Über den Stellenwert der Bildung in der heutigen Gesellschaft – Zur Divergenz zwischen Bildung und utilitaristischer Ausbildung – Über das kreative Potential des kritischen Denkens

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Über den Stellenwert der Bildung in der heutigen Gesellschaft

Zur Divergenz zwischen Bildung und utilitaristischer Ausbildung

Über das kreative Potential des kritischen Denkens

INSOS Kongress 13.- 14. September 2005, Park Hotel Waldhaus, Flims

 

 

“Begriff ist Summe, Idee Resultat der Erfahrung;

jene zu ziehen, wird Verstand, dieses zu erfassen Vernunft erfordert.”[2]

 

Verehrte Anwesende,

Vor einigen Wochen sass ich abends an einem runden Tisch mit jungen Frauen und Männern zwischen 35 und 45 Jahren – Juristen, Medizinerinnen, Konzernchefs, Informatikern und Sozialtätigen – und fragte sie, was für sie “Bildung” bedeute. Zwei der Anwesenden waren deutscher Muttersprache, die übrigen stammten aus anderen Kontinenten; das Gespräch wurde auf Englisch geführt. Schnell wurde klar, dass “Bildung” als Begriff nur den Deutschsprachigen bekannt war, jedoch auch von ihnen unterschiedlich verstanden wurde, auch dass sich die nächste begriffliche Verwandtschaft in der chinesischen Sprache herausstellte. Die Diskussion um “Bildung”, dieses deutsche Wort mit unklarer Bedeutung, ging mit vielfachen Bemühungen um eine richtige Übersetzung einher. Dadurch öffnete sich ein Fächer von Antworten: “Bildung” wurde verstanden als gute Fachausbildung mit beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten, als Erziehung nach Wertekriterien von Herkunft und Heimat, als sichere Kenntnis im Verhalten und Umgehen mit aktuellen Lebenszusammenhängen, als gesellschaftlich nützliches Wissen, schliesslich als Kulturbewusstsein. Auf die etymologische  und philosophiegeschichtliche Wortbedeutung von “Bildung” hinzuweisen, erschien mir erst sinnvoll, als das Gespräch, das sich auf persönliche Weise ausgeweitet und vertieft hatte, allmählich verstummte; ich werde auch im heutigen Kontext später darauf eingehen.

Wichtig scheint mir, die Diskussion des heutigen Tages, in welcher es um den  aktuellen Stellenwert von Bildung geht, ebenso vielfältig anregen zu können wie das Gespräch an jenem Abend. Ich beginne daher mit einer gesellschaftsanalytischen These, die Theodor W. Adorno 1963 festhielt:

„Unter den Aspekten der gegenwärtigen Universität, denen gegenüber der Ausdruck Krise mehr ist als blosse Phrase, möchte ich einen hervorheben, den ich gewiss nicht entdeckt habe, der jedoch in der öffentlichen Diskussion kaum die genügende Aufmerksamkeit fand. Er hängt zusammen mit jenem Komplex, der als Divergenz von Bildung und fachlicher Schulung bekannt ist, deckt sich jedoch keineswegs damit.“ [3]

Die Ausgangsthese beruht somit auf einer gesellschaftsanalytischen Diagnose, welche über vierzig Jahre zurückliegt. Laut Adorno handelt es sich um eine Krise, die mit der komplexen Divergenz zwischen Bildung und fachlicher Schulung – resp. Ausbildung – einhergeht, die sich jedoch nicht darauf beschränkt. Die Frage stellt sich in erster Linie, ob diese Diagnose heute noch zutrifft. Falls sie sich bestätigt, gilt es in zweiter Linie die Ursachen der Krise zu hinterfragen, sodann den aktuellen Stellenwert von Bildung zu eruieren.

 

  1. Divergenz zwischen Bildung und fachlicher Ausbildung – eine Krise?

Es lässt aufhorchen, dass Adorno vor mehr als vierzig Jahren von einer “Krise” im Bildungsbereich warnte. Krise (gr. “krisis”) wird von der ursprünglichen Bedeutung her als Höhepunkt einer Krankheit verstanden, in welchem es zu einer entscheidenden Wende kommt: zu einer Verbesserung und Genesung oder zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Als massgeblichen Faktor der Krise wies Adorno auf die in der Öffentlichkeit zu wenig beachtete “komplexe Divergenz zwischen Bildung und fachlicher Schulung” resp. Ausbildung hin und fügte bei, dass das Auseinanderklaffen dieser beiden wichtigen Bereiche der Gesellschaft allerdings nur ein Teil dessen sei, was die Krise verursache.

Die Frage stellt sich, ob und wie die warnende Feststellung, die Adorno zusätzlich begründet hat – ich werde weiter darauf eingehen -, in der heutigen Zeit Beachtung fordert. Wie steht  es mit dem Stellenwert der Bildung heute?

Die jüngst vom Bundesamt für Statistik (BFS) in den Medien veröffentlichte Studie[4] über das schweizerische Bildungssystem im Vergleich mit den übrigen europäischen Ländern weist auf vielerlei positive Ergebnisse hin, jedoch gleichzeitig auf negative, ohne zwischen “Bildung” und “Ausbildung” zu unterscheiden. So wird u.a. aufgeführt, dass bloss 8,1% der Schweizer Jugendlichen  – halb so viele wie im europäischen Durchschnitt – vorzeitig die Ausbildung abbrechen, auch dass unter den Erwachsenen zwischen 25 bis 64 Jahren jede fünfte Person eine Weiterbildung anstrebe; gleichzeitig aber, dass in wichtigen Bereichen, insbesondere im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich, der Anteil Frauen weniger als 15% betrage und somit nur halb so hoch sei wie im übrigen Europa, ebenso schwerwiegend oder noch schwerwiegender, wenngleich anders, dass die Lesekompetenz von beinah 17% der Jugendlichen ungenügend sei. Die Überflutung der Kinder und Jugendlichen durch ständig eingestellte Fernsehgeräte und andere Geräte, insbesondere die psychische Abstumpfung und intellektuelle Verdummung, die dadurch bewirkt wird, bleibt unerwähnt, obwohl sie seit den Achtzigerjahren durch zahlreiche Studien belegt ist[5].

Auf Begleiterscheinungen von Ausbildung und Weiterbildung, auf welche Adorno hinwies, wird in den jüngsten Untersuchungen des Bundesamtes für Statistik nicht eingegangen. Tatsache war schon 1963, dass unter dem Druck vielfacher Wirtschaftszweige Spezialisierung und Technologisierung in den meisten Wissenschaften in einem Mass zugenommen hatten, dass sich – gemäss Adorno’s Feststellung – die professionelle Kompetenz der Hochschulabgängerinnen und –abgänger (und gewiss auch jene anderer Berufsschulen) vor allem durch die „methodische Sauberkeit, allgemeine Kontrollierbarkeit,  den Consensus der zuständigen Gelehrten, die Belegbarkeit aller Behauptungen, die logische Stringenz“ bewies.

Treffen diese Kriterien heute noch zu? Sie haben sich nach meiner Kenntnis eher verschärft als verflüchtigt, zumal “logische Stringenz” auf optimaler Kenntnis der neuesten digitalen Kommunikationstechnologie und deren Anwendungen basiert.

Die Frage stellt sich daher im Sinn Adorno’s, ob es zulässig sei, Ausbildung und Bildung so zu vermischen, wie dies in der jüngsten Studie des Bundesamtes für Statistik geschieht. Adorno monierte, dass durch die ausschliesslich formalen Qualifikationsanforderungen das kritische, auch das selbstkritische Bewusstsein der jungen, hoch ausgebildeten Menschen verloren gehe. Sie würden in erster Linie eine gesellschaftliche „Deckung“ begehren, nämlich „die Deckung durch den institutionellen Wissenschaftszweig“, dem sie sich verschrieben hätten. Zu diesem Zweck „errichten sie in sich eine mehr oder minder freiwillige Selbstkontrolle. Diese veranlasst sie zunächst dazu, nichts zu sagen, was den etablierten Spielregeln ihrer Wissenschaft nicht gehorcht; allmählich verlernen sie, es auch nur wahrzunehmen.“ Adorno kam zum Schluss: „Nicht nur die Fachausbildung, sondern auch Bildung selber bildet nicht mehr. Sie polarisiert sich nach den Momenten des Methodischen und des Informatorischen.”

Adornos kritisches Urteil ist schwerwiegend. Mit seiner Aussage “Bildung bildet nicht mehr” wies er auf jene tragische Zuspitzung hin, die er als Krise diagnostizierte. Doch was bedeuten “Bildung” und “bilden”, wenn in der heutigen Zeit, in welcher die Polarisierung noch enger wurde, die Warnung ernst zu nehmen ist? – wenn denkende Menschen das eigene Denken und das kritische Denken aufgeben, um sich in erster Linie durch Anpassung “gedeckt” zu wissen?

 

  1. Bedeutung des Bildungsbegriffs

II.1. Bedeutung in sprachanalytischer und philosophiegeschichtlicher Hinsicht

In sprachanalytischer Hinsicht ist die Klärung interessant. “Bildung” und “bilden” sind vom deutschen Grundwort “Bild” abgeleitet, das schon im Mittelhochdeutschen unter “bilde”, im Althochdeutschen unter “bilidi”[6] üblich war. Von der Bedeutung her ist “Bild” mit zwei unterschiedlichen Grundbedeutungen verbunden, die sich einerseits im lateinischen “imago”[7], andererseits im griechischen “idea” finden und deren Differenz in den mit Präpositionen erweiterten Worten (z.B. Einbildung; Vorbild etc.) zum Ausdruck kommen.  Die Bedeutung von “imago” und “idea” finden sich in der doppelten Grundbedeutung von “eidos”. Einerseits entspricht “eidos” dem äusserlich Wahrnehmbaren, dem Aussehen, der Gestalt, der Form, insbesondere den Gesichtszügen sowie der schönen Gestalt, ja der Schönheit. In dieser Bedeutung findet sich “eidos” im lateinischen “imago”. Andererseits entspricht “eidos” dem – insbesondere in der platonischen Philosophie verwendeten – Begriff  “idea”.

“Bildung” in der ursprünglichen Bedeutung, wie sie sich in Fortsetzung der Spätantike in Europa etwa vom achten Jahrhundert an zuerst ausschliesslich in lateinischer Sprache zu entwickeln begann und sich über Neuhumanismus und Aufklärung zu einem immer umfassenderen Schulsystem ausweitete und vertiefte[8], ist nach meiner Deutung mit “eidos” – dem griechischen “Bild” – sowohl im Sinn der “vorbildhaften” Form sinnverwandt, wie sie im “imago”-Begriff mit der “Vorstellung” (Imagination) der – laut Goethe – richtigen “Summe” von verstandesmässigem Wissen erhalten blieb, jedoch ebenso mit dem anderen “Bild”, das in “idea” – “Idee” zum Ausdruck kommt , das bei Goethe, wie ich zitierte, sich mit einer “Summe von Erfahrung” verbindet, zu welcher nicht die abstrahierende Kraft des Verstandes, sondern die “erfassende”, verstehende der Vernunft befähigt. Gemäss der platonischen Ideenlehre wird “eidos” in der Bedeutung von “idea” getragen von der Kraft des “eros”, dieser schöpferischen Kraft – bei Hannah Arendt die “Leidenschaft” -, welche aus dem Erfahrungsgehalt des lebensnahen Sinnlichen zum Geistigen strebt, ein schöpferische Kraft, die sich nicht erschöpft, sondern sich ständig erneuert im Hunger, der nach Sättigung strebt – im Liebeshunger, im Entdeckungs-, Erkenntnis- und Wissenshunger, im Gestaltungshunger etc. Dadurch wird möglich, die berechnende Materialität wie die zeitliche Begrenztheit zu überwinden, um den immateriellen, geistigen Wert von Erkenntnis und Wissen an weitere Generationen weiterzuleiten. Schon bei Platon geht dieser Weg vom Lustempfinden im Zusammenhang mit Schönheit über zur Musik und weiter zur Philosophie und zur Mathematik, letztlich zum Denken des Transzendenten resp. der Ideen. Dabei verweist Platon auf die Dringlichkeit, nicht über die Rhetorik, welche überredet, Erkenntnis erlangen zu wollen, sondern über das kritische, dialektischen Denken: einerseits vom Einzelnen zum Allgemeinen (z.B. in der Mathematik), vom Bedingten zum Unbedingten (z.B. in der Physik), andererseits durch alle Zwischenteile vom Allgemeinen zum Besonderen und Einzelnen (z.B. in der Grammatik, in der Logik, überhaupt in der Erkenntnistheorie, im Rechtssystem etc.).

Als Beispiel für die platonische Ideenlehre eignet sich das “Höhlengleichnis”[9], in welchem menschliches Leben und menschliche Erkenntnis bildhaft erklärt werden, mit der Darstellung des menschlichen Wissenshungers – resp. der Bemühungen um grössere Klarheit – unter den Bedingungen der Begrenztheit und der Wahrnehmungstäuschung der in der “Höhle” Eingesperrten. Dieses Streben und diese Bemühungen finden Ausdruck in den “Ideen”. Doch jedes geistige Streben und jede Erkenntnis bedarf, um Ausdruck zu finden, der Sprache; nur was benannt und weiter hinterfragt werden kann, wird zu Wissen. Bei Platon heisst es, dass “wir eine Idee annehmen, wo wir eine Reihe von Einzeldingen mit demselben Namen bezeichnen”.

Dieser Prozess der zeitüberdauernden Weitergabe von Wissenshunger und von Erkenntnis verbindet sich mit dem, was einerseits als “Erziehung”, andererseits als “Bildung” bezeichnet und verstanden wird, was auch in der Vielschichtigkeit von “Kultur” Ausdruck findet. Vielleicht lässt sich gerade im dialogisch-dialektischen Procedere von Erkenntnis, wie es in den Platonischen Schriften vorgegeben ist,  in der europäischen Bildungsgeschichte eine vielfältige, immer wieder erneuerte Fortsetzung finden, von der karolingischen Zeit über Mittelalter und Aufklärung, über Klosterschulen und frühsozialistische Reformen im Schul- und Bildungswesen zu humanistischen und geschlechterspezifischen reformatorischen und revolutionären Veränderungen im vergangenen Jahrhundert, zum Teil bis in die heutige Zeit. Doch die enormen Veränderungen, die mit der industriellen und technologischen Entwicklung sowie den damit veränderten Zeitstrukturen einhergingen und welche sich in jüngster Zeit in einem rasenden Tempo zugespitzt haben, auch eine zunehmende Verarmung der Sprache bewirkt. Was die Menschen erleben, können sie nicht mehr benennen.

Wir werden unsere Aufmerksamkeit daher in erster Linie auf die zunehmende Reduktion von Bildung auf Fachwissen richten, sodann auf die mit der heutigen Entwicklung einhergehenden ethischen, existenzphilosophischen und psychischen Folgen, schliesslich auf eventuelle Korrekturmöglichkeiten.

  1. 2. Veränderung der Bedeutung im Zusammenhang der jüngsten Moderne resp. Post-Moderne

Was Adorno beklagte,  ist die Verwechselung von Bildung mit der Einschränkung von Studium und Wissen auf  segmentiertes und spezialisiertes Fachwissen, das gemäss gesellschaftlich kontrollierten und marktwirtschaftlich instrumentalisierten Nützlichkeitskriterien im Dienst des “digitalen Kapitalismus” aufgesogen wird, wie auch der jüngst mit 66 Jahren verstorbene Peter Glotz festhält[10]. Diese Reduktion von Bildung auf Fachwissen beginnt im heutigen Schulsystem mit früh einsetzenden Kategorisierungen und Spezialisierungen der Kinder und setzt sich mit Absonderungen und Ausgrenzungen über Gymnasialzeit sowie über universitäre und post-universitäre Ebenen auf zunehmende Weise fort. Nicht gutes Fachwissen wird beklagt, sondern die Verwechslung von Fachwissen mit Bildung, welche bewirkt, dass zwar genau definierte Spezialkenntnisse erarbeitet werden, dass jedoch die je persönliche, letztlich ungeschützt auf sich selber gestellte Urteils- und Handlungskompetenz junger und älterer Erwachsener – d.h. deren Befähigung zur persönlichen Verantwortung in den Paradoxien der gesellschaftlichen Erfordernisse und der menschlichen Bedürfnisse – ungenügend oder gar unentwickelt bleibt, da sie den “eros” der eigenen Wissensneugier, das kritische Fragen und Denken unter dem marktregulierten Druck der Anpassung an das Nützliche nicht entwickeln durften, da die meisten auch ihre innere Sprache nicht finden.

Ich möchte mit einem Beispiel erklären, was gemeint sein könnte, ein Beispiel, das ich mir vor acht Jahren notiert hatte und das von der Problematik her weiterhin viele Berufstätige belastet, wie dies im Zusammenhang von – zum Teil jüngsten – Medienberichten, aber auch von beruflicher Supervision immer wieder deutlich wird, wie es auch im vorbereitenden Gespräch über Bildung thematisiert wurde. Es betrifft nicht allein den medizinischen Fachbereich, von welchem das Beispiel handelt, sondern ebenso den asyl- und sozialrechtlichen, den zivil- und öffentlichrechtlichen, den erzieherischen und therapeutischen – letztlich alle Fachbereiche, in welchen persönliche Verantwortung übernommen werden muss..

Am 8. März 1997 war im Lauf der Nachrichten von Radio DRS mitgeteilt worden, dass angesichts des immer heftigeren Spardrucks durch die öffentliche Hand die Mehrzahl der Ärzte und Ärztinnen auf Intensivstationen dringlich ein Gesetz wünschten, das ihre Befugnis zum Abbrechen lebenserhaltender Therapien definiere. Sie verlangten vom Gesetzgeber, dass dieser verbindliche Kriterien formuliere, gemäss derer sie vom persönlich verpflichtenden, hippokratischen Eid entbunden würden. Der Zweck des geforderten Gesetzes bestände darin, sie in formaler Hinsicht von der Pflicht zum persönlichen Urteil, resp. zum persönlichen Entscheid und damit von der persönlichen Verantwortung zu entlasten.

Der hippokratische Eid, Leben zu erhalten, ist die – für die medizinischen Berufe partikulär ausformulierte – positive Fassung des Verbots zu töten. Das Verbot zu töten ist, als universales Verbot, allen staatlichen Rechtsordnungen übergeordnet und verpflichtet die Menschen nicht als Bürgerinnen und Bürger eines Staates, sondern als Vertreterinnen und Vertreter der Menschheit und des Menschseins. Auf dieses, den staatlichen Verfassungen und Gesetzen übergeordnete, universale Verbot zu töten berufen sich, zum Beispiel, die Kriegsdienstverweigerer und nehmen dafür in Friedenszeiten psychiatrische Untersuchungen und richterliche Entscheide, in Kriegszeiten sogar den eigenen Tod in Kauf. Insoweit dieses universale Gebot Teil religiöser Gesetzgebung ist, verpflichtet es die Angehörigen bestimmter Religionen in erster Linie vor Gott. Diejenigen, die nicht aus religiösen Gründen das Töten verweigern, sondern auf Grund der Unvereinbarkeit des Tötens mit dem, was ihr eigenes Urteil für Unrecht hält, stützen sich allein auf ihr persönliches Urteilsvermögen als Rekursinstanz ab.

Nun handelt es sich beim Beispiel der Ärztinnen und Ärzte, deren Konflikte hier thematisiert werden, um den Wunsch nach einem Gesetz, das diese vom berufsspezifischen Schutz, in bestimmten Situationen den menschlichen Tod einleiten zu müssen, entbindet (denn der hippokratische Eid bedeutet auch diesen persönlichen Schutz, nicht nur die Pflicht, Leben zu erhalten). Oder, anders formuliert, die Ärzte und Ärztinnen verlangen nach einem Gesetz, das ihnen den Abbruch lebenserhaltender Massnahmen und dadurch die Beihilfe zum Tod eines Menschen erlaubt, obwohl ihnen der hippokratische Eid dies verbietet. Der Zusammenhang, aus dem heraus dieser Wunsch öffentlich und dringlich formuliert wird, ist eine Paradoxie nach Aristotelischem Muster: Einerseits stehen auf den Intensivstationen unserer Spitäler hoch entwickelte technologische Einrichtungen zur Lebensverlängerung und Lebenserhaltung zur Verfügung, die es erlauben, Sterben und Tod eines Menschen auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben; andererseits verlangt eine auf Effizienz und Kostenreduktion erpichte “öffentliche Hand” (die Regierungen auf kantonaler Ebene oder auf Bundesebene, aber auch die wirtschaftsorientierten Fraktionen in den Parlamenten und deren Verlängerung in den Medien) einen Abbau der Leistungen, ausser diese seien mit einem Vorteil verbunden, z. B. im Zusammenhang der medizinischen Forschung, der Transplantationschirurgie etc.

In dieser Paradoxie “ungeschützt” zu entscheiden, nämlich allein im Rekurs auf das eigene Urteilsvermögen (ev. noch gestützt auf den Wunsch oder den Entscheid der Kranken oder deren nächsten Angehörigen), und für den Entscheid auch die moralische und die öffentliche, eventuell die strafrechtliche Verantwortung zu übernehmen, ist offenbar für die Mehrheit der Ärzte und Ärztinnen eine Überforderung. Der Ruf nach verpflichtenden Richtlinien entspricht dem Bedürfnis nach moralischer und nach strafrechtlicher Entlastung, d.h. nach einem der Zeitentwicklung entsprechenden, vom Verstand gesteuerten Abstraktionsresultat richtigen Handelns. Dass gerade das Gesetz, indem es allgemeine, in erster Linie ökonomisch begründete Richtlinien des Handelns festlegt, neue Paradoxien schafft, weil allgemeine Richtlinien nie allen partikulären menschlichen Situationen gerecht werden können, ist unausweichlich.

Das Beispiel macht deutlich, dass ein hoher Grad an Ausbildung resp. ein unbestreitbares Fachwissen, das heute ohne Zweifel erfordert und zunehmend von unseren Universitäten und Fachhochschulen vermittelt wird, nicht gleichzeitig zu jener Urteils- und Handlungskompetenz befähigt, die erlauben würde, in komplexen Situationen in der Eigenverantwortung – d.h. allein im Rekurs auf das eigene Urteilsvermögen – Entscheidungen zu treffen. Sollte nicht gerade diese Fähigkeit mit Hilfe von Bildung erarbeitet werden?  Adorno zufolge sollte Bildung „eins sein mit dem Widerstand gegen die Verdinglichung des Bewusstseins“. Etwas weiter ergänzt er „Verdinglichung“ mit „implizitem Konformismus“, mit „Vergesellschaftung“ sowie mit „mehr oder minder freiwilligen Selbstkontrolle“. Als Beispiel zitiert er die Klage eines Studenten, dem an der Universität mitgeteilt wurde, er sei dort „um zu forschen[11], nicht um zu denken.“

Hier möchte ich anknüpfen. Wie ist “Widerstand gegen die Verdinglichung des Bewusstseins”  d.h. Widerstand gegen die Verdinglichung des denkenden Menschen umsetzbar? In der Frage verbirgt sich ein wichtiger Aspekt jener Divergenz, die es noch genauer zu thematisieren gilt. Ist Widerstand nicht mehr denkbar? Wie ist Widerstand heute umsetzbar?

 

III.  Widerstand gegen den Verlust von Bildung

III.1. Widerstand  gegen die “Verdinglichung”

Die Kritik Adornos an der von ihm angeklagten „Verdinglichung” des Bewusstseins geschah in einem historischen Kontext, den er als entscheidend für die Zukunft beurteilte und der in der heutigen Situation zunehmend verdrängt wird. Für die Entwicklung der über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombombe wie für die Entwicklung und Produktion der chemischen Waffen hatten hervorragende Forscher ihr Fachwissen zur Verfügung gestellt, ohne dass sie sich Rechenschaft darüber gaben, dass ihre wissenschaftliche Erkenntnis – dass letztlich sie selber – zu tödlichen Zwecken instrumentalisiert wurden. Adorno mochte damit auch die Mitverantwortlichen in Biologie, Anthropologie, Medizin und weiteren Wissenschaften in den Labors des Dritten Reichs meinen, die zum Teil in die Konzentrations- und Vernichtungslager integriert waren, aber auch jene in den übrigen kriegführenden Ländern, welche das Ausblenden des kritischen Denkens, das Nichtzulassen des Zweifels, letztlich die Instrumentalisierung des Denkens zu destruktiven Zwecken mittrugen.

Dass denkende Menschen sich zu einem Zweck einsetzen liessen resp. einsetzen lassen, den sie nicht hinterfragten resp. nicht hinterfragen, macht nicht nur die inhumane Umsetzung von jeder Art von Forschung, von Fachwissen und beruflicher Tätigkeit möglich, sondern auch die scheinbare Unbeteiligtheit bis zur persönlichen Schuldloserklärung der verantwortlichen Beteiligten: sie wissen, was sie tun, aber sie wissen nicht – resp. wollen nicht wissen – was sie mit der durch ihre Ausbildung gesteuerten Arbeit bewirken, die sie auf Grund ihres Wissens oder ihrer Funktion tun.

Der heute übliche internationale „Handel“ mit begabten jungen Menschen aus allen naturwissenschaftlichen, kommunikations- und produktionstechnologischen Disziplinen, deren Ab- und Anwerben durch hochdotierte Industrielaboratorien ist nicht nur ein „brain-drain“ ihrer Herkunftsländer und geschieht gewiss nicht zu deren persönlichen Förderung, sondern ist zweck-, resultat- und profitgebunden. Die technologisch und fachspezifisch gut ausgebildeten jungen Frauen und Männer werden zu spezifisch einsetzbaren, austauschbaren „brain-tools“ gemacht, zu “Denk-Werkzeugen”, die, analog zu den Computern, hinter welchen sie sitzen, in einer virtuellen Welt und in virtuellen „networks“ für eine bestimmte Zeit eine bestimmte Funktion erfüllen. Alle ihre übrigen Bedürfnisse, alle konkreten Beziehungen, auch die Verpflichtungen, die daraus resultieren, kurz, die Tatsache, dass sie als Menschen in eine „Welthaftigkeit“ hineingeboren wurden, wie Hannah Arendt sagte, all dies wird sekundär. Indem sie sich zum „brain-tool“ machen lassen, werden sie – in Adornos Sprache – „verdinglicht“, instrumentalisiert, austauschbar gemacht, gleichgeschaltet und roboterisiert, wie gescheit und wie hervorragend ausgebildet sie auch seien, und ohne dass sie dagegen opponieren. Ihr beruflicher Erfolg geht tatsächlich einher mit der “Verdinglichung” ihrer selbst. „Sie errichten in sich eine mehr oder minder freiwillige Selbstkontrolle. Diese veranlasst sie zunächst dazu, nichts zu sagen, was den etablierten Spielregeln ihrer Wissenschaft nicht gehorcht; allmählich verlernen sie, es auch nur wahrzunehmen“. Widerstand zu leisten ist dringlich, Widerstand durch diejenigen, welche unter der Vorgabe ihres eigenen Erfolgs benutzt werden, Widerstand zu verunmöglichen. Wie lässt sich Freiheit zurückgewinnen, wenn sie nicht über das Denken eingeübt werden kann? Ist es nicht eine Frage der zugestandenen Zeit?

 

III. 2. Widerstand gegen den Verlust realer Zeiterfahrung

Als ich Adornos kritische Überlegungen und die ungelösten Fragen erwog, die uns heute bewegen, erinnerte ich mich an die langen Gespräche mit Paul Virilio[12], die ich 1995 in Paris als Ergänzung zur Auseinandersetzung mit seinen zeitkritischen Schriften[13] mit ihm führte. Virilio, der sich selber als “Dromologen” versteht, als Geschwindigkeitstheoretiker, ging nicht nur seit Anfang der Achtzigerjahre als luzider Analytiker auf die Folgen der masslosen Zerstörung und Vernichtung in der jüngsten Kriegs- und Nachkriegsgeschichte ein, in welcher die schrankenlos gewordene Technologie sich zunehmend zur globalen Diktatur entwickelte. Er befasste sich vor allem mit den Auswirkungen des Verlusts von realer Zeiterfahrung auf die Menschen selber, auf deren Beziehung zu sich selbst sowie auf die Beziehung der Menschen untereinander. Zunehmende Entfremdung und Vereinsamung stellte er fest, seit mit dem Erreichen der Lichtgeschwindigkeit in der Telekommunikation und mit der Simulationstechnik jede Art von Distanz und Nähe gleichgeschaltet sind. “Diese gewaltigste Steigerung der Geschwindigkeit kehrt den Fortschritt in sein Paradox um: die Menschen bedürfen keiner Fortbewegung mehr, um sich zu sprechen, um einander zu sehen und einander zu hören; es genügt, dass sie sich vor einen Bildschirm setzen, um sich an irgend einem Punkt der Erde zu befinden. Die Menschen sind überzählig geworden: infolge der computerisierten Produktionstechniken als Arbeiterinnen und Arbeiter, infolge der Fortschritte in der Telekommunikation als Reisende, überzählig wurden sie sodann infolge der In-vitro-Befruchtung als Zeugende. Selbst als Liebende werden sie überzähling infolge der virtuellen Realität des Cybersex”.

Paul Virilio’s Prognose ist bitter. “Da mit der Lichtgeschwindigkeit eine absolute Grenze erreicht wurde, die nicht weiter überschritten werden kann, wird sich Fortschritt in Zukunft nur noch im virtuellen Raum abspielen. Die Virtualität wird das Tummelfeld technologischer Weiterentwicklung sein” und er greift eine Bemerkung Franz Kafka’s aus einem Brief an Milena auf: “Es sind Erfindungen, die im Absturz gemacht werden.” Es gibt keine keine intellektuelle Distanz in Paul Virilio’s zeitanalytischen Untersuchungen; Trauer ist spürbar, gleichzeitig Aufbegehren und Widerstand. Denn was real bleibt, was nie virtuell ist, ist das Leiden der einzelnen Menschen. Und ebenso real bleibt die Gewalt. Gewalt nimmt überhand, weil ihre Realität durch die Masslosigkeit mit Virtualität verwechselt wird, da die real gelebte Zeit wertlos wird. Doch solange Menschen denken, darf nicht Resignation überhand nehmen. Paul Virilio erscheint “ein haushälterisches Umgehen mit der Geschwindigkeit dringlich. Wissen muss Bildung werden.” Er vergleicht unsere Zeit mit jener der römischen Dekadenz, die elektronischen Spiele mit den spätrömischen Angeboten von “panem et circenses”, Ablenkungsangebote wie Drogen, die zur Gewalt führen, sowohl wegen der demütigenden Inaktivität wie wegen der demütigenden Tatsache, dass anstelle von Realität eine Ersatzspielzeug – ein ‘gachet’ – angeboten werde. “Immer, wenn eine Art überflüssig wird, wird sie für Spiele missbraucht. Seit die Pferde überflüssig sind, gibt es das Hippodrom. Die Menschen werden ins ‘Homodrom’ abgeschoben. Die jungen Menschen müssten sich gegen diesen Missbrauch zur Wehr setzen.”

Es ist nicht ein Befehl, es ist ein hypothetischer Imperativ, mit welchem Paul Virilio die jungen Menschen aufruft, sich zur Wehr zu setzen, sich gegen Masslosigkeit und gegen Sprachlosigkeit, gegen die Entfremdung von der Wirklichkeit, gegen den Verlust der real gelebten Zeit aufzulehnen. Er selber hat sich nie auf den Elfenbeinturm des abstrakten Denkens zurückgezogen, sondern nahm Teil an sozialen Widerstandsbewegungen, im Bewusstsein, dass, was zur Zeit der Industrialisierung durch die überhandnehmende maschinelle Produktion mit den Arbeiterinnen und Arbeitern geschah – der Zeitdruck und gleichzeitig das Entweder-Oder von maschineller Anpassung und Schweigen oder von Unnützerklärung -, seit der Digitalisierung und Virtualisierung von Kommunikation, von Produktions-  und Forschungsarbeit mit den Intellektuellen geschieht – unter analogen Bedingungen. “Sei still!” habe immer als Gebot autoritärer Bevormundung gegolten, erinnerte sich Paul Virilio im Gespräch. Doch – muss es befolgt werden? In einem Buch mit Aufsätzen[14], das damals- 1995 – eben in Frankreich erschienen war, ging er auf eine Warnung Heraklits ein, dass es wichtiger sei, Masslosigkeit zu löschen als einen Brand zu löschen[15]. Aus dem Entweder-Oder auszusteigen ist dringlich, doch wie? “Es bedarf eines neuen Rhythmus”, hielt Paul Virilio in unserem Gespräch fest. “Man müsste die Rhythmologie erfinden, ja die Intelligenz für den Rhythmus entwickeln. Das heisst, dass wir den Sinn fürs Mass wiederfinden müssen. Ereignisse, die früher vielleicht ein ganzes Leben ausfüllten, geschehen heute in einem Jahr oder noch schneller. Das nützt ab.”

 

III.3. Widerstand gegen tempobedingte Abnützung und Zukunftsangst

Zeitdruck nützt tatsächlich ab. Zeitdruck führt zu Atemlosigkeit, zu nervlichen Anspannungen und Belastungen, zu Schlafstörungen, zu ständiger Unruhe und Müdigkeit, zu Kopfschmerzen und Nackenschmerzen, zu Verdauungsproblemen und weiteren körperlichen Folgen dessen, was als Stress-Syndrom bezeichnet wird. “Tempo-tempo”, war die Klage unter dem maschinellen Zeitdruck, “Stress” ist die Klage der Menschen – oft schon der Kinder und Jugendlichen – unter dem Zeitdruck der heutigen Lebensbedingungen, seien es die privaten oder die Studien- und Arbeitsbedingungen, welche mit dem inneren Zeitrhythmus der Menschen in keiner Übereinstimmung sind. Stress, dieses neurologisches Syndrom, das sich in den Abnützungserscheinungen äussert, beruht fast immer auf psychischen Ursachen, die auf die “soma”, den Körper übertragen werden.. Tief  im Menschen verklammerte Ängste nehmen überhand und werden gleichzeitig zu verdrängen versucht: die Angst, nicht genügen zu können, nicht mehr nützlich zu sein, den Lebenswert verloren zu haben. Es ist ein vielfacher Mangel an innerer Sicherheit, der sich in der Angst ausdrückt, an Beziehungssicherheit zu sich selbst und zu anderen Menschen, an Zeitsicherheit, letztlich an Lebenssicherheit.

Wenn Angst nicht mehr warnende und dadurch schützende Kraft ist, die sich bei Abzug von Gefahr wieder verflüchtigt, sondern den Menschen zu beherrschen beginnt, wird Zukunft zur Leere oder zum Albtraum. Tatsächlich ist Zukunft auf Grund der nicht erwägbaren Schnelligkeit der Entwicklung noch weniger vorhersehbar oder planbar wie früher. Für die einen Menschen gilt daher, Absicherungen zu konstruieren, Vermögen zu stauen, Häuser zu bauen, Versicherungen abzuschliessen etc. Für andere erscheinen als einzige Gegenmassnahme Flucht- und Rückzugsangebote umsetzbar zu sein: Flucht in Theorien und Ideologien mit Wahrheitsanspruch, in Drogen oder in drogenähnliche Pharmaceutica, in blinde und oft lebensgefährdende Leistungssteigerungen (sei es im Erfolgswettkampf im Beruf, im Sport, in politischen Gruppierungen bis zur Teilnahme an Strassengewalt oder an Selbstmordattentaten etc.), Flucht auch durch Teilnahme an Massenevents (ob in Street-Parades, Totenfeier oder Besuch eines Papstes, Auftritt eines Pop-Sängers etc.), oft einfach Flucht in die abstrakte, virtuelle Ersatzwelt.

Gibt es nicht andere Möglichkeiten? Paul Virilio’s Hinweis auf Heraklit ist ein Zeichen. Doch wie kann ein Wissen über die Geschichte menschlicher Macht und Machtlosigkeit geweckt werden und wach bleiben, wenn das Schulsystem auf allen Ebenen sich zunehmend von der Bedeutung von Bildung entfernt? Wir wissen, dass jede Art von Ausbildung zu beruflichen Funktionen führt, in welchen Handlungsentscheide erfordert sind. Die Verantwortung, die damit einhergeht, kann auch in der heutigen Zeit nur getragen werden, wenn ein neuer Rhythmus des Denkens das Selberdenken und das bewusste Denken ermöglicht. Anstelle von “stress” kann “attention” resp. Aufmerksamkeit spürbar werden, eine Sorgfalt im Beachten der Folgen von Handlungsentscheiden, welche auch tragbar sein könnten, wenn sie ertragen werden müssten. Das Bewusstsein von Reziprozität (“recus” – rückwärts, “procus” – vorwärts), das sich dabei äussert, beruht auf dem Wissen um die zwischenmenschliche Abhängigkeit, d.h. auf dem Wissen, dass die in vielen Zusammenhängen nicht wählbar gewesene und nicht korrigierbare Vergangenheit im schmalen Zeitübergang, der Gegenwart heisst und der Handlungsentscheide ermöglicht oder verlangt, die Zeit, die kommen wird, mitgestaltet – für einen selber ebenso wie für andere Menschen in deren Gleichzeitigkeit.

Es ist tatsächlich nicht leicht, kluge und vernünftige Wahlmöglichkeiten zulassen zu können, wenn vor allem jene der digitalen Telekommunikation gelernt wurden. Trotzdem ist das je persönliche Leben eines Menschen auf individuelle Weise im Sinn der Reziprozität gestaltbar, wenn Freiheit nicht Willkür bedeutet, sondern als Grundbedürfnis verstanden wird, das demjenigen anderer Menschen entspricht und als Grundrecht umsetzbar wird. Freiheit konkretisiert sich am klarsten in den Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Art und Weise zu leben, letztlich sinnvoll zu leben. Bildung sollte – entsprechend der Forderungen Virilio’s – hinsichtlich der Wahlmöglichkeiten einen Halt an Wissen anbieten können.

 

  1. Bildung braucht einen neuen Stellenwert
  2. 1. Ein neues Überdenken des “praktischen Imperativs”

Damit komme ich zum letzten Teil meiner Überlegungen. Im kritischen Potential des Selberdenkens liegt die Befähigung zum Nein-Sagen gegen Verdinglichung, gegen Zeitdruck und Zeitraub, gegen menschliche Vereinsamung und Zukunftsangst, letztlich gegen alle Formen der eigenen Instrumentalisierung sowie gegen diejenige anderer Menschen. Selberdenken und Bildung sind wechselseitige Ergänzung von Aktualität, Fundament und Entwurf, ein dialogisch-dialektisches Vorgehen, das nicht in der Leere steht, nicht in trügerischer Utopie und ebenso wenig in imaginativen Fluchtparadiesen. Es bieten sich in Bibliotheken und in Brockenhäusern, vielleicht im eigenen Büchergestell, vor allem in Gesprächen mit anderen Denkenden Möglichkeiten an, die das kritische Fragen und Suchen nicht ablehnen, sondern neue, für die Aktualität brauchbare Interpretationen zulassen. Bevor ich abschliesse, werde ich kurz auf zwei Denkangebote hinweisen, die ich ausgewählt habe, unter unzählig vielen, und die dazu beitragen können, die Divergenz zwischen Bildung und Ausbildung zu lösen.

Dazu eignet sich u.a. Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Dass unter den Bedingungen der Jetzt-Zeit wieder gelesen und diskutiert wird, was mit dem praktischen Imperativ gemeint ist, ermöglicht mit dem Halt an Bildung den Widerstand gegen Verdinglichung, den Adorno fordert. Kant begründet mit der 1788 erstmals veröffentlichten Begründung des praktischen Imperativ zugleich das Instrumentalisierungsverbot wie die Universalität der Maxime[16]. Universalität bedeutet weltweite Gültigkeit, bedeutet, dass das gleiche Gebot, als Mensch nicht als Mittel benutzt zu werden, für den Menschen sich selbst gegenüber gilt wie jedem anderen Menschen gegenüber. Auch geht damit einher, dass jeder Mensch, wo immer er sei, welcher Herkunft und welchen Standes er auch sei, welchen Beruf oder welche Funktion er ausübe, sich selbst und andere nicht zum Mittel machen darf – nicht “verdinglichen” darf -, allein auf Grund des gleichen Menschseins in der individuellen Besonderheit jedes Menschen.

Interessant ist, dass Kant in seiner Begründung des Instrumentalisierungsverbots auch positiv die „Beförderung“ des  Zwecks formuliert. Dieser besteht in der „Glückseligkeit“ des einzelnen Menschen, oder, wie er etwas später schreibt, in dessen „Würde“. Kant erläutert ausführlich, was er darunter versteht: die Beziehung allen Handelns auf das „Reich der Zwecke“, das sich durch das Selberdenken und durch das selber gesetzgebende Entscheiden und Bestimmen des Handelns konstituiert, so dass jene innere Ruhe spürbar wird (der “Rhythmus” im Sinn Paul Virilio’s) , die er auch „Moralität“ nennt. Er versteht darunter die Befähigung des Menschen, Erkennen und Denken, Urteilen und Handeln so auszurichten, dass kein Schaden zu erleiden ist. In dieser inneren Ruhe, wofür Kant abwechselnd die Begriffe „Glückseligkeit“, „Würde“ und „Moralität“ braucht, trifft die Erfüllung des praktischen und des kategorischen Imperativs aufeinander (BA 76, 77). Indem der einzelne Mensch den praktischen Imperativ erfüllt, handelt er so, dass die Norm oder die „Maxime“ seines Handelns auch für alle anderen Menschen gelten könnte, d.h. dass er die Folgen der Handlungsentscheide anderer Menschen ertragen könnte.

In Kant’s ausführlichen Erläuterung des praktischen Imperativs findet sich die Grundstruktur jener Werte, die ich im Zusammenhang der Reziprozität erläutert habe. Es bedürfte für das richtige Handeln keiner zusätzlichen Gesetze, wie die Ärzte und Ärztinnen auf den Intensivstationen schon vor acht Jahren forderten, es bedürfte keiner Vielzahl partikulärer Regelungen oder Gesetze, wenn die Grundwerte des Menschseins durch die gesellschaftlichen Bedingungen geschützt wären, d.h. wenn das Instrumentalisierungsverbot von Menschen durch Menschen von der frühen Kindheit an in allen Beziehungsstrukturen, auch im Schul- und Bildungssystem, auf stärkende Weise umgesetzt würde. Damit das Zusammenleben der Menschen – der Handlungsfähigen und der von Hilfe Abhängigen, der Starken und der Schwachen etc. –  erträglich, gegenseitig fördernd und nicht missbräuchlich ist, bedarf es tatsächlich der Besinnung auf die grundsätzliche Befähigung jedes Menschen zum Selberdenken. Es bedarf der selbstverantwortlichen Umsetzung des damit verbundenen Grundbedürfnisses und Grundrechts, das Freiheit bedeutet. Freiheit kann/darf nicht ein Privileg weniger Einzelner sein. Grundbedürfnisse und Grundrechte sind für alle Menschen dieselben, auch wenn die Fähigkeiten und Umsetzungsmöglichkeiten der Fähigkeiten sehr unterschiedlich sind. Was Bildung beinhaltet ist der optimale Respekt vor der je individuellen Entfaltung und Förderung jeder Besonderheit, gemäss des gleichen Wertes, der jedem Menschen auf Grund seines Menschseins inne ist.

 

III.3. Den “amor mundi” entfalten

Noch ein Aspekt  erscheint mir wichtig, damit der heutige Stellenwert von Bildung gestärkt werden kann. Es ist der politische Aspekt, der mit der Bedeutung von Kultur einhergeht, die sich mit jenem von Bildung deckt. Es ist die Zustimmung, als denkender Mensch Teil der “polis” zu sein, somit in einer Mitverantwortung für das aktuelle und künftige Zusammenleben der vielen zu stehen. Ich gehe dabei auf Hannah Arendt ein; vieles, was schon erläutert wurde, wird von ihr bestätigt.

Unter ihren nachgelassenen Fragmenten findet sich eine Schlussbemerkung zur Vorlesung, die sie an der Universität von Berkely im Frühjahr 1955 hielt[17]. Darin gibt sie ihrer Klage über das “Anwachsen von Weltlosigkeit” Ausdruck, über die sich ausbreitende “Wüste in der Welt”, wodurch zwei wichtige, unverzichtbare Vermögen der Menschen bedroht seien: “das Vermögen der Leidenschaft und des politischen Handelns”. Es sind jedoch diese Vermögen, die dazu befähigen, das “Anwachsen der Wüste” zu verhindern und, wie Hannah Arendt schreibt,  “Oasen zu schaffen“, d.h. Räume, in denen Menschen zusammenleben können unter Bedingungen der Pluralität und unter Bedingungen der Kultur, welche die gegenseitige, wechselseitige Berücksichtung und „Pflege“ (cultura) der so schnell verletzten Menschenwürde bedeutet.

Gemäss Hannah Arendt definieren die Bedingungen von Kultur und Pluralität das politische Handeln in der Aktualität wie in der Geschichtlichkeit. Diese Bedingungen, die sich mit jenen von Bildung decken, gestatten den Menschen, dass sie sich dank ihrer Fähigkeit zum Selberdenken und zur Infragestellung des Gegebenen, mithin zum Konsens wie zum Dissens, immer wieder neu in die Gestaltung des Zusammenlebens einmischen können. Hannah Arendt sieht hierin die Möglichkeit der Korrigierbarkeit des Getanen, wodurch das Getane zwar nie ungetan wird, wodurch aber die Geschichte – d.h. der Ablauf der Zeit und der vielen Leben in dieser Zeitgenössischkeit – eine andere Wendung nehmen kann. Gerade die Korrigierbarkeit bedarf  der Freiheit, mithin des persönlichen Urteils und des politischen Handelns in der Auseinandersetzung mit den Gesetzen, welche die allgemeine Rahmenbedingung für gelebte Freiheit schaffen. Und die “Leidenschaft”, fragt Hannah Arendt? Es geht um die suchende und schöpferische Kraft des “eros”, die sich in der Grundbedeutung von Bildung findet. Hannah Arendt selber verbindet mit “Leidenschaft” den  – nicht-theoretischen, sondern sich im Handeln äussernden – “amor mundi”, die Kraft der bedingungsfreien Zustimmung zu dem, was die Menschen untereinander verbindet, zum „inter-esse”, dem Bezugsgeflecht zwischen den Menschen, dem gemeinsamen Da-sein, eine Kraft, die sich ebenso in der Kritik, im Widerstand gegen Instrumentalisierung und in der rückhaltlosen Ablehnung der “weltzerstörerischen” und menschenverachtenden Gewalt äussert, die jedoch Indifferenz und Eskapismus, d.h. den Verzicht aufs Selberdenken, ausschliesst.

Hannah Arendt ist sich des Widerspruchs, der mit der Notwendigkeit von Gesetzen und dem Handeln des einzelnen Menschen verknüpft ist, bewusst und thematisiert diesen Widerspruch in mehreren ihrer Werke. Dabei verweist sie immer wieder auf die Schriften Platons, resp. auf die sokratische Theorie des richtigen Handelns. Gültige und tragende Massstäbe des richtigen Handeln, auf dessen Entscheidungsproblematik in der heutigen Zeit wir eingingen, sind auch bei Hannah Arendt nicht einfach durch die kritiklose Befolgung von Gesetzen gewährt, sondern durch das – leidenschaftliche – Wagnis des persönlichen Urteils, wenn nötig gegen das Gesetz. Für die sorgfältige Abwägung, woran sich richtiges Handeln misst, ist allein das Verhältnis zwischen Ich und Selbst massgebend, allein die Zustimmung zu sich selbst, allein der Friede mit sich selbst. Diese innere Übereinstimmung konstituiert die moralische Handlungskompetenz, die Kant in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ erarbeitet hat und auf welche Adorno, Hannah Arendt und Paul Virilio immer wieder hinweisen. Hierin findet sich letztlich das Befähigungsziel von Bildung.

Ich komme zum Schluss: Bildung kann nur den Wert der ursprünglichen Bedeutung wieder erlangen und jede Art von Ausbildung als kritische Grundlage des Lernens und des Umsetzens von Wissen unterstützen, wenn in gesellschaftlich-politischer Hinsicht der utilitaristischen Verdinglichung des Schul- und Bildungssystems entgegengewirkt wird: Kinder und junge Menschen sollen wieder einen Rhythmus des Lernens, des Studiums und der Umsetzung von Wissen erleben dürfen, der sie von der virtuellen Ebene löst und mit der Reziprozität menschlichen Lebens verbindet. Die Verwechslung der gesellschaftlichen und staatlichen Kriterien mit jenen von Firmen geht einher mit der Verwechslung der Bildungskriterien mit utilitaristischen Ausbildungszwecken, welche die von Adorno beklagte “Verdinglichung” der Menschen, deren Austauschbarkeit und Verschleiss bewirken, auch deren Überforderung in Fragen der persönlichen Verantwortung von Handlungsentscheiden. Das Politische verbindet sich mit sozialer Verantwortung, mithin mit Bildung. Ohne Bildung entbehrt es des kritischen Denkens, das erfordert ist, um die Organisation des Zusammenlebens der Menschen in der damit verbundenen Pluralität und Komplexität so zu realisieren, dass es ein Zusammenleben aller in Freiheit und im Bewusstsein der Reziprozität von Grundbedürfnissen und Grundrechten ist. Freiheit kann nicht gewährleistet sein, wenn Angst vor der Zukunft die Menschen beherrscht, wie dies aus unterschiedlichen Gründen heute bei einem zunehmenden Bevölkerungsanteil der Fall ist.

All dies begründet die dringliche Erfordernis, dass die Grundlage von Fachausbildungen Bildung ist. Das zum verantwortlichen Handeln befähigende persönliche Denken kann nicht erst im Erwachsenenalter vermittelt und gelernt, gefordert und ausgeübt werden. Dessen Einübung, analog zur Kenntnis und zum Gebrauch der Grammatik in der Sprache, setzt Fragen und Denken, Kritik und begründeten Widerspruch, damit Respekt vor der Meinung selbst der Kinder voraus. Bildung sollte daher wieder zu einer prioritären gesellschaftlichen Aufgabe erklärt werden, damit der verhängnisvollen “Verdinglichung” der Menschen im Dienst hoch technologisierter, virtueller Kriterien und masslos entgrenzter Zielsetzungen  eine aufbauende Korrektur entgegenwirken kann.

Zürich, Anfang September 2005

[1] Dr. phil.; Philosophie, Psychoanalyse, Traumatherapie (geb. 1940)

[2] Johann Wolfgang Goethe. Gedanken (Maximen und Reflexionen). III. Zur Naturforschung.  Goethes Werke. 12. Bd. S. 115. Hrsg. Ernst Merian-Genast. Verlag Birkhäuser, Basel 1944

[3] Theodor W. Adorno „Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung“, in: Eingriffe. Frankfurt a.M. 1963, S. 54 – 58. (Alle Adorno-Zitate sind aus diesem Essay).

[4] 10. August 2005

[5] cf. M. Foucault, P. Bourdieu, A. Glucksmann, R. Barthes, J. Baudrillard, N. Postman u.a.m.

[6] Friedrich Kluge. Etymologisches Wörterbuch, Strassburg 1915. Gemäss Kluge ist nicht nur “Bild”, sondern auch “billig” vom althochdeutschen “biliti – bilôthi (bildadi)” abgeleitet.

[7] In den aus dem lateinischen abgeleiteten Sprachen mit der Bedeutung von “Imagination” (neben den Mittelmeersprachen auch in Englisch), in der deutschen Sprache unter “Einbildung” auch wieder mit “Bild” konnotiert.

[8] Manfred Fuhrmann. Bildung. Europas kulturelle Identität. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 2002

[9] Platon. Sämtliche Werk, Bd. 3. Politeia, Siebentes Buch, 514a – 517b. Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg 1963

[10] Peter Glotz. Die beschleunigte Gesellschaft. Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus. Verlag Kindler, München 1999.

[11] Forschung betrifft quantifizierbares und vergleichbares, heute über elektronische Medien kommunizierbares Wissen, dessen fragmentierte Ergebnisse aus den einzelnen Laboratorien und Instituten sich untereinander ergänzen, falsifizieren oder verifizieren, das sich zur Entschlüsselung komplexer Bereiche und zur interdisziplinären Anwendung anbietet. Forschungsarbeit ist ohne Zweifel erfordert. Aber sie genügt nicht.

[12] zum Teil erschienen in der Wochenendausgabe des Tages-Anzeigers, 9.-10. 12. 1995

[13] In dt. Sprache a) im Merve Verlag, Berlin: Fahren, fahren, fahren…1978 – Geschwindigkeit und Politik, 1980.- Der reine Krieg, 1984. – Ästhetik des Verschwindens, 1986. – Die Sehmaschine, 1989.- Das irreale Momument. Der Einstein-Turm, 1992. – Revolutionen der Geschwindigkeit, 1993. b) im Carl Hanser Verlag, München: Rasender Stillstand, 1989. – Der negative Horizont, 1989.- Krieg und Fernsehen, 1993. c) im Benteli Verlag, Bern: Das öffentliche Bild, 1987.

[14] Paul Virilio. La vitesse de libération. Edition Galilée, Paris 1995

[15] Heraklits Aussage (lebte ca. 533-483 v.Chr.) findet sich tatsächlich bei Hermann Diehls. Fragmente der Vorsokratiker, Weidmann Verlag 1903/ 1951 (Hrsg. von Walther Kranz), S. 160.

[16] Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Werkausgabe Bd. VII. Insel Verlag, Wiesbaden 1958

[17] Von Ursula Ludz herausgegeben in “Was ist Politik?”, Verlag R. Piper, München 1993

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