neuanfang, gemäss Hannah Arendt), bedeutet die unerbittliche und unausweichliche Weise, in der das individuelle Leben des Menschen durch Beginn und Ende bestimmt ist, durch Einmaligkeit und Nichtwiederholbarkeit des Ablaufs des Lebens, bedeutet in diesem Ablauf immer zugleich Handeln und Leiden im Jetzt wie Verändern und Mitschleppen des “unwiderruflich Getanen” (Arendt) und Gewesenen wie Mitbedenken und Planen des Noch-nicht, eine mit zunehmender Lebenszeit wachsende Erfahrung der Flüchtigkeit und des Ungenügens in Hinblick auf das “Auftragsverhältnis” der Existenz. Dieses “Auftragsverhältnis” ist mit dem ursprünglichen Paradox von Freiheit und Notwendigkeit gegeben, durch welches Möglichkeit Wirklichkeit werden soll, jedoch nach Kriterien einer für die Pluralität der Menschen grösseren Wirklichkeit. Hierin besteht die ethische Komponente des existentialen Auftragsverhältnisses, resp. der Aspekt der Verantwortung, der sich aus der unabtrennbaren Verknüpfung der Freiheit mit dem Vermögen zu erkennen und zu urteilen ergibt, das heisst, mit dem Vermögen, die Art und Weise des Handelns unter Berücksichtigung der Folgen des Handelns zu wählen, sowoh der unmittelbaren wie der weiterreichenden. In der Verantwortung zeigt sich das Verhältnis von Vereinzelung und von Welthaftigkeit, wodurch die einzelne Existenz zu einer sozialen und politischen Existenz wird,die nicht nur Bedeutung für sich selbst hat, sondern auch für andere Menschen wie für das Zusammenleben.
Umgekehrt werden Räumlichkeit und Zeitlichkeit als existentiale Bedingungen, die eigentlich nicht zur Disposition stehen, durch die gesellschaftlichen, zivilisatorischen und politischen Umstände in starkem Mass beinflusst. Gerade unter den gegenwärtigen Bedingungen, sowohl den ökologischen wie den ökonomischen, geraten sie enorm unter Druck. Hierin liegt der wohl bedrohlichste Aspekt der post-industriellen Entwicklung. Einerseits werden durch nationalstaatliche oder übernationale (EU, USA) Migrationsgesetze (resp. Immigrationsgesetze) sowie durch Ressourcenknappheit und Bodenverteuerung die den Menschen verfügbaren Räume zunehmend reduziert, auch geht das Raumgefühl durch die enorme Verkürzung der Reisezeiten wie durch die elektronische Abrufung der künstlichen Räume der virtuel reality mehr und mehr verloren; andererseits wächst das Ungleichgewicht zwischen der technologisch nicht weiter steigerbaren zeitlichen Beschleunigung der Kommunikation, die heute mit Lichtgeschwindigkeit erfolgt, oder der atemraubend schnellen, automatisierten Produktionsabläufe sowie der ständig gehetzten, von Termin zu Termin jagenden Vertretern und Vertreterinnen einer auf höchste Profitsteigerung ausgerichteten Markteffizienz, und der stillstehenden Zeit von Millionen von Menschen, die aus den Produktionsabläufen ausgeschaltet und für überflüssig erklärt werden, die buchstäblich nichts mehr “anfangen” können.
Grenzen, Abgrenzungen, Respekt und Überwindung von Grenzen
Um das Ausmass der Bedrohlichkeit dieser Entwicklung zu erfassen, ist es nötig, die Bedeutung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit als Existentialien vor Augen zu halten. Sie definieren, d.h. begrenzen die Existenz aller Menschen als deren allgemeine Bedingungen. Denn Räumlichkeit und Zeitlichkeit sind zugleich die individuellen Existenzbedingungen des einzelnen Menschen wie die Bedingungen aller Menschen. Die Tatsache der Gleichzeitigkeit der unzählbar vielen Menschen in der Welt, von denen ein jeder, eine jede Zeitlichkeit und Räumlichkeit als Bedingungen ihrer je eigenen existentiellen Entfaltung beanspruchen, von denen auch jeder und jede Grundbedürfnisse haben, deren Stillung sie gegenseitig voneinander abhängig werden lässt, diese Tatsache der Gleichzeitigkeit schafft die Notwendigkeit von Regeln, von Gesetzen. Gesetze sind Grenzen im sozialen und im politischen Raum, mithin Grenzen der Freiheit. Sie dienen der geregelten Erfüllung der Grundbedürfnisse aller. Die ursprüngliche Notwendigkeit für die Regelsetzung, resp. für die Verfassung- und Gesetzgebung, ergab sich aus der Erkenntnis, dass die individuellen Existenzbedingungen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit mit den Existenzbedingungen der vielen vereinbar gemacht werden müssen, damit auch das schwächste Individuum innerhalb der vielen nicht zu kurz komme. Sowohl das gesellschaftliche Regelsystem, das wir “Konventionen” nennen, wie das politische, das aus Verfassung und Gesetzen besteht, bilden jene Grammatik des Zusammenlebens, welche die schwer vereinbaren Voraussetzungen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit in Hinblick auf den möglichst grossen Nutzen ( oder den möglichst kleinen Schaden) sowohl für jedes Mitglied der grossen menschlichen Gesellschaft wie für die Allgemeinheit verbinden soll, damit dieser möglichst grosse individuelle Nutzen zugleich dem möglichst grossen allgemeinen Nutzen entspreche. Diese Optimierung von Nutzen und Schaden ist jedoch in allen Jahrhunderten nie nach Gerechtigkeitskriterien, welche auf prioritäre Weise das Wohl der Schwächsten anstrebten, verwirklicht worden, da die Definition der Bedürfnisprioritäten durch die gleichen Individuen (Monarchen, Diktatoren), Klassen oder Schichten erfolgte, welche die Gesetze sowohl erliessen wie durchsetzten. Daran hat auch die Demokratie wenig geändert, obwohl nur die Demokratie jene Sozialgesetzgebung ermöglichte, welche heute die schwersten Verelendungsfolgen des neo-liberalen Marktdiktats auffängt. Diese Folgen nehmen jedoch in einem Ausmass zu, das die staatlichen Kassen überstrapaziert, sodass sie für die nötigen Sozialleistungen kaum mehr aufkommen können, zumal infolge von Kapital- und Steuerflucht der Reichen die einkommenschwächeren und -schwachen Schichten der Bevölkerung praktisch allein für die Finanzierug ihrer eigenen Notlagen aufkommen müssen.
Mit den Anfängen der Kulturgeschichte setzte die Gestaltung und Modifikation der “condition humaine” ein, begann das Eingrenzen und Bewohnbarmachen des – ursprünglich unbegrenzten – Raums, das Markieren von Territorien, das Erstellen von Zäunen, Mauern und Wällen und verband sich mit Eigentumsvorstellungen, d.h. mit Vorstellungen der Unvereinbarkeit von Dein und Mein, mit Vorstellungen der Privatheit. Zugleich aber – dafür gibt es zahlreiche kulturhistorische Belege – wurden Räume für die allgemeine oder kollektive Nutzung geschaffen und markiert, gemäss einer Protovorstellung von Öffentlichkeit, lange bevor es diesen Begriff gab. Zeit und Zeitlichkeit wurden erst viel später als die eine gleiche Dimension erkannt, die allen Menschen auf ungleiche Weise zur Verfügung steht, erst viel später wurde begonnen, die Zeit zu befragen, zu erklären und zu definieren, resp. sie Gesetzen und Konventionen zu unterwerfen, sie einzuteilen nach Mondphasen, sie in Kalenderzeiten zu unterteilen und zu benennen und neu einzuteilen. Es ist immer wieder von Nutzen, sich in Erinnerung zu rufen, dass der Gregorianische Kalender, der uns als Zeitraster dient, erst vor gut 400 Jahren, im Jahre 1582, nach der Revision des Julianischen Kalenders durch Papst Gregor XIII festgelegt wurde. Gerade die Regulierung der Zeit ist, nach einem Wort von Norbert Elias, ein “gesellschaftlicher Code”, eine Konvention. Als solche ist sie jedoch nicht nur ein Ordnungs- und Organisationsinstrument, sondern dient auch zur Kontrolle des menschlichen Zusammenlebens. Zu erinnern ist etwa an die Einführung eines neuen Kalenders in der Folge der Französischen Revolution und der “Abschaffung” des Christentums: da wurde das Jahr 1792 zum Jahr 1 erklärt, und es wurden Monate à drei Wochen und a 10 Tage eingeführt, um den Beginn des neuen Zeitalters unmissverständlich zu markieren. Noch heute gelten ja selbst in unserem Kulturkreis mehrere Kalender gleichzeitig. So wird zum Beispiel gemäss dem jüdischen Kalender das Jahr 2000 als das Jahr 5760 gerechnet, oder der 27. April des Jahres 1996 entsprach dem 8. Ijar, des Jahres 5756, d.h. dem achten Tag des achten Monats im jüdischen Jahr 5756. Nochmals viel später als die Kalendereinteilung wurde die Feinmessung der Zeit, d.h. die verbindliche Begrenzung der subjektiven Zeit der Menschen, vorgenommen, mit Hilfe des Sonnenlichts, des rinnenden Sandes, der ineinander greifenden Räder. Erst 1657 wurde die erste Pendeluhr gebaut, 167 4 die erste Spiralfederuhr, sodass die Zeitmessung, wie sie für uns anhand von Chronometern geläufig ist, erst seit etwas mehr wie dreihundert Jahren eingeführt ist.
Neben diesen gesellschaftlichen Codices oder Regelsystemen, durch welche die Zeit für Abmachungen, Fahrpläne, Arbeitspräsenz, Ausgangssperren und ähnliches abgegrenzt und verfügbar gemacht wird, ist Zeit jedoch vor allem ein Phaenomen der Innerlichkeit, eine subjektive Empfindung, oder, wie Kant sagte, eine Form der inneren Anschauung a priori. Die Zeit wird als sich verdichtende oder als mangelnde Intensität der Existenz wahrgenommen, als fliegende oder als schleppende Abfolge von Ereignissen, doch haben wir, um diese Intensität auszudrücken, nur Metaphern zur Verfügung. Auch die räumlichen Begriffe, mit denen wir die Zeitempfindungen wiedergeben, sind Metaphern, so wenn wir sagen, die Zeit erscheine uns “kurz” oder “lang”, wenn wir von “Kurzweil” sprechen oder über “Langezeit” klagen.
Diese subjektive Empfindung der Zeit blieb sich seit den Anfängen der Menschheit gleich, unbesehen der Tatsache, dass mit dem Aufkommen der Kapitalbildung auch die Zeit zur Ressource wurde, jedoch zur ungleich wertvollen oder wertlosen Ressource, je nach dem sozialen Rang der Menschen, deren Existenzzeit als Arbeitszeit gewertet wird, und je nach dem sozialem Prestige der geleisteten Arbeit. Diese ungleiche Wertdefinition der Zeit – denn Arbeitszeit ist Existenzzeit – die seit dem Beginn der Industrialisierung einen ungleichen Existenzwert der Menschen impliziert und die letztlich den sozialen Klassen sowie der damit verbundenen sozialen Ungerechtigkeit zugrundeliegt, hat sich im letzten Viertel dieses Jahrhunderts, in der post-industriellen Zeit, aufs empfindlichste gesteigert.
Obwohl Zeitlichkeit und Räumlichkeit unverfügbare Existentialien sind, wird die Ungleichheit in der Verfügbarkeit von Zeit und Raum für die Menschen von heute immer grösser. Dadurch wird das Zusammenleben immer prekärer. Von neuem baut sich eine ähnliche soziale Dynamik auf, wie Hannah Arendt sie als Voraussetzung für das Zustandekommen totalitärer Verhältnisse analysiert hat. Sie zeigt sich im Entstehen grosser Massen arbeitsloser, um ihre Subsistenz bangender, um ihre Zeit und Handlungskompetenz betrogener und daher durch Ordnungs- und Gewaltrezepte leicht verführbarer Menschen, in der zunehmenden Polarisierung zwischen Eliten, die in wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht das Handeln bestimmen, und Massen, die vom Handeln, das heisst von der Freiheit, ausgeschlossen und zur Passivität verurteilt sind, im Überhandnehmen von Zukunftsangst und von Vertrauensverlust bezüglich der demokratischen Verbesserungsmöglichkeiten angesichts der Schwächung des Nationalstaates durch die globalisierte Wirtschaft und den Markt. Sie zeigt sich in einer wachsenden Unterwerfung des Politischen unter das ökonomische, damit in einem wachsenden Freiheitsverlust generell, der sich nicht zuletzt in einem Verlust solidarischer Modelle des Zusammenlebens zeigt, die letztlich die optimale Erfüllung des Freiheitsbedürfnisses aller, die zusammenleben, auch der Schwächsten berücksichtigen würden. Nicht dass in den Gesellschaften des ehemaligen “real existierenden Sozialismus” diese Optimierung wirklich erreicht worden wäre, auch wenn das Ausmass an Beschränkung in der Verfügbarkeit über Zeit und Raum – die Freiheitsbeschränkung – mehrheitlich gleich war. Das Zusammenbrechen dieses Systems hat jedoch nach 1989 in beinah allen Ländern und Gesellschaften schlagartig zu einem Ungleichgewicht geführt, dessen Auswirkungen zu versteckten ( ökonomischen und sozialen) oder zu offenen (militärischen) Kriegen geführt haben – überall im Einzugs- und Beherrschungsgebiet der ehemaligen UdSSR. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, den wir im westlichen Teil Europas – zwar mit grosser Distanz, wenn nicht gar mit schändlicher Indiflferenz, jedoch noch am nächsten – miterlebt haben, versetzt uns einmal mehr in eine Gleichzeitigkeit der kollektiven Trauer und der geforderten Neuordnung zerstörten Zusammenlebens, nicht nur im ehemaligen, nun kriegsversehrten Jugoslawien, sondern in Europa überhaupt, und verstärkt das Bewusstsein der Hilflosigkeit vor den polarisierenden und lähmenden Auswirkungen falscher, d.h. menschenverachtender Politik überhaupt und überall, auch in den westlichen Ländern.
Eine Krise von diesem Ausmass könnte eine Chance sein, die Bedingungen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit als Bedingungen des Zusammenlebens grundsätzlich zu überdenken, damit aus den durch Profitmaximierungskonzepte entstandenen Aporien des politischen Handelns zu solidarischen Modellen gefunden werden könnte.
Von der Einführung der Sozialzeit zum Zukunftsrat
Der monetär definierte Ungleichwert von Existenzzeit qua Arbeitszeit und die zunehmende Polarisierung durch das Ungleichgewicht in der Verfügbarkeit von Zeit und Raum verstärken, wie ich ausgeführt habe, die Leidensfolgen der Entfremdung. Kollektive Frustrationen und Depressionen – jedoch je individuell erlittene – führen zu einem Ausmass an internalisierter Gewalt (Süchte, Somatisierungen, Suizide) sowie an externer Gewalt, das für das Zusammeneben der vielen bedrohlich wird. Diese vielfache Gewalt ist nicht nur ein Indiz für den Macht- und Handlungsverlust der vielen einzelnen, sondern auch für den überhandnehmenden Sinngebungsverlust. Sinngebung erfolgt durch die Erfüllung der vielfältigen Verhältnishaftigkeit der Existenz in Zeit und Raum, durch deren aktive, verantwortliche Einbindung in das Zusammeneben der vielen. Was als Sinnkrise, ja als Verzweiflung und Sinnleere heute in Erscheinung tritt – bei einem grossen Teil der Jugend wie bei älteren und alten Menschen – , kommt aus dem Gefühl, aus den Verhältnissen als unnütz entlassen worden zu sein, buchstäblich nichts mehr “anfangen” zu können und alleingelassen zu sein. Die damit verbundenen Verlustgefühle lassen das Leiden ander Existenz, das Bewusstsein der Sterblichkeit als ängstigende Fragilität der Existenz (nach Freud den Todestrieb) übermächtig werden. Sinngebung dagegen schafft ein Gefühl der Furchtlosigkeit, wie dies zum Beispiel bei den Frauen in Sizilien, Frauen aus den ärmsten Bevölkerungsschichten, deutlich wurde, als sie den Kampf gegen die Mafia aufnahmen und dadurch aktiv ihre eigene Verhältnishaftigkeit in Zeit und Raum – das Zusammenleben auch für die Zukunft – veränderten.
Da infolge der technischen Innovationen und der wirtschaftlichen Globalisierung die vorhandene Lohnarbeit in unserem Raum nur noch für einen immer kleineren Teil der Menschen als Sinngebungspotential reicht, muss sie neu verteilt werden. Mein Vorschlag ist, dass die Hälfte der heutigen Vollarbeitszeit als Vollarbeitszeit gilt. Dadurch würde die doppelte Anzahl Menschen wieder in den Erwerbsprozess einbezogen, andererseits aber bestände ebenfalls für die doppelte Anzahl Menschen ein ebenso grosses Potential an verfügbarer Zeit: an Sozialzeit. Deren Sinngebung könnte durch die Umverteilung derjenigen Arbeit erfolgen, die bis anhin vor allem durch Frauen als unbezahlte Arbeit geleistet wurde. Die Verhältnishaftigkeit jeder Existenz könnte dadurch aufgewertet und gestärkt werden. Sozialzeit wäre ein wirksames Korrektiv der – seit der Industrialisierung – ausschliesslich monetär erfolgenden Zeitdefinition und der damit verbundenen diskrimierrenden Ungleichwertung von Lebenszeit. Gleichzeitig liesse sich damit, angesichts der notwendigen Arbeitszeitreduktion, eine sinnvolle Zeitanwendung verwirklichen, wobei noch genügend Freizeit ( die leider häufig ausschliesslich als Konsumzeit verstanden wird) verfügbar wäre.
Sozialzeit als – monetär nicht belangbare – gelebte Verhältnishaftigkeit könnte auf relevante Weise das heute bedrohlich brachliegende und ungenutzte Freiheitspotential im Sinn der Verbesserung des Zusammenlebens aktivieren. Der Gewinn für alle wäre grössere Furchtlosigkeit: Furchtlosigkeit gegenüber der eigenen existentiellen Wert- und Unwerterfahrung durch die – scheinbar – übermächtigen marktbedingten Effizienzkriterien, furchtlosigkeit gegenüber der Flüchtigkeit der Zeit, Furchtlosigkeit gegenüber den anderen Menschen. Das Modell der Sozialzeit könnte mithin ein überaus kreatives Potential enthalten: nämlich die Korrektur von Entfremdung, von Existenzentwertung, gesellschaftlicher Desintegration und Gewalt, damit die Korrektur zugleich von Vereinsamung und Vermassung – ein zukunftsfähiges und zukunftskompatibles Modell.
So einleuchtend das Modell ist, so schwierig erscheint dessen praktische Umsetzung. Ist diese überhaupt auf demokratischem Weg vorstellbar? Mir scheint, dass auf eine Einrichtung zurückgegriffen werden müsste, die sich in Zeiten der grossen Umwälzungen gut bewährt hat: das Rätesystem. Dabei müsste es sich um Räte handeln, die ausdrücklich mit der Verbesserung der gefährdeten Verhältnishaftigkeit von Zeit und Raum beauftragt wären, um Zukunftsräte.
Ein Zukunftsrat liesse sich für jeden Betrieb und für jede Gemeinde, aber auch für jede grössere Organisation des Zusammenlebens – selbst für Staaten und überstaatliche Organisationen – vorstellen und einrichten. Die Einführung neuer Zeitnutzungsmodelle – sowohl die Halbierung der Vollarbeitszeit wie die Sozialzeit -, die solidarische Aktivierung heute ausgegrenzter Bevölkerungsschichten, die Verminderung von Gewalt, die Suche um Lösung bei Konflikten, die das Zusammenleben gefährden, die Verhinderung militärischer “Lösungen”, die zukunftskompatible Verwendung der kollektiven oder öffentlichen Finanzen ( etwa in Fragen der Bildung etc.), die Sorge um Böden, Gewässer und Luft sowie um die Nutzung von ( erneuerbaren) Energien, kurz, alles, was das In-der-Welt-sein nicht nur in der absehbaren Gegenwart, sondern auch für die kommenden Generationen verbessert und stärkt, müsste durch den Zukunftsrat – die Zukunftsräte – erwogen, angeregt und eventuell auch umgesetzt werden, in einer vorweg sich etablierenden Kommunikation zwischen den einzelnen Räten. Deren Mitglieder würden in freien Wahlen gewählt ( durch die Belegschaft eines Betriebs, durch die in- und ausländische Bevölkerung einer Gemeinde, eines Staates etc.) und nähmen ihre Tätigkeit als befristetes Mandat wahr, wobei zu etwa gleichen Teilen junge und ältere Menschen, Frauen und Männer, Einheimische und Ausländer/Ausländerinnen den Rat bilden würden. Dessen Grösse sowie die Frist der Mandate müsste je proportional errechnet werden.
Eine Utopie? Kaum. In verschiedenen Variationen wurden ähnliche Modelle schon entwickelt und publiziert (Posner, Ruh). Meiner Ansicht nach handelt es nicht um eine Utopie, nicht um eine fantastische Vorstellung “ohne Ort” (u-topos) und jenseits der Zeit, sondern um ein dringliches Projekt, durch welches die Rückgewinnung des politischen Handelns zuständekäme, auf allen Ebenen, so dass eine Aktivierung der Kultur des Zusammelebens und der breiten, demokratisch wahrgenommenen Verantwortung erfolgen könnte.
III. Teil – Handlungsaporie durch nationale Verweigerungen
Wie dringlich eine Aktivierung der kulturellen Partizipation und der politischen Verantwortung ist, zeigt das Beispiel der Schwweiz. Die Schweiz ist eine zutiefst angstbesetzte Nation. Der konservative Verweigerungsweg, den sie seit Jahrzehnten geht, hat in der Angstbesetztheit seinen Ursprung und seine Handlungsgrammatik. Der Weg der Schweiz hat in eine – sich in letzter Zeit schnell und massiv verengende – Spirale hineingeführt, in der alle Windungen – die sozio-politischen, die wirtschaftlichen, die kulturellen – grösste kollektive Verunsicherungen parat halten. Keine dieser Verunsicherungen ist jedoch eine Überraschung, jede wäre vorhersehbar, ja sogar vermeidbar gewesen, wenn die Verweigerungen nicht als das “richtige Handeln” gegolten hätten.
Ich habe in der kriegsverschonten Schweiz während der Kriegsjahre meine Kindheit verbacht und in der Nachkriegszeit einen Teil meiner Jugend. Alle Kolonisationserfahrungen machte ich in der Schweiz. Von der Herkunft her aber bin ich, nach der pauschalen Genealogie meines Vaters, zu “zwei Dritteln” nicht-schweizerisch. Das Wissen darum liess mich seit der Kindheit zur Beobachterin werden, und ich gab diese Position auch nicht auf, als ich zunehmend zur “femme politique” wurde.
Die Schweiz befindet sich nicht nur in einer immer lähmenderen Wirtschaftskrise, sondern seit dem Herbst 1996 auch in einer politischen Handlungsaporie, die mit ihrer Nicht- Kriegsvergangenheit, mit ihrer Verschontheit zu tun hat. Die Schweiz weiss nicht mehr weiter. Seit dem Kriegsende (vermutlich seit Kriegsbeginn) hat sie ein Selbstbild konstruiert, das sich – endlich – als falsch erweist. Nicht etwa, weil die Recherchen junger Historiker und Historikerinnen, die seit Jahren als Bücher vorliegen, erkenntnismässige und politische Folgen hätten, sondern weil vom Ausland her der Finger auf das trügerische, zerbröckelnde Identitätskonstrukt gelegt wird: weil – zusätzlich zur schon bestehenden Produktions- und Exportkrise – Folgen für den Finanzplatz, für die Banken, drohen. Vom heldischen Mythos bleibt kein Rest mehr. Weder war die Schweiz wirklich humanitär noch rechtschaffen neutral noch erfolgreich wehrhaft – im Gegenteil. Sie hat sich im Vorfeld und während des letzten Kriegs so anpasserisch, profitorientiert und menschlich schäbig verhalten haben, dass heute von offizieller Seite her von Schuld gesprochen werden muss. Ein Teil der Regierung und der Grossteil der Bevölkerung reagiert darauf störrisch – und das heisst, zuerst einmal, generell konservativ identitätsverteidigend, sodann spezifisch konservativ antisemitisch. Das Zerbröckeln der Mythen ist umso ängstigender, als die dadurch verursachte Identitätskrise einhergeht mit Rezession und wachsender Arbeitslosigkeit, mit den Verarmungsängsten auch des Mittelstandes, mit einer zunehmenden Zukunftsangst. Der “Sonderweg” der Schweiz, den der Grossteil der Bevölkerung mit ihren Abstimmungs- und Wahlzetteln gepflastert und für gut befunden hat, erweist sich als Sackgasse. Der heute wieder – spürbar hemmungslose – Antisemitismus hat, denke ich, wie in den Dreissigerjahren, mit den bekannten verhängnisvollen Sündenbockbedürfnissen und Sündenbockreflexen zu tun, die auch in den peinlichen Äusserungen eines Regierungsmitgliedes – des Bundesrats Delamuraz – und eines hochrangigen Diplomaten – des in Washingtin akreditierten schweizerischen Botschafters Jagmetti – zum vorscheintreten.
Um weiterzuwissen, muss man verstehen, warum die offizielle Schweiz (Regierung, Parlament, Behörden und Angehörige der Armee, Nationalbank) und die para-offizielle Schweiz (Industrie, Geschäftsbanken, Versicherungen, Treuhand- und Anwaltsfirmen, die ja alle ihre Interessenvertreter auch im Parlament haben), immer gestützt durch den sog. “Souverän” nicht nur damals, sondern schon vorher und bis heute sich in diese Sackgasse hineinentschieden haben. Für mich sind die folgenden Fragen zentral:
Wann begann die seit langem bestehende Priorität der Wirtschaft vor der Politik und vor allem vor der Kultur? Womit hängt der Verlust des Politischen zusammen – das Aushandeln und Beschliessen aller Geschäfte und Probleme, die das Zusammenleben der vielen verschiedenen Menschen auf innovative Weise optimieren sollten, nach moralischen Kriterien, jenen der grösstmöglichen Freiheit auch der Schwächeren, somit nach Kriterien der Gerechtigkeit? Womit hängt das Überhandnehmen der Wirtschaft – das Handeln nach Kriterien der Besitzwahrung sowie der eigenen Profitmaximierung, nach – mehr oder weniger – amoralischen Kriterien, bei denen die Interessen der Schwächeren keine Rolle spielen, wo daher Grundwerte wie Gerechtigkeit oder gar Solidarität scheinbar gerechtfertigterweise verschwinden? – Mit anderen Worten: Wann gab der politische Liberalismus vor dem Manchester-Liberalismus klein bei, der sich in einer Allianz mit konservativen, ständischen- patriarchalen Interessenvertretungen befindet? Hängt der schweizerische Konservativismus, der nicht nur Öffnungen nach Aussen verhindert hat und weiterhin verhindert, sondern auch die geistige und politische Innovation im Innern der Schweiz (Frauenstimmrecht, Ausländerrechte, Kinderrechte etc.) blockert oder gar verhindert hat, mit dieser Allianz zusammen? – Darf sich der Wert einer Demokratie am Erfolg der Wirtschaft messen? Welche Rolle spielt das Milizsystem unserer Parlamente, das wiederum verfilzt ist mit dem militärischen Milizsystem, beim ständig wachsenden Misstand des Politischen?
Warum kam es in der Schweiz zur massiven Diffamierung der “Linken”, worunter ich das gesamte intellektuelle, künstlerische und politische kritische Potential verstehe? Warum schufen sich die schweizerischen “Intellektuellen” nie die Möglichkeit, wirklich als zivilgesellschaftliches Korrektiv zu wirken? Welche Rolle spielte dabei die Tatsache, dass die Arbeiterbewegung sich vor allem in der Sozialdemokratie institutionalisierte, die mit dem “Arbeitsfrieden”, mit der Einbindung in “Zauberformel” und Konsenspolitik sich selbst der Möglichkeit einer wirksamen demokratischen Opposition beraubte? Hat die institutionalisierte “Linke” selbst zur Diffamierung und Lähmung einer innovativen Linken beigetragen ( Desolidarisierung bei der jahrzentelangen “Kommunisten”hetze etc., Desolidarisierung mit Basisbewegungen etc.)? Spielt das mit, was ein- augenblicklich viel gelesener – Autor die “Unerträglichkeit der Ambivalenz” nennt, warum auch die Linke anpasserisch wurde?
Wie kam es, dass “Kultur” auf so eingeschränkte Weise verstanden wird? – einerseits in Verbindung mit Geld und Besitz, resp. mit Vermögenwerten (man “leistet sich” Kultur: Gemälde, teuere Eintritte zu Starveranstaltungen in der Oper, im Konzertsaal etc), andererseits als “Tätigkeit” einer kleinen, genau definierten Gruppe von Schriftstellern/Schriftdstellerinnen und Künstlern/Künstlerinnen – der “Kulturschaffenden”. Wie hat sich das Kulturmisstrauen des grossen Teils der Bevölkerung, die Verbindung von “Kultur” mit “subversiv” herausgebildet? Welchen Einfluss übte dabei (übt immer noch) auch wiederum das ständisch-konservative Grundmuster unserer Gesellschaft aus, das ja an den öffentlichen Gymnasien und an den Universitäten dominiert?
Hat der hypostasierte Identitätsbegriff der Schweiz die Möglichkeit pluraler, auch aktiver oppositioneller Loyalitäten verhindert? Hängt damit das Grundmisstrauen gegenüber Frauen, Juden, Ausländern, “Linken”, Intellektuellen etc. zusammen? Muss dieser konservativ besetzte Identitätsbegriff in erster Linie analysiert und zur Disposition gestellt werden, damit ein Weg aus der heutigen Aporie gefunden werden kann?
Als optimale Übereinstimmung von möglichst grossem individuellem Nutzen und möglichst grossem allgemeinem Nutzen erscheint heute ein Wert alle anderen in den Schatten zu stellen: Sicherheit. Sicherheit lässt sich nur negativ definieren, nur durch Aufzählung der Verunsicherungen, die es auszuschalten gilt: wirtschaftliche, politische, ökologische, letztlich existentielle Verunsicherungen. Was auf existentieller Ebene einerseits durch kommerzielle Angebote von Versicherungen (gegen Einbruch, Diebstahl, Unfall, Todesfall etc.) angeboten wird, andererseits durch solidarische, gesamtgesellschaftliche Vertragswerke (Alters- und Invalidenversicherung) erkämpft wurde, soll eine Begrenzung der Leidensfolgen der “condition humaine”, d.h. der mit der Zeitlichkeit resp. Sterblichkeit verbundenen Unvorhersehbarkeit bewirken. Auf nationaler Ebene gewährleistet einerseits die Verfassung die Rechtssicerheit der Bürgerinnen und Bürger, andererseits soll gleichzeitig durch institutionelle Massnahmen, etwa durch Polizei, durch Grenzbeamte und durch Armeen, Sicherheit durch Abschreckung oder Ausschaltung irgendwie definierter Feinde garantiert werden. Auch auf transnationaler, etwa auf europäischer Ebene soll Sicherheit ebenfalls durch Abschreckungs-, Eingriffs- und Angriffsmethoden erreicht werden, so durch durch Nato- und Unprofortruppen, zugleich aber durch multinationale Abkommen und Verträge wie diejenigen von Sehengen, von Maastricht, von Budapest und neuestens von Turin. Was aussteht, ist eine transnationale Garantie für die Sicherheit der der personalen und politischen Rechte aller Menschen. Nach wie vor leben Millionen von Kindern, Frauen und Männern allein in Europa – Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten, gesellschaftliche “Marginalisierte”, insbesondere Obdachlose, Langzeitarbeitslose und sog. “drop outs” – in einer Situation der höchst prekären existentiellen Verunsicherung. Es ist daher unsinnig, die Forderung nach Sicherheit allein als reaktionären Diskurs zu bezeichnen und zu verwerfen. Zwar gehen dabei unbestrittenermassen Begehrlichkeiten der unanfechtbaren Eigentums- und privilegiensicherrung miteinher. Gleichzeitig aber handelt es sich um die Notwendigkeit, existentielle Verunsicherung infolge prekärster Lebensbedingungen zu beheben – mithin um eine Forderung, die mit Gerechtigkeit und Schutz der menschlichen Würde zu tun hat. Das zutiefst Erschreckende ist, dass gerade diese Forderung nach Sicherheit vor sozialer und politischer Ausgrenzung von den meisten europäischen Regierungen als Bedrohung interpretiert und definiert wird. Die bis heute vorliegenden europäischen Vertragswerke, welche die Modalitäten transnationaler Sicherheit festhalten, richten sich ja nicht mehr gegen fremde Staaten und fremde Armeen, sondern allein noch gegen Menschen, Menschen, die zu “fremden” Menschen, zu Fremden deklariert werden, weil sie die Erfüllung ihrer Rechte und Grundbedürfnisse ausserhalb der Grenzen ihrer Herkunftsländer einfordern, weil ihre Existenz und ihre Arbeitszeit innerhalb ihrer eigenen Gesellschaft nichts gilt, Migrierende, Arbeitssuchende, Arme, Flüchtlinge vor Gewalt, Hunger und Krieg. Diese werden ausgegrenzt, d.h. hinter die Grenzen einer transnationalen Vertragsgemeinschaft gewiesen, die sich gleichsam wiederum als privaten Wohnraum definiert. Auf verhängnisvolle Weise scheint durch die Hintertür von nationalen und multinationalen Vereinbarungen der Klassenkampf von oben neue “faits accomplis” massiver Ungerechtigkeit durch die massive Ausgrenzung von Menschen zu schaffen: Ausgrenzung innerhalb des sozialen und politischen Raumes mit Hilfe von Gesetzen. Eine europäische Verfassung sollte in erster Linie Sicherheit gegen diese massive Ungleichbehandlung und Ausgrenzung von Menschen garantieren.
Ein zweiter Aspekt von individueller und kollektiver Sicherheit scheint mir grösste Aufmerksamkeit zu verdienen: Dieser betrifft die Sicherheit vor Schadenfolgen aus militärischen, technologischen und ökologischen Risiken. Auch bei dieser Sicherheit geht es um den Respekt vor der Integrität des menschlichen Lebens, der immer und unbedingt gefordert werden muss, im privaten wie im öffentlichen Bereich. Es geht um Sicherheit vor psychischer und körperlicher Gewalt. Diese Sicherheit entspricht ebenfalls einem Grundbedürfnis. Da, wo sie als kollektives Postulat aller Menschen kollektive Räume und Nutzungen betrifft, ist deren Garantie auch durch politische Instanzen zu leisten. Dies betrifft u. a. Sicherheit am Arbeitsplatz, in Fabriken, auf Baustellen und anderswo, Sicherheit auf der Strasse oder in der Luft, Sicherheit vor krankmachender Nahrung, Sicherheit vor Anwendung von Waffen, Sicherheit vor atomarer Verstrahlung – die Aufzählung könnte weitergehen. Der in den letzten fünf Jahren miterlebte Krieg im ehemaligen Jugoslawien, der russische Angriff auf Tschetschenien, die militärische Bedrohung und Dezimierung der kurdischen Bevölkerung, aber auch der in den letzten Wochen vielen Menschen bewusst gewordene Wahnsinn einer rücksichtslosen, nur gewinnmaximierenden Technologie der Tieraufzucht und Tierverwertung, als handle es sich dabei nicht um Kreaturen mit eigenen Bedürfnissen und Rechten, sondern um blosse Materie, sodann das Gedenken an den Reaktorunfall von Tschernobyl vor zehn Jahren mit seinen unsäglichen Leidensfolgen für Generationen von Menschen mögen die dringende Forderung nach Sicherheit vor militärischen und technologischen Risiken heute in den Vordergrund rücken. Diese darf, wenn die jeweilige Medienaktualität vorüber ist, auf keinen Fall wieder einschlafen oder gar vergessen werden. Hier müssen Gesetze dem Missbrauch Grenzen setzen, damit alle Menschen im sozialen Raum ohne willkürliche Begrenzung ihrer physischen und psychischen Integrität geschützt seien.
Die nationale Grenze? Sie ist – abgesehen von den Kontrollposten an der Strasse – von Auge nicht nicht ersichtlich, und trotzdem ist es eine tatsächliche Grenze zwischen zwei Nationen, zwischen zwei Staaten, eine Grenze, um welche Kriege geführt wurden und welche vor noch nicht langer Zeit, vor nur fünf Jahrzehnten, eine Grenze zwischen Leben und Tod war. Die “passeurs” und “passeuses”, welche es wagten, unter eigener Lebensgefahr gehetzte und gejagte Menschen aus einer Situation der tödlichen Bedrohung über die Grenze zu führen, wussten nur allzu gut, wie real sie war. Sie ist es noch heute, wir bezeugen es, indem wir von zwei Seiten auf sie zukommen, von diesseits und jenseits der Grenze.
Jede Grenze ist gekennzeichnet durch ein Diesseits und ein Jenseits, durch ein Hüben und Drüben, durch ein Drinnen und Draussen. Die nationalen Grenzen machen deutlich, dass die Menschen das In-der-Welt-sein tatsächlich räumlich verstehen. Dass sie nach wie vor abgegrenzte Räume brauchen, nicht nur private Räume, sondern auch politische, die zu betreten es eines besonderes Rechts oder einer besonderen Genehmigung bedarf, einer besonderen Identität oder besonderer “Identitätspapiere”. Die Abgrenzung- Eingrenzung und Ausgrenzung – sowohl des privaten wie des politischen, des nationalen Raums soll in erster Linie der Sicherheit dienen. Die “Sicherheit” jedoch, darauf wies ich schon hin, wird ausschliesslich durch Bedrohungsszenarien definiert, die sich aus Differenz und Differenzen konstituieren.
Ich sagte eben, Grenzen hätten immer ein Diesseits und ein Jenseits. Dies unterscheidet sie von Abbruchkanten, auch wenn es sich um innere Grenzen handelt, um Grenzen der Leistungsfähigkeit, um Schmerzgrenzen, um Grenzen des Duldens und Leidens, um Grenzen der Toleranz auch im Politischen, oder um Grenzen des Verstehens, um Grenzen der Sprache. Ludwig Wittgensteins Satz “Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt”, hat seine Richtigkeit. (Da dies von Marcel Schwander in seinem Referat ausführlich illustriert wurde, gehe ich nicht weiter darauf ein). Es gibt Grenzen, die verschiebbar sind wie der Horizont, die Grenze zwischen Erde und Himmel, oder die diffus sind wie die Grenze zwischen Tag und Nacht, die Dämmerung, die durch den langsamen Prozess des Übergangs von der Dunkelheit in die Helligkeit oder umgekehrt jede Art von Räumlichkeit auflöst. Die Abfolge der Variationen von Heller und Dunkler zwischen Tag und Nacht macht deutlich, dass die Fülle von Differenzen es schwierig, wenn nicht gar unmöglich macht, von einer Grenze zwischen dem einen und dem anderen zu sprechen, macht auch deutlich, wie falsch die Redeweise ist, zwei Menschen oder zwei Völker oder zwei Nationen oder Kulturen seien “so verschieden wie Tag und Nacht”.
Damit komme ich wieder zur Identität. Unter “Identität” wird ja so etwas wie eine hypostasierte Gleichheit mit sich selbst verstanden, welche sich durch klare Ungleichheit, durch klare Differenz von einer anderen Identität abgrenze. Wenn von “Identitätspapieren” die Rede ist, welche berechtigen oder ev. nicht berechtigen, eine Grenze zu überschreiten, so müssen wir zu Recht fragen, um welche “Identität”, resp. um welche “Gleichheit” es sich dabei handle. Gleichheit zwischen wem und wem, oder zwischen wem und was. Bei der gleichen Staatsbürgerschaft etwa geht es um ein erwerbbares, ja häufig sogar käufliches Recht, das allein während einer Lebenszeit mehrmals gewechselt werden kann. Es handelt sich somit um eine Variable von ausschliesslich funktionalem Wert. Dasselbe kann von der Religion gesagt werden oder von der so verhängnisvollen und fragürdigen Begriffskonstruktion “Rasse”, ja selbst vom Geschlecht. Jede dieser “Identitätskategorien” weist für jedes einzelne Individuum, das eine oder mehrere davon für sich beansprucht oder das durch eine oder mehrer determiniert wird, eine Fülle von Differenzen auf, nicht nur wenn das ganze Leben von der Geburt bis zum Tod betrachtet wird, sondern selbst wenn nur ein einzelner bestimmter Tag oder ein einzelner bestimmter Moment in den Blick fällt. Immer ist das, was als Identität erscheint, ein Zugleich vielfältigster, ja sogar widersprüchlichster Differenzen im einen und gleichen Individuum. So kann “Identität” eigentlich nur als ständig sich verändernde Summe der Differenzen oder als Prozess verstanden werden. Was allerdings “identisch” ist bei allen Menschen, unabhängig von ihren unterschiedlichen “Identitätspapieren”, ist die existentielle Bedingtheit in Zeit und Raum sowie die gegenseitige Abhängigkeit voneinander in der Stillung der Grundbedürfnisse, wozu nicht zuletzt der Respekt vor der Freiheit gehört.
Die existenzphilosophische Reflexion über die immanenten Grenzen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit einerseits, über die unterschiedliche Deutungsmöglichkeit von Grenzen andererseits (sowohl im Zusammenhang mit Identität und Differenz wie mit der Tatsache der gleichen Grundbedürfnisse aller Menschen), sollte als Grundlage einer politischen Theorie der Demokratie bei der Ausformulierung einer europäischen Verfassunggebung mitberücksichtigt werden. Ich wäre glücklich, sie könnte eine weiterführende Reflexion bewirken, nicht nur hier in unserem Kreis, sondern darüber hinaus dank der Reflexionen und der politischen Arbeit, die Sie in Ihre politische und gesellschaftliche Kreise hinein weitertragen.
Skepsis als Projekt oder Von der Leidenschaft des philosophischen Nichtwissens
Die Infragestellung von Identitätshypostasen hat eine lange Geschichte. Im weitesten Sinn liesse sich sagen, dass es die Geschichte der Skepsis ist, d.h. die Geschichte der Infragestellung des Herrschaftsanspruchs von Personen, von Worten, von Glaubenssätzen, von Theorien und Weltanschauungen. Es ist die Geschichte der Rebellen und der Rebellinnen, mithin die Geschichte der Emanzipation. Unter den vielen, die diese Geschichte geprägt haben, will ich nur einige wenige nennen. Vor allem seit dem Beginn der Neuzeit gab es eine grosse Anzahl Denker und Denkerinnen, welche die programmatische Unterwerfungs- und Zähmungsabsicht identitätsorientierter Weltbilder und damit verbundener Erziehungssysteme (Kolonisationssysteme) durchschauten und kritisierten. So etwa der 1530 in Sarlat im Perigord geborene Etienne de la Boetie, der mit 33 Jahren in Germignan starb, von dem posthum – im Jahre 1577 – ein Buch erschien, vermutlich sein einziges Werk, dessen Titel “Contr’un” oder “Discours de la servitude volontaire” schon Aufruhr verursachte, dessen Inhalt umso mehr. Es ist eine bittere Kritik am mangelnden Widerspruch gegen Unterwerfungsforderungen, die durch Herrschaftsstrukturen vermittelt werden. “Wohl bestimmt die Natur den Menschen zur Freiheit und verleiht ihm den Willen dazu, aber sein Wesen ist so, dass er die Züge trägt, die die Erziehung ihm aufprägte. Daraus folgt, dass dem Menschen alles, wozu man ihn erzieht und gewöhnt, zur zweiten Natur wird”. Daher kommt es zum sklavischen Angleichungsstrebens der Untertanen an den Fürsten, an den “Tyrannen” . “Sie müssen nicht nur tun, was er sagt, sondern denken, was er will und oft noch seinen Gedanken zuvorkommen, um ihn zu befriedigen. Es reicht nicht, ihm zu gehorchen, sie müssen ihm auch noch zu Gefallen sein, (..) sein Vergnügen für das ihre halten, den eigenen Geschmack um seinetwillen aufgeben, ihren Charakter verändern und ihre Natur verleugnen. (..) Heisst das wohl glücklich leben? Heisst das leben?” fragt Etienne de la Boetie. Er stellt fest, dass autoritäre Identitätsforderungen, denen widerstandslos stattgegeben wird, nicht nur die Freiheit, den Geschmack, den Charakter, ja die “Natur” der Menschen pervertieren, sondern zutiefst das Glück, d.h. das wirkliche Leben in Frage stelle
Wichtige Literatur:
Jessica Benjamin. Phantasie und Geschlecht. Studien über Idealisierung, Anerkennung und Differenz. Frankfurt a.M. 1993
- (Hg.) Unbestimmte Grenzen. Beiträge zur Psychoanalyse der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1995
Judith Butler. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1991
Muriel Dirnen. Dekonstruktion von Differenz: Geschlechtsidentität, Spaltung und Übergangsraum, in: Jessica Benjamin. Unbestimmte Grenzen. A.a.O.
Frantz Fanon. Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von J.-P.Sartre. Frankfurt a.M. 1966
Luce Irigaray. Zur Geschlechterdifferenz. Wien 1987
- Die Zeit der Differenz. Frankfurt a.M. 1991
Sarah Kofman. Erstickte Worte. Wien 1988
- Rue Ordener. Rue Labat. Autobiographisches Fragment. Tübingen 1995
Julia Kristeva. Geschichten von der Liebe. Frankfurt a.M. 1989