Di erd alajn hert noch di jorzajten fun undser tojbnschraj – Zu Lajzer Ajchenrand und seinem Werk
Di erd alajn hert noch di jorzajten fun undser tojbnschraj
Zu Lajzer Ajchenrand und seinem Werk
Vortrag in der Literarischen Vereinigung Winterthur am 23. Juni 1987
Sehr geehrte Damen und Herren,
Ich freue mich sehr, Sie hier zu begrüssen und ich bedanke mich, auch in Frau Ajchenrands Namen, bei
Herrn (Frau) für den freundlichen Empfang. Wir luden Sie zu einem Abend ein, der Sie mit dem Werk eines der grossen Dichter unserer Zeit bekanntmachen soll, mit Lajzer Ajchenrands Werk. Als Motiv über den Abend möchte ich eine Verszeile aus einem seiner Gedichte stellen, eine Verszeile in einer fremden Sprache, die Sie merkwürdig berühren mag:
“Di erd alajn hert noch di jorzajtn fun undser tojbnschraj…”
Wenn Sie diese Zeile laut hören, mögen Sie Wort für Wort – diese jiddischen Worte – verstehen und sie vielleicht doch nicht verstanden haben. Melodie und Bilder mögen Ihnen fremd und verschlüsselt vorkommen. Doch Fremdes kann Fremdheit verlieren und kann uns nahe kommen, sobald es sich in den Zusammenhängen mitteilt und sich in den Zusammenhängen erklärt. Das wollen wir heute versuchen. Als Einstimmung werden wir erst das Gedicht lesen, aus dem die Zeile stammt, iiddisch erst und dann in der deutschen Uebertragung; anschliessend will ich Ihnen von Lajzer Ajchenrands Lebenszusammenhängen erzählen, von Herkunft, Emigration, von seinem Weg in die Schweiz, von seinem Leben hier, d.h. von den zusammenhängen, in denen sein Werk entstand.
Aus diesem Werk haben wir eine kleine Anzahl von Gedichten ausgewählt, von denen wir Ihnen einen ersten Teil lesen werden, Frau Ajchemand in der jiddischen Fassung und ich in einer deutschen Uebertragung. Den zweiten Teil der Auswahl werden Sie hören, nachdem ich Ihnen zwischendurch etwas über Lajzer Ajchenrands Sprache, über die Eigenheiten dieser Sprache und über die Bedeutung des Werks mitgeteilt habe. Und wir werden den Abend mit einem Gedicht abschliessen, “Ojgenblik”, das Frau Ajchenrand nur in Jiddisch lesen wird, von dem Sie keine deutsche Fassung hören werden, damit Sie die Melodie der jiddischen “mameloschn” im Ohr und im Herzen nach Hause tragen können.
Rezitation: “Schotnschpigl”/ “Schattenspiegel”
Wer ist dieser Dichter? Wer war Lajzer Ajchenrand?
Im Gedicht, das Sie eben hörten, spricht er jene an, die “erst jenseits vom Tod zu hören sind”, in denen der Himmel “ein Kristallgebet” ist, die im Schweigen seine, des Dichters “Stimme vernabelt haben”… Er muss einer gewesen sein, denken Sie, der um den Tod ebenso sehr wusste wie ums Leben, dem es aber gelang, in diesem Grenzbereich des Wissens die vernabelte, erstickte Stimme zu lösen, immer wieder, Jahrzeiten gleich, wiederkommenden Erinnerungstagen gleich, im Vertrauen, dass die Erde ihn hört, ihn versteht, den Schrei der Kreatur, seinen und den der Taube, dieses unschuldigsten und zärtlichsten der Geschöpfe, das der Dichter als sein Ebenbild versteht, nicht er allein, auch andere grosse Dichter wie er, ich denke an Paul Celan, der in einer Rede anlässlich der Verleihung des Büchnerpreises sagte, im nachhinein schiene es, dass des Dichters Worte “auf Taubenfüssen kamen”.
So “taubenfüssig” kam Lajzer Ajchenrand in die Welt, als das jüngste Kind von drei Geschwistern, 1912 oder schon 1911, das steht nicht genau fest, denn in Polen wurden damals die Geburtsjahre der Söhne häufig um ein Jahr vorverlegt, damit sie sich der gefürchteten militärischen Rekrutierung entziehen konnten. Als Jude im russischen Heer Dienst leisten zu müssen – P0len gehörte damals noch zu Russland – war eine unvorstellbare Tortur, für viele gar ein Todesurteil (Rosa Luxemburg beschreibt die Bedingungen). Lajzers Elternhaus stand in Demblin, in Ostpolen, später wohnte die Familie in Kurow, in der Nähe von Lublin, nicht weit von Majdanek, wo die Nazis das Vernichtungslager errichteten, in dem auch Lajzers Mutter, Schwester und deren Mann und Kinder umgebracht wurden.
Der Vater war ein Melamed gewesen und Schneider, er verdiente sich das kärgliche Brot für die Familie mit seinem Handwerk und daneben erteilte er den kleinen Kindern Religionsunterricht. Er hatte das Glück, noch vor dem Krieg sterben zu können; allerdings hatte er unter den immer wiederkehrenden Pogromen genug zu leiden gehabt, Lajzer erinnerte sich an grosse Demütigungen während seiner Kindheit. Daneben aber war diese Kindheit fröhlich und unbeschwert, Lajzer Ajchenrand wusste Geschichten von Bubenstreichen und Ausgelassenheit zu erzählen. [Ein älterer Bruder zog Anfang der Dreissigerjahre nach Paris und eröffnete dort ein Schneidermassatelier; die ältere Schwester, Etka, die überaus kluge, gebildete und im ganzen Dorf verehrte, wurde Lehrerin. Sie war es, die den Wissens- und Lesehunger Lajzers zu stillen versuchte, die ihm die Werke der Weltliteratur, zum Beispiel die grossen russischen Dichter und Erzähler zu lesen gab, sie war es auch, die sein erstes Gedicht in einer Warschauer Zeitschrift veröffentlichte. “Hend zu ferkoifn” hiess es, geschrieben von einem Kind, einem Buben, der die Not und den Hunger der jüdischen Arbeitslosen in den Strassen Warschaus erlebt hatte, die nichts anderes anzubieten hatten als ihre Hände und dafür keinen Käufer fanden. Auch Lajzer Ajchenrand gelang es, noch vor dem Krieg Polen zu verlassen. Er zog zu seinem Bruder nach Paris, 1937 war das, er arbeitete bei ihm als Schneider und schrieb Gedichte, wann immer ihm Zeit blieb, in denen er seiner Erfahrung von Heimatlosigkeit und von Vertriebensein Ausdruck gab, die er mit so vielen anderen teilte.
Doch diese Erfahrung sollte sich in noch viel tiefere Abgründe der Verzweiflung steigern. Emigration, Vertreibung und Verfolgung waren erst der Anfang. Auch Frankreich kam unter das tödliche braune Gesetz, das in Polen unter Millionen von Menschen auch seine Familie in die Vernichtung trieb. Lajzer selbst wurde in ein französisches KZ deportiert und sollte nach Auschwitz geschafft werden, 1942, doch es gelang ihm die Flucht. Ueber Hochsavoyen konnte er die Schweizer Grenze erreichen und in der Schweiz eine, wenn auch prekäre Sicherheit finden. Von einem ersten Interniertenlager auf der Anfernhöhe, nahe der Grenze, kam er später ins Lager Zürichhorn.
Einige der damaligen Lagermitinsassen leben noch und erinnern sich an die Stimmung des Ueberdrusses, die den Flüchlingen gegenüber spürbar wurde, nicht viel anders wie heute den Asylsuchenden gegenüber. Ein alter Mitinternierter sagte mir: “Man hätte uns gern wieder draussen gehabt, aber wohin sollten wir gehen? Wir waren Flüchtlinge und blieben Flüchtlinge, wohin wir auch gingen. Einzig Santo Domingo war bereit, uns aufzunehmen, aber wo war Santo Domingo ? Niemand wusste es…”
Lajzer Ajchenrand arbeitete in der Lagerschneiderei und abends las er seinen Mitinernierten seine Gedichte vor, die in der Sprache seiner Herkunft, seines Kinder- und Heimatalltags dem unsäglichen Schmerz, der Anklage, dem Zorn und der Trauer Ausdruck gaben. War er dazu erwählt, ausgespart worden zu sein vom unmenschlichen Morden, um davon Zeugnis zu geben? War er allein der “Erwählte”? – Sie werden anschliessend dieses Gedich hören. “Singt jemand auf deiner Wimper dein Werden ein, und was du hast, mit Stimmen von Schweigen und Frost?”
Im Lager Zürichhorn lernte Lajzer Menschen kennen, die damals schon Einfluss hatten, Leopold Lindberg etwa, der in den Fünfzigerjahren an zahlreichen Rezitationsabenden Lajzers Gedichte vortragen wird, oder Carl Seelig, der ihm und seiner späteren Frau ein zweiter Vater werden sollte. Auch Hermann Hesse erkannte seine Bedeutung als Dichter und setzte sich für ihn ein mit Briefen an die Fremdenpolizei, in denen er schrieb, “Ajchenrand sei einer der besten dichterischen Sprecher und Vertreter seines Volkes”, und sollte er “unfreundlich behandelt werden”, schrieb Hesse, so würde dies nicht nur als “unnötige Härte, sondern als offizieller Antisemitismus empfunden”• Das war 1947. Im selben Jahr schrieb Hesse dem jüdischen Dichterkollegen: “Wir Dichter haben unter anderem die Aufgabe, das von den Menschen unserer Zeit Erlittene auszusprechen, und das können wir nur tun, wenn wir es nicht vom Hörensagen, sondern aus eigenem Erleiden kennen.. Es ist auf jeden Fall notwendig”, fuhr er fort, “und muss der Menschheit auf ihren unbeholfenen Schritten der Entwicklung ein wenig weiterhelfen. Die heutige Grösse des Leids gibt uns eine Solidarität, die alle Völker und alle Arten von Dasein und Leiden umfasst. Das Unerträgliche muss zu Wort kommen, um vielleicht überstanden zu werden. Darin sind wir Brüder”-
Das Unerträgliche? Das war, übrig zu bleiben in einer von Grauen und Tod verwüsteten Welt. Das war die unerlösbare Bitterkeit der Fiage, warum Gott das alle zugelassen hatte. Das war der Schmerz, weiter in der Zeit zu stehen, die zur Unzeit, zum Nachtmahr geworden war.
“Ein jedes Blatt, das fällt und fällt, kennt meinen Schritt, wo soll ich gehen?” heisst es in einem Gedicht, das Sie hören werden, “in allen Gräbern der Erde hab ich gelegen… Der blinde Rauch von Mitternacht weissum d i e Wege , d i e weg von d i e s e r Erde f ü h re n ,wo soll ich leben?”
Im November 1952 begegnete der fast vierzigjährige Lajzer Ajchenrand einer iungen Frau, die seine Welt der Todeserfahrung und der Trauer nicht kannte, die aber bereit war, sie mit ihm zu teilen. Claire Ajchenrand. Sie hatten sich in einem der damaligen Zürcher Kaffeehäuser getroffen, die für die Emigranten, für die Heimatlosen eine Art Zuhause wurden. Claire lernte Jiddisch, und 1956 beschlossen die beiden, zusammen aus der Schweiz nach Israel zu ziehen. Doch der eben beginnende Suezkrieg hielt sie ein Jahr lang in Frankreich fest, bis sie 1957 mit dem Schiff von Marseille nach Haifa übersetzen konnten. Israel war damals noch ganz im Aufbau, jeder, der kam, musste zupacken, wo es eben nötig war, aber jeder steuerte auch etwas bei, damit ein Neuankömmling leben konnte. So erging es Lajzer und Claire Ajchenrand, doch im Jahre 1961 brachen sie ihre Zelte in Israel wieder ab und zogen nach Zürich zurück, um fortan dort zu leben. Es kamen die beiden Söhne zur Welt, 1963 der erste und 1968 der jüngere, und allmählich bildete sich ein Freundeskreis und eine Art von Heimat in der Heimatlosigkeit.
Lajzer Ajchenrand wurde nie Schweizer Bürger. Als er 1966 den Antrag stellte, wurde ihm die Aufnahme ins Bürgerrecht verweigert, aus bürokratischem Formalismus, weil in den verlangten 20 Jahren Wohnsitz in der Schweiz einige Monate fehlten, während derer Lajzer sich besucheshalber im Ausland aufgehalten hatte. Doch was eigentlich hätte kränkend sein können, war für Lajzer Ajchenrand nur einfach lästig; es bedeutete, dass er für jede kleine Reise, zum Beispiel ins Nachbarland Frankreich, wo sein Bruder lebte und wo er viele Freunde hatte, ein Visum brauchte. Auch als allmählich die Bestimmungen ein wenig gelockert wurden, blieb sich das Leben in der Schweiz von der Bedeutung her gleich. Heimat war etwas Unerreichbares und zugleich etwas, das er in sich trug, das vielleicht den stärksten Ausdruck in seiner jiddischen Sprache hatte; andererseits fühlte er sich da, wo er geliebt wurde, “daheim” – als Fremder. In einem frühern Gedicht “Urschweiz” werden Sie einen Teil dieser Auseinandersetzung wiederfinden, einen anderen, ganz und gar verinnerlichten Teil im Gedicht “Libellenflügel”, das wir Ihnen auch lesen werden.
“Der Augenblick”, heisst es da, “über der Sonne schwebend , gibt dir die Ewigkeit, die du nicht bist”.
Immer mehr wird sich Lajzer Ajchenrands Dichtung vom nur Biographischen, von der unaustauschbaren Eigenerfahrung lösen und zum Ausdruck der menschlichen Existenz überhaupt werden, dieser unergründbaren Ausgesetztheit zwischen Geburt und Tod, dieser geheimnisvollen Aufgabe, die dem Menschen gestellt ist, dem Lauf des Werdens Sinn zu geben, aus dem Schweigen in die Sprache, in die Gestalt der Sprache und damit in den Dialog mit dem zeitlich daseienden Du und mit dem ewig gegenwärtigen Du zu treten.
“Du”, heisst es immer wieder in Lajzer Ajchenrands Ge- dichten, “Du, mit allen Wegen der Welt in deinen Augen… gespannt hast du ‘dajn simen’, ‘dein Zeichen’ zwischen hier und dort…”
Wer ist dieses Du? Erst der Sterbende wird um das Geheimnis wissen, wenn er aus der Ruhelosigkeit und aus dem Fragen weggeht, so wie Lajzer Ajchenrand wegging, am 12.September, 1985. Ob damit sein Werk zur Ruhe kam? Paul Celan gibt darauf Antwort im Text, den ich eingangs zitierte. “Die Generationen der Künstler hin und her – so lange sie am Leben sind, die Flüchtigen mit der Reizbarkeit Gestörter und mit der Empfindlichkeit von Blutern, erst die Toten haben es gut, ihr Werk ist zur Ruhe gekommen und leuchtet in der Vollendung. Aber dieses Leuchten in der Vollendung und das Glück der Toten, es täuscht uns nicht. Die Zeiten und Zonen liegen nahe beieinander, in keiner ist es hell, und erst nachträglich sieht es aus, als ob die Worte auf Taubenfüssen kamen”.
So ist es wohl. Um den Preis des Lebens, um den Preis des Wirkens ist das Werk vollendet und kommt zur Ruhe, ist es aus dem Werden herausgetreten – und so erst steht es uns zu, darüber zu sprechen.
Sie werden nun einge Gedichte aus diesem Werk hören, Rezitation von
- Und er sah
- Bist du allein
- Platane
- Urschweiz
- Jüdisches Sonnet
2 – Zu Sprache und Werk:
Als Lajzer Ajchenrand zur Welt kam, lebten in Osteuropa an die 12 Millionen jiddisch-sprechender Juden, d.h. rund 4/5 der damals auf 14 bis 15 Millionen geschätzten jüdischen Gesamtheit. Etwa 7 Millionen nimmt man an, wohnten im damaligen Westrussland (wozu Polen gerechnet wurde), in zusammenhängenden Siedlungen mit einem starken inneren Gemeindeleben und einem rege funktionierenden Austausch mit der nicht-jüdischen Bevölkerung. Anderhalb bis 2 Millionen lebten im damaligen Oesterreich, das auch Galizien, die Bukowina (die Heimat P aul Celans) und Nordostungarn umfasste, also einen grossen Teil der heutigen Tschechoslowakei, des heutigen Jugoslawiens und des heutigen Ungarns; mehr als eine Viertelmillion war in Rumänien ansässig. Dazu kamen schon damals mehr als 2 Millionen jüdischer Emigranten in Nordamerika; schon vor dem l.Weltkrieg lebten allein in New York etwa l Million jüdischer und zumeist jiddisch sprechender Einwanderer, jeder fünfte Einwohner New Yorks sprach jiddisch, sodass New York gewissermassen die grösste jüdische Ansiedlung der Geschichte überhaupt war. Wir haben ja viele literarische Zeugnisse dieser frühen jüdischen Emigration aus Osteuropa, die sich auch damals immer aus Verfolgung und aus grosser matrieller Not aufdrängte; lesen Sie dazu etwa Joseph Roths ergreifenden Roman “Hiob” – Der Rest der 14 bis 15 Millionen verteilte sich auf die übrige Welt. Doch mehr als der dritte Teil von diesen Menschen, Abertausende Millionen von Kindern, von Frauen, von Männern wurden aus allen Teilen Europas zusammengetrieben, in Züge verladen, in Lager gepfercht und getötet: Das ist die grosse “shoah”, die grosse Katastrophe nicht nur der jüdischen Geschichte, sondern der Geschichte der Menschheit.
Auch davon gibt die – überlebende – jiddische Sprache Kunde in ihrer Trauer, ihrem Reichtum, in ihrer Zärtlichkeit und in der Zusammengehörigkeit ihrer vielfachen Elemente, die auf Jahrhunderte des Zusammenlebens in Europa aber auch auf Jahrhunderte des Gejagtwerdens und der Vertreibung quer durch Europa verweist.
In der Zeit des ausgehenden Mittelalters, als das Mittelhochdeutsch Umgangssprache und, neben dem Lateinischen, allmählich Literatursprache war, haben auch jüdische Gemeinschaften, welche sich in Deutschland niederliessen, dieses Deutsch angenommen, gesprochen und mit hebräischen und jüdisch-aramäischen Worten vermischt. Während das Hebräische die Sprache des Gebets, des Studiums, der Gelehrsamkeit und des Gottesdienstes blieb, wurde das sich allmählich herausbildende Jiddisch zur Sprache des Alltags, die jedoch in der geschriebenen Form sich auch der hebräischen Schriftzeichen wVterbediente, wenngleich mit einigen Veränderungen, zum Beispiel in der Vokalbezeichnung. Als die jüdischen Gemeinden weiter nach Osten zogen, behielten sie das Jiddische bei, nahmen darin aber zusätzlich Elemente ihrer jeweiligen Sprachumwelt auf, also slawische Sprachelemente im Osten. Dagegen vermischten die im Mittelmeerraum ansässigen Juden, insbesondere die vor der Inquisition in Spanien lebenden Gemeinden , ihre Herkunftssprache mit dem Spanischen, sodass sich das levantische Jiddisch, das Spagnolo, herausbildete, das ebenfalls eine eigene Volksliteratur entwicklete und das zum Teil auch heute noch gesprochen wird.
Das Jiddische wurde im Lauf der Zeit, etwa gegen Mitte des 18.Jahrhunderts, immer mehr zur literarischen Sprache, vor allem um den Bedürfnissen jener zu dienen, welche der talmudischen und rabbinischen Literatur fern standen, Frauen und Männern, die mit dem Hebräischen und Aramäischen weniger vertraut waren. Es wurden in Jiddisch Nacherzählungen aus der Bibel geschrieben, die grossen Legenden und Sagen aus jahrhundertealter Tradition, die Lebensgeschichten vorbildlicher Männer und Frauen, aber auch Gebete und Lieder, Volkslieder vor allem, Hochzeitslieder, Kinderlieder, Liebeslieder. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts kam es zu einem eigentlichen Aufblühen der jiddischen Literatur, sie wurde in Krakau und Wilna, in Lemberg und Warschau, aber auch in Berlin, Amsterdam, New York und Jerusalem gedruckt, sie bekam auch eine eigene politische Bedeutung, als die jüdischen Sozialisten, die “Bundisten” sie zum Idiom ihrer Zusammengehörigkeit und ihres Kampfes machten.
In dieser noch intakten jiddischen Kultur und Sprachkultur war Lajzer Ajchenand aufgewachsen. Seine frühesten Gedichte sind noch stark von der volksliedhaften Tradition der herkömmlichen jiddischen Lyrik geprägt, im Rhythmus, in den Wiederholungen, in der liedhaften Komposition. Aber zunehmend findet er darin zu seiner eignen, unverwechselbaren Dichtersprache, mit einem ganz persönlichen Reichtum der Symbolik, mit einer im Jiddischen unvergleichlichen Feinheit der Abstraktion, der Sublimation, der sprachlichen Freiheit. Seit 1946 erschienen über 10 Gedichtbände; einige der Gedichtzyklen wurden vertont und in Zürich und Basel aufgeführt, viele wurden in andere Sprachen übertragen und fanden Aufnahme in Anthologien moderner Dichtung, in Israel, Süd- und Nordamerika, selbst in Polen. 1976 wurden Lajzer Agchenrand und sein Werk in Israel mit dem Itzik-Manger-Preis ausgezeichnet, dem bedeutendsten Literaturpreis für Jiddische Dichtung, vergleichbar dem Prix Concour, 1969 vom damaligen israelischen Präsidenten Shazar zum Zweck der Anerkennung und Förderung bedeutender jiddischer Literatur gegründet.
Lajzer Ajchenrand wurde er zugesprochen, hiess es in der Laudatio, wegen der “tiefen sozialen Verbundenheit und zugleich der seltenen Modernität seiner Sprache”, wegen der Tatsache also, dass diese Lyrik die verinnerlichste Form der Erfahrung von Leid, von Zerstörung und von Sehnsucht n ach Erlösung des g anzen Volkes ist, Sehnsucht nach Antwort auf die seit Hiob gestellte Frage nach der Bedeutung all der unverstehbaren und – unannehmbaren – Prüfungen. Gleichzeitig aber ist diese Lyrik auch Kunst, von unverwechselbarer Zeitgeprägtheit und Lebenszeitlichkeit, von eindringlicher Eigenwilligkeit und von seltener bildhafter Verdichtung. Und sie ist Ausdruck jenes unzerstörbaren Wissens, welches in Lajzer Ajchenrand auf immer feinere Weise identisch mit Glaube wurde.
Uebersetzbar ist diese Poesie nicht, das habe ich schon angetönt. Franz Kafka, der ganz in der deutschen Sprache empfindende jüdische Dichter, meinte, das Jiddische – also nicht nur die jiddische Poesie – sei überhaupt nicht übersetzbar, ganz bestimmt nicht ins Deutsche. “Die Verbindungen zwischen Jargon (d.h. zwischen dem Jiddischen) und Deutsch”, schreibt er, “sind zu zart und bedeutend, als dass sie nicht sofort zerreissen müssten, wenn Jargon ins Deutsche zurückgeführt wird, das heisst, es wird kein Jargon zurückgeführt, sondern etwas Wesenloses”, war Kafkas Meinung, nachdem er einem Rezitationsabend des ostjüdischen Schauspieles Isak Löwy beigewohnt hatte. Und er kommt zum Schluss, dass zum Beispiel durch Uebersetzung ins Französische “Jargon den Franzosen übermittelt werden könne, durch Uebersetzung ins Deutsche werde er vernichtet. “‘Toit’ ist eben nicht ‘tot'” insistiert er. “Ganz nahe kommen Sie schon dem Jargon, wenn Sie bedenken, dass in Ihnen ausser Kenntnissen auch noch Kräfte tätig sind und Anknüpfungen von Kräften, welche sie befähigen, Jargon fühlend zu verstehen. Jargon ist alles, Wort, chassidische Melodie und das Wesen dieses ostjüdischen Schauspielers selbst”…
Auch das Wesen dieses ostjüdischen Dichters Lajzer Ajchenrand, der zugleich einer der ganz grossen Dichter überhaupt ist.
Und nun hören Sie noch den letzten Teil der von uns getroffenen Gedichtauswahl:
Rezitation von
1- Umsist
2- Irrwege
3 – Libellenflügel
4 – Meilensteine
5 – Oignblik