Weder Parias noch Parvenus – Zu Emanzipation, Assimilation und Antisemitismus

Weder Parias noch Parvenus – Zu Emanzipation, Assimilation und Antisemitismus

 

Am 30. Mai 1920 schrieb Franz Kafka an Milena Jesenska seinen 24. Brief. Er hatte die tschechische Journalistin, die damals mit dem Bankkaufmann Ernst Pollak verheiratet war und mit diesem in Wien lebte, 1919 im Prager Café “Arco” kennengelernt, in welchem die Literaten verkehrten. Sie hatte ihm angeboten, seine Erzählungen ins Tschechische zu übersetzen, was zu einer grossen Liebe führte. Im erwähnten Brief schrieb Kafka: “Die unsichere Stellung der Juden, unsicher in sich, unsicher unter den Menschen, würde es über alles begreiflich machen,  dass sie nur das zu besitzen glauben dürfen, was sie in der Hand oder zwischen den Zähnen haben, dass ferner nur handgreiflicher Besitz ihnen Recht auf Leben gibt und dass sie, was sie einmal verloren haben, niemals wieder erwerben werden, sondern dass es glückselig für immer von ihnen wegschwimmt.” Die Briefe folgten sich immer hastiger und drängender, häufig mehrere am Tage, auch als Telegramme oder gar per Kurier geschickt, in sofortiger Erwartung einer Antwort.

Im November 1920 schrieb Franz Kafka an Milena Jesenska seinen 294. Brief. Darin hielt er fest: “Ich habe eine Eigentümlichkeit, die mich von allen meinen Bekannten nicht wesentlich, aber graduell sehr stark unterscheidet. Wir kennen doch beide ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden; ich bin, soviel ich weiss, der westjüdischste von ihnen, das bedeutet, übertrieben ausgedrückt, dass mir keine ruhige Sekunde geschenkt ist, nichts ist mir geschenkt, alles muss erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit, etwas, das doch jeder Mensch vielleicht mitbekommen hat, auch das muss erworben werden, das ist vielleicht die schwerste Arbeit, dreht sich die Erde nach rechts – ich weiss nicht, ob sie das tut – müsste ich mich nach links drehen, um die Vergangenheit nachzuholen. (….) Es ist etwa so, wie wenn jemand vor jedem einzelnen Spaziergang nicht nur sich waschen, kämmen usw.  müsste – schon das ist ja mühselig genug -, sondern, da ihm vor jedem Spaziergang alles Notwendige immer wieder fehlt, auch noch das Kleid nähen, die Stiefel zusammenschustern, den Hut fabrizieren, den Stock zurechtschneiden usw.  Natürlich kann er das alles nicht gut machen, es hält vielleicht paar Gassen lang, aber auf dem Graben z.B. fällt alles auseinander und er steht nackt da mit Fetzen und Bruchstücken. Diese Qual nun, auf den Altstädter Ring zurückzulaufen! Und am Ende stösst er noch in der Eisengasse auf einen Volkshaufen, welcher auf Juden Jagd macht.”

Für Franz Kafka, der sich als den “westjüdischsten aller Westjuden” bezeichnet, sind alle Errungenschaften der Assimilation ungeeignet, Sicherheit vor antijüdischen Ressentiments und Angriffen zu gewährenleisten. Was sorgsam zusammengeschustert und zurechtgeschneidert als Besitz aufgebaut wird, was scheinbar Sicherheit verleiht, ist in der schonungslosen, gewöhnlichen Öffentlichkeit, auf der “Gasse”, wie Kafka schreibt, kein genügender Schutz, ist letztlich nichts wie ein Fetzen, unter dem “der Jude” als Objekt der Verfolgung erkennbar bleibt. Ein Witz aus der damaligen Zeit gibt dasselbe wider. Einer, der sich taufen liess, beschwichtigt seinen Freund: “Schau, innerlich ändert sich ja nichts”. Worauf der Freund antwortet: “Aber äusserlich auch nichts”. Kafka spürt, dass die Assimilation ein Verlustgeschäft ist. Ob es sich um um die Masken der äusseren Erscheinung handle, in der Parabel um Kleid, Stiefel, Stock und Hut, in der gesellschaftlichen Realität um Besitz, um Geld, um Titel, Häuser, um bürgerliche Rechte und Ansehen, oder um die inneren Verfügbarkeiten, um die inneren Besitztümer – um Gegenwart und um Zukunft -, nichts kann all dies letzlich wettmachen, was im Lauf der Assimlation verloren ging, was “für immer glückselig wegschwimmt”: die Vergangenheit und damit das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Volk, zum jüdischen Volk.

Franz Kafka wurde dieser Verlust schlagartig bewusst als er den Schauspieler Jizchak Löwy kennenlernte und mit Löwy die ganze Gruppe von Schauspielern aus Lemberg, die 1912 in Prag gastierten. Mit grosser Klarheit erkannte Kafka, was die westjüdische und die ostjüdische Existenz unterschied, obwohl beide der Bedrohung durch antisemitische Angriffe ausgesetzt waren: im Westen richtete sich die Bedrohung jedoch gegen die vereinzelten Individuen, die, wie Kafka es klar spürte, trotz der staatsbürgerlichen Rechte, trotz des gesellschaftlichen Aufstiegs, trotz des Reichtums als Juden  schutzlos waren; im Osten aber gegen das Volk, das, vor allem seit dem Krisenjahr von 1881 und den sich verschärfenden Pogromen, jede Hoffnung auf staatsbürgerliche Rechte verloren hatte und von dem sich gerade damals um die Jahrhundertwende ganze Gemeinden, riesige Gruppen zum gemeinsamen Exodus nach dem Westen, vor allem nach Amerika, aufmachten. (Nicht von ungefähr war es ein in Russland geborener ostjüdischer Historiker, Simon Dubnow, der eben damals die Geschichte des jüdischen Volkes als Geschichte der sich über Jahrhunderte fortsetzenden Austreibungen und Wanderungen schrieb, eine Geschichte in zehn Bänden, die in der Zwischenkriegszeit in Berlin erschien. Dubnows Wunsch, nach dem damaligen Palästina auszuwandern und an der 1925 in Jerusalem gegründeten Hebräischen Universität als Historiker zu lehren, blieb unerfüllt. Zwar hatte er schon 1922 die Sowjetunion verlassen und sich in Berlin niedergelassen, wo sich damals an die 300’000 russischen Emigranten befanden, doch 1933 wurde Simon Dubnow  auch von Berlin  wieder verjagt. Über achtzig Jahre alt, wurde er 1941 im Ghetto von Riga bei einer Razzia durch die Nazis getötet: sein Leben ist ein Beispiel der Gleichzeitigkeit von Assimilation, von individuellem Weg und von unausweichlicher Verstrickung in das Los des Volkes).

Weder schrieb Simon Dubnow nur für sich noch spricht Kafka in den Zeilen, die ich zitiert habe,  nur für sich. Kafka repräsentiert eine ganze Generation, die Generation der in den achtziger Jahres des 19. Jahrhunderts geborenen westjüdischen Intellektuellen, jene städtischen, der materiellen Sorgen enthobenen Zeitgenossen, deren Assimilation an die – bürgerliche Gesellschaft – scheinbar fugenlos gelungen ist, die jeden Beruf, jede Karriere ergreifen und ausüben können, deren Väter es schon zu wirtschaftlichem oder intellektuellem Ansehen gebracht haben, die ohne Einschränkungen quer durch Europa reisen, von denen etliche sogar in ihren Ländern in hohen Regierungsfunktionen anzutreffen sind und von denen viele am grossen, eben zu Ende gegangenen  Krieg, dem I. Weltkrieg, an allen Fronten in den Reihen der Deutschen, der Österreicher oder der Franzosen  als wahre Patrioten teilgenommen haben, ununterscheidbar von den übrigen Patrioten: jene Generation, die sich ein schönes Kleid – ja eine Uniform (ein identisches Kleid) –  zurechtgeschneidert hat, eine auf den ersten Blick präsentable Gegenwart. Doch letztlich, stellt Kafka fest, ist eine Gegenwart ohne Vergangenheit ein dürftiger Besitz, zumal von der Vergangenheit die Verunsicherung geblieben ist. Die Assimilation hat sie nicht aufgehoben, sondern lediglich auf die einzelnen Individuen überwälzt und hat diese dadurch noch verletzbarer gemacht. Hannah Arendt hat in ihrem Buch “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” nachgewiesen, dass die Juden,  indem sie nun  überall in der Gesellschaft gegenwärtig waren, indem sie zu allen Berufen und Schichten Zugang hatten und in wichtigen Bereichen – im Finanzwesen, im Handel, in der Wissenschaft, im Geistesleben  – Spitzenpositionen einnahmen, dass sie trotzdem von der Masse der nicht-jüdischen Bevölkerung nicht als angepasst und damit als “gleich”, sondern als Konkurrenz und als Bedrohung empfunden wurden. Damit steigerte sich der antisemitische Rassismus zur Volksbewegung auch im Westen, genährt durch pseudo-wissenschaftliche biologische, medizinische und psychologische Theorien und durch populistische Hetzschriften, die schon in den zwanziger Jahren, wie Hitlers “Mein Kampf”, ein unmissverständliches politisches Programm anzeigten.

Bevor ich näher auf diese Dialektik eingehe, will ich kurz die Grundlagen, dieVoraussetzungen und die Ziele der Assimilation rekapitulieren.  Berthold Rothschild hat die verschiedenen Merkmale und Stufen der Assimilation herausgearbeitet. Erlauben Sie mir, dass ich  nochmals den Unterschied zwischen Assimilation und Emanzipation deutlich mache. Die beiden Begriffe stehen für ganz und gar verschiedene Phänomene.  Formal gesehen war die rechtliche und soziale Emanzipation der Juden, d.h. die Befreiung aus der “mancipatio” , wörtliche aus der “Behändigung” resp. aus der Unfreiheit (ein Begriff aus dem römischen Zivilrecht, der die Freilssung des Sohnes aus der Herrschaft des Vaters bedeutete, die Freilassung in die Selbständigkeit resp. Mündigkeit), mithin die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung eine Hauptforderung der europäischen Aufklärung. Diese Gleichberechtigung konnte jedoch erst durchgesetzt werden, als in den verschiedenen europäischen Staaten eine komplexe geistesgeschichtliche und politische Entwicklung erreicht war, die den allgemeinen Forderungen der Aufklärung entsprach: der Säkularisierung und Liberalisierung des Staates überhaupt, das heisst der Trennung von Kirche und Staat. Erst dann konnte das Postulat der gleichen Staatsbürgerschaft für alle Einwohner eines Landes, unabhängig von Religion und Stand, Aussicht auf Erfolg haben. Wiederum formal gesehen hätte die Emanzipation der Juden nicht notwendigerweise zu deren Assimilation führen müssen, wie sie geschehen ist, sondern hätte sich in einem anderen gesellschaftspolitischen Modell realisieren können, etwa dem der gleichberechtigten Integration der verschiedenen Religionsgruppen, bei dem die spezifischen religiösen und kulturellen Eigenheiten nicht hätten aufgegeben werden müssen. Warum dieses Modell keine Chance hatte, werde ich zu erklären versuchen.

Geistesgeschichtlich liegen die Anfänge der Emanzipation bei John Locke’s “Letter concerning toleration” von 1684, wo es in der Hauptsache um die Gleichberechtigung der Katholiken mit den Anglikanern ging. Dass in einem Nebensatz auch die Gleichstellung der Juden mitverlangt wurde, war quasi die notwendige Konsequenz aus der philosophisch begründeten Defintion des säkularen Staates. John Locke’s kleine Schrift hatte noch keine praktische Folgen, zeigt jedoch eine Veränderung des Denkens an, das sich allmählich klarer herauskristallisierte. Der in Ungarn geborene Soziologe und Historiker Jacob Katz hat in seiner 1933 abgeschlossenen Dissertation nachgewiesen, dass diese Kristallisation und damit der Wendepunkt in der geistesgeschichtlichen Vorbereitung der Emanzipation um 1780 herum erfolgte. (Die Dissertation von Jacob Katz wurde vom Frankfurter Professor Georg Küntzel, einem zwar rechtstehenden, aber liberalen deutschen Historiker, 1933 angenommen, nachdem Karl Mannheim, der die Arbeit angeregt hatte, infolge der nationalsozialistischen Machtübernahme und der sofort durchgesetzten rassistischen Gleichschaltungsgesetze als einer der ersten akademischen Lehrer an der Universität Frankfurt von seinem Lehrstuhl entfernt worden war).

Die rechtliche Emanzipation wurde den Juden jedoch nicht einfach gewährt, sie mussten sie auch selbst wollen, und dies war gar nicht selbstverständlich. Rechte zu verlangen, statt um Duldung zu bitten war etwas Neues, das bedingte einen Lernprozess. Noch 1744, bei der Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Prag, hatten sich die Hofjuden aus ganz Deutschland zusammengeschlossen, um durch Vermittlung ihrer Fürsten bei Maria Theresia nicht um Rechte, sondern um Gnade für ihre Glaubensbrüder und -schwestern nachzusuchen.

Auch noch dreissig Jahre später, 1777, anlässlich der Ausweisung der Juden aus Dresden, intervenierte Moses Mendelssohn in der gleichen Tonart. Doch schon nach Ablauf von fünf Jahre, im Jahre 1782, sah Mendelssohn die Zeit gekommen, um nicht mehr nur Toleranz, sondern gleiche Rechte für die Juden zu fordern. In der Einleitung zum damals neu aufgelegten, von Marcus Herz übersetzten  Buch von Menassem ben Israel aus dem Jahre 1656 “Rettung der Juden” setzte Mendelssohn sich klar für die Einbürgerung der Juden ein. Seine Forderung begründete er ausführlich im darauffolgenden Jahre, 1783, in seiner Schrift “Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum”.

Mendelssohns Schrift verursachte grosses Aufsehen. Sie war durch drei Ereignisse vorbereitet worden: Dies waren Gotthold Ephraim Lessings dramatische Dichtungen “Die Juden” von 1749 und “Nathan der Weise” aus dem Jahre 1779, dann Christian Wilhelm Dohms Buch “Über die bürgerliche Verbesserung der Juden” von 1781, schliesslich, 1782, das Toleranz-Patent von Kaiser Joseph II. in Österreich. Während Lessing im ersten erwähnten Werk, einem Lustspiel, als humanistisches Vorbild einen Juden darstellte und im zweiten die ununterscheidbare Richtigkeit und damit die Gleichberechtigung der drei monotheistischen Religionen vertrat, schlug Dohm vor, dass sich der Staat allen Religionen gegenüber neutral verhalten und daher die Juden zu Staatsbürgern machen solle, worauf sich diese in sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht allmählich der nichtjüdischen Bevölkerung angleichen würden. Dohm formulierte und begründete somit nicht nur die Emanzipationsforderung, sondern zugleich ein Assimilationsprogramm. Joseph II. dagegen wollte, als aufgeklärter Herrscher, lediglich seine Bereitschaft bekunden, auch die Juden  – wie die übrigen Minderheiten in seinem Vielvölkerstaat – zu seinen ständigen Untertanen zu zählen, resp. sie zu integrieren. Das habsburgische Modell war damals in Europa ein einzigartiges Modell des multikulturellen Zusammenlebens.

Dass für Moses Mendelssohn Vision einer Verbindung von Judentum und  – staatlich gesicherter – persönlicher Freiheit Baruch de Spinoza Vorbild war, haben Sie von Berthold Rothschild schon gehört, auch dass Spinoza, weil er sich in seiner philosophischen Arbeit nicht durch religiöse Zensur einschränken lassen wollte, 1656 von der Amsterdamer Gemeinde mit dem Bann , dem Cherem, belegt worden war. Doch trotz dieser – innerjüdischen – Ausgrenzung war für ihn die Taufe nicht eine Option einer anderen Integration. Er hing einer Vision der Emanzipation nach, nicht der Assimilation. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts aber, als ein richtiges Tauffieber durch die westjüdischen Gemeinden ging, wurde Spinoza fälschlicherweise als Vorkämpfer  der  Assimilation, der Assimilation um jeden Preis, hochstilisiert. Ein grosser Anteil dieser missverständlichen Deutung fiel dabei dem Religionsphilosophen Samuel Hirsch zu, ein anderer dem Schriftsteller Berthold Auerbach, der nicht nur eine Biographie Spinozas verfasste, sondern auch einen  Spinoza-Roman. Darin schreibt er, dass der Augenblick, in welchem der grosse Denker der Differenz mit der gläubigen Amsterdamer Gemeinde gewahr wurde, den Schritt in die Freiheit, den eigentlichen Fortschritt, bedeutete: “Baruch war nicht  mehr der Sohn Israels, er war der Sohn der Menschheit.” Auerbach selbst versuchte, diesem Vorbild nachzueifern. Als ihm ein Sohn geboren wurde, liess er ihn weder beschneiden noch taufen, sondern lud zu einer Feier der Menschwerdung ein. Er glaubte an das allmähliche Entstehen einer “Republik der Menscheit”, deren erster Bürger sein Sohn sein sollte. Allerdings blieb es auch Berthold Auerbach nicht erspart, noch kurz vor seinem Tod aus dem Traum erwachen zu müssen, als die Wellen der Stöcker’schen Judenhetze auch ihn erreichten. In einem Brief beklagte er sich bitter, dass er doch sein ganzes Leben nur deutsch gefühlt habe und deutsch gewesen sei, und nun heisse es zum Schluss: ‘Pack dich, Jude, du hast bei uns nichts zu schaffen’.”

Doch nun zur Assimilation: Ich möchte auf drei Aspekte hinweisen, von denen zwei schon durch Berthold Rothschild ausgeleuchtet wurden: (a) In erster Linie war die Assimilation eine Forderung der nicht-jüdischen Gesellschaft an die Juden, ihre Erkennbarkeit, ihre Eigenheiten und Bräuche, letztlich die Ausübung ihrer Religion aufzugeben, quasi als als Preis für die Emanzipation, d.h. für die Gewährung der politischen Gleichberechtigung (wenngleich diese Gleichberechtigung – sowohl in Frankreich wie in Preussen  – bei veränderter politischer Lage zeitweise wieder rückgängig gemacht wurde). Diese Forderung beinhaltete, dass, wer zur “affluent society” gehören wollte, sich anpassen musste. (b) Die Assimilation war jedoch auch, in zweiter Linie, ein Desiderat  breiter jüdischer Kreise, ein Bedürfnis ungezählter Männer und Frauen, welche die Schmach der erkennbaren Ausgrenzung, des erkennbaren “Andersseins,  nicht länger ertragen wollten und die bereit waren, für eine schnelle Remedur, das heisst für das “Eintrittsbillet in die Gesellschaft”, wie Heine schrieb, für die Möglichkeit des gesellschaftlichtlichen Aufstiegs jeden Preis zu zahlen und jede Art von Anpassung vorzunehmen. (c) Die Assimilation war aber noch mehr. Sie war – drittens – das Erscheinungsbild einer aufklärerischen Utopie, eines festen Glaubens, dass mit der Überwindung der Religionen – aller Religionen, nicht nur des Judentums, sondern auch des Christentums -, nicht nur diskriminierende Differenzen verschwänden, sondern der Fortschritt der Menschheit notwendig eintreten würde (Mendelssohn etc. Auerbach etc.).

Um die Jahrhundertwende liess es sich allerdings nur noch mit geschlossenen Augen an diese Utopie glauben, nur indem die Realität, wie sie war, verdrängt wurde. Was Kafka als seine eigene Angreifbarkeit und Verletzbarkeit diagnostizierte, war ja, wie ich schon sagte, die westjüdische “condition” überhaupt, das heisst die “condition” der damaligen assimilierten, gehobenen jüdischen Schichten in den westlichen Metropolen, insbesondere in Paris, Berlin, Wien und Prag, aber auch in Bordeau und Lyon, in Frankfurt und Leipzig, in Hamburg, Budapest und Amsterdam. Allerdings war Kafka besonders dünnhäutig und misstrauisch. Es war tatsächlich so, dass viele seiner Zeitgenossen damals anderer Meinung waren und den Glauben an die Utopie auf keinen Fall aufgeben wollten. Das Ausmass ihrer Gefährdung wurde ihnen erst bewusst, als der verminte Boden, auf dem sie so unangefochten zu stehen meinten, eingebrochen war. So etwa Stefan Zweig, der die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg das “goldene Zeitalter der Sicherheit” nannte, in welchem, wie er schrieb, alles auf Dauer gegründet erschien, wo der Staat selbst oberster Garant der verbrieften Rechte zu sein schien, wie er 1942, kurz vor seinem Freitod im Exil, in seinen Erinnerungen “Die Welt von gestern”, festhielt. In der Zeit seiner Jugend im habsburgischen Wien glaubte er, im Gegensatz zu Kafka und trotz der massiven antisemitischen Stimmung und Manifetationen in Wien, an die sicherheitsstiftende, schutzstiftenden Funktion des Besitzes, sowohl des Besitzes an Rechten wie an Vermögen. Er glaubte unerschütterlich an die Kraft der Assimilation, an dieses “immer ungeduldigere Streben, sich einzuleben, sich einzugliedern in die Völker, sich aufzulösen ins Allgemeine, (…) um nur Frieden zu haben vor aller Verfolgung, Rast auf der ewigen Flucht”, wie er schrieb. Zu spät erkannte er, nicht nur er, sondern mit ihm die grosse Zahl der Intellektuellen, der Geschäftsleute, Wissenschafter und anderer deutscher, holländischer, französischer, tschechischer, österreichischer und sonst sich nach ihrer Nationalität bezeichnender Frauen und Männer, die meinten, ihr Judentum längst abgelegt zu haben und “eingeschmolzen zu sein in die anderen Völker”, wie Zweig schrieb, dass sie – buchstäblich – einem u-topos- einem Traum ohne Ort, nachgehangen haben, ja dass sie mit ihrem “immer ungeduldigeren Streben”  alles andere als “Frieden vor aller Verfolgung” ernteten.

Bei den Generationen, zu denen Kafka und Zweig gehören, hatten die Urgrossväter zumeist noch die Schmach der Ausgrenzung – das Leben als “Parias” – gekannt, und die  Grossväter die ständig gefährdete Labilität des Ausnahmeerfolgs – die sozialen Bedingungen als “Parvenus”. Es handelt sich somit um Frauen und Männer der dritten und weiteren Generation nach Erlangung der bürgerlichen Rechte, die weder das eine noch das andere mehr sein wollten, weder Parias noch Parvenus. Dieser Wille war es, der vor allem ihren  Assimilationswillen beflügelte, jedoch auch wiederum auf sehr verschiedene Weise. Berthold Rothschild hat die Unterschiede der Akkulturation, der Integration und der Dispersion deutlich gemacht. Doch innerhalb dieser Assmilationsformen gab es wiederum viele individuelle Variationen, Es gab  Männer und Frauen, die, wie Kafka, sich ein Leben ausserhalb des Judentums nicht vorstellen konnten, die jedoch unter der “condition juive” litten, trotz aller emanzipatorischen Möglichkeiten. Daneben gab es andere, die gewillt waren, das Judentum über Bord zu kippen wie ein ausgetragenes, schäbiges Kleid, im Glauben an die Kraft der eigenen Definition als Staatsbürger irgend einer Nation, als Europäer, als Mensch. Sie waren bestrebt, sich eine neue Identität zu schaffen, traten, wie schon mehrmals gesagt, zum Christentum über – wie dies schon im 19. Jahrhundert Ungezählte getan hatten, zum Beispiel die Nachkommen von Moses Mendelssohn, oder Rahel Varnhagen, Heinrich Heine, auch die Familie Wittgenstein, aus welcher der Philosoph Ludwig Wittgenstein stammte, um nur einige Namen zu nennen. Wiederum andere bekannten sich als religionsfreie, aufgeklärte jüdische Staats- und Weltbürger, wie zum Beispiel  Sigmund Freud, Karl Kraus, Walter Benajmin, Hannah Arendt und viele mehr. Dabei gerieten viele in einen grossen  und nicht auflösbaren Zwiespalt, indem sie den Schritt zum Übertritt ins Christentum hin und her erwogen und doch vor der Taufe zurückschreckten, so etwa Franz Werfel oder Simone Weil. Einige rutschten selber ins antisemitische Lager, jedoch selten aus Kalkül und oder aus Anbiederung, die meisten aus quälendem, zerstörerischem  Selbsthass, wie etwa Otto Weiniger, Maximilian Harden, Rudolf Borchardt oder Kurt Tucholsky, auch Simone Weil.

Theodor Lessing hat in seinem 1930 (im Jüdischen Verlag, Berlin) erschienenen Buch “Der jüdische Selbsthass” versucht, diese persönliche Tragik als eine Folge der Assimilation aufzuschlüsseln. Sein Buch ist – sowohl im erläuternden Teil wie in den sechs illustrierenden Lebensgeschichten – eine verzweifelte Klage und Anklage wegen der über Jahrhunderte von den Toten auf die Lebenden weitergegebenen Erfahrungen ständiger Demütigung und Ohnmacht. Klage und Anklage gipfeln in Auflehnung, die jedoch, gerade wegen der tradierten Ohnmacht, sich nicht nach Aussen, sondern nach Innen richtet: als Selbstzerstörung. Bei Theodor Lessing wird deutlich, dass der Selbsthass die Kehrseite, die Verweigerung der Utopie ist, dass hier der Glaube an eine mögliche Verbesserung der “condition juive”, letztlich an eine “Erlösung” in Zynismus umschlägt.“Nun aber stelle ich mich schützend vor den missborensten und ärmsten Sprössling des Ghetto”, schreibt Theodor Lessing, “und richte an die nichtjüdische Welt einige Fragen: Wisst ihr, was es bedeutet, dem Boden fluchen, darauf man wachsen muss?  (…) Wisst ihr, was es heisst, schlecht geboren sein (…), ohne dass wir doch nur zur Welt kommen wollten, so zur Welt und in eine solche Welt? (…) Auch der Elendeste atmet als Blatt des lebenden Waldes. Sein Volkstum trägt ihn. (…). Der Jude steht draussen. Sein Volkstum war während Jahrhunderten ein kleiner stiller See, der immer in Gefahr war, in Sumpf zu verschlicken. Keiner war bei ihm als seine Toten, und deren Sprache hatte er verlernt. Keine Erde trug ihn, keine Geschichte entsühnte ihn, keine Bildung war seine. Sein Held war der Dulder. (..) Wie kommt es, dass alle Menschen sich selber lieben, und nur der Jude liebt sich selber so schlecht? Wäre er unter Leidensgenossen, so wäre er im Zusammenbruch unter seinesgleichen. Aber er ist im schwersten Schicksal allein. Dann aber kommt mit anwachsender Selbsterkenntnis früher oder später und meistens entsetzlich früh die grausame Stunde, wo der frevelhafte Kampf der Pflanze wider ihren Boden umschlägt in eine bittere Selbstzerklüftung.” (Theodor Lessing, der hellsichtige, unerschrockene Warner vor dem völkischen Ungeist und vor der brutalen braunen Gewalt, wurde ein halbes Jahr nach den Reichtagswahlen von 5. März 1933 in seinem Exil im tschechischen Marienbad durch gedungene Mörder ermordet; nachdem auf seinen Kopf ein “Fanggeld” von achtzigtausend Reichsmark ausgesetzt worden war).

Allerdings waren nicht alle, die sich vom religiösen Judentum abgewandt hatten, die aber zugleich der Assimilation misstrauten, von der tödlichen Krankheit des Selbsthasses befallen. Zahlreiche Zeitgenossen, die, wie Kafka, spürten, dass die Assimlation nichts wie ein Firnis war, der über Nacht Sprünge bekommen konnte, die auch den sich verhärtenden Antisemitismus als echte Bedrohung wahrnahmen, vor allem nach der Dreyfus-Affaire in Frankreich in den neunziger Jahren, benützten die durch die Emanzipation erlangten Rechte und Freiheiten dazu, das Judentum in eine neue Gestalt zu überführen. Sie gründeten und engagierten sich in verschiedenen jüdischen Sammelbewegungen, auf die Berthold Rothschild schon hingewiesen hat: So entstand der  politische Zionismus Theodor Herzls, bei welchem auch die Pflege des Hebräischen oder die Ausbildung in Alijah-spezifischen Fertigkeiten, etwa in der Landwirtschaft, identitätsstiftend waren; sodann der Kulturzionismus, der ebenfalls die Alijah nach Erez Jisrael befürwortete, sich dabei aber auf  ostjüdische Kultur- und Gläubigkeitsmodelle konzentrierte, unter dessen Vertretern und Vertreterinnen etwa Martin Buber zu nennen ist oder Kafkas Freund Max Brod. Eine weitere Sammelbewegung war der Bundismus, der die Verbesserung der jüdischen Kondition nicht in der Emigration und schon gar nicht in der  – bürgerlichen – Assimilation sah, sondern in der bewussten Verwirklichung sozialistischer Ziele sowie in der selbstbewussten Pflege des Jiddischen; unter den vielen Anhängern und Anhängerinnen, vor allem in Polen,  ist zum Beispiel der junge Leo Jogiches, Rosa Luxemburgs grosse Liebe, zu nennen. Weiter bildete sich damals der sog. Neue Territorialismus, zu dem sich zum Beispiel Alfred Döblin in seiner Jugend bekannte (später, nach dem Krieg, trat er zum Katholizismus über), eine Bewegung, die den nationalen Zusammenschluss der Juden, das heisst grosse nationale jüdische Ansiedelungen nicht nur im damaligen Palästina, sondern überall in der Welt anstrebte, so etwa  in Uganda oder in Peru. Vor allem ist der Marx’sche Sozialismus zu nennen, aber ebenso der jüdische Anarchismus, wie ihn unter anderen Bernard Lazare vertrat. Auch alle diese Sammelerscheinungen und Bewegungen waren Folgen der Assimilation, resp. Reaktionen auf den immer aggressiveren Antisemitismus, der parallel zur Breitenwirkung der Assimilation wuchs.

Um das Umkippen der  – passiven und aktiven – Assimilationsbereitschaft in den Nationalsozialismus  besser verstehen zu können, diese Dialektik von jüdischer Dispersion und antisemitischen Verfolgungs- und Vernichtungsstrategien, mag ein Rückblick auf die frühere jüdische Assimilation und deren Folgen in Spanien und Portugal von Nutzen sein. Der in New York an der Columbia University lehrende Historiker Yosef Hayim Yerushalmi hat sich auf die Erforschung dieser vergleichenden Gesetzmässigkeit spezialisiert, deren Ergebnisse er in verschiedenen Publikationen vorgestellt hat. (Ich berufe mich vor allem auf einen Vortrag unter dem Titel “Assilimierung und rassischer Antisemitismus. Die iberischen und die deutschen Modelle”, ein Vortrag, den er 1982 am Leo Baeck -Institut in New York gehalten hat).

Yerushalmi weist nach, wie im Mittelalter die grossen jüdischen Gemeinden in Spanien ein grosses Mass an Sicherheit und Autonomie genossen. 1391 aber brachen blutige Pogrome aus, die Tausende von Juden veranlassten, sich lieber taufen als töten zu lassen. Wenig später, 1413-14, fand in Tortosa in Aragonien die letzte Disputatio zwischen Juden und Christen statt, und wieder kam es zu einer Übertrittswelle. Schliesslich erliessen 1492 die “Reyes catholicosFerdinand und Isabel ein Gesetz, durch welches die noch verbliebenen Juden entweder zur Taufe oder zur Emigration gezwungen wurden. Fünf Jahre später, 1497, verordnete auch in Portugal König Emanuel die Zwangstaufe der Juden. Die HistorikerInnen nehmen an, dass in dem einen Jahrhundert zwischen 1391 und 1492 resp. 1497 etwa die Hälfte der iberischen Judenheit zum Christentum übergetreten waren. Für die damalige Zeit, in der Kirche und Staat noch nicht getrennt waren, hatte die Taufe eine ähnliche emanzipatorische Bedeutung wie im 18. und 19. Jahrhundert die Einbürgerung, indem sie die gesellschaftliche Gleichberechtigung erschloss.  Ein Teil der Getauften führte ein Doppelleben als “marranos” (ursprünglich “Schweine”), blieb im Geheimen dem Judentum treu und führte nach Aussen ein christliches Leben, ein anderer Teil aber, die eigentlichen “conversos”,  integrierte sich voll in die christliche Gesellschaft, häufig sogar in der – eschatologischen – Überzeugung, das Judentum sei am Ende angelangt und die Taufe sei der rechte Weg. Die “conversos” stiegen schnell  in allen Schichten der Gesellschaft auf, in der Wirtschaft, beim Militär, in den Universitäten, selbst im Adel und in der Kirche. So wurde etwa der ehemalige Rabbiner Solomon Halevi unter dem Namen Pablo de Santa Maria Bischof von Burgos, und sein Sohn, Alonso de Cartagena, den er als Kind gleichzeitig taufen liess, gelangte nicht nur als sein Nachfolger auf denselben Bischofssitz, sondern 1434 auch als Vertreter Spaniens an das Konzil von Basel. Obwohl mit den Massentaufen und der schnellen Integration der Getauften das sogenannte “Judenproblem”, das eigentlich ein Bekehrungsproblem der Christen war,  in Spanien gelöst zu sein schien, wurde es gerade dadurch virulent. Yerushalmi schildert, wie breite Schichten der Bevölkerung, vor allem in den Städten, zunehmend voll Neid und Ressentiments gegen die erfolgreichen “conversos” waren, die Posten und Stellungen einnahmen, die sie für sich beanspruchten. Dass viele der getauften Juden nach wie vor in ärmlichen Situationen lebten, wurde nicht wahrgenommen. Damals schon diente der Neid gegen wenige dazu, den Hass gegen alle zu schüren, damals schon wurden Theorien über die angebliche Unterwanderung und Beherrschung durch die – ehemaligen – Juden verbreitet, um gegen diese aufzuhetzen. Mitte des 15. Jahrhunderts kamen zwei Schriften in Umlauf, die einzig diesen Zweck verfolgten: Es waren dies ein angebliches Gespräch zwischen den Juden Konstantinopels und den Juden Spaniens, das die Vorstellung einer internationalen Verschwörung wecken sollte (vergleichbar den ominösen “Protokollen der Weisen von Zion”), sowie ein angeblicher Erlass des Königs Juan II von Kastilien zu Handen eines christlichen Adligen, in welchem diesem erlaubt wurde, zu betrügen und sich zu bereichern, resp. sich zu verhalten wie die “marranos”.  Ende Januar 1449 kam es in Toledo erstmals wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen, zu weiteren erneut 1467, dann 1474 in Cordoba und in anderen andalusischen Städten, schliesslich 1506  in Lissabon. Die Entwicklung gipfelte darin, dass Gesetze erlassen wurden, denen gemäss für die Besetzung von öffentlichen Stellungen und Ämtern, mit der Zeit selbst für den Erwerb von Häusern und Grundstücken oder für die Verehelichung, der Blutnachweis der reinen christlichen Abstammung erfordert war, d.h. der genealogische Nachweis, dass man in allen Herkunftslinien von “alten” und nicht von “neuen” Christen abstammte: “los estatutos de limpieza de sangre”, die Blutreinheitsgesetze, Vorläufergesetze für den von den Nazis verlangten “Ahnennachweis”. 1478 wurde die Inquisition geschaffen, um der Befolgung dieser Gesetze Nachhaltigkeit zu verschaffen, die ebenfalls, schon damals, durch pseudo-wissenschaftliche Publikationen untermauert wurden. Diese Gesetze behielten ihre Gültigkeit bis ins 18. Jahrhundert.

Die Forschungen von Yosef Hayim Yerushalmi machen deutlich, dass dem iberischen Assimilationsprozess zwischen dem 14. und dem 18. Jahundert und dem westjüdischen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert eine ähnliche Dialektik innewohnt. Diese besteht in der Tatsache, dass im Zeitpunkt der erforderten und, jüdischerseits zum Teil auch freiwillig geleisteten, Anpassung  an die christliche, respektive an die säkularisierte Gesellschaft, diese die Folgen der jüdischen Emanzipation als unerträgliche eigene Bedrohung deklariert und die erneute Erkennbarkeit der Juden fordert, um deren Freiheit einzugrenzen, um sie ausgrenzen, verfolgen, vertreiben und/oder ausmerzen zu können. In beiden Epochen fällt auf, was schon Fritz Stern in seiner Monographie über Gershom Bleichröder, den Bankier Bismarcks, festhält: dass neben dem organsisierten Antisemititsmus immer ein latenter, inoffizieller einhergegangen ist, der bei Bedarf aktiviert und organisiert werden konnte. Jedes Feindbild von den Juden, welches diesen sog. charakteristische, bleibende, “typische” Merkmale zuteilt, ist ein rassistisches Konstrukt. Interessant ist, in welchem Mass selbst Juden sich dieses Feindbild zu eigen machten und zugleich sich selbst davon zu differenzieren versucten (ich erinnere an meine Bemerkungen zum Selbsthass). Walther Rathenau etwa, der einem aristrokratischen Weltbild nachhängende, seinem Judentum gegenüber überaus zwiespältige spätere Aussenminister der Weimarer Republik (auch er schied durch Mord aus dem Leben), verlangte in seinem 1897 verfassten Text “Höre  Israel” von seinen Glaubensgenossen einerseits aufs vehementeste “die bewusste Selbsterziehung einer Rasse  zur Anpassung an fremde Anforderungen, Anpassung nicht im Sinne der ‘mimicry’ Darwins (…), sondern einer Anartung in dem Sinne, dass Stammeseigenschaften, gleichviel ob gute oder schlechte, von denen es erwiesen ist, dass sie den Landesgenossen verhasst sind, abgelegt und durch geeignetere ersetzt werden”. Gleichzeitig aber sah er voraus, dass ” ein Ende der Judenfrage die Taufe nicht sei. Wenn auch der Einzelne durch die Lossagung sich bessere Existenzbedingungen schaffen kann, die Gesamtheit kann es nicht. Denn würde die Hälfte von ganz Israel bekehrt, so könnte nichts anderes entstehen als ein leidenschaftlicher ‘Antisemitismus gegen Getaufte’, der durch Schnüffeleien und Verdächtigungen auf der einen, durch Renegatenhass und Verlogenheit auf der anderen Seite ungesunder und unsittlicher wirken würde als die heutige Bewegung.” Die kleine Schrift, die Rathenau 1902 unter dem Titel “Impressionen” publizierte, mit einer Reihe von Essays, darunter “Höre, Israel” an erster Stelle, zog er später aus dem Buchhandel zurück.

Das Feindbild von den Juden war tatsächlich bei Bedarf sofort aktivierbar und organisierbar, Fritz Stern hatte recht. Es wurde nicht nur in Spanien, es wurde auch in Deutschland, Frankreich und in den übrigen europäischen Ländern  trotz formaler Gleichberechtigung und Assimilation nicht korrigiert, so dass, wie Walther Rathenau hoffte, eventuell ein weniger “ungesunder” und weniger “unsittlicher” Antisemititsmus hätte entstehen können. Das Gegenteil war der Fall. Dies zeigte sich in unserem Jahrhundert, als sich die Dialektik der Assimilation aufs entsetzlichste zuspitzte, als die Schutzlosigkeit der Vereinzelung, wie Kafka sie gespürt hatte, durch die von Hitler dekretierte Aufhebung der Individualität in die Zwangsgemeinschaft der polnischen Ghettos, der Transporte  und der Vernichtunslager einmündete.  In der äussersten Demütigung und Quälerei, dann im Tod kam es schliesslich zur Wiedervereinigung des Westjudentums und des Ostjudentums. Theodor Lessings verzweifelte Trostvorstellung, dass der auf sich gestellte Jude, wäre er unter Leidensgenossen, im Zusammenbruch unter seinesgleichen wäre, wurde schon wenige Jahre, nachdem er sie formuliert hatte, Realität.

Und heute? Ist die Frage der Assimilation heute, nach der Vernichtung des europäischen Judentums, noch aktuell, 48 Jahre seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen und seit der Gründung des Staates Israel?

Ohne Zweifel bleibt diese Frage ständig aktuell. Sie ist, wenn wir sie zutiefst analysieren, eine moralische Frage, und zwar in verschiedener Hinsicht. Zunächst einmal: Sie hat mit der Wahl des Handelns zu tun. Die Assimilationsangebote der bürgerlichen Gesellschaft an die Juden im 19. Jahrhundert waren Koalitions- und Identitätsangebote, deren sich die freiheitshungrige, über Jahrhunderte gedemütigte Judenheit nicht zu erwehren vermochte, die sie im Gegenteil gierig, bedenkenlos annahm.

Es ging um eine Koalition mit der Macht des sich damals nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und kulturell etablierenden und expandieren Bürgertums, des Besitzbürgertums wie des Kulturbürgertums. Dass es um diese Koalition ging, macht u.a. die dezidierte Distanzierung der – bürgerlich – assimilierten Juden in Berlin von den armen Ostjuden im Scheunenviertel deutlich. Sie gehörten nicht mehr zu ihnen, sie schämten sich ihrer. Und wie in Berlin verhielt es sich auch in Wien und anderswo. Dieses Koalitionsangebot war jedoch trügerisch, als Macht – vor allem im Bürgertum – als rares Gut verstanden wird, wodurch Verlustängste, Rivalität, Ausmerzung, ja selbst Mord und Totschlag unausweichlich wurden.

Es ging sodann um ein Identitätsangebot des Bürgertums, um das Angebot einer hypostasierten (vergegenständlichten, verselbständigten) Identität, die in dieser Hypostasierung starr, lebensfeindlich, antifreiheitlich – und daher brüchig war. Die Uniform war hierfür ein klares Symbol. Diese Identität definierte sich zuerst einmal negativ: durch das Nicht-Jüdischsein, d.h. durch eine ebenso starre, ebenfalls hypostasierte Differenz. Das bürgerliche Identitätsangebot und das nationalistische fielen in eins zusammen. Beide waren – scheinbar – Sicherheitsangebote, die den seit Jahrhunderten zutiefst verunsicherten Juden wie Erlösungsangebote vorkamen und die sie sich daher mit grosser Bereitschaft, ja mit Übereifer aneigneten. Da diese Identitätsangbote jedoch antifreiheitlich determiniert waren, ertrugen sie nicht die geringste immanente Differenz. Auf diese reagierte die – nach Identitätskriterien normierte – Gesellschaft mit Gewalt und Ausgrenzung. Doch die Vielheit und der Reichtum der freiheitsbedingten, existenzimmanten Differenz konnte auch im assimilierten Judentum im Korsett bürgerlicher Identität nicht erstickt werden. Dichtung und Erfindungslust, Musik und Malerei, Naturwissenschaften und Soziologie, Psychoanalyse und Philosophie sind nur einzelne Gebiete, die deutlich machen, wie das Korsett gesprengt wurde – für die nicht-jüdische bürgerliche identische Gesellschaft auf bedrohliche Weise. Sie reagierte entsprechend mit rassistischer Identitätsverstärkung und mit tödlicher Gewalt.

Und heute? Nach wie vor macht die Gesellschaft Angebote, Bündnisangebote, Koalitionsangebote, Identitätsangebote. Doch was beinhalten diese Angebote in unserer Zeit? Ich will über einen Umweg antworten: Marek Edelmann wurde Mitte der achtziger Jahre in einem Interview gefragt, was es für ihn bedeute, heute Jude zu sein. Er antwortete, ohne einen Augenblick zu zögern: “Das bedeutet, auf der Seite der Schwachen zu sein, nicht auf der Seite der Mächtigen. (…) Ich glaube, dass man immer auf der Seite der Verfolgten sein muss, wer sie auch sein mögen. Man muss dem Verfolgten eine Wohnung geben, man muss ihn im Keller verstecken, man darf keine Angst davor haben, und man muss generell gegen diejenigen sein, die verfolgen. Und das ist das einzige, wofür man heute Jude ist.”

Ich stimme mit Marek Edelman überein. Assimilation bedeutet, auch heute, auf die Koalitionsangebote der Mächtigen eingehen, bedeutet, die Ethik des Judentums, nämlich die Ethik des Widerstandes gegen Unmenschlichkeit, d.h. die Ethik der individuellen Handlungverantwortung  aufgeben. Dagegen heisst, laut Marek Edelmann, “auf der Seite der Verfolgten sein, wer immer sie sein mögen”, dem Judentum treu sein. “Wer immer sie sein mögen”: Es gibt deren viele heute – diejenigen, die aus den Armenhäusern der Welt und aus den Kriegsländern in unser Land kommen, aber auch die  Schutzlosen und Ausgegrenzten, die Untüchtigen, Spinner und Sonderlinge, die Ausgesteuerten und Armen innerhalb unserer eigenen Gesellschaft. Wird nicht diesen gegenüber ein ständiger Assimilationsdruck ausgeübt? Heisst es nicht: “Die sollen sich anpassen, dann wird es ihnen besser gehen”? Müssen wir nicht, gefeit durch die Geschichte, sowohl diesen auf die heutigen Schwachen und Verunsicherten ausgeübten Druck durchschauen, so wie das Koalitionsangebot der Mächtigen, das sich gegen sie richtet? Und müssen wir nicht empfindlich auf Sicherheitangebote reagieren, deren Begründung mit der misstrauensbedingten Freiheitseinschränkung und Ausgrenzung der “nicht-identischen” Fremden einhergeht? (- ich erinnere an die Vorgeschichte der Abstimmung über die Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht). Was bedeutet, “sich an ihre Seite stellen”? Die Fragen, die sich rund um die Assimilation stellen, bleiben tatsächlich aktuell.

Zürich, 20. März 1996

Literaturauswahl:

Theodor W. Adorno. Die Dialektik der Aufklärung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1973

Hannah Arendt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Europäische Verlangsanstalt, Frankfurt a.M. 1962

Hannah Arendt. Die verborgene Tradition. Acht Essays. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.Main 1976

Hannah Arendt. Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. Piper Verlag, München/Zürich 1981

Detlev Claussen. Vom Judenhass zum Antisemitismus. Materialien einer verleugneten Geschichte. (Darin: “Es ist besser, etws zu tun als nichts zu tun”. Ein Gespräch zwischen Marek Edelman und der Untergrundzeitschrift ‘Czas’, Poznan). Hermann Luchterhand Verlag, Darmstadt/Neuwied 1987

Giuliano Baioni. Kafka. Literatur und Judentum. Verlag J.B.Metzler, Stuttgart/Weimar 1994

Jutta Dick / Barbara Hahn (Hg.) Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert.Verlag Christian Brandstätter, Wien 1993

Dan Diner: Zweierlei Emanzipation. Westliche Juden und Ostjuden in universalhistorischer Perspektive. NZZ Nr.22, 27.-28. 1. 1996

Alfred Döblin. Schriften zu jüdischen Fragen. Walter Verlag, Solothurn/Düsseldorf  1995

Franz Kafka. Briefe 1902-1924. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1975

Franz Kafka. Tagebücher 1910-1923. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1973

Franz Kafka. Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1976

Franz Kafka. Briefe an Milena. Fischer Verlag, Frankfurt a.Main 1983

Jacob Katz. Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt 1982

Herbert Kupferberg. Die Mendelssohns. Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins, Tübingen/Stuttgart 1972

Bernard Lazare. Le fumier de Job. (Ci-inclus:Hannah Arendt. Herzl et Lazare). Editions Circé, Strasbourg 1990

Bernard Lazare. Juifs et antisémites. Editions Allia, Paris 1992

Bernard Lazare. L’affaire Dreyfus. Une erreur judiciaire. Editions Allia, Paris 1993

Theodor Lessing. Der jüdische Selbsthass. Verlag Matthes & Seitz, München 1984

Theodor Lessing. Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. Verlag Matthes & Seitz, München 1983.

Andreas Lixl-Purcell (Hg). Erinnerungen deutsch-jüdischer Frauen 1900-1990. Reclam Verlag, Leipzig 1992

Salomon Maimon. Lebensgeschichte. Von ihm selbst erzählt und heruasgegeben von Karl Philipp Moritz. Neu herausgegeben von Zwi Batscha. Insel Verlag, Frankfurt a.M.1984

Rainer Marwedel. Theodor Lessing. 1872-1933. Eine Biographie. Luchterhand Verlag, Darmstadt/Neuwied 1983

Stéphane Moses / Albrecht Schöne (Hg). Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1986

Walther Rathenau. Impressionen. (Darin: Höre, Israel!). Verlag G.Hirzel. Leipzig 1902

Gershom Scholem. Judaica 2 (Darin: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch. Noch einmal: das deutsch-jüdische Gespräch. Juden und Deutsche). Surkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1977

Hans J. Schütz. Juden in der deutschen Literatur. Eine deutsch-jüdische Literaturgschichte im Überblick. Piper Verlag, München/Zürich 1992

Fritz Stern. Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder. Übersetzt von Otto Weith. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1980

Siegfried Thalheimer (Hg.). Die Affaire Dreyfus. dtv, München 1986

Eva Weissweiler (Hg.) Fanny Mendelssohn. Ein Portrait in Briefen. Verlag Ullstein, Frankfurt a.M./Berlin 1991

Franz Werfel. Zwischen Oben und Unten. Bermann-Fischer Verlag, Stockholm 1946

Yosef Hayim Yerushalmi. Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1993

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Stefan Zweig. Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Bermann-Fischer Verlag, Stockholm 1944

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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