Verurteilt zu drei Jahren Flucht unbedingt

Verurteilt zu drei Jahren Flucht unbedingt

 

Das Telephon weckt mich zu noch nachtschlafener Zeit, der Morgen steht zwar schon blass über dem Nachbardach, eine unbekannte Männnerstimme sagt mir eine wahre, aber unwahrscheinliche Geschichte an, aus einer Telephonzelle am Hauptbahnhof, der Hintergrundlärm übertönt beinah die flüchtig gesprochene Abmachung, eine Stunde später treffen wir  uns in einem der früh geöffneten Cafés der Innenstadt. Kennzeichen gibt mir der Unbekannte keine bekannt, unter den verstreut dasitzenden Männern an den kleinen Tischen erkenne ich ihn sofort: den flüchtigen Strafgefangenen. Am Blick  ist er zu erkennen, an den Augen, die, weit geöffnet, die dunkle Iris zurückfallen lassen hinter durchscheinende Narben  von Angst, Vorsieht und erfahrenen Demütigungen. Die Hand, die er mir entgegenstreckt, ist eine kräftige Handwerkerhand, der ganze Mann wirkt wie die Hand, in arbeitsgewohnter Handwerker, denke ich, ein unverweichlichter Lastenschlepper und Arbeiter, dabei sauber und unauffällig gekleidet. Wie er aber zu erzählen beginnt, mit seltener Präzision und ohne Abschweifungen, mit der monotonen Stimme jener Menschen, die gewohnt sind, Monologe zu führen, da verbinden sich Blick und Stimme zu einer existentiellen Aussage äusserster Gebrochenheit und Verzweiflung. Fünf Jahre am Rand der Gesellschaft, davon zwei im Gefängnis und drei Jahre auf der  Flucht, in der Illegalität, brechen auch den kräftigsten Menschen.  Moralisch gebrochen hatte ihn monatelange Arbeitslosigkeit, eine letzte  Erfahrung von Glücklosigkeit. Glücklosigkeit und Kargheit waren die Lebensregel seit frühester Kindheit. Zuerst im armseligen Dorf nahe der deutsch-deutschen Zonengrenze, vaterlos, da der Vater sich in die DDR abgesetzt und dort wieder geheiratet hatte, mutterfern, da die Mutter in einer  benachbarten Stadt arbeitete und in Beziehungen lebte, in welche sie das Kind nicht einbeziehen konnte, miefig und glücklos waren die Verhältnisse und glücklos die Ereignisse; verwickelt zu werden in eine Diebstahlgeschichte am Arbeitsplatz, mit der  er  nichts zu tun hatte, erwiesenermassen, dann wegen einer ersten Wehrdienstverweigerung als Vorbestrafter zu gelten, obwohl er in einem zweiten Anlauf  als untauglich vom Wehrdienst entlassen wurde, dann einer Beziehung verlustig zu werden, die über vier Jahre gedauert hatte und aus welcher er eine kleine Tochter hatte, die er überaus liebte und die er seither nie wieder sah, schliesslich jenen Raubüberfall zu machen, jenen “unverantwortlichen Raubüberfall, unverständlich war es schon gleich nach der  Tat, trotz der langen, monatelangen Arbeitslosigkeit” sagt er, aber das Einsehen half nichts. Er geriet in die Mühle der Justiz, der Psychiater, der über ihn ein Gutachten zu erstellen hatte, wurde zum Erfüllungsgehilfen eines unfairen Prozesses, der Revisionsantrag seiner Anwältin wurde abgeschlagen, und er wurde zu 6 Jahren Gefängnis verurteil. Zwei Jahre sass er davon ab, dann wurde er wegen guter Führung tagsüber in einer mechanischen Werkstätte beschäftigt – und floh, in Gefängniskleidung, im Spätherbst, ohne Geld und ohne Papiere.

Er lief die Nächte hindurch, versteckte sich tags, überschritt heimlich die Grenze in der Nähe von Basel, nächtigte, erschöpft und halb erfroren, in einer Kirche, erhielt vom Pfarrer am nächsten Morgen unauffällige Kleider und etwas Geld und so gelangte er in Etappen nach Italien, wo er sich während drei Jahren einigermassen über Wasser halten konnte, ohne ein einziges Mal wieder straffällig zu werden, mit gelegentlicher Schwarzarbeit da und dort, denn er ist ja ein ausgezeichneter Handwerker, der jedes Handwerk und jede Arbeit aufs beste verrichten kann.

In den langen Perioden, in denen er keine Arbeit fand, verzehrte er das bisschen Geld, das er vorher verdient hatte, schlief in einem Schlafsack in den Dünen und in Wäldern, manchmal auch in Kirchen. Er lebte rechtschaffen, – aber ausserhalb der Legalität, ausserhalb der Gesellschaft. Sein  furchtbarer Schmerz war es, nicht offen rechtschaffen leben zu dürfen, für eine Familie zu sorgen, für eine Frau und für Kinder da zu sein, rechtschaffen zu sein und sich verstecken zu müssen, dass er rechtschaffen war  bewies er  täglich und es nützte nichts. Er lebte ständig in panischer Angst, irgendwo in eine Personenkontrolle zu geraten und von der Polizei aufgegriffen zu werden, “ich hatte Unrecht  getan, gewiss, ich hatte ein Verbrechen begangen, aber der Richter, der da war um Recht zu sprechen, tat Unrecht an mir. Und das Leben im Knast war so, dass alle Entbehrungen, selbst der Tod vorzuziehen waren”. Im Vorfrühling dieses Jahres war er so weit, dass er sich alles Erdenkliche vom Mund abgespart hatte um sich eine grosse Dosis Zyankali zu kaufen, die er fortan in einem leeren Uhrgehäuse auf  sich trug. Wenn er gefasst worden wäre, sagt  er, hätte er das Gift sofort geschluckt. Zu seinem Unglück verlor er es eines Morgens, als er baden ging. Er konnte sich keines mehr beschaffen, die Angst nahm überhand, die Kraft zum Widerstand war am Ende, die Kraft zu leben, wie er es tat, als namenloser Geächteter, ohne Beziehungen, ohne Aufgaben für andere, war aufgebraucht, nochmals gelang es ihm, heimlich eine Grenze zu überschreiten, hier ist er nun, in Zürich. Irgendjemand hatte ihm die Adresse einer Kollegin von mir gegeben, diese hatte ihn mit etwas Geld versorgt und ihn an mich weitergewiesen, weil sie allzu viele Unglückliche zu versorgen hatte, aus dem Geld hat er  sich  eine Ueberdosis  Schlaftabletten  gekauft, Schachtel um Schachtel in den verschiedensten Apotheken der Stadt, damit keine Verdach schöpfen konnte. Und nun sitzt er vor mir, die Erzählung ist zu Ende, er weiss  nicht  mehr  weiter.

Er erwartet von mir, dass ich die Erzählung aufschreibe und publiziere, er erwartet nicht, dass  ich weiter weiss. Wie aber kann man schreiben, ohne zu verstehen? Und wie kann man verstehen, ohne  zu handeln? “Verstehen ist das wenigste, erst das Handeln qualifiziert” hatte Pasolini in einem seiner Kampf-Artikel gegen die Konformität des Unrechts geschrieben.

Wie hätten Sie gehandelt?

Phine  Paul

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