Niederreissen, um Licht und Luft zu gewinnen – Frauengeschichte(n), Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz.

Niederreissen,  um Licht  und Luft  zu  gewinnen – Frauengeschichte(n), Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz.

 

Es ist noch nicht lange her, da wurden bildungshungrige Töchter, denen der Rahmen der bürgerlich angemessenen und zugelassenen “Allgemein”bildung  nicht  genügte, die ein Gymnasium  besuchen und studieren wollten, in Pensinnate mit angeschlossenen Stick­- und Kochschulen zwangsevakuiert. Und wenn sie dort ausbrachen und ihren Willen durch­zusetzen versuchten, wurde von den Müttern das traurige Menetekel an die Wand gemalt, dass moralische Verderbnis und Altjungfern­tum die unausweichlichen Folgen solchen Blaustrumpfwegs sein würden. Es ist nochnicht lange her!

Da gab es Ausnahmen, gewiss, geheime Vor­bilder des Widerstand und des Erfolgs. Man traf sie seltener im Leben als in der Geschichte.  ­Rosa Luxemburg war so ein flammendes Beispiel  – ­oder in der Literatur, auch in der verordneten und zu­gelassenen  “Allgemein”bildungsliteratur, die Brigitta bei Stifter etwa, oder die Judith im “Grünen Heinrich”, worin sich überhaupt Sätze finden, die für einen trotzigen Mädchengeist nur Stärkung be­deuten. “Denn man reisst nicht stets nie­der, um wieder aufzubauen”,  schreibt da Gottfried Keller, “im  Gegenteil, man reisst recht mit Fleiss nieder, um freien Raum für Licht und Luft zu gewinnen, welche überall von selbst sich einfinden, wo ein sperrrender Gegenstand weggenommen  ist”, und dass  nicht nur “sperrende  Gegenstände”, sondern auch sperrende Zustände  niedergerissen werden mussten, Einrichtungen aus Vorurteilen und erstickenden Weltbildern, das brauchte nicht erklärt zu werden. Der Wunsch nach freier Entfaltung las die Textbedeutung zwischen allen Zeilen aufs eindringlichste heraus!

Aber  es  geht  hier nicht um Literatur.  Es geht um fast 600 Seiten “Frauengeschichte(n)”*), um 600 Seiten packendste Dokumentatio über zweihundert Jahre Kampf der Frauen gegen Rechtlosigkeit, Unrecht, Tabus, ideologische Zwänge und Schranken, gegen Ausbeutung, Beherrschung und Willkür. Die beiden Herausgeberinnen und Autorinnen, Elisabeth Joris undHeidi Witzig, fassten vor rund sechs Jahren den Entschluss, aufgrund ihres “Engagements als Historikerinnen, Feministinnen, betroffene Mütter und  berufstätige Frauen” einen Dokumentenband zur Geschichte der Frauen in der Schweiz zusammenzustellen. Und hier liegt er nun vor, steht in den Auslagen der Buchhandlungen wie ein Fanal, unübersehbar mit seinem leuchtend gelben Umschlag, auf welchem das Rückenbild einer davoneilenden Frau, welche eine lange Reihe aneinandergebauter Zellen oder Ställe oder Verliesse links hinter sich liegen lässt, geradewegs  ins Buch hineinführt, in “ein leicht lesbares Buch für interessierte Frauen und Männer, aber auch für den gezielten Einsatz in Schule und Gruppenarbeit”, wie die Autorinnen es bezwecken, die, wie sie schreiben, nicht in erster Linie wissenschaftlichen Normen genügen wollen. Doch es muss gesagt sein, dass auch die Wisenschaftlichkeit nicht zu kurz gerät; das nach Sachzusammenhängen geordnete Literaturverzeichnis, das  umfangreiche Register und der genaue Nachweis der Bilddokumentation können wissenschaftliche Ansprüche aufs beste zufriedenstellen; nicht Vollständigkeit darf erwartet werden, aber eine breite und gut fundierte Auswahl.

Es geht also um Frauengeschichte. Es geht um Generationen von Frauen und deren Geschichte; es geht um das Bestreben, das Schriftsteller wie Wissenschaftler als ständiger Traum begleitet, in der Darstellung des Einzelnen – hier der Fülle von Einzelnem  – zugleich  das Besondere und das Typische, das Auffallende und das Verbindliche verständlich zu machen. Dieses Bestreben steht zuvorderst, die Autorinnen widmen ihm das Einleitungskapitel, suchen zu eruieren, was den “weiblichen Geschlechtscharakter” als Geschlechtsrolle definiert, welche Ideologien ihn je nach Stand und Herkommen prägten, wie viel es heute noch braucht, um als Frau diese hergebrachten Rollenerwartungen über Bord zu werfen und fähig zu werden, sie individuell und nicht innerhalb eines Systems zu beantworten. Denn all dies ist noch mehr oder weniger unerprobt und hat selbst noch keine lange Tradition; die  Autorinnen fühlen sich am Anfang einer neuen Geschichte. “Erst mit der neuen Frauenbewegung seit  1968” schreiben sie, “wird die bürgerliche Ideologie grundsätzlich in Frage gestellt. Das ganze System der Geschlechterrollen und -charaktere gerät ins Wanken, ein langwieriger Prozess nimmt seinen Anfang. Wir leben heute in dieser Zeit des Aufbruchs, wo infolge der neuen wirtschaftlichen und und gesellschaftlichen Verhältnisse die Fragen nach der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, nach der gesellschaftlichen Stellung, nach der Rolle von Mann und Frau grundsätzlich neu gestellt,  aber auch noch kaum neu beantwortet werden  können”. Zwar hiess es schon 1873 in der ersten Nummer von “Solidarité”, der von Marie Goegg-Pouchoulin gegründeten “Asssociation pour  la défense des droits de la femme”: “Wenn wir auch die absolute Gleichstellung der Frau vor dem Gesetz und in der Gesellschaft fordern, wollen wir auch nicht den riesigen Wandel verhehlen, der sich noch im Geist zu vollziehen hat. Zwei Dinge gilt es zu erreichen, bevor dieser Wandel möglich wird, zwei  Dinge, die beide vielleicht ebenso schwierig sind: zum einen, dass die Frauen endlich ihren wahren Wert erkennen, zum anderen, dass die  Männern  lernen, diesen anzuerkennen. Ja, das ist das Grundproblem, erkennen und anerkennen … “.

An beidem fehlte es, und zwar in jedem sozialen Zusammenhang. Die Kapitel über die “Frau in der Familie” und die “Frau in der Erwerbstätigkeit” beweisen mit einer Fülle von Dokumenten, in welchem Mass Bäuerinnen, Frabrikarbeiterinnen, Ehefrauen im Geschäft ihres Mannes, Dienstmägde, die “ewigen Töchter”, die Bürgerfrauen mit ihrem Repräsentations- und Erziehungsauftrag, in welchem Mass alle zuerst Dienerinnen zu sein hatten und sich innerhalb dieser normierten Erwartungen individuell kaum zur Wehr setzen konnten. Eine Veränderung dieser normierten Leitbilder machten sich seit dem Ende des letzten Jahrhunderts die Frauenorganisationen zur Aufgabe, an deren Spitze besonders couragierte und weitsichtige Frauen standen. Deren Namen und Leistung wieder in Erinnerung zu rufen, gehört mit zum Verdienst der  vorliegenden Publikation: Helene von Mülinen, Gertrud Villiger-Keller, Emma Coradi-Stahl, Susanna Orelli, Meta von Salis-Marschlins, Emma Pieczynska-Reichenbach, Rosa Bloch, Pauline Chaponnière-Chaix, Emilie Gourd, Clara Ragaz und viele mehr, welche sich auf nationaler und internationaler Ebene für die politische und soziale Gleichberechtigung der Frauen einsetzen, gegen diskrimierende Bedingungen in Ausbildung und Berufsausübung,  gegen den mörderischen Unsinn von Aufrüstung und Krieg, gegen Rechtlosigkeit im Gebiet der politischen Praxis, der Sexualität, der Moralität in Bezug auf Verhütung und Unterbrechung von Schwangerschaften, gegen die Ausnützung der Frauen zu Werbe- und Verkaufszwecken, gegen Gewalt, Missbrauch, Erniedrigung und Unrecht überhaupt.

Heute, wo die politische Gleichberechtigung voll erreicht ist, geht es eigentlich immer noch um die gleiche  Zielsetzung, dass die “weibliche Sichtweise in der Politik”, wie eine zeitgenössische Politikerin es formuliert, gleichberechtigt neben und mit der männlichen, Anerkennung und Durchsetzung findet. Es  geht nun weniger mehr ums “Niederreissen sperrender Gegenstände” als ums Schützen und Erhalten von “Licht und Luft”!

 

*) Frauengeschichte(n), Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz. Hrsg. von Elisabeth Joris und Heidi Witzig, Limmat Verlag Genossenschaft, Zürich 1987

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