“Welche Voraussetzungen sind notwendig für die Schaffung von Kunstwerken?” – Reflexionen zu Kreativität und Weiblichkeit – eine Replik
“Welche Voraussetzungen sind notwendig für die Schaffung von Kunstwerken?” – Reflexionen zu Kreativität und Weiblichkeit – eine Replik
Mit einer scheinbar einfachen Frage im Kopf, die sich zunehmend als schwieriger erwies, lief Virginia Woolf im Oktober des Jahres 1928 durch die Strassen und Pärke von Cambridge, suchte Restaurants, Parties und Bibliotheken auf und setzte sich mit Dutzenden von Autorinnen und Autoren und mit Bergen von Büchern auseinander, ständig mit der immer gleichen Frage im Kopf, deren Beantwortung ihr eigentlich spontan aus dem Aermel rutschte, die sie aber als so bedeutungsvoll empfand, dass sie sie aus dem Rollenverhalten der Männer und Frauen sowie aus den Zeugnissen der Männer über Frauen und der Frauen über Frauen nachprüfen wollte: “Welche Voraussetzungen sind notwendig für die Schaffung von Kunstwerken?” – für von Frauengeschaffene Kunstwerke, notabene, nicht nur von Männern. Denn was die Männer betraf, war die Frage längst beantwortet, nicht nur durch eine Menge von männlichen Kunsttheorien, sondern durch die unleugbare Ueberfülle künstlerischer Schöpfungen durch Männer.
Indem Virginia Woolf Strassen und Bücher auf der Suche nach Frauenspuren durchforschte, die mehr als die unausweichliche Notwendigkeit des Alltags dokumentierten, “fühlte” sie in ihrer Phantasie, wie sie schrieb, “den Druck der Stummheit, die Anhäufung unerzählten Lebens”. Und so kam sie am Schluss der langen Umwege durch Strassen und Bibliotheken zur gleichen Antwort, die ihr von Anfang an auf der Zunge lag: “Eine Frau muss Geld haben und ein Zimmer für sich allein”, damit sie Kunstwerke schaffen kann, das heisst – nach Virginia Woolfs Formulierung – damit sie “fiction” schreiben kann. Unter “fiction” verstand sie jedoch keineswegs nur “Romane” oder “erfundene Geschichten”, sondern jede Art von schöpferischem, eigenwilligem Umgang mit der Wirklichkeit, mit deren subjektiven Deutung, Durchdringung, Verwandlung und Neuschöpfung. “Das ist es, was übrigbleibt, wenn die Hülle des Tages in die Hecke geworfen worden ist; das ist es, was von vergangenen Zeiten und unserem Lieben und Hassen übrigbleibt. ( … ) Die Welt scheint von ihren Hüllen entblösst, und es ist ihr intensiveres Leben eingegeben”, schrieb sie. Und an die Frauen gewandt, fuhr sie fort: “Wenn ich Sie auffordere, Geld zu verdienen und ein Zimmer für sich allein zu haben, fordere ich Sie auf, in Gegenwart der Wirklichkeit zu leben”, dieser verwandlungsfähigen, intensiveren, mitteilungsfähigen Wirklichkeit.
Virginia Woolfs Aufruf an die Frauen erfolgte vor mehr als fünfzig Jahren. Auf die Ueberlegung, ob Frauen überhaupt das Bedürfnis haben, Kunstwerke zu schaffen, verschwendete sie keinen Augenblick, ebensowenig auf die Idee, dieses Bedürfnis könnte bloss einem Trend entsprechen und nichts als ein Zeitprodukt sein. Ihrem Urteil nach ist die schöpferische und künstlerische Befähigung – das, was wir “Kreativität” nennen – ebenso fundamental und auf ebenso gleichmässige Weise unter die Geschlechter verteilt wie die kartesianische Vernunft, auf die Jeanne Hersch sich in ihren Reflexionen über Kreativität und Weiblichkeit beruft. Virginia Woolf stellt jedoch fest, dass die schöpferische Befähigung der Frauen während Jahrhunderten durch Armut und durch Rollenzwänge so erfolgreich unterdrückt wurde, dass die Mehrzahl der Frauen schliesslich selbst nicht mehr daran glaubten oder dass sie das – vielleicht plötzlich erwachende Bedürfnis, der Wirklichkeit eine neue, selbst geschaffene Form zu geben, als unstatthaft, wenn nicht als pervers unterdrückten und zur Selbstbestrafung umso emsiger und stummer schrubbten und kochten, pflanzten, ernteten, nähten, flickten, Kinder gebaren, säugten, wiegten, aufzogen und begruben, und immer wieder das Haus schrubbten und die Vorratskammern füllten und den Fünfer dreimal umdrehten, bevor sie ihn ausgaben, und kochten und hierhin und dorthin sprangen, wenn der Mann rief, überhaupt ihm in allem und jederzeit zu Diensten waren, bis sie stumm und spurenlos aus der – sie beherrschenden – Wirklichkeit verschwanden.
So war die Realität, stellt Virginia Woolf fest. Eine Frau, die im 16.Jahrhundert mit einer grossen Begabung geboren wurde – angenommen, Shakespeare hätte eine ebenso geniale Schwester gehabt – , wäre sicher verrückt geworden, schreibt Virginia Woolf, “sie hätte sich erschiessen oder ihre Tage in einer einsamen Hütte ausserhalb des Dorfes beschliessen müssen”, ausgestossen und gemieden, sie wäre verhungert und hätte mit Sicherheit kein grosses Werk schaffen können. Selbst Frauen, denen nicht materielle Not zusätzliche Fesseln anlegte, etwa der adligen Lady Winchilsea, die 1661 zur Welt kam, war künstlerisches Schaffen untersagt. Die ständige Unterdrückung erfüllte sie mit Schwermut und Ratlosigkeit.
“Versucht eine Frau zu dichten, / so gilt sie gleich als unverschämt; / den Fehltritt kann keine Tugend schlichten. / Es heisst, wir verrieten unser Geschlecht”, klagte sie, und noch verzweifelter: “Meine Verse verlacht, / und mein Tun verachtet / als eitles Trachten, von Hochmut umnachtet”.
Virginia Woolf ist überzeugt, dass die schöpferische Wende für Frauen im späten 18.Jahrhundert mit der “soliden Tatsache” zusammenhing, dass sie mit Schreiben Geld verdienen konnten. “Geld bringt zu Ehren, was als frivol gilt, solange es nicht bezahlt wird. Es mag vielleicht noch immer angehen, ‘Blaustrümpfe, die es juckt zu kritzeln’ zu verhöhnen, aber es kann nicht geleugnet werden, dass sie dafür Geld einstecken” stellt Virginia Woolf fest. Sie hält die Wende, die sich gegen Ende des 18.Jahrhunderts vollzog, für bedeutungsvoller und für wichtiger “als die Kreuzzüge und die Rosen- kriege”. Hätte sie die Geschichte neu zu schreiben, meint sie, so würde sie die Tatsache, dass die Frauen der Mittelklasse zu schreiben anfingen, ausführlicher schildern als alle Kriege.
Was Virginia Woolf – selbst eine schreibende Frau der Mittelklasse – damit kaum zu sagen bezweckte, war, dass der Fortschritt in der Anerkennung weiblicher Kreativität sich “einfach” mit der Tatsache der Honorierung ergeben hätte. Sie lässt jedoch ungesagt, welch langer Kampf vorausgegangen war, wie Frauen gegen den “Druck der Stummheit” aufgestanden waren, Frauen der “Unterklasse”, die ihre schöpferischen Kräfte allein dafür einsetzten, das Bewusstsein des politischen Unrechts der weiblichen Stummheit, dieser “condition feminine”, zu wecken:
— Olympe de Gouges, zum Beispiel, die, in armseligen Verhältnissen aufgewachsen war und kaum korrekt schreiben konnte (heute würde sie als funktionale Analphabetin bezeichnet werden), die jedoch mit wachem Verstand und mit untrüglichem Gerechtigkeitssinn erkannte, dass die sogenannte “Menschenrechtserklärung” von 1789 eine ausschliessliche “Männerrechtserklärung” war und dass Frauen und Sklaven weiterhin von allen Rechten ausgeschlossen blieben, nicht nur von den Grundrechten, sondern auch von allen Persönlichkeitsrechten, die gegen diesen Ausschluss eine “Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne” entwarf und öffentlich verkündete, doch damit den Zorn Robespierres schürte, den sie öffentlich seiner Verbrechen anklagte, mit der Folge, dass er sie einkerkern und enthaupten liess;
— oder Mary Wollstonecraft, die 1792, ein Jahr vor Olympe de Gouges Ermordung, in London ihre “Vindication of the Rights of Women” herausgab, in der sie die mangelhafte Bildung und Berufsausbildung der Frauen als Grund ihrer materiellen Abhängigkeit von den Männern und ihrer Minderberechtigung öffentlich thematisierte, nicht in Form eines schüchternen Traktätchens, sondern als Entgegnung auf eine Schrift Talleyrands über Erziehung, eine “Frau vom Land”, die selbst keine andere Bildung genossen hatte als diejenige, die in der Dorfschule vermittelt worden war, die aber durch Belesenheit und analytisches Denken brillierte, die – unter anderem – festhielt, dass, “wenn Frauen und Männer einander nicht durch Erziehung ebenbürtig würden, alle theoretischen und praktischen Fortschritte wirkungslos seien, dass es nicht Vernunftargumente für die Rechte der Männer gebe und keine für die Rechte der Frauen, dass Kinder nur zu menschlichem Respekt erzogen werden könnten, wenn schon ihre Mütter in diesem Geist aufgewachsen seien, dass Macht auf tönernen Füssen stehe, die dazu diene, andere, respektive Frauen, zu unterjochen und in die Familien einzukerkern, dass der auf Frauen ausgeübte Zwang, sich ausschliesslich mit dem Haushalt zu beschäftigen, ebenso erniedrigend sei wie Sklaverei”, die daraufhin von Männer- und von Frauenseite nur Nachstellungen und Verleumdung erfuhr;
— oder Flora Tristan, der Mary Wollstonecrafts “Vindication of the Rights of Women” 1840 in die Hände fiel, die dessen Brisanz erkannte, weil damit “alle Vorurteile angegriffen, alle Lügen und alle Ungleichheit aufgedeckt wurden”, die, halb Peruanerin, halb Französin, selbst völlig mittellos und von einem gewalttätigen Ehemann verfolgt und auf offener Strasse angeschossen, die Zusammenhänge der Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen untersuchte, deren Rechtlosigkeit anklagte, die Kinderarbeit, die hohe Kindersterblichkeit, die grauenvollen Wohn- und Arbeitsverhältnisse schilderte, es aber nicht dabei beliess, sondern Massnahmen zur Veränderung der Unrechtssituation erarbeitete und diese 1843/44 in ihrem Buch “Arbeiter- Union” veröffentlichte, wenige Monate, bevor sie vor Erschöpfung zusammenbrach und starb, Massnahmen insbesondere zur Verbesserung der Situation der Frauen, die sie als die “Proletarierinnen ihres eigenen Proletariats”, als “Wesen, die selbst der am meisten unterdrückte Mann noch unterdrücken konnte” bezeichnete und für die sie das Recht auf gleiche Erziehung und Berufsausbildung, auf gleiche Einkommensmöglichkeiten und auf materielle Unabhängigkeit forderte – letztlich “Geld und ein Zimmer für sich allein”.
Im Bewusstsein dieser Vorgeschichte von “Ein Zimmer für sich allein” lässt sich über Kreativität und Weiblichkeit nur noch politisch reflektieren, gerade auch als Antwort auf Jeanne Herschs Ausführungen. Gewiss war sich auch Virginia Woolf dieser Zusammenhänge bewusst, schrieb sie doch, dass “die Geschichte des Widerstandes der Männer gegen die Emanzipation der Frauen vielleicht interessanter sei als die Geschichte der Emanzipation selbst”. Damit mag sie recht haben oder nicht. Ich denke, dass die Geschichte der Machthabenden nie interessanter ist als die der Unterdrückten, zumal diese Geschichte noch unabgeschlossen ist. Wenn während Jahrhunderten Männer Kreativität ausschliesslich für sich beanspruchten und Frauen auf ihre biologische Rolle als Gebärerinnen sowie auf ihre soziale Funktion als Befehlsausführende, letztlich als Dienerinnen verwiesen, so steckte dahinter eifersüchtige Abwehr geahnter oder gar gewusster Ebenbürtigkeit, die hochmütige Verteidigung “tönerner Macht”.
Das heisst nicht, dass Kindergebähren und -aufziehen nicht zu den grossen Auszeichnungen weiblichen Lebens gehört, dass sich darin nicht auch ein – vielleicht einzigartiges schöpferisches Potential verwirklichen kann. Aber dieses schöpferische Engagement – denn ein Kind ist Engagement und nicht Werk, über das die Frau irgendwann verfügen kann wie über andere Werke, andere Objekte – soll ebenso gewählt sein dürfen wie jede kreative Tätigkeit des Mannes, soll sich gerade in der Freiheit der Wahl nicht unterscheiden. Denn in der Freiheit der Wahl, in der selbstverantworteten Autonomie und im Respekt vor dieser Autonomie ist letztlich das begründet, was die Würde und Einzigartigkeit der menschlichen Existenz ausmacht.
Kreativität und Autonomie sind so nah verwandte Begriffe, dass sie beinah deckungsgleich sind. Bei beiden geht es um die subjektive Verwirklichung eines Lebensentwurfs, um die Gestaltung der eigenen Wirklichkeit innerhalb der allgemeinen.
In ihrem Buch “Schwierige Freiheit” sagt Jeanne Hersch: “Dann kommt plötzlich ein Moment, wo man sich sagt: So ist mein Leben gewesen. Ich habe zum Beispiel keine Kinder gehabt. Das war eine entsetzliche Entbehrung. Als Kind und als Halbwüchsige wollte ich sechs Kinder haben. Ich habe Mühe gehabt, das anzunehmen”.
Der Ausdruck des Leids, der sich hier findet, mag der – vor dreihundert Jahren geäusserten – Klage von Lady Winchilsea über die Unterdrückung ihrer schöpferisch- dichterischen Bedürfnisse gleichkommen. Diese Entsprechung, scheint mir, macht das Grundsätzliche deutlich, das die Reflexion über Kreativität und Weiblichkeit beinhaltet: ob es um den künstlerischen Ausdruck der Wirklichkeit gehe oder um deren wissenschaftliche Durchdringung und Umgestaltung, ob mit den Mitteln der Sprache, der Tonkunst oder der Malerei, ob durch Verstandesarbeit, durch Handarbeit oder durch Lebensarbeit im Kindergebähren und -aufziehen, ob im Alleingang oder im partnerschaftlichen Teilen, immer sind die zugrundeliegenden Bedürfnisse von gleicher subjektiver Dringlichkeit und damit von gleicher existentieller “Berechtigung”. Keine hierarchischen und keine geschlechtsspezifischen Kriterien können die einen als zulässig und die anderen als unzulässig gelten lassen. Bei gegenseitiger Respektierung können sie alle zu einer lebendigen, bunten, wandlungsfähigen und friedlichen Gesellschaft beitragen – eine noch ausstehende Wirklichkeit, in der Geschlechterdifferenz nicht mehr ängstigend, sondern anspornend sein wird, vor allem in Hinblick auf die so dringliche Lösung der grossen Probleme, die aus dem jahrhundertelangen Männerkampf um Herrschaft und aus der auferzwungenen Stummheit der Frauen geschaffen wurden.
“Das Leben ist für beide Geschlechter – und ich schaute sie mir an, wie sie Schulter an Schulter über das Pflaster an mir vorüberzogen – mühsam, schwierig, ein ständiger Kampf”, schrieb Virginia Woolf, nachdem sie auf Strassen und Plätzen nach einer Antwort auf die Frage gesucht hatte, welches die notwendigen Voraussetzungen für die Schaffung eines Kunstwerks seien. “Gewaltigen Mut” erfordere dieser Kampf, fuhr siefort, und was noch? “Selbstvertrauen”, antwortet sie: Mut und Selbstvertrauen also als Ansporn und Nahrung weiblicher Kreativität, damit die Frauen wirkungsvoller und vielgestaltiger die Wirklichkeit im Sinn ihrer Bedürfnisse verändern.